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© 2015 Archiv der Jugend kulturen Verlag KG, Berlin; prverlag@jugendkulturen.de
Alle Rechte Vorbehalten
2. überarbeitete Auflage Dezember 2015

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)
Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)
E-Books, Privatkunden und Mailorder: shop.jugendkulturen.de

Umschlaggestaltung und Layout: Conny Agel
Fotos: Otto Bender

ISBN
978-3-943774-21-4 print
978-3-943774-22-1 ebook
978-3-943774-23-8 pdf

Dieses Buch gibt es auch als E-Book.
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DER AUTOR:

Jörg Ueberall, Jahrgang 1965, war Maschinist, Krankenpfleger, Maurer, Kriegsdienstverweigerer in der DDR; Studium in Oldenburg und Amsterdam, Diplompädagoge, sieben Jahre Arbeit mit geistig behinderten Kindern, derzeit Gemeindemitarbeiter. Er lebte und arbeitete längere Zeit in Afrika und ist Mitautor des Buches „Warum wir uns nicht leiden mögen“ zur Ossi-Wessi-Problematik.

Die Erstauflage dieses Werkes erschien 2004 und wurde für diese Neuveröffentlichung überarbeitet und aktualisiert.

Anregungen, Kritik, Fragen, Einladungen zu Veranstaltungen etc. an: s-h-a-r-k-y@web.de

STIMMEN ZUR ERSTAUFLAGE:

„Dank seiner spannenden Materie, der Ueberall mit umfangreicher Recherche begegnet, gelingt ihm ein Blick auf den Alltag im menschenfeindlichen NS-System, der lebendiger und eindrucksvoller ausfällt als die oft standardisierte Herangehensweise des Geschichtsunterrichts. So ist Swing Kids vor allem, aber eben nicht nur, das packende Portrait einer nahezu vergessenen Jugendkultur.“ Freihafen. Jugendmagazin für Hamburg

„Unbedingt lesenswert.“ Szene Hamburg

„In Haltung, Outfit und Musikgeschmack signalisierten die Swing Kids die Gegenwelt zur Hitler-Jugend – Grund genug für die Gestapo, sie zu verfolgen, zu foltern und in Jugend-KZs zu deportieren. Jörg Ueberall fasst die gesamte Entwicklung der Swing Kids von 1936 bis 1945 in diesem quellengestützten, sehr gut recherchierten und mit vielen locker formulierten Zeitzeugenberichten durchsetzten Band anschaulich zusammen. Regionale Schwerpunkte: Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main. Ein lebendig geschriebener, das Lebensgefühl dieser swingenden Subkultur nachzeichnender Beitrag zur Geschichte der Jugendkultur, bislang ohne Vergleich. Besonders Schul- und Jugendbibliotheken empfohlen.“ ekz-informationsdienst

Mit Dank an:
Otto Bender und Günter Discher für Bilder und Gespräche.
Arno Klönne für das Vorwort.
Klaus Farin für die jahrelange „Hintergrund“arbeit.
Detlef Garz für den Spaß am wissenschaftlichen Arbeiten.

Inhalt

Vorwort von Arno Klönne

Einleitung und Schwierigkeiten

Jazz in totalitären Staaten oder: „Zu meiner Zeit hat man so was
im Bett gemacht“ oder: Rauschgift im Rassen- und Klassenkampf

Begriffsschwierigkeiten

Es geht los … oder: „Ich habe der Jugend Halt, Richtung und Ziel
gegeben.“ (Adolf Hitler) mit Exkurs „Getanzte Weltanschauung“

„Wir tanzen ins Chaos“ oder: „Einig im Innern und stark nach
außen, so stehen wir der Welt gegenüber.“ (Joseph Goebbels)

Das Ende oder: „Eigentlich waren Ferien …“ mit Exkurs:
„Himmler war ein kranker Mensch.“

„Was mit Ellington anfängt, das hört mit dem Attentat auf den
Führer auf“
und die Weiße Rose Hamburg mit Exkurs „Zazou Hey“

Der Ghetto-Swinger

Täter und Opfer

Schluss

And The Dance Goes On …

Und zu allerletzt …

Jahrhundertsongs

Literaturverzeichnis

Vorwort

von Arno Klönne

Der Rückblick in die Zeit des Nationalsozialismus hat seit vielen Jahren den ersten Rang im Themenspektrum deutscher Geschichtsschreibung. Dass es sich dabei um einen historischen Gegenstand handelt, dessen Bewertung nach wie vor umstritten ist, wird nicht nur an fachwissenschaftlichen Kontroversen deutlich; in der populären Literatur sind auch heute noch in Fülle Darstellungen der Verhältnisse im „Dritten Reich“ zu finden, die offen oder verdeckt rechtfertigenden Charakter haben. Es handelt sich also keineswegs um ein „abgeschlossenes Kapitel“ des Umgangs mit der Vergangenheit.

