Titelseite

Unveränderte eBook-Ausgabe
© 2015 Seifert Media GmbH, Wien
1. Auflage (Hardcover): 2014

Cover: Rubik Creative Supervision
Foto: Andreas Hermann
Verlagslogo: Padhi Frieberger

ISBN des Hardcovers: 978-3-902924-33-9

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Ungargasse 45/13
1030 Wien

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Was ist wichtig, damit ich Leistung bringen kann?

Es gibt so viele Teilbereiche im Skispringen, in denen sich ein Sportler verbessern kann, im Grunde könnte er Tag und Nacht trainieren und an sich arbeiten. Das wäre angesichts einer effektiven Regeneration nicht sinnvoll, und so ist wichtig zu begreifen: Es gibt kein Patentrezept für Spitzenleistungen. Natürlich braucht es gewisse Grundvoraussetzungen, um einen Wettkampf gut bestreiten zu können, doch auf welche Bausteine ich setze, und vor allem wie ich sie gewichte oder anordne, das ist eine sehr individuelle Entscheidung. Ein Trainer sollte alle Teile im Blick haben, denn schon kleinste Veränderungen in nur einem Bereich haben Auswirkungen auf das Gesamtsystem. Und so reicht es nicht, nur an bestimmten Schrauben herumzudrehen, sondern ich muss auch den Rest des Systems adaptieren. Wenn ich im Folgenden verschiedene Faktoren, die für eine gute Skisprungleistung wichtig sind, beschreibe, dann ist diese Aufzählung weder vollzählig noch spielt ihre Reihenfolge eine entscheidende Rolle. Ich folge – nicht immer – gedanklich dem Ablauf eines Sprunges, vom Balken bis zum Auslauf.

Geschwindigkeit

Um weit springen zu können, brauche ich eine gute Beschleunigung im Anlauf. Eine effektive Anfahrtsposition bringt mehr Geschwindigkeit. Um diese Position halten zu können, braucht es entsprechende körperliche Voraussetzungen: neben Kraft auch die nötige Balancefähigkeit. Dabei geht es nicht nur darum, nicht nach vorne oder hinten zu kippen, sondern um das Spüren feinster Nuancen in der Druckverteilung. Gelingt es dem Athleten, links und rechts gleich zu belasten, dann lässt er den Skiern mehr Freiraum. Er »lässt sie laufen«, indem er sie nicht einseitig an die Spur drückt, wodurch sie mehr gebremst würden. Ist ein Springer im Anlauf zu langsam, gilt der Fokus zum Leidwesen der Servicetechniker meist sofort dem Material und der Skipräparierung, das Gleiten-Können des Athleten ist aber genauso wichtig. Beim Absprung ist es nun entscheidend, die gewonnene Geschwindigkeit möglichst verlustfrei in die Flugphase mitzunehmen. Verlorenes Tempo ist hier nicht mehr aufzuholen und entscheidet über Sieg oder Niederlage.

Kraft

Es braucht Kraft, die tiefe Anfahrtsposition halten zu können, und dieses Vermögen wird vor allem beim Durchfahren des Radius auf die Probe gestellt. Genauer gesagt, darf man nicht mehr von einem Radius, sondern von einer Kurve sprechen. Der Schanzentisch zeigt im letzten Teil geradeaus bzw. 11 Grad nach unten. Es ist eine Kunst, und es erfordert Kraft, die in den Muskeln gespeicherte Energie bis zum entscheidenden Moment zu halten. Der Gegendruck des Radius nimmt bis zum Schanzentisch ab und würde dazu verführen, nachzulassen und die Position zu ändern. Es folgt eine explosive Absprungbewegung mit maximaler Kraft, die mit keiner anderen Sportart zu vergleichen ist. Denn im Gegensatz zur Leichtathletik beispielsweise kann sich das Sprunggelenk beim Skispringen nicht vollständig öffnen. Die Bewegung ist stark limitiert: einerseits durch die Stützen im Schuh und andererseits durch das schnelle Hereinholen der Ski, sobald der Athlet in der Luft ist. Auch die Hüfte öffnet sich nur teilweise, für die Flugposition ist eine Beugung von Vorteil, einzig die Knie werden vollkommen durchgestreckt. Beim Trockentraining oder auf der Messplatte will natürlich auch ein Skispringer seine Sprungkraft spüren und drückt sich voll vom Sprunggelenk weg. Diese Werte aber als absolute Leistungsparameter für das Skispringen zu nehmen, wäre ein Trugschluss: Hier geht es vielmehr um den Wirkungsgrad der Bewegung. Beste Sprungkraftwerte schaden sicher nicht, sind aber noch lange keine Garantie für eine gute Skisprungleistung. Die Balance in der Bewegung ist entscheidend, und dazu müssen Sprunggelenks-, Knie- und Hüftwinkel einbezogen werden. Drei Mitglieder der österreichischen Nationalmannschaft sind dafür das beste Beispiel: Während Wolfgang Loitzl und Thomas Morgenstern aufgrund ihrer herausragenden Sprungkraftwerte, allen um die Ohren springen müssten, hätte Martin Koch niemals einen Sieg feiern dürfen.

Serienbilder: Der Absprung, in kleinste Sequenzen zerlegt
Serienbilder: Der Absprung, in kleinste Sequenzen zerlegt

Auch während der Luftfahrt ist ein gewisses Maß an Kraft notwendig, um die Körperspannung halten zu können. Ich kann mich erinnern, dass Sportler noch in der Luft einen Muskelkrampf bekamen, weil sie – um möglichst leicht zu sein – am Wettkampftag nichts getrunken hatten. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei, denn auch die Landung ist extrem kräfteraubend. Jeder Meter weiter ab dem kritischen Punkt bis zur Hillsize bedeutet einen wesentlich höheren Krafteinsatz. Und es hängt auch von der Höhe und der Geschwindigkeit ab, mit der ich zur Landung ansetze. Der bereits beschriebene Trampolin-Effekt der sich aufbiegenden Skier erlaubt dabei ein ökonomischeres Aufsetzen.

Gleichgewicht

Skispringen ist vom Abstoß bis zum Abbremsen ein Balanceakt. Ein gutes Gleichgewichtsgefühl ist daher eine Fähigkeit, die ein Athlet in hohem Maß braucht. Wahrnehmung, Sensorik und Nervenbahnen müssen schnell und gut funktionieren, um jede Nuance spüren und sich darauf einstellen zu können. Und das, obwohl ich immer schneller werde und mich in eine an sich lebensgefährliche Situation bringe.

