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Ein Sensenmann im Weihnachtsoutfit

Weihnachten war so eine Sache. Wenn er ehrlich war, hatte Otto seit geraumer Zeit in etwa so große Lust auf dieses Fest wie auf einen dieser fiesen unangekündigten Biologietests, die Mr Walker gerne schreiben ließ. Weihnachten war das Fest der Familie – und warum sollte Otto ein solches Fest feiern, wenn er nicht einmal wusste, wie es seiner Mum und seinem Dad überhaupt ging? Die beiden galten seit über zwei Jahren als verschollen. Erst deshalb war er überhaupt zu Tante Sharon in den Radieschenweg gezogen. Ein trauriges Kapitel in Ottos Leben.

Zum Glück gab sich Tante Sharon jedes Jahr die größte Mühe, Weihnachten zu einem besonderen Ereignis zu machen, sodass Otto seine Sorgen fast vergessen konnte. Und das ließ sich seine sonst so sparsame Tante eine ordentliche Stange Geld kosten: Sie backte eine Wagenladung an Zimtsternen, schmückte die ganze Villa mit Mistelzweigen und Tannennadeln und im Salon stand ein üppig behängter Weihnachtsbaum, der bis zur Decke reichte. Außerdem besorgte sie DVDs mit den besten Weihnachtsfilmen und im Ofen schmorte ein saftiger Braten. Auch an den Geschenken sparte sie nicht: Otto bekam Bücher, Klamotten, CDs, Brettspiele und Zeug für die Schule, während sich Tante Sharon selbst mit mindestens drei ausrangierten Uhren beschenkte, an denen sie dann im neuen Jahr herumbasteln konnte.

Und wenn während Tante Sharons Weihnachtszauber doch schlechte Laune aufkam, gab es immer noch Ottos drei Hausgeister Sir Tony, Molly und Bert, die jedes Jahr für reichlich Chaos sorgten. Molly versteckte an Weihnachten statt Socken am liebsten Christbaumkugeln, Bert mampfte im Kühlschrank heimlich die Reste des Bratens und als Sir Tony letztes Jahr mit Lametta behangen durch den Salon geschwebt war, hatte Otto nur dem Himmel danken können, dass Tante Sharon gerade nicht im Raum gewesen war.

Otto fand es immer wieder erstaunlich, wie sehr sich die drei für Weihnachten begeistern konnten. Dieser Weihnachtsabend war keine Ausnahme. »Jetzt meins, jetzt meins! Du musst mein Geschenk auspacken«, drängte Molly, die in ihrem Nachthemd auf Ottos Schreibtisch hockte und aufgeregt mit den Beinen wippte. »Ich habe dein Geschenk extra in ein kleines Schächtelchen eingepackt, das ich innen mit Watte ausgelegt habe. Na ja, okay, es sind eigentlich bloß Waschmaschinen-Flusen, aber egal. Willst du es nicht aufmachen?«

Die Hausgeister in Tante Sharons Villa waren schon eine verrückte Truppe. Seit Ottos Einzug hatten sie es sich zur Tradition gemacht, ihn jedes Jahr in der Nacht vor dem fünfundzwanzigsten Dezember zu beschenken – natürlich erst dann, wenn Tante Sharon bereits zu Bett gegangen war. Und weil Geister nun mal nicht einfach in den nächsten Laden spazieren und dort ein Buch von Ottos Wunschzettel kaufen konnten, waren die Geschenke meist sehr … speziell.

»Oh, eine neue blaue und eine neue rote Socke.« Otto spähte in Mollys Schachtel. »So ein Zufall, genau die gleichen sind mir letzte Woche beim Wäschewaschen abhanden gekommen. Vielen Dank, Molly.«

Molly nickte glücklich. Natürlich war Otto klar, dass Molly die Socken absichtlich vor ihm versteckt hatte, aber er wusste, dass sie ihm eine Freude machen wollte – und schließlich war es die Geste, die zählte. Ähnlich ging es ihm mit Berts Geschenk, einer Packung angebrochenem Erdbeerjoghurt aus dem Kühlschrank – inklusive einer kleinen roten Schleife drauf. Leider roch der Inhalt nicht mehr wirklich lecker.

»Danke, Bert.«

»Ich weiß ja, wie sehr du Erdbeerjoghurt liebst«, antwortete der lange, hagere Hausgeist. »Und da ich nun mal im Kühlschrank lebe, sitze ich sozusagen an der Quelle.«

Natürlich hatte auch Otto Geschenke für seine drei Lieblingsgeister. Bert bekam sein Leibgericht, einen ganzen Laib Käse, Molly eine Packung schäumendes Waschmittel für ihre Waschmaschine und Sir Tony ein Porträt seiner selbst, das Otto im Kunstunterricht mit Wasserfarben gemalt hatte. Ms Singh, die Kunstlehrerin, hatte vor Lachen gegluckst und angenommen, dass es sich dabei um Ottos ganz schön fülligen, ziemlich blassen Onkel handelte, aber das verriet Otto Sir Tony natürlich nicht.

»Dafür hast du sicher eine Eins bekommen«, meinte Sir Tony beeindruckt und strich verliebt über sein Ebenbild. »Nachdem Tante Sharon das Porträt von mir zu Lebzeiten auf den Speicher verbannt hat, habe ich jetzt endlich ein neues. Für den Platz über dem Kamin ist es etwas zu mickrig, aber du könntest es ja in deinem Zimmer aufhängen. Über deinem Bett.«

»Wird gemacht.« So durchgeknallt sie auch waren, seine drei Geister wollte Otto auf keinen Fall wieder hergeben. Vor Kurzem waren sie ihm beinahe abhandengekommen, doch zum Glück war die Sache gerade noch mal gut ausgegangen. Und das hatte Otto vor allem seinem Kumpel Harold zu verdanken, einem echten Sensenmann, dem er vor einigen Monaten zum ersten Mal begegnet war. Scary Harry, wie er manchmal genannt wurde, war kein bisschen gruselig, auch wenn es sein Job war, die Seelen Verstorbener einzufangen, in Gurkengläser zu packen und ins Jenseits zu liefern.

Wo Harold wohl heute steckte? Ob er heute noch bei Otto vorbeischauen würde? Als es schließlich Mitternacht wurde und die Geister mit ihren Geschenken im Gepäck abgeschwirrt waren, hockte sich Otto auf seinen Lieblingsplatz am Fensterbrett und starrte auf den nächtlichen Radieschenweg. Schon seit Tagen schneite es, und die ganze Straße sah aus, als hätte jemand eine dicke Schicht Puderzucker darübergestreut. Am Abend war auch noch ein eisiger Wind aufgezogen und trieb den Schnee in alle möglichen Himmelsrichtungen. Otto war froh, dass er hier drin im Warmen war.

Armer Harold. Nicht mal an Weihnachten gewährte ihm das Seelen-Beförderungs-Institut, kurz SBI, einen freien Tag. Otto hoffte, dass Harolds schrottreifer Dienstwagen nicht im Schnee stecken blieb und der Wind keine Gurkengläser von der Ladefläche wehte. Denn wenn Seelen nicht rechtzeitig eingefangen und ins Jenseits gebracht wurden, entstanden daraus Geister wie Sir Tony, Bert und Molly – und zu viele davon sorgten für heilloses Chaos, wie Otto in den letzten Wochen leidvoll miterlebt hatte.