Für meinen Vater

»Man hat erst spät den Mut zu dem, was man weiß.«

Albert Camus

»Ich bin fünf Minuten später zu Bett gegangen als die anderen, damit ich fünf Minuten mehr zu erzählen habe.«

Franco Califano

Achtziger Jahre

In den achtziger Jahren wurde viel gelacht. Viel mehr als heute.

Man lachte bei der Arbeit, in der Schule, mit Freunden, ganz besonders aber im Fernsehen. Es war eine fabelhafte Zeit. Italien gewann die Fußball-Weltmeisterschaft in Spanien, die Musik wurde von DJs gemacht, und die Discobeats wummerten aus allen Radios und Geschäften. Damals lief sogar der Papst Ski. Es herrschte ein Gefühl grenzenloser Freiheit, bald würde auch die Berliner Mauer fallen.

Der neue Körperkult führte dazu, dass überall Fitnessstudios wie Pilze aus dem Boden schossen, Aerobic-Kurse für Frauen, Bodybuilding für Männer, Sonnenstudios. Ein tiefgebräunter, durchtrainierter Körper, den man dann in teuren Markenklamotten und mit verspiegelter Brille zur Schau stellte, war ein absolutes Muss.

Im Fernsehen trat, wann immer man einschaltete, unweigerlich einer auf, der nur dazu da war, einen zum Lachen zu bringen, für Zerstreuung zu sorgen, Preise zu verschenken oder einfach nur ein paar witzige Sätze oder einen Ohrwurm von sich zu geben, leicht konsumierbare Kost. Überall wimmelte es von Goldjetons, Konfetti, Fanfaren, Glitzerröckchen und knallbunten Sakkos. Überall Gesichter mit strahlendem Lächeln, mit vollen Lippen und Mündern, die dem Publikum Luftküsse zuwarfen. Überall Konsumgüter. In den achtziger Jahren hatte man den Eindruck, alles sei käuf‌lich. Auch Fröhlichkeit. Plötzlich schien Reichtum selbst für die Armen zum Greifen nah. Hatte man früher in den Familien noch Sätze gehört wie: »Das können wir uns nicht leisten«, oder: »Das liegt jenseits unserer Möglichkeiten«, so schien all das nun plötzlich wie weggefegt, zusammen mit der Kultur der Sparsamkeit. Alles, was man verdiente, wurde ausgegeben, und wenn das Einkommen nicht reichte, griff man zum Leasing. Der Lebensentwurf bestand nicht mehr darin, sich eine Zukunft aufzubauen, man kauf‌te sich einfach ein großes Lotterielos. Vielleicht begannen die Worte in dieser Zeit, ihre eigentliche Bedeutung zu verlieren und sich in Masken zu verwandeln, hinter denen sich kein Gesicht mehr verbarg. Alles wurde zum Superlativ.

Vielleicht lebte die Familie Bertelli – Vater, Mutter und zwei Söhne – deshalb in einem ständigen Gefühl der Unzulänglichkeit. Sie waren aus dem Takt gekommen, aus der Zeit gefallen.

Das traf weniger auf die Eltern zu als auf die Söhne. Während die ganze Welt ein großes Fest feierte, hatten die beiden das Gefühl, als Einzige zu dieser Party nicht eingeladen zu sein. Und darauf reagierte jeder von ihnen, so gut er konnte, und suchte sich seine eigene, ganz private Rückzugsmöglichkeit.

Marco, der Jüngere, hatte zwei Methoden, sich von der Welt abzuschotten und in die innere Isolation zurückzuziehen. Die eine bestand darin, sich aufs Bett zu legen und Musik zu hören. Als ihm La Bamba nach fast einem Jahr zu den Ohren rauskam, nahm er sämtliche Platten seines Vaters in Beschlag und deponierte sie, zusammen mit denen, die er sich selbst gekauft hatte, in seinem Zimmer. Dort lag er dann mit Kopfhörern auf dem Bett und gab sich alle Mühe, seinen Kopf mit Musik abzufüllen, und damit sie genug Platz darin fand, musste er alle anderen Gedanken und Bilder daraus vertreiben. Mit Ausnahme der Bilder, die die Musik in ihm auslöste: von Reisen an ferne Orte, die er aus dem Fernsehen oder Kino kannte und die er eines Tages mit eigenen Augen sehen wollte: Er träumte davon, in einem Kabrio oder mit dem Motorrad durch Kalifornien zu kurven, an traumhaften Stränden in Australien zu surfen, mit dem Rucksack durch Mexiko zu reisen, auf Kuba dicke Zigarren zu rauchen. Diese kleinen Fluchten waren eine gute Übung für die Phantasie, und wenn er dann einschlief, wurde ihm immer leichter, so leicht, wie nur ein Herz voller Neugier und Abenteuerlust zu sein vermag.