Rhythmus/Timing

Ich spreche gerne davon, dass jede Schanze ihren eigenen Rhythmus hat und dass es wichtig ist, diesen aufzunehmen. Ein gutes Beispiel dafür, das auch für den Zuseher klar erkennbar ist, stellt bei der Vierschanzentournee der Bakken in Bischofshofen dar. Optisch hat er einen viel längeren Tisch, obwohl man genauso lange geradeaus fährt wie auf allen anderen Schanzen. Die Anfahrt ist dafür deutlich weniger steil, die Springer beschleunigen wesentlich langsamer und brauchen länger, bis die Absprunggeschwindigkeit erreicht ist. Das bedeutet auch, dass sich das Zeitfenster, in dem ein Athlet den Luftwiderstand in der Anfahrt stärker spürt, deutlich verschiebt. Diese Veränderungen, also den eigenen Rhythmus der Schanze zu erfühlen, erfordert eine hohe Anpassungsfähigkeit. Auch die Luftfahrt ist an jedem Wettkampf­ort eine andere, je nach Schanzenprofil ergibt sich eine andere Flugkurve. Die Springer beobachten genau, wie lange sie den Vorbau entlangfliegen, bis sie in die Fallphase kommen oder die Linienmarkierungen sehen. Das persönliche Empfinden ist allerdings sehr subjektiv und je nachdem, welche Vorerfahrungen man gemacht hat, unterschiedlich. Für mich hört sich ein steiler Anlauf im Radius beispielsweise wie ein dramatischer Trommelwirbel an, es ist laut, und es entsteht viel mehr Stress. Ein flacher Anlauf dagegen erlaubt ein gleichbleibendes, viel ruhigeres Erlebnis.

Das Timing kommt dem Rhythmus sehr nahe, richtet sich aber mehr nach messbaren Gegebenheiten. Es geht darum, zu welchem Zeitpunkt ein Springer welche Aktionen setzt. Wann leitet er den Absprung ein? Wann setzt er zur Landung an? Ist es zu spät und er verschenkt wertvolle Weitenmeter, oder ist es zu früh und er muss abrudern? Für das Übersetzen in die Luft ist für mich mehr Rhythmusgefühl als Timing entscheidend, denn diese Bewegungen sind automatisiert und kognitiv kaum steuerbar.

Fluggefühl/Aerodynamik

Ob ein Springer mit dem Medium Luft spielen kann oder nicht, hängt von seiner Erfahrung und seinem Fluggefühl ab. Dieses Spiel, wenn sich das Körper-Ski-System schließt und sich das V öffnet, gleicht immer einem Grenzgang. Es ist ein permanentes Abwägen zwischen Sicherheitsdenken oder der unglaublichen Leichtigkeit des Fliegens. Gerade zu Beginn einer Skisprung-Karriere sorgt der spürbare Widerstand unter den Skiern für das gute Gefühl, dass die Luft einen trägt. Je steiler die Skier angestellt sind, desto stärker ist diese Wirkung, sie sorgt aber auch dafür, dass der Springer an Geschwindigkeit und damit an Weite verliert. Während Nachwuchssportler also ehrfürchtig vom »starken Druck« an so mancher Schanze erzählen, scheinen Topspringer ihre Skier in der Luft gar nicht zu spüren. Und das, obwohl diese zwei Bretter je nach Körpergröße ca. 2,60 m lang und 11,5 cm breit und nur über den Schnabel der Bindung mit dem Sportler starr verbunden sind. Für einen Spitzenathleten gilt es, so vom Schanzentisch wegzukommen, dass der Ski möglichst wenig bremst, also kaum Druck zu spüren ist, um dann möglichst aerodynamisch Richtung Hillsize zu gleiten. Verschiedene Witterungsbedingungen verlangen dabei vom einzelnen Sportler ein ständiges Ausbalancieren, wie viel Sicherheit notwendig bzw. wie viel Minimierung des Luftwiderstandes möglich ist.

Andreas Kofler in der Flugphase – Gratwanderung zwischen Sicherheit und Weitenjagd
Andreas Kofler in der Flugphase – Gratwanderung zwischen Sicherheit und Weitenjagd

In der Flugphase spielen die Skier aus aerodynamischer Sicht eine ganz eigene Rolle als zusätzliche Tragflächen. Schon zu Zeiten des Parallelstils wurde dieses Potential erkannt, und man begann, die Skier statt unter dem Körper seitlich versetzt zu führen, um mehr Fläche aufbieten zu können. Perfektioniert wurde dieses Prinzip dann durch den V-Stil, durch den sich auch die Körperschwerpunkte positiv verändert haben. Um dieses V zu bilden, bedarf es einer völlig unnatürlichen Bewegung: Der Springer macht nicht – wie man vermuten würde – einfach eine Grätsche, sondern er dreht seine Hüfte und seinen Fuß aus. Letzteren nicht nach außen, sondern nach innen. Drehte man die Fußsohle nach außen, so würde der Ski aufgekantet, und dadurch ginge wieder entscheidende Fläche verloren. Wer das Ganze jetzt unter wildesten Verrenkungen gerade ausprobiert hat, merkt, wie schwer es nachvollziehbar ist und wie eigenartig sich das anfühlt. Deshalb hat man auch verschiedenste Hilfsmittel entwickelt, um diese Bewegung zu erleichtern: Das wäre zunächst einmal eine veränderte Schuhbiegung, eine nach innen geneigte Schuhstütze, dann die Stabbindung (die ein Band ersetzte) und schließlich die gebogene Koppelstange, die ein Aufkanten der Skier völlig verhindern sollte. Für die Athleten hat sich damit die Bildung des effektiven V enorm vereinfacht, und es gelingt, die Ski im Flug flacher zu führen, was einen enormen Gewinn an Tragfläche bedeutet. Das hat in den letzten Jahren einen so großen Leistungsschub gebracht, dass bei vielen Schanzen zusätzliche Abfahrts-Luken nach unten gebaut werden mussten, um mit noch weniger Anlauf springen zu können. Und das Material wurde insgesamt so adaptiert und reglementiert, dass es weniger flugtauglich ist. Die Springer sollen ja schließlich dort landen, wo es für sie noch möglich und sicher ist.

Um die Aerodynamik zu verbessern, wird meist sehr viel Aufwand betrieben. Mehrmals im Jahr gibt es dazu Tests in einem Windkanal. In einem kleineren werden die verschiedenen Oberflächen der Sprunganzüge getestet, und in einem großen, den sogar Züge befahren können, feilen die Springer an ihrer Flugposition. Während die alpinen Skifahrer diese teure Messanlage nutzen, um eine noch schnellere Abfahrtsposition zu finden, beschäftigten wir uns viel mehr mit der Flugphase. Da ging es in erster Linie nicht um genaue Messergebnisse, sondern um die Möglichkeit, sich wesentlich länger im Medium Luft zu bewegen, als das auf der Schanze in Wirklichkeit möglich ist. Bei einer normalen Trainingseinheit macht ein Sportler meist fünf bis sechs Sprünge, kommt also auf höchstens 20 bis 25 Flugsekunden. Im Windkanal kann er drei bis fünf Minuten mit der Luft spielen und verschiedenste Körperhaltungen (fast) gefahrlos ausprobieren. Auf der Schanze bringt jede Veränderung des gewohnten Bewegungsablaufs Labilität und Verunsicherung mit sich. Denn ob etwas Neues funktioniert oder nicht, sehe ich nicht im Trockentraining, sondern nur beim nächsten Sprung.

Risikobereitschaft, (Selbst-)­vertrauen, ­Fähigkeit zur ­Antizipation

Um sich im Skispringen stetig zu verbessern, werden im Laufe einer Karriere oft Bewegungsabläufe verändert oder adaptiert. Damit sind die Sportler aber immer wieder mit großen Unsicherheiten und Risiken konfrontiert, und das in einer Umgebung, die für den Organismus ohnehin eine Gefahrenzone darstellt. Das Stresspotential ist bei jedem Sprung enorm hoch, die Wahrnehmung dadurch sehr eingeschränkt. Jede Veränderung wird zu einem langwierigen Prozess, und eine solide Grundausbildung ist extrem wichtig. Damit ersichtlich wird, ob eine Veränderung das gewünschte Ergebnis bringt, muss der restliche Sprung in den gewohnten Abläufen und Zeitfenstern bleiben. Das ist sehr schwierig, und so ist zum Beispiel das Entfernen der Arme vom Körper bei der Flugphase für manche fast schon eine Lebensaufgabe. Damit ein Springer überhaupt etwas verändern kann, braucht er die Fähigkeit zur Antizipation. Er muss visualisieren können, wie die neue Bewegung ausschauen und wie sie sich anfühlen soll. Damit es nicht zu einer gefährlichen Stressreaktion kommt, muss er mental darauf vorbereitet sein, was er spüren wird. Das Erste, was ein junger Springer lernt, ist, dass er Knie und Beine immer gestreckt halten muss. Im Schreck würde man normalerweise die Knie anziehen, und das endete fatal!

Das Absprung- und Systemschlussverhalten eines Springers verläuft fast reflexhaft und stellt für ihn eine gewisse Schutzreaktion dar. Die Athleten schlittern daher immer wieder in alte, automatisierte Bewegungsmuster zurück, die ihnen die größtmögliche Sicherheit geben. Skispringen verlangt die Bereitschaft zum Risiko, ist ein stetiges Überschreiten der persönlichen Grenzen, und damit eine enorme psychische Belastung. Nicht umsonst verlieren manche Sportler beim Skifliegen an Körpergewicht, wobei die körperliche Belastung da eher eine untergeordnete Rolle spielt.

Vertrauensverhältnis Athlet–Trainer

Da sich ein Skispringer stets auf so viele Unwägbarkeiten einstellen muss, ist es wichtig, dass er in einigen Bereichen die Verantwortung an einen Vertrauensmann abgeben kann. Der Trainer übernimmt dabei die Einschätzung zusätzlicher Unsicherheitsfaktoren, wie Schanzenbeschaffenheit, Spurbeschaffenheit und Witterung. Kommt das Freizeichen durch das Abwinken der Fahne, muss der Athlet dem Trainer vollkommen vertrauen. Er verlässt sich in diesen Bereichen komplett auf den Betreuer, da im Sprung selbst ja schon so viel Verantwortung liegt. Viele Springer reagieren allein schon darauf, wie das Freizeichen gegeben wird, sehr sensibel. Es ist eine letzte Möglichkeit zur nonverbalen Kommunikation vor dem Abstoßen, eine letzte Möglichkeit, den Springer in einem gewissen Maß zu regulieren. Signalisiere ich ihm Sicherheit oder gebe ich den Anstoß für volle Risikobereitschaft? Ein Trainer muss die einzelnen Athleten sehr gut kennen, um zu entscheiden, was jemand in diesem Moment verträgt.

Die Materialfrage

Während ein Alpinfahrer unter zahlreichen Paaren Ski das passende für das heutige Rennen aussucht, hat ein Skispringer eventuell noch einen zweiten Ski für den Notfall mit dabei. Das Verhältnis Springer–Ski ist ein ganz spezielles, denn wie in einer Beziehung muss er erst das Vertrauen zu einem bestimmten Paar aufbauen. Hat das geklappt, bleibt der Springer meist unerbittlich bis zum Ende der Saison treu. Egal ob Ski, Schuh, Bindung oder Anzug – es gibt derzeit kein besseres Messgerät im Materialbereich als die Rückmeldung eines Sportlers. Gerade bei den Anzügen haben schon so viele Spezialisten steif und fest behauptet, dass die Farbe nichts ausmacht. Doch der Athlet spürt feinste Nuancen: eine etwas andere Dehnbarkeit, eine andere Oberflächenstruktur, die Luftdurchlässigkeit. Da steckt so viel Sensibilität dahinter, Sicherheit und Leistungsoptimierung immer im Hinterkopf. Interessanterweise ist es bis jetzt noch keinem externen Servicespezialisten gelungen, die Skier im Anlauf wesentlich schneller zu machen. Von mindestens einem km/h war da oft die Rede, doch obwohl die Anfahrt der am höchsten standardisierte Teil des Skispringens ist, macht die Ski-Präparierung nicht allein die Geschwindigkeit aus: Es ist der Sportler mit seiner Fähigkeit zum Gleiten, während er schon den Absprung antizipiert.

Doch gerade weil die Materialfrage ein so sensibler Bereich ist, gerät man extrem leicht auf eine falsche Fährte. Eine kritische Situation kann so schnell verankert werden, dass beim nächsten Sprung mit demselben Material schon Hemmungen da sind. Dabei gibt es so viele nicht messbare thermische Gegebenheiten – und da spreche ich nicht von Rücken- oder Aufwind –, die eine Situation negativ oder positiv beeinflussen können. Das Material spielt da oft gar nicht diese große Rolle, die man ihm zumisst. Als Trainer muss man sich wirklich die Frage stellen, wie aussagekräftig manche Analysen im Hinblick darauf sind und inwieweit man sich darauf einlässt. Skispringen ist an sich also eine sehr fragile Sportart, die ein hohes Maß an Weitblick und Anpassungsfähigkeit erfordert. Eine gute Leistung baut auf so vielen unterschiedlichen Bausteinen auf, würde man diese in Form einer Pyramide aufschichten wollen, gelangte man wohl nie an deren Spitze. So groß wäre die Gefahr, sich irgendwo zu verzetteln und mitten drin hängen zu bleiben.

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Was ist Skispringen?

Was macht die Faszination beim Skispringen aus? Was bewegt scheinbar verrückte Männer und Frauen dazu, sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über riesige Schanzen ins Leere zu stürzen? Und warum jubeln ihnen dabei auch noch Tausende von Menschen begeistert zu? Liegt es an der Exklusivität? Tatsächlich wagen es, weltweit gesehen, ja nur wenige, diese Sportart auszuüben. Oder ist es der Nervenkitzel, ob es gelingt, die Angst vor der Höhe und der extremen Geschwindigkeit tatsächlich zu überwinden? Ist es der Traum vom Fliegen, auch wenn er nur wenige Sekunden andauert?