Unter den Fehldeutungen der Zustände, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland herrschten, erweist sich als besonders nachhaltig die Idee, im Unterschied zu anderen Sphären des „Dritten Reiches“ sei es im nationalsozialistisch organisierten Jugendleben ziemlich harmlos zugegangen, bei der Hitler-Jugend habe es sich in der Praxis um eine Art braun eingefärbter Pfadfinderei gehandelt, der – wenn man von der aufgesetzten Ideologie absehe – schöne jugendliche Erlebnisse zu verdanken gewesen seien. Dass junge Leute sich der nationalsozialistischen, staatlich geformten Jugend-„Bewegung“ widersetzt hätten, sei – so will es diese Fehldeutung – kaum vorgekommen; eine Widerstandsgruppe junger Menschen wie die „Weiße Rose“ sei eine Ausnahme gewesen, die der Regel, nämlich der einer Integration der Jugendgeneration in das Angebot der Hitler-Jugend, nur Bestätigung geben könne.

Die Wirklichkeit des Jugendlebens unter dem NS-Regime sah anders aus. Zweifellos hatte der Nationalsozialismus gerade auch für junge Leute ein hohes Maß an Anziehungsfähigkeit, und die Hitler-Jugend fand bei Massen von Jugendlichen freiwillige Gefolgschaft oder zumindest Anpassungsbereitschaft. Aber bei anderen Teilen der damaligen Jugendgeneration konnte der NS-Staat die Einordnung in sein Erziehungssystem nur mittels massiver Repressionen durchsetzen, und es gab in großer Zahl jugendliche Gruppierungen, die sich dem Herrschaftsanspruch der Hitler-Jugend widersetzten. Diese jugendliche Opposition im „Dritten Reich“ hatte vielgestaltige Ausformungen, sie reichte von der illegalen Fortführung unterdrückter früherer Jugendverbände bis zur Herausbildung neuer, nonkonformer Jugendszenen.

Zu weiten Teilen waren diese oppositionellen jugendlichen Gruppierungen zunächst nicht durch einen bewussten und programmatischen Gegensatz zum Nationalsozialismus bestimmt, sie begriffen sich in der Regel nicht als Widerstandszirkel. Oppositionell waren oder wurden sie vielmehr durch kulturelle Eigenwilligkeiten, durch ihren Widerspruch gegen die Reglementierung des jugendlichen Alltags, wie die Hitler-Jugend sie betrieb, dann auch durch die Konflikterfahrungen beim Umgang mit den nationalsozialistischen „Autoritäten“. Jugendliche Freiheitsbedürfnisse wurden in solchen oppositionellen Jugendszenen gewissermaßen von außen her politisiert, die Verfolgung durch Organe des Staates und der Hitler-Jugend rief bei ihnen Misstrauen und Abneigung gegenüber dem System des Nationalsozialismus hervor.

Die beiden wichtigsten nonkonformen Jugendszenen im „Dritten Reich“ waren die so genannten Edelweißpiraten und die Swing Kids. Die einen wie die anderen hatten keinen organisierten Hintergrund und keine Verbindung zu Widerstandsgruppen aus der Erwachsenenwelt, sie gingen aus jugendkulturellem Eigenwuchs hervor, darin allerdings angeregt durch symbolische Übermittlungen, die vor allem Musik, Verhaltensformen und Outfit betrafen. Bei den Edelweißpiraten kamen solche Impulse aus dem Milieu der deutschen Jugendbewegung bzw. der Bündischen Jugend in ihrem libertären Teil, bei den Swing Kids aus der Jazzszene der angelsächsischen Länder. So unterschiedlich diese beiden nonkonformen jugendlichen Gesellungen waren, auch im Hinblick auf ihre soziale Rekrutierung, für ihre nationalsozialistischen Verfolger lag ein gemeinsames „Gefährdungsmerkmal“ in dem Drang nach jugendlicher Autonomie, in der selbständigen Gruppenbildung, in der kulturellen Alternativität zur Hitler-Jugend. Was die Swing Kids betrifft, so sah der NS-Staat in ihnen das Risiko, es könnte über sie die Neigung zum „Fremdvölkischen“, zur „entarteten Musik“, zum „Rauschgift Jazz“ in der Jugendgeneration sich weiter ausbreiten.

Aus heutiger Sicht mag es auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, mit welcher systematischen Brutalität die Organe des NS-Regimes gegen nonkonforme Jugendszenen vorgingen, obwohl von diesen ein politischer Umsturz doch keineswegs betrieben wurde. Bei näherer Betrachtung der Funktionsbedingungen des NS-Systems wird dieser Verfolgungsdrang aber erklärlich. Der Nationalsozialismus war bei seiner kriegerischen Expansionspolitik auf Massenloyalität angewiesen, vor allem bei der nachwachsenden Generation; diese setzte „gelingende Sozialisation“ im Sinne des Regimes voraus. Die Swing Kids – und ebenso die Edelweißpiraten – durchbrachen Grundmuster der nationalsozialistischen „Pädagogik“, sie bildeten eine nicht kontrollierbare Jugendkultur heraus, die in der Tat „wehrkraftzersetzend“ sich auswirkte.