Die andere Methode bestand darin, die Stille zu suchen, alle Geräusche auszublenden und in sich hineinzuhorchen: auf die Gedanken, den Puls, den Atem, in dem Versuch, sich selbst zu lauschen, immer tiefer in sein Innerstes vorzudringen, auf der Suche nach letztgültigen Antworten, wie ein Höhlenforscher der Seele, und dabei, falls es ihn denn gab, einen Weg zu finden, ein zweites Mal geboren zu werden. Um zu dem Punkt zu gelangen, wo die Stimmen der anderen verstummen und die eigene Stimme sich erhebt, die wahre. Einzigartige. Unbedingte. Eine innere Stimme, die ihn leiten und lehren würde, Unruhe und Zweifel zu überwinden.

An diesem Abend hatte sich Marco für die Musik entschieden, er lag auf dem Bett, spielte mit dem Kabel der Kopfhörer und guckte an die Decke. Es war ein Sommerabend, Ende Juli. Es war heiß. Das Fenster in seinem Zimmer stand offen, draußen hatte sich gerade die Alarmanlage eines parkenden Autos ausgeschaltet, und die Hunde hatten aufgehört zu bellen. Nichts regte sich, außer den kreisförmigen Bewegungen des Kabels. Bob Dylan sang I’ll Be Your Baby Tonight, und an diesem Abend hörte sich der Mann mit der rauhen Stimme noch melancholischer an als sonst.

Wenn er Bob Dylan hörte, atmete Marco die kühle Luft von New York ein und träumte davon, dort Arm in Arm mit Isabella, seiner Freundin, durch den Schnee zu laufen, genauso wie Bob Dylan mit seiner Freundin Suze Rotolo auf dem Cover von The Freewheelin’. Das Album von 1963, das seiner Mutter so sehr gefiel. Das Album, in dem sogar Sophia Loren erwähnt wurde. Es gefiel ihm, wenn italienische Namen oder Dinge irgendwo auf der Welt erwähnt wurden. Das machte ihn stolz, als ginge es um jemand, den er kannte. Genauso erging es ihm, wenn er im Abspann amerikanischer Filme italienische Familiennamen las, dann stellte er sich vor, das wären Kinder von Emigranten, die es geschafft hatten. Und er freute sich für sie.

An diesem Abend gingen ihm düstere Gedanken durch den Kopf. Plötzlich waren alle unterschwelligen Ängste, die sonst gut versteckt tief in ihm auf der Lauer lagen, wiederaufgetaucht und hatten sich auf ihn gestürzt wie eine Meute, die sich über ein waidwundes Tier hermacht. Um das beklemmende Gefühl in der Brust zu verscheuchen, stellte er sich vor, er würde entschlossen vom Bett aufspringen, das Zimmer verlassen, die Treppe hinunterstürzen und ohne anzuhalten, so schnell er konnte, quer durch die ganze Stadt bis zu Isabellas Wohnung rennen. Dann würde er nach ihr rufen, sie bitten herunterzukommen und mit ihr fortgehen. Er würde sie mitnehmen in eine bessere Welt, ohne all die dämlichen Komplikationen der Erwachsenen. Ohne all die Verbote, das Unbehagen und die notorische Heuchelei. Der Abend war stressig verlaufen, beim Essen hatte es Spannungen gegeben. Inzwischen war die Luft so dick, dass man kaum noch atmen konnte. Am liebsten hätte er geheult, geheult und sich eine Zigarette angezündet, aber das waren genau die beiden Sachen, die er nur tun konnte, wenn er allein war. Rauchen war verboten, das war nur etwas für Erwachsene. Weinen, eine kindliche Schwäche, war ebenfalls verboten. An diesem Abend fühlte er sich wie zwischen beiden Welten.