Es wird eine Mischung aus allem sein, dass Skispringen seit Jahrzehnten für Zuschauerrekorde sorgt. Wie groß die Kräfte tatsächlich sind, die auf einen Sportler wirken, wird für die meisten erst ersichtlich, wenn sie einmal einen Bewerb vor Ort erlebt haben. Da geht alles viel schneller, die enorme Geschwindigkeit im Anlauf und in der Luft ist regelrecht hörbar, die wahren Größendimensionen werden spürbar. Im Fernsehen wird oft erst bei missglückten Sprüngen oder Stürzen klar, welchen Kräften man sich ausliefert. Und trotzdem fesselt das Skispringen auch Massen vor den TV-Bildschirmen, wie es die Quoten Jahr für Jahr beweisen. Für mich liegt ein wesentlicher Beweggrund dafür in der Ästhetik dieser Sportart – und die wird gerade in den Zeitlupenaufnahmen der Fernsehstationen besonders ersichtlich. Es schaut so einfach aus, wenn ein Springer vom Anlauf in die Luft gleitet. Alle Bewegungen fließen harmonisch ineinander über, von Hektik keine Spur. Schanze – oft architektonisch wertvoll – und Flugkurve sind perfekt aufeinander abgestimmt, der Springer landet im Normalfall immer dort, wo er es auch soll.

Ich persönlich kann mich noch gut an meine ersten kleinen Schanzen erinnern, die ich, kaum dass ich ein bisschen Skifahren konnte, mit meinem Vater gebaut habe. Ein passender Hang war da oft wichtiger als ein Lift. Und die meisten Eltern wissen – so wie ich es bei meinen Kindern erlebt habe –, welches Vergnügen es ist, beim Skifahren über Kanten oder Kuppen zu springen (den sicheren Landungsbereich natürlich vorausgesetzt). Vom Fliegen ist da noch keine Rede, aber dieses kitzlige Gefühl im Bauch, wenn es einem den Magen kurz aushebt, kennt jeder. Diese Air-Time, wie man das beim Achterbahn-Fahren nennt, entsteht, wenn die horizontale Geschwindigkeit erschöpft ist und die Erdanziehung greift. Als Skispringer gewöhnt man sich daran, denn dieses Gefühl ist sogar bei der Anfahrt spürbar, wie ich selbst als aktiver Springer nach einer längeren Pause erstaunt festgestellt habe.

Meine ersten Sprungversuche beim Skifahren
Meine ersten Sprungversuche beim Skifahren

Der große und entscheidende Unterschied zwischen einem Skisprung-Bakken und den meisten selbstgebauten Schanzen ist die Neigung des Schanzentisches: der ist nämlich nicht gerade und geht schon gar nicht nach oben, sondern neigt sich mit 11 Grad nach unten! Nur so sind immer größere Weiten möglich. Und genau dieser Drang, immer weiter zu springen, wird für die meisten Kinder und Jugendlichen, die dem Skisprung-Virus verfallen sind, schnell zur Sucht (im positiven Sinne). Allerdings ist ein gutes Maß an Geduld gefragt, denn es bleibt stets Luft nach oben. Von der 10-Meter- zur 20-Meter-Schanze und so weiter sind es Riesenschritte, bis man schlussendlich zum ersten Mal auf einem Flugbakken steht – für die meisten dauert das ein halbes Springerleben.

Der erste einschneidende Moment für einen jungen Athleten ist der erste Sprung mit speziellen Sprungski. Zum einen sind sie Statussymbol, zum anderen wird der Luftwiderstand, das Luftpolster, nach dem Absprung zum ersten Mal wirklich spürbar. Die Sprungski der Kinder sind dazu noch, prozentuell gesehen, viel breiter als die der Erwachsenen, sie erinnern eher ans Wasserskifahren. Sie haben auch keine Kanten wie Alpingeräte, und für eifrige Eltern gilt es beim Wachsen, nicht nur eine, sondern bis zu sechs Führungsrillen auszuziehen. Das Bindungssystem mit der nicht fixierten Ferse stellt für die Nachwuchsathleten dabei die größte Herausforderung dar, und das sowohl bei der Anfahrt als auch bei Absprung, Flug und Landung.

Worum geht es nun beim Skispringen? Trivial gesagt: Man möchte mit möglichst wenig Anfahrt möglichst weit springen, und das Ganze sollte auch noch mit einem traditionellen Aufsprung gekrönt werden. Der Telemark ist heute wirklich nur mehr Teil einer Tradition, früher war er aufgrund der fehlenden Stützen in den Schuhen absolut notwendig. Skispringen ist von der ersten Sekunde an ein Balanceakt: Schon das Abstoßen vom Balken und das Übergehen in die Anfahrtsposition, ohne sich mit der Ferse von der Bindung zu lösen, ist nicht so einfach, wie es aussieht. Jeder Laie wäre von der Steilheit und der hohen Beschleunigung überwältigt, genauso wie es Nachwuchssportlern ergeht. Die natürliche Reaktion darauf ist, sich nach hinten zu lehnen, allerdings würden einem dann die Ski quasi davonfahren. Ein ähnliches Reagieren löst – wenn man die ersten Meter geschafft hat – das Durchfahren des Radius aus. Wieder wird die Balance-Fähigkeit auf die Probe gestellt: Der Moment, in dem ich mich kopfüber ins Leere stürzen muss, kommt rasend schnell näher, und durch die Krümmung setzt die Zentrifugalkraft ein. Das Ziel ist es, den Radius stabil zu durchfahren, ohne kleiner zu werden. Ein Absitzen nach hinten oder ein Kippen nach vorne hätte jetzt fatale Folgen. Die Ausfahrt aus dem Radius ist extrem schnell, und es braucht eine Position, aus der man den Absprung einleiten kann. Würde man jetzt überlegen, was eigentlich genau zu tun ist, wäre man schon längst in der Luft und einfach in der Hocke über den Schanzentisch gefahren. Der Absprung dauert nämlich nur zwei Zehntelsekunden.

Die wahren Könner holen sich im Radius den entscheidenden Punch für einen explosiven Absprung. Die Zentrifugalkraft wird – sehr vereinfacht formuliert – in den Muskeln als eine Art Vorspannung gespeichert und entlädt sich beim Abdrücken am Schanzentisch. Um diesen Effekt besser nachvollziehen zu können, genügt es, von der tiefen Hocke auf eine Parkbank zu springen (oder sich das zumindest vorzustellen): Mit etwas Schwung gelingt dieses Vorhaben wesentlich leichter als aus einer längeren, starren Hockposition. Eine gewisse Muskelelastizität ist beim Durchfahren des Radius also von Vorteil.

Und dann wuchtet sich der Sportler hinaus in die Luft. Was für den Zuseher so leicht und selbstverständlich aussieht, stellt für den Athleten die sensibelste Phase seiner Sportart dar. Diese zwei Zehntelsekunden Absprung und die erste Sekunde der Flugphase entscheiden über Sein oder Nichtsein. Bei ungeübten Springern geht es da wirklich um Sturz oder Nicht-Sturz, bei den erfahrenen um das Finden einer effektiven Flugposition. Damit der Ski Luft von unten bekommt – andernfalls würde man nach unten abschmieren –, muss der Sportler auf ein Luftpolster »hinaufspringen«. Bei einem optimalen Absprung bewegt sich der Körperschwerpunkt weiter nach oben, während Oberkörper und Kopf möglichst unten und in der Strömung bleiben. Die Streckung erfolgt nur aus Beinen und Hüfte. Bei einem Trockentraining ist diese Bewegung für einen Laien noch recht gut nachvollziehbar, auf bewegtem Untergrund schaut es da schon anders aus. Ein Absprung auf Eis oder mit Inline-Skates lässt erahnen, wie schwierig dieser Moment im Skispringen ist.

Skisprungimitationen von einer bewegten Unterlage mit Zug nach oben (Heinz Kuttin, stehend, mit Thomas Morgenstern)
Skisprungimitationen von einer bewegten Unterlage mit Zug nach oben (Heinz Kuttin, stehend, mit Thomas Morgenstern)

In der Fachsprache oder im Fernsehen ist nun davon zu hören, dass sich das »System schließt«. Mit System ist in diesem Fall das Zusammenlaufen von Körper und Ski gemeint, was gerade in Zeitlupenaufnahmen eindrucksvoll zu sehen ist. Der Sportler drückt sich mit einer schnellen Bewegung vom Schanzentisch ab, und während er an Höhe gewinnt, biegen sich die Skier massiv nach unten durch. Sobald der Athlet in der Luft ist, muss er aktiv die Zehen nach oben ziehen, damit er den Ski zum Körper holen kann. Die Ferse löst sich von der Bindung, die Skier beruhigen sich und öffnen sich gleichzeitig zum V. Der Körper befindet sich in dieser Phase unter höchstem Stresseinfluss und ist dabei unheimlichen Luftkräften ausgeliefert – trotzdem braucht es jetzt ein hundertprozentiges Fluggleichgewicht. Jeder Anstellwinkel, egal ob Oberkörper, Ski oder Arme entscheidet darüber, wie die Balance aussieht. Wie stark der Luftwiderstand wirkt, wird schnell klar, wenn man beim Autofahren – als Beifahrer – die Hand durchs Fenster nach draußen streckt. Da braucht es einiges an Kraft, um sich dem Wind entgegenzustellen. Skispringer sind zu diesem Zeitpunkt mit über 90 km/h unterwegs.

Kognitiv ist der Übergang vom Absprung zum Flug nicht steuerbar, weil es einfach viel zu schnell geht. Bis ich einen klaren Gedanken gefasst habe, bin ich schon am Boden zerschellt. Skispringer handeln in diesem Moment intuitiv, im Idealfall greifen sie auf erlernte Muster zurück, niemals würden sie jetzt die Beine einziehen. In unzähligen Trainingseinheiten haben sie die notwendigen Bewegungsabläufe verinnerlicht und sich das Vertrauen erarbeitet, dass die Luft sie trägt. Für Spitzenleistungen muss dieses Vertrauen absolut gegeben sein, nur der kleinste Zweifel kann Schutzmechanismen in Gang setzen, die nicht bewusst gesteuert sind: Schon zum Schanzentisch hin verlagert man den Schwerpunkt leicht nach hinten, man zieht sich zurück, um quasi die Zeit bis zum Absprung etwas zu verlängern. Die Bewegungsmuster sind insgesamt verlangsamt (die Angst »lähmt«), oder man versichert sich durch Aufstellen des Oberkörpers beim Absprung eines massiven »Gegenwindpolsters«. Ein Teufelskreis, denn diese Schutzmechanismen bringen den Gesamtsprung noch mehr aus der Balance und machen ihn daher noch gefährlicher. Das Vertrauen, diese sensible Phase gut zu meistern, ist äußerst fragil und leicht zu erschüttern. Die Ursache für die im Skispringen oft unerklärbaren Formschwankungen sind meist genau dort zu finden.

Wie weit ich nun springen oder wie lange ich tatsächlich ein Gefühl des Fliegens genießen kann, hängt von der Größe und dem Profil der Schanze ab. Das Zusammenspiel zweier Komponenten ist dabei entscheidend: Geschwindigkeit und Höhe. Wie weit reicht meine horizontale Geschwindigkeit, bis ich zu fallen beginne, und aus welcher Höhe falle ich? Die Flugkurven der einzelnen Athleten sind sehr unterschiedlich: Der eine scheint den Aufsprunghügel entlangzuschleichen, während der andere zunächst hoch hinaufsteigt und dann umso schneller in die Tiefe stürzt. Der Traum eines jeden Springers ist es, die maximale Geschwindigkeit der Anfahrt beim Absprung mitzunehmen und gleichzeitig an Höhe zu gewinnen. Dies wird nachvollziehbar, wenn man versucht, einen Stein möglichst weit zu werfen. Die optimale Flugkurve ist jene, bei der sich der Stein nicht wenige Meter vor einem mit voller Geschwindigkeit in den Boden bohrt. Seine Beschleunigung sollte aber auch nicht steil nach oben verpuffen. Genau wie beim Skispringen ist eine gute Mischung gefragt, nicht zu viel vom einen, nicht zu wenig vom anderen.

Das Fluggefühl selbst kann man am ehesten beim Wellenreiten nachvollziehen. Auch wenn Luft kein greifbares Medium ist, verhält sie sich ähnlich wie Wasser. Der Skispringer gleitet auf einem Luftpolster wie der Wellenreiter auf einer Welle. Man muss stets etwas über der Welle sein, um von ihr immer schneller Richtung Strand getragen zu werden. Schafft es der Surfer beim Paddeln nicht, die Welle zu erwischen, »verhungert« er hinter ihr und kann nicht mit ihr mitfahren. Ähnliches passiert dem Skispringer, wenn er in der Fachsprache »zu gerade« ist, d. h. wenn er sein Körper-Ski-System zu steil gegen den Wind stellt. Je geringer die Geschwindigkeit, desto schwieriger wird es, auf der Luftwelle zu gleiten. Im Training ist es für den Zuschauer sehr schwer zu erkennen, wie gut ein Sprung wirklich war. Schlechtere Sportler behelfen sich nämlich mit mehr Anlauf, sie surfen nicht auf der Welle, sondern schieben sie dank der höheren Geschwindigkeit vor sich her. Optisch ist kaum ein Unterschied zu erkennen, doch die Weltklasse-Athleten springen anders. Ein zu großzügig bemessener Anlauf zu Beginn eines Wettkampfs verfälscht daher den absoluten Leistungsvergleich. Wird im Laufe des Bewerbs verkürzt, bekommen die Stars zwar Punkte gutgeschrieben, sie können ihr Potential aber oft nicht durch einen Weitenunterschied sichtbar machen.

In der Luft versucht der Skispringer, eine möglichst aerodynamische Form anzunehmen. Der Flügel eines Flugzeuges oder eines Drachens ist an der Oberseite gewölbt und an der Unterseite eher gerade. Weil die Luft über den gewölbten Teil schneller fließt, entsteht eine Sogwirkung, der Auftrieb. Damit sich eine Strömung aber überhaupt anlegen kann, dürfen keine Wirbel entstehen. Und spätestens jetzt werden bei eingefleischten Aerodynamikern die Haare zu Berge stehen. Ein Skispringer wird nie eine optimale Flugform bilden können, schließlich stehen ja unten zwei Skier hinaus! Dennoch könnte jede noch so kleine Nuance von Vorteil sein, immerhin katapultierte der Wechsel vom Parallel- zum V-Stil die Sportart in bis dahin ungeahnte Dimensionen. Der Schwede Jan Boklöv sprang Ende der 80er Jahre allen davon, da er die Skier als Einziger nicht parallel unter dem Körper, sondern im V links und rechts neben dem Körper führte. Und wer weiß schon, ob das V der Weisheit letzter Schluss ist?

Je länger ein Flug dauert – beim Skifliegen sind das ganze acht Sekunden –, desto eher scheint der Springer ein eigenständiges Fluggerät zu werden. Im letzten Drittel der Flugphase erreicht der Athlet einen Zustand, bei dem die Kräfte immer größer und unberechenbarer werden. Der Springer gleitet, ähnlich wie ein Wingsuit-Flieger, in einem gleichbleibenden Winkel den Hang entlang, manche scheinen sogar noch einmal abzuheben. Die Geschwindigkeit ist nun am Höchststand, und der letzte Balanceakt steht bevor – die Landung. Bei über 100 km/h muss ich meine Flugposition so verändern, dass ich überhaupt mit den Skiern aufsetzen kann. Und zwar so, dass ich sofort nach Bodenkontakt das Gleichgewicht halten kann und nicht nach vorn, hinten, links oder rechts kippe – das Ganze mit nicht fixierter Ferse und mit Telemark. Im Optimalfall springt ein Athlet sehr weit, dorthin, wo es schon sehr flach ist und ein Aufsprung unmöglich scheint. Warum gelingt die Landung trotzdem? Die Superzeitlupe macht sichtbar, dass der Springer seine eigenen Skier wie ein Trampolin nutzt. Die Sportgeräte biegen sich vorne und hinten extrem auf und federn den Aufsprung sozusagen ab. Dann heißt es, bis zur Sturzlinie ausfahren und abbremsen – für viele auch keine Selbstverständlichkeit.

»Trampolineffekt« beim Aufsprung (im Bild Wolfgang Loitzl)
»Trampolineffekt« beim Aufsprung (im Bild Wolfgang Loitzl)

Einleitung

Eine Biographie? Noch ein Buch von einem, der nicht mehr in der ersten Reihe steht? Will er zurück ins Rampenlicht? Wird es eine Abrechnung?

Allesamt berechtigte Fragen. Warum schreibt jemand ein Buch, der zehn Jahre lang Chef der österreichischen Skispringer war und als erfolgreichster Trainer seiner Sportart gilt? Die Antwort ist auf den ersten Blick sehr einfach: Weil ich immer mit Herzblut dabei war, weil ich noch immer für diesen Sport brenne und er mich nicht loslässt. Wenn ich tiefer in meiner Seele grabe, dann geht es um Anerkennung, um das Sichtbarmachen dessen, was ich geleistet habe. Die zehn Jahre als Cheftrainer waren kein Lotto-Sechser. Wie überall, wenn jemand erfolgreich ist, war ein bisschen Glück dabei. Doch der Rest war harte Arbeit. Für meinen Job gab es keine exakte Beschreibung. Ich konnte gestalten und kreativ sein. Ich weiß, dass mich viele nicht für einen Trainer, sondern für einen Manager hielten. Doch ein Cheftrainer war für mich nicht einer, der nur in technischen Bereichen herumtüftelte. Er sollte das große Ganze im Blick haben, um aus dem Ganzen etwas Großes entstehen zu lassen. Das ist mir gelungen. Obwohl oder gerade weil ich immer polarisiert habe: für die einen die sympathische Vaterfigur, für die anderen der präpotente Ehrgeizling.

Der Abschied vom Skisprungzirkus tat unheimlich weh. Ich ging durch das Wohnzimmer, betrachtete meine Kinder und musste meine Tränen verbergen. Die Kinder sollten mich nicht leiden sehen, sie hatten lange genug auf mich verzichten müssen. Unser Ältester würde bald 18 werden – 18 Jahre lang war ich Trainer, und mehr unterwegs als daheim. Max lag auf der Couch, Paula schlief eng an ihn gekuschelt, und Lilith saß stolz daneben. Nur Nina fehlte, sie war noch in den USA, wo sie ein Auslandsjahr verbrachte. Ich schämte mich, traurig zu sein. Denn das, was ich mir um alles in der Welt gewünscht hatte, lag direkt vor mir: ein gesunder großer Bruder, der entspannt und glücklich mit seinen Schwestern einen Film anschaute. Aufgewachsen waren alle vier mit einem Papa, der meistens für andere da war. Für die Skispringer, die sie, wie ihren Vater, im Fernsehen und manchmal auch zu Hause antrafen. Doch was sind schon fliegende Menschen im Vergleich mit uns Kindern, werden sie sich manchmal gedacht haben. Der Bildschirm blieb während meiner Wettkämpfe daheim meistens schwarz. Nur meine Frau wollte nachher sofort wissen, ob es mir gut gehe. Das Ergebnis war niemals wichtig, nur wie ich mich dabei fühlte.

Es war ein Leben aus den Taschen, die ich bis heute nicht vollständig ausgepackt habe. Für Außenstehende ist es schwer zu verstehen, dass sie in einer eigens dafür gebauten »Garage« unter dem Bett ein einsames Dasein fristen. Im Bad nehme ich immer noch die Zahnbürste aus der Toilettentasche, so wie ich es seit meinem 14. Lebensjahr gewohnt bin. Apropos Tasche: Jene mit der Olympiaeinkleidung für Vancouver ist auch noch nicht leer. Sie steht irgendwo versteckt im Keller – zu tief sitzt die dort erlebte Enttäuschung. Doch dazu später. Oft verschwand ich in meinem Büro, machte mir Gedanken, welche strategischen Schachzüge für weitere Erfolge notwendig wären. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass ich jetzt einmal loslassen musste. Loslassen, um Kraft zu sammeln und neue Aufgaben in Angriff nehmen zu können. Ich hatte diesen Sport gelebt – alles, was dazugehörte, und ein bisschen mehr! Es war für mich mehr als ein Job, wie schon mein Trainervorbild Reinhard Hess in seiner Biographie zu sagen pflegte. Dabei blieb vieles auf der Strecke. Auch Menschen, die ich sehr liebe.

Ich bin dankbar für all die wertvollen Begegnungen, die ich in meinem Beruf machen durfte. Bin jenen Menschen dankbar, die mir immer noch nahe sind – aus dem ehemaligen Betreuerstab, geschätzte Geschäftspartner, die längst zu Freunden geworden sind. Jetzt habe ich zum ersten Mal die Zeit, diese Freundschaften auch ein bisschen zu pflegen. Zum ersten Mal seit Jahren konnte ich heuer einen Urlaub aus tiefster Seele genießen. Hatte Zeit für meine Kinder, meine Frau und mich selbst. War nicht ständig auf dem Sprung und mit den Gedanken ganz woanders.

Dieses Buch gab mir eine neue Aufgabe und die Chance, mit der alten abzuschließen. Die Idee dafür stand schon lange fest. Das Trainertagebuch, das ich über Jahre geführt hatte, half mir dabei, sie zu verwirklichen. Und jene Menschen, die mit derselben Begeisterung an ihrer Umsetzung arbeiteten, wie ich sie aus meinem Skispringer-Leben kannte. Was macht für mich die Faszination am Skispringen aus? Was ist das für eine merkwürdige Sportart, die so viele fesselt und so wenige ausüben? Man spricht zwar immer von den fliegenden Menschen, aber bei höchstens acht Sekunden Luftfahrt ist das ein kurzes Vergnügen. Was braucht es, um sich mit Skiern aus Schwindel erregender Höhe über eine Schanze in die Tiefe zu stürzen? Diesen Fragen gehe ich in meinem ersten Kapitel nach, das kein Fachchinesisch, sondern eine für jeden nachvollziehbare Erklärung liefern soll. Für mich ein guter Einstieg, denn das, was folgte, war nicht immer leicht zu verdauen. Mich durch die Erinnerungen und Aufzeichnungen meiner Trainerkarriere zu lesen, war eine Achterbahn der Gefühle: Oft musste ich mit mir selbst lachen, manchmal kam ich wütend aus dem Büro gestürmt, vieles machte mich stolz. Die Führung und Entwicklung meines Teams war eine Herausforderung, die ich mit vollem Einsatz annahm. Viele Menschen begleiteten mich auf diesem Weg, waren wichtige Stützen, emotional wie fachlich. Wir ließen kaum einen Stein auf dem anderen, nutzten alle Möglichkeiten aus, die uns zur Verfügung standen. Absolut nichts wurde dem Zufall überlassen. Das Kapitel über die Teamentwicklung zeigt, in welchen Bereichen wir uns weiterentwickelten, welche Schatten auch über dem größten Erfolg lagen und wie meine Trainerkarriere schließlich endete. Den vier Olympischen Spielen widme ich einen eigenen Abschnitt. Die Erfahrungen, die ich dort gemacht habe, sind für mich heute noch so widersprüchlich und gehen so tief, dass eben jene gewisse Tasche bis heute nicht ausgepackt ist.

In all den Jahren ging ich ans Limit, sowohl leistungsmäßig als auch gesundheitlich. Ich denke, es wird beim Lesen spürbar werden, wie sehr wir alles bis zum Anschlag ausgereizt haben. Sportlich gesehen, suchte ich einen Ausweg aus dem endlosen »Schneller-Höher-Weiter«. Ich fand ihn im Neurocoaching. Warum das so ist und welche neue Dimension sich dabei für mich aufgetan hat, beschreibe ich in einem weiteren Kapitel. Diese Methode gab mir auch die Möglichkeit, wieder eine Vision für mich zu finden. Nachdem ich meine bis dahin größte, nämlich den sportlichen wie den wirtschaftlichen Erfolg im Skispringen, bereits verwirklicht hatte. Der öffentliche und damit auch wirtschaftliche Stellenwert unserer Sportart war mir ebenso wichtig wie Siege und Medaillen – Letztere immer vorausgesetzt. Die Zusammenarbeit mit unseren Sponsoren war gewinnbringend für beide Seiten. Nicht nur im herkömmlichen Sinn: Es wurde ein Miteinander, ein Sich-gegenseitig-Stärken in guten wie in schlechteren Zeiten. Kooperation statt Sponsoring war mein Anliegen, dem ein weiteres Kapitel gewidmet ist.

Den Schluss bildet ein sehr persönlicher Abschnitt. 2012 erkrankte ich an einer mittelgradigen Depression. Die Tatsache, dass sich mein Sohn wegen derselben Erkrankung in stationäre Behandlung begeben musste, und der berufliche Druck hatten mich in die Knie gezwungen. Dank therapeutischer Hilfe und der Unterstützung meiner Familie überstand ich dieses Tief und ging gestärkt daraus hervor. Erst nach meiner Genesung wagte ich es, auch öffentlich zu meiner Erkrankung zu stehen. Das Echo darauf war riesengroß. Ich wollte beschreiben, wie es sich für mich anfühlte, depressiv zu sein. Was ich im Umgang mit dieser Krankheit erlebt habe, was mir geholfen und was mich geschmerzt hat. Ich bin nur einer von vielen, dieses Buch kann kein Leitfaden sein, aber es soll Mut machen – den Mut, sich helfen zu lassen.

Man kann Erlebnisse und Situationen aus so vielen Blickwinkeln betrachten, jeder hat eben seine eigene Sicht der Dinge. Ich kann in diesem Buch nur die meine darlegen und versuchen, mich ein wenig in die der anderen hineinzuversetzen. Das Durchlesen meiner Tagebuch-Aufzeichnungen hatte dabei fast therapeutischen Charakter. Sie waren prall gefüllt mit Leben, mit Erfolgen und Enttäuschungen, mit menschlichen Alltäglichkeiten. Es war nicht leicht, auszuwählen, was an dieser Stelle zu lesen sein sollte und was nicht. Doch je mehr Jahre ich zusammenfasste, desto klarer wurde, dass jene, die sich immer benachteiligt gefühlt hatten, auch in diesem Buch zu kurz kommen würden. Und dass jene, die am meisten Energie gefordert hatten, auch hier den größten Raum einnehmen würden. Die beiden erfolgreichsten Skispringer, Gregor Schlierenzauer und Thomas Morgenstern, spielen die Hauptrollen.

Dieses Buch hat noch eine andere, ganz besondere Bedeutung für mich. Jede Zeile, die hier zu lesen ist, hat meine Frau Angela geschrieben. Sie war meine Ghostwriterin. Unsere Arbeit lebt von meinen Geschichten und ihrer Fähigkeit, diese zu strukturieren und in die richtigen Worte zu fassen. Angi hat mich noch als aktiven Springer kennengelernt, ist jeden Schritt meiner Trainerkarriere mit mir gegangen. Für uns beide schließt sich hier ein Kreis: Sie hat mich immer in meiner Leidenschaft für das Skispringen unterstützt, und nun konnte sie mit diesem Buch einen eigenen Traum verwirklichen. Egal, wie zwiespältig die Meinungen darüber sein werden, diesen Weg haben wir gemeinsam geschafft!

Wie bringe ich das alles unter einen Hut?

Ich habe nun viele Themen und Schlagwörter aufgezählt, die alle zu einer guten Skisprungleistung gehören und in denen man sich täglich verbessern könnte. Dabei ist diese Aufzählung sicher alles andere als vollständig! Wie kann ich in einer so komplexen Sportart überhaupt den Überblick behalten? Wie kann ich sicher gehen, dass überall das Bestmögliche versucht wird und doch das Gesamtpaket nie außer Acht gerät? Das gelingt nur mit einer überlegten Strukturierung. Es geht darum, passende Themen in Kategorien und Bereiche zusammenzufassen und die Verantwortung dafür richtig zu verteilen. Bestimmte Personen sind für bestimmte Bereiche selbst verantwortlich, und es braucht jemanden, bei dem alle Fäden zusammenlaufen, jemanden, der den Überblick behält. Klingt im Prinzip ganz simpel, oder?

Dazu einige beispielhafte Kategorien aus meiner Zeit als Cheftrainer: Technik, Sprungkraft, Diagnostik, Aerodynamik, Ernährung, Medizin, Physiotherapie, mentaler Bereich und Material. Jeder Baustein steht zunächst für sich, hängt aber zugleich mit allen anderen zusammen.

Den Bereich Technik habe ich als Erstes genannt (ohne der Reihenfolge eine entscheidende Bedeutung zuzumessen): Skispringen ist vor allem eine Balancesportart, es braucht ein hohes Maß an Bewegungstechnik und koordinativen Fähigkeiten. Jeder Sportler muss für sich ein Bewegungsmuster erarbeiten und automatisieren, das ihm Sicherheit gibt. Jede Veränderung ist aufwändig und schwierig.

Eine gute Technik kann ich wiederum verbessern durch eine gute Sprungkraft: Sie ist der »Motor«, die Grundvoraussetzung. Es gibt ein breit gefächertes Spektrum an Trainingsmöglichkeiten, sowohl allgemein als auch spezifisch für jede Sportart.

Um dabei Effektivität zu garantieren, braucht es eine Evaluierung mittels Leistungsdiagnostik: Hierbei gibt es einerseits verschiedene Leistungsparameter, wie die Gesamtleistung, die Startleistung, die Beschleunigung oder die Sprunghöhe. Andererseits sind verschiedene Strukturparameter wichtig: Wo löse ich einen Sprung aus – balanciert, vom Ballen oder von der Ferse? Verändert sich die Druckverteilung vor dem Auslösen, oder wie ist das Schwerpunktverhalten bei der Streckphase? Diese verschiedenen Parameter ergeben eine Trainingssteuerung sowohl in Richtung Sprungkraftverbesserung als auch im technischen Bereich. Denn schlussendlich soll man nicht einfach höher springen, sondern das Ganze im Skispringen effektiv umsetzen können. Die Diagnostik beeinflusst auch den muskulären Bereich bezüglich Trainingsumfang und Pausen, und es geht auch um eine koordinative Verbesserung: Wie lasse ich die Muskelgruppen zusammenspielen, um eine effektivere Bewegung zu erhalten?

Ein optimales Training ist natürlich auch abhängig von einer gesunden, leistungsoptimierten Ernährung: Es gibt viele Ernährungskonzepte für ein gutes Krafttraining, allerdings darf man nicht vergessen, dass in unserer Sportart das Gewicht nach wie vor eine große Rolle spielt. Mir ging es in erster Linie um eine optimale Versorgung mit Nährstoffen, nicht nur für bessere Leistungen, sondern um den Sport auch gesund zu erhalten. Gerade im Nachwuchsbereich haben die Betreuer da eine große Verantwortung. Weiters geht es um Wissensvermittlung: Was ist sinnvoll, was schmeckt und was kann ich mir auch zu Hause zubereiten, wenn ich nicht auf Trainingskurs bin? Dafür haben wir immer öfter einen eigenen Koch mitgenommen, auch um in Ländern mit einer völlig anderen Esskultur auf bewährte Nahrungsmittel zurückgreifen zu können. Gerade für die Wettkampfvorbereitung wurden dabei ganz individuelle Ernährungskonzepte ausgetüftelt.

Hand in Hand mit Ernährung und Gesundheit geht der medizinische Bereich: Speziell vor der Einführung des BMI, aber auch danach waren wir immer wieder mit den verschiedensten Diäten, die von den Sportlern selbst kamen, konfrontiert. Ich habe da die abenteuerlichsten Sachen erlebt (und auch selbst als aktiver Springer ausprobiert). Wichtig ist dabei ein wachsames Auge von Seiten der Mediziner, die auch außerhalb der kontinuierlichen Routineuntersuchungen ihre Aufgabe sehr ernst nehmen. Genauso wie die strenge Aufklärung über Medikamente oder Zusatzernährung zur Einhaltung der Antidoping-Vorschriften. In diesen Bereich fällt auch das frühzeitige Erkennen und Auskurieren leichter Erkrankungen, die unbehandelt zu enormen Leistungseinbußen führen, ja sogar gefährlich enden können.

Einen entscheidenden präventiven Teilbereich stellt hier die Physiotherapie dar: Doch während man noch zu meiner Zeit als Springer mit Massagen das Auslangen fand, hat sich das Aufgabenfeld der Physiotherapeuten in den letzten Jahren enorm ausgeweitet. Regelmäßige Screenings des kompletten Bewegungsapparates gehören zum Standard. Dabei geht es nicht nur um anspruchsvolle Regenerationsarbeit und richtige Bewegungsabläufe, sondern auch um Leistungssteigerung. Gerade im koordinativen Bereich wird durch das Zusammenspiel der Muskelgruppen an einer effektiven und schonenden Bewegung gefeilt. Für das Trockentraining auf einer gleitenden Unterlage wurde außerdem ein breites und vielfältiges Übungsspektrum erarbeitet.

Während beim Thema Regeneration früher nur an die körperliche Erholung gedacht wurde, nimmt heute der mentale Bereich großen Raum ein. Mentaltraining ist für mich ein sehr weit gefasster Begriff und trifft das, was ich darunter verstehe, nur teilweise. Neben einem fundierten psychologischen Handwerkszeug zur Persönlichkeitsbildung und Sozialkompetenz gehörten für mich gruppendynamisches Arbeiten genauso dazu wie Stressregulierung auf biologischer (und eben nicht psychologischer) Ebene.

Die letzte wichtige Kategorie, die ich genannt habe, ist der Materialbereich: Es geht um Anzug, Schuh, Ski und Bindung – jedes für sich eine eigene Wissenschaft. Auch dieser Sektor hat sich enorm entwickelt. Als ich Co-Trainer war, fuhr ab und zu ein Servicemann mit. Ansonsten präparierten die Sportler ihre Skier selbst oder überließen diese Arbeit ihrer Skifirma, die natürlich auch andere Nationen betreute. Heute sind immer zwei Servicetechniker vor Ort, und sie sind nicht nur für das richtige Wachs, sondern für viele andere Dinge zuständig: für das Entwickeln, Fertigen und oft kurzfristige Adaptieren von Anzügen, für Schuhumbauten und -adaptionen, für die Schliffentwicklung, neue Bindungen, etc. Zudem gibt es im ÖSV inzwischen eine eigenständige fixe Abteilung für Neuerung und Entwicklung im Materialbereich, die allen Sparten zur Verfügung steht. Allgemein haben diese Entwicklungen enorme Auswirkungen auf unsere Sportart. Wurde früher beispielsweise nur die Luftdurchlässigkeit des Anzugs gemessen, so gibt es heute unzählige Parameter. Die Topmannschaften haben die Messgeräte im Wert eines Kleinwagens heutzutage immer dabei, früher gab es nur eines, das man sich bei der FIS nicht einmal ausleihen konnte!

Mein Haus: Aufbau eines komplexen Systems