Im Zuge der „nationalen Revolution“ hatte die NSDAP triumphierend verkündet: „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft“. Als im Laufe des „Dritten Reiches“ neue nonkonforme Jugendszenen sich ausbreiteten, dies sogar zu einer Zeit, in der Hitler-Deutschland militärisch blendende Erfolge vorweisen konnte, zeigte sich dieser Leitsatz von einer anderen Seite. Die Swing Kids gehörten zu jenem Teil der Jugendgeneration, der das NS-System von innen her als brüchig offenbarte. Es zeigte sich: Die Verführungskraft des Nationalsozialismus war begrenzt, die Hitler-Jugend konnte die Eigendynamik jugendkultureller Entwicklungen nicht stilllegen.

Arno Klönne, Dr. phil., Jahrgang 1931, war Professor für Soziologie an der Universität Paderborn. Seine Untersuchung zur „Jugend im Dritten Reich. Die Hitlerjugend und ihre Gegner“ (Neuauflage bei Papy Rossa 2003) gilt als Standardwerk zur nationalsozialistischen Jugenderziehung und die jugendliche Opposition dagegen.

Einleitung und Schwierigkeiten

Swing Kids – damit sind Jugendliche gemeint, die sich für den Swing begeisterten und sich im wahrsten Sinne des Wortes zwischen 1936 und 1945 eine „beschwingte“ Gegenwelt in Deutschland aufbauten. Swing war Leichtigkeit, Swing war das „Schwebende, Mitreißende, das federnd vorwärts Treibende“. Vielleicht mussten die Nazis auch deshalb den Krieg verlieren, weil sie den Swing verboten hatten. Gegen Benny Goodman, Duke Ellington und Louis Armstrong hatte der „Horst-Wessel-Marsch“ keine Chance.

Die Swing-Bewegung wurde besonders zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zu einer bedeutenden Oppositionsform von Jugendlichen in Deutschland, woraufhin der Machtapparat der Nazis bald mit ganzer Brutalität zurückschlug. Die Swing Kids zeigten offen ihre Ablehnung des faschistischen Regimes im Straßenbild durch ihre englische Kleidung, ihre Musik entsprach nicht der Blut- und Rassenideologie der Nazis, ihr individueller Tanzstil hatte nichts gemein mit dem völkischen Kulturgut der Nazis – und sie waren bekannt für ihre Spottverse auf Nazigrößen.

Mit der beginnenden Verfolgung durch die Gestapo eskalierten die Formen, und die Proteste bekamen politische Konturen. Von einem politischen Widerstand zu sprechen, wäre aus meiner Sicht nicht richtig, zu wenig bewusstes Handeln war in der Regel dabei, zu viel Unbefangenheit, Naivität. Dies bestätigt auch Coco Schumann in seiner Autobiographie: „Weitblick war nicht vorhanden.“ Geht man aber von der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes aus, in Widerstand steckt widerstehen drin, so war Swing Kid zu sein auf jeden Fall eine Widerstands- und Oppositionsform. Diesen Eindruck bestätigt auch Uwe Storjohann, ein ehemaliger Swing Boy: „Man konnte danach swingen, man konnte danach tanzen, man konnte danach alles Mögliche machen, was einem normalen Hitlerjungen streng verboten war, und das war’s. Es hatte mehr eine politische Komponente … es ist schwer zu verstehen für einen jungen Menschen heute, dass uns damals dieses Vehikel Swing genügte, um eine Antihaltung gegen die offizielle Politik zu zeigen, um damit zu zeigen, wir verweigern uns. Wir waren ja unpolitisch, wir hatten von Politik keine Ahnung. Keiner hatte Marx oder Lenin gelesen, keiner kannte Hegel, wir hatten ja überhaupt keinen politischen Hintergrund, aber wir erlebten die politische Wirklichkeit und schufen uns eine Gegenwelt, und diese Gegenwelt war der Swing.“27

In den Verhaftungslisten der Hamburger Gestapo sind auch Hunderte von Jugendlichen aufgelistet. Der größte Teil wurde wegen „Anglophilie“ – damit waren die Swing Kids gemeint – in „Schutzhaft“ genommen. Bei einem kleineren Teil ist bis heute nicht zu klären, warum er inhaftiert wurde. Auch sie sind vergessene Opfer. Die Abteilung IIG der Hamburger Gestapo, zuständig für alle Formen von Jugendopposition, leistete ganze Arbeit.