Er war kein Raucher, noch nicht. Wenn er rauchte, dann heimlich, beispielsweise wenn er mit seinen Freunden unterwegs war, zu Hause jedoch praktisch nie, und wenn, dann im Bad bei weit aufgerissenem Fenster. Das war höchstens fünf- oder sechsmal vorgekommen, öfter nicht, wobei er die Kippe mit der klassischen Bewegung von Mittelfinger und Daumen möglichst weit wegschnippte, sich danach sofort die Zähne putzte und ein Kaugummi mit Pfefferminzgeschmack in den Mund steckte. Beim ersten Mal hatte er nämlich den Fehler gemacht, die Kippe in die Toilette zu werfen, um dann beim Betätigen der Spülung feststellen zu müssen, dass sie immer noch im Wasser schwamm. Daraufhin hatte er Klopapier draufgeworfen und erneut abgezogen, aber es funktionierte nicht. Am Ende war ihm nichts anderes übriggeblieben, als die Kippe mit den Fingern herauszufischen und aus dem Fenster zu werfen.

Aber sich jetzt hier im Zimmer eine anzustecken, speziell an diesem Abend, wäre etwas völlig anderes gewesen, das konnte man überhaupt nicht vergleichen. Da ging es nicht um die Lust am Rauchen, den Reiz des Verbotenen oder ein gesundes Aufbegehren, wie es bei Jungs in seinem Alter oft mit dem Rauchen verbunden ist. Nein, wenn er so etwas Unerhörtes tat, würde er Stellung beziehen und sich offiziell zu seiner Identität bekennen. Damit würde er eine Grenze überschreiten, aus dem Schatten hervortreten und sich selbst behaupten.

Er war nicht allein zu Hause. Nebenan waren seine Eltern und bei ihm im Zimmer sein drei Jahre älterer Bruder, der wie immer am Schreibtisch saß.

Andrea stand nicht auf Musik, für ihn gab es nur Lernen oder Lesen, möglichst komplizierte Sachen. Je schwieriger, desto lieber. Das war seine Art, sich gegen die Bosheit der Welt abzuschotten, seine Art von Selbstschutz. Seit je hatte er eine Vorliebe für Formeln, Gleichungen und Übersetzungen, darauf war er echt fixiert.

Andrea hatte ein angeborenes Talent für alles Abstrakte.

Diese totale Hingabe hatten ihn zum Klassenprimus gemacht und zum Einzigen in seiner Klasse, der aus dem Lateinischen direkt ins Griechische übersetzte, ohne den Umweg über das Italienische. Eine völlig sinnlose Hirnakrobatik.

Marco hatte aufgehört, die Decke anzustarren, und beobachtete jetzt seinen Bruder, er musterte den gebeugten Rücken und fragte sich, wer dieser Junge wohl sei, der mit ihm das Zimmer teilte. Ein Fremder. Ein Alien. Wieso waren sie so verschieden, obwohl sie doch Brüder waren? Kinder derselben Eltern, derselben prüden Erziehung. Er beispielsweise hätte sich nie und nimmer eine Abbildung des Vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci übers Bett gehängt, auch wenn der ihn mit seinen ausgebreiteten Armen an ein Foto von Jim Morrison erinnerte. Eigentlich hatte er ja nichts gegen die Zeichnung oder das Genie Leonardo, überhaupt nichts, aber er fand, dass auf so etwas doch nur die Alten abfuhren. Wie auf den Schlager Nel blu dipinto di blu von Modugno. War Andrea denn nie jung gewesen? War er womöglich so geboren?

Marco kam einfach nicht dahinter, was zwischen ihnen schiefgelaufen war. Früher, bis vor ein paar Jahren, war sein großer Bruder für ihn ein Held gewesen. Alles, was er machte, wollte Marco auch machen. Andrea war sein Idol, sein Vorbild. Er, der alle sechs Seiten des Rubikwürfels in weniger als zehn Minuten schaffte. Damals redete Marco wie Andrea, übernahm von ihm bestimmte Ausdrücke und Wörter, kopierte sein Verhalten, sogar seine Handbewegungen. Liebend gern trug er Andreas T-Shirts, als wären es Kostüme eines Superhelden.

Und dann war die ganze Bewunderung plötzlich wie weggeweht. Wo war sie nur geblieben? Was hatte sie auseinandergebracht?

Für Marco war die Tatsache, dass Andrea so viel wusste, kein Grund zur Bewunderung, im Gegenteil, dadurch wurde er langweilig und anstrengend. Immer wenn Andrea zu einem seiner neunmalklugen Vorträge anhob, schaltete