Ich war im Laufe des Schreibens dieses Buches immer wieder erstaunt, wie wenige Menschen heute überhaupt von dieser Oppositionsform im Dritten Reich wissen. Meine Erfahrung bestätigte auch Hans A. de Boer: „Wenige Leute in Deutschland – und das konnte ich nicht zuletzt als Lehrer erfahren – wissen heute von dieser Jugendopposition im Dritten Reich.“ Selbst in Expertenkreisen des Jazz ist zu wenig oder nur Halbwissen über die Swing Kids vorhanden. So setzt der wohl bekannteste deutsche Jazzrezensent Horst Lange „Swing Heinis“ mit „Halbstarken“ gleich, wähnte bei den Swing Kids aber auch „überzeugte Anti-Nazis“, was für die breite Masse der Swing Kids auf keinen Fall zutreffend ist (allerdings liegt hier noch eine andere Vermutung nahe: Es gab schon immer eine Trennungslinie zwischen den hedonistisch ausgerichteten Swing Kids und den „ernsthaften“ Jazzfans, die meistens von oben herab auf die unbefangeneren Swing Kids schauten).

In diesem Buch wird die gesamte Entwicklung der Swing Kids von ihrer Entstehung 1936 bis zu ihrem (Nicht-)Ende 1943 – 1945 aufgezeigt mit einem Ausblick bis heute, was aus den Opfern und Tätern wurde, soweit es möglich und noch nachvollziehbar war. Es war mir wichtig, möglichst viele Schicksale dem Vergessen zu entreißen. Meistens konnte ich die vollen Namen ermitteln, manchmal nur Vornamen, selten nur den abgekürzten Vornamen. An Grenzen stieß ich vor allen Dingen bei der Ermittlung der Täter. Nicht alle Peiniger der Swing Kids konnte ich namentlich herausfinden.

Und ich staunte über die Parallelen zwischen der Welt der Swing Kids und meinem Erwachsenwerden in einer realsozialistischen Diktatur:

das Leben in zwei Welten,

die oft abenteuerlichen Wege, um an die neuesten Schallplatten zu kommen,

die Begeisterung, mit der man „seine“ Musik hörte,

die restriktiven Gegenmaßnahmen der Behörden.

Ich erinnere mich an ein Mädchen 1986 im Zug Budapest – Leipzig, dessen Gepäck von der DDR-Grenzpolizei an der Grenze CSSR/DDR durchsucht wurde. Dabei fanden sie eine Nina-Hagen-Platte, die sich das Mädchen für viel Geld in Budapest gekauft hatte. Die Grenzpolizisten wollten die Schallplatte beschlagnahmen, das Mädchen weigerte sich, die Grenzpolizisten nahmen die Schallplatte und das Mädchen mit … Der Zug fuhr ohne sie weiter.

Wem das 2. Kapitel zu (musik)theoretisch ist, kann es auch gerne überspringen.

Jazz in totalitären Staaten

oder: „Zu meiner Zeit hat man so was im Bett gemacht“ oder: Rauschgift im Rassen- und Klassenkampf

Es kann kein Zufall sein, dass alle totalitären Regime dem Jazz ablehnend gegenüberstanden und -stehen. Jazz gilt als Produkt demokratischer Gesellschaften, was ihn in Diktaturen immer in Konflikt mit den Herrschenden brachte und bringt. Dabei ist es relativ gleichgültig, ob die benutzten Argumente gegen den Jazz präzise, historisch eindeutig oder rundweg falsch waren oder sind.

Wer einmal dem Jazz „verfallen“ war, war für den Gleichschritt der Nazis nicht mehr zu gebrauchen.

Alfons Dauer erklärt diese Konfrontation mit dem Aufeinanderprallen zweier Ausschließlichkeitsansprüche. Der Totalitarismus erhebt für sich die Ausschließlichkeit des Machtanspruches, der sich in alle Bereiche der Gesellschaft ausbreitet. Max Weber spricht hier von „affektueller Hingabe an die Person des Herrschers“, die dieser für sich dank seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten einfordert. Er bezeichnet diese auch als „charismatische Herrschaftsform“, Glaube und Gehorsam werden zur Pflicht. Geleisteter Widerstand wird tödlich bestraft, da dieser einen Verlust des Herrschaftsanspruches bedeuten würde. Daher rührt auch die Grausamkeit aller charismatischen Herrscher, von Gottkönigen des Alten Orients über Hitler und Stalin bis hin zu Pol Pot und Kim Jong Il. „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“

Auch der Jazz hat einen Ausschließlichkeitsanspruch. Auch er erfordert „restlose affektuelle Hingabe“. Der Jazz löst körperliche, geistige und gefühlsmäßige Reaktionen aus, er beansprucht die volle Konzentration des Zuhörers. Er ist eine totale Musik. Wie der totale Staat besitzt auch der Jazz eine charismatische Legitimierung. Wer einmal dem Jazz „verfallen“ war, war für den Gleichschritt der Nazis nicht mehr zu gebrauchen. Nicht zufällig wurde der Jazz auch gezielt politisch eingesetzt, z. B. in Sendungen der BBC oder Voice of America während des Zweiten Weltkrieges oder in Sendungen von Radio Liberty/Free Europe in Richtung Osteuropa zur Zeit des Kalten Krieges.

Jazz ist spontan, improvisiert, individuell. Diktatoren fühlen sich intuitiv durch den Jazz bedroht.

Doch vielleicht sind die Gründe für die Auseinandersetzungen zwischen Jazz und totalitärem Staat viel einfacher. Jazz impliziert Freiheit – es ist die Freiheit, wie diese Musik gemacht wird, es wird viel improvisiert, jeder Musiker trifft seine eigenen Entscheidungen, man spielt mal rhythmisch, mal verzichtet man völlig auf Rhythmus, es ist mitunter eine sehr spontane Musik. Spontaneität ist nicht berechenbar, alles was in Diktaturen nicht berechenbar ist, könnte gefährlich werden für die Herrschenden und wird von ihnen als Bedrohung empfunden. Duke Ellington sagte: „Jazz ist die Freiheit, viele Formen zu haben“, Dave Brubeck brachte es noch besser auf den Punkt: „Jazz ist wahrscheinlich die einzige heute existierende Kunstform, in der es die Freiheit des Individuums ohne den Verlust des Zusammengehörigkeitsgefühls gibt.“ Es ist eine sehr demokratische Art und Weise des Musikspielens, alle Bandmitglieder sind gleichberechtigt. Wer sich auf Jazz einlässt, nimmt diese „Geisteshaltung“ an. Diktatoren fühlen sich intuitiv durch den Jazz bedroht.

Im Januar 1930 übernahmen die Nationalsozialisten die Regierung in Thüringen. Der erste Erlass der Nazis gegen die „Negerkultur“ datiert drei Monate später, „Jazzband- und Schlagermusik, Negertänze, Negergesänge und Negerstücke“ wurden verboten. Als die Nazis ein Jahr später wieder abgewählt wurden, konnte auch das Verbot wieder aufgehoben werden. Doch sofort nach ihrer Machtübernahme Anfang 1933 hatten sie den Jazz wieder im Visier. Goebbels erklärte bereits kurz nach seiner Ernennung zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda: „Nun möchte ich ganz offen über die Frage sprechen, ob der Deutsche Rundfunk die so genannte Jazzmusik senden soll. Wenn unter Jazz Musik verstanden wird, die auf Rhythmus aufgebaut ist und in der die Melodie vollkommen ignoriert oder gar verspottet wird, Musik, in der dieser Rhythmus lediglich durch den hässlichen Klang kreischender Instrumente bestimmt wird, der die Seele verletzt – nun, dann kann man diese Frage nur mit einem klaren Nein beantworten.“48 Und: „Der Beitrag der Vereinigten Staaten zum Weltmusikbesitz besteht bekanntlich nur aus einer verjazzten Negermusik, die überhaupt … keiner Beachtung wert ist.“22

Hitler und Goebbels verachteten die Amerikaner, sie hielten sie offen für jede Art von Vergnügungen und unfähig zu Tiefe und höherer Bildung. Der Hauptgrund war aber wohl deren relativ große Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten – vor allen Dingen gegenüber Schwarzen und Juden. Weltweit bekannt wurde Hitlers entwürdigende Art gegenüber schwarzen Medaillengewinnern bei der Olympiade 1936. Er weigerte sich, Jesse Owens, der vier Goldmedaillen errungen hatte, die Hand zu schütteln. Anderen Schwarzen wandte er bei der Siegerehrung demonstrativ den Rücken zu. Aber Goebbels ging noch weiter. So durfte die klassische schwarze Sängerin Marian Anderson während ihrer Europatournee 1935/36 keine Konzerte in Deutschland geben „im Hinblick auf ihre Hautfarbe als Negerin“. Auch dass Louis Armstrong, Duke Ellington und Benny Goodman erst nach dem Krieg in Deutschland auftreten durften, ist allgemein bekannt. Begründet wurde dies durch eine damals sehr verbreitete Pseudowissenschaft, die die erbbiologische Überlegenheit des weißen gegenüber dem schwarzen Menschen belegen sollte. Begründet wurde sie u. a. durch den Münchener Professor Theodor Mollison, dem ersten Mentor von Josef Mengele und Joachim Mrugowsky, den die Alliierten später als einen von Himmlers führenden Verbrecherärzten hängten. Letzterer schrieb, dass nun die Ideen der Aufklärung widerlegt und die „naturgegebenen Unterschiede“ zwischen Schwarzen und Weißen klar erkennbar seien. Kein Umwelteinfluss der Welt könne einen „Neger in einen friesischen Bauern“ verwandeln, „ein Neger kann sich waschen, so viel er will, er wird niemals ein Weißer.“ Man hatte auch keine Probleme, diese Erkenntnisse mit den Ausfällen gegen die Juden zu verbinden. Professor Hans Günther aus Jena meinte, dass die Juden einen großen Anteil negroiden Blutes hätten, trotzdem würden die Juden über mehr Geistesstärken und eine größere Entschlossenheit im Gegensatz zu den animalischen Schwarzen verfügen. Aber gerade dieser pseudowissenschaftliche Anstrich machte diese Theorien so gefährlich. Und schwarze wie jüdische Musiker finden wir im Swing. Besonders der jüdische Klarinettist Benny Goodman wurde zum Idol der Hamburger Swing Kids. Er hatte dem Swing zum Weltruhm verholfen, dafür wurde er von den Nazis besonders gehasst.

Doch sollte es noch zwei Jahre dauern, bis der Jazz im Rundfunk endgültig verboten wurde. Deutsche Musikwissenschaftler hatten ihre liebe Not, gegen den Jazz zu polemisieren, weil ihnen einfach die grundlegendsten Kenntnisse fehlten. Sie führten in der Regel vier Argumente an, wovon aber nur gegen ein einziges keine Einwände erhoben werden konnte.

Erstens konnte man sich nicht einigen, ob der Jazz aus Amerika oder aus Afrika stammt. Bevor man jedoch etwas auslöschen konnte, musste es präzise umrissen werden.

Das zweite Argument der Musikwissenschaftler richtete sich gegen die Synkope, die typisch für den Jazz und für die Marschmusik nicht geeignet sei. Doch dann entdeckten sie, dass auch Johann Sebastian Bach die Synkope verwendet hatte …

Dritte Stoßrichtung war das Saxophon als dem typischen Instrument des Jazz. Doch dies rief die deutsche MusikinstrumenteIndustrie auf den Plan, da ihr Absatz zurückging. Dieses Problem löste man ganz einfach mit einer Lüge – das Saxophon hätte ein nach Belgien ausgewanderter Deutscher namens Adolf Sax im 19. Jahrhundert erfunden. Sein wirklicher Name war jedoch Adolphe Sax, er war Belgier und hatte mit Deutschland wenig am Hut, schon eher mit Frankreich. Claude Debussy war einer der Ersten, der das Saxophon in seinen klassischen Kompositionen verwendete.

Eine Musik, die die animalischen Triebe des Menschen ansprach, sei schädlich für die nationale Moral.

Das vierte Argument gefiel den Musikwissenschaftlern am besten, weil man gegen dieses am schlechtesten argumentieren konnte. Eine Musik, die die animalischen und sexuell zügellosen Triebe des Menschen ansprach, sei schädlich für die nationale Moral Deutschlands. Ein Argument, unter dem vor allen Dingen noch viele weibliche Swing Kids schwer zu leiden haben sollten …

Goebbels hatte einen Vertrauten – Hans Hinkel –, der sich besonders im Kampf gegen alles „Entartete“ hervortat. Er hatte bereits vor 1933 für Goebbels‘ Zeitung Der Angriff gearbeitet und war der administrative Drahtzieher beim Kampfbund. Unter Hinkels Leitung setzte ab 1933 eine massive Kampagne gegen alles Moderne ein – den Jazz, die postexpressionistische Malerei, das Bauhaus und die atonale Musik. Mit diesen Fähigkeiten war Hinkel prädestiniert für den Posten des Geschäftsführers der 1935 von Goebbels gegründeten Reichskulturkammer, deren Vorsitz er auch gleich übernahm.

Am 12.10.1935 erließ Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky das „endgültige Verbot des Niggerjazz für den gesamten deutschen Rundfunk“. Am Ende des Verbotes hieß es: „Was zersetzend ist und die Grundlage unserer Kultur zerstört, das werden wir ablehnen. Wir werden dabei ganze Arbeit leisten.“ Seine Definition von Jazz fiel jedoch dürftiger als die der Musiktheoretiker aus: „Überall, wo wir eine ausgeprägte Verniggerung der Melodik finden, die unserem Rassegefühl zuwider läuft und unser Empfinden verletzt, sprechen wir von Jazz … Die Abrechnung mit dem Jazz wird völlig kompromisslos sein. Es gibt für uns in Deutschland keinen mehr oder weniger verniggerten Jazz; die Verniggerung muss radikal aus der deutschen Musik verschwinden.“1

Und genau das war das eigentliche Problem. Was war eigentlich „Niggerjazz“? Wo sollte man den Unterschied zu gehobener Tanzmusik ziehen? Deutsche Bands hatten weniger Probleme damit. Sie spielten Swingnummern in gemäßigtem Tempo oder änderten die englischen in deutsche Titel um. So wurde aus „In the mood“ „Im Dämmerlicht“ oder aus „Begin the beguine“ „Im Takt des Spitzentanzes“.

Doch dann kam der Rückschlag für die Nazis, die Olympiade im Sommer 1936. Aus politisch-taktischen Erwägungen lud Goebbels auch ausländische Swing-Bands ein, um vor der Weltöffentlichkeit den Schein einer liberalen Normalität zu erwecken. Dies war der Durchbruch für den Swing landesweit in Deutschland. Man berauschte sich zum Beispiel an den Auftritten des Schweizers Teddy Stauffer und den Original Teddies. Ein Übriges taten die Schallplatten, die für eine schnelle Verbreitung des Jazz sorgten.

Vor allen Dingen für den Swingtanz begeisterte man sich. Der Swingtanz wurde dann auch 1937/38 von der Reichskulturkammer verboten. Berühmt geworden ist das Schild „Swing Tanzen verboten“, das ab diesem Zeitpunkt in allen Cafés hing, in denen Swingmusik gespielt wurde. Doch trotz Gleichschaltung und Verboten wurde in Hamburger Lokalen sogar noch bis in die ersten Kriegsjahre hinein kräftig geswingt.

Joseph Goebbels erklärte: „Wir haben ein deutsches Theater, einen deutschen Film, eine deutsche Presse, ein deutsches Schrifttum, eine deutsche bildende Kunst, eine deutsche Musik und einen deutschen Rundfunk.“23 Aber halt auch den Swing. Man wurde ihn nicht los. Duke Ellington, Louis Armstrong und vor allen Benny Goodman waren beliebte Stars in Deutschland. Auch die Aufführungen von Hollywoodfilmen, die immer mehr zum Treffpunkt von Jugendlichen wurden, verhalfen dem Swing zu großer Beliebtheit.

Die nationalsozialistische Kulturpolitik sah im Swing eine bedrohliche Herausforderung. Diese Musik verführte zu einer freiheitlichindividualistischen Lebensart. Sie stand im völligen Gegensatz zu den Werten und dem uniformierten Erscheinungsbild NS-staatlicher Jugendpolitik. Zum nächsten Gegenschlag holten die Nazis 1938 aus, als sie eine Ausstellung über „Entartete Musik“ in Düsseldorf initiierten. Dieser Fakt ist heute kaum noch bekannt. Bekannt und berüchtigt wurde die 1937er Ausstellung über „Entartete Kunst“. Dass eine Ausstellung nach dem gleichen Muster genau ein Jahr später stattfand, ist einer großen Öffentlichkeit bis heute verborgen geblieben. Bekannter dafür ist das Plakat dieser Ausstellung geworden – ein affenähnlicher Schwarzer mit einem Davidstern, der in ein Saxophon bläst. Unbeabsichtigter Nebeneffekt dieser Ausstellung: Swing-Fans und Liebhaber anderer diskreditierter Musikarten strömten zuhauf in diese Ausstellung.

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Hetzplakat der Nazis von 1938

„Wir haben nicht den Krieg verloren, weil unsere Kanonen versagt hätten, sondern weil unsere geistigen Gewehre nicht schossen.“ Joseph Goebbels

Als ob Goebbels schon eine böse Vorahnung auf den Zweiten Weltkrieg hatte, erklärte er: „Wir waren 1914 materiell wehrhaft wie kein anderes Volk, was uns fehlte, das war die materielle Wehrhaftmachung grundierende geistige Mobilmachung im Lande und in den anderen Ländern. Wir haben nicht den Krieg verloren, weil unsere Kanonen versagt hätten, sondern weil unsere geistigen Gewehre nicht schossen.“18

Swing hatte Macht, nicht nur in Deutschland, sondern später, als die deutschen Truppen weite Teile Europas besetzten, auch in diesen Gebieten. Als die Nazis den Jazz als „Entartete Musik“ brandmarkten, wäre zu erwarten gewesen, dass der Swing sterben würde – als Musikstil wie als Lebensform –, aber genau das passierte nicht, sondern das Gegenteil trat ein. Ähnlich wie in vielen deutschen Großstädten zu Beginn des Krieges wurde in Gesamteuropa geswingt wie nie zuvor, trotz Unterdrückung und Gleichschaltung. Manche Jazzkritiker sprechen sogar vom „Goldenen Zeitalter des Jazz“.

Der Zigeuner Django Reinhardt war der populärste Musiker Frankreichs, der schwarze Musiker George Scott nahm die gleiche Stelle in Warschau ein. Schulz-Köhn – ein Offizier der Wehrmacht und begeisterter Count-Basie-Fan – gab einen Jazz-Newsletter heraus (siehe Kapitel „Schluss“); ein deutscher Jagdflieger hörte im Anflug BBC, bevor er deren Sendemast bombardierte, selbst im KZ wurde eine Jazzband gegründet: The Ghetto Swingers (siehe Kapitel „Der Ghetto-Swinger“).

Andererseits war Jazz auch ein Element der Widerstandsbewegungen, besonders in Holland, Belgien und Frankreich (siehe Exkurs „Zazou Hey“).

In Italien wurde Jazz genauso verboten wie in Japan, der Grund bei Letzteren war die Feindschaft zu Amerika. In diesem Zusammenhang ist es auch ganz spannend, einen Blick auf die Stellung des Jazz in anderen totalitären Staaten zu werfen, denn auch von links schlug dem Jazz Ablehnung entgegen.

Theodor W. Adorno z. B. lehnte Jazz kategorisch ab. Für seine beiden Schriften „Über Jazz“ (1936) und „Zeitlose Mode. Zum Jazz“ (1953) erntete er viel Unverständnis (Horkheimer/Berendt) und Ablehnung („Adorno wrote some of the most stupid pages ever written about Jazz“ – Eric Hobsbawm). „Ziel des Jazz ist die mechanische Reproduktion eines regressiven Moments, eine Kastrationssymbolik, die zu bedeuten scheint: Gib den Anspruch deiner Männlichkeit auf, lass dich kastrieren, wie der eunuchenhafte Klang der Jazzband es verspottet und proklamiert, und du wirst dafür belohnt, in einen Männerbund aufgenommen, welcher das Geheimnis der Impotenz mit dir teilt, das im Augenblick des Initiationsritus sich lüftet.“38 Abgesehen vom sprachlichen Stil fragte ich mich öfters, was bei Adorno zu dieser vehementen Ablehnung des Jazz führte?

Eine Antwort fand ich in der Autobiographie von Joachim-Ernst Berendt, laut der die beiden im Jahr 1953 in der Zeitschrift Merkur eine Fehde über dieses Thema austrugen. Theodor W. Adorno hatte Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts versucht, sich als Jazzpianist in Berlin ein Zubrot zu verdienen. Damit scheiterte er kläglich.

Und auch auf intellektuellem Gebiet hatte er keinen Erfolg in Amerika, dem Land des Jazz. Dies verstärkte seine Antipathie gegen diesen Musikstil noch. „Man muss das deutlich sehen: Jede von Adornos Jazzattacken nach der Mitte der dreißiger Jahre war auch eine Attacke auf Amerika.“6

Die Geschichte des Jazz in der Sowjetunion und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten war eine ambivalente – irgendwo zwischen geduldet und verboten. Maxim Gorki meinte: „Dieses widerwärtige Chaos wahnsinniger Töne folgt einem kaum greifbaren Rhythmus. Wenn man diese Dissonanzen ein paar Minuten angehört hat, glaubt man unwillkürlich, dass hier ein Orchester von Geistesgestörten spielt. Scheinbar auf sexueller Basis wahnsinnig geworden, dirigiert irgendein Zentaur mit einem riesigen Phallus.“ Und Clara Zetkin bestätigte: „Zu meiner Zeit hat man so was im Bett gemacht.“12

Kurz nach der Oktoberrevolution hatten sich in ganz Russland Jazzbands gebildet. Man sah im Jazz einen Verbündeten für alles revolutionär Neue. Einen weiteren Auftrieb erhielt die Jazzmusik in der Sowjetunion nach einem Gastspiel von Sidney Bechet und seiner Band 1925. Neue Gruppen schossen wie Pilze aus dem Boden, man orientierte sich an Bechets Stil und Songs. Sowjetische Komponisten verwendeten Jazzmusik in ihren Werken, so z. B. Schostakowitsch in seiner 2. Sinfonie. Ende der zwanziger Jahre jedoch setzte die „Vereinigung Proletarischer Musiker“ den Jazz zusammen mit der Musik Chopins und Tschaikowskis auf die schwarze Liste, sie war „nicht proletarisch“. 1932 wurde die Vereinigung aufgelöst und es begann eine erneute rege Jazztätigkeit. Bis 1938 wurde unvermindert in allen Schichten des Volkes geswingt. Diesmal traten die Kulturfunktionäre auf den Plan, sie befürchteten eine zu starke Amerikanisierung. Man versuchte, die freie Jazztätigkeit durch eine staatlich gelenkte einzuschränken, und es wurde die „Staatliche Jazzkapelle der UdSSR“ gegründet, welche wiederum gängige Unterhaltungsmusik spielte. Als Jazz dann ganz in den Verruf eines „dekadenten bürgerlichen Machwerkes“ geriet, wurde auch dieses Orchester aufgelöst und durch Schlager mit „süßlich-patriotischer Färbung“ abgelöst.

Doch nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich wieder eine Jazzszene bemerkbar, vor allen Dingen in den Großstädten. Die Antwort waren heftige ideologische Angriffe auf den Jazz aus der Presse. So verdammte 1952 die Sowjetkunst den Jazz als „roh, armselig und überflüssig“. Doch besonders die Stadtjugend begeisterte sich am Jazz und so wurden die offiziellen Bestimmungen des Jazzverbots gelockert. 1956 erschien in der Sowjetmusik ein Artikel über „Legende und Wahrheit im Jazz“, und auch die Intelligenz begann sich für den Jazz zu interessieren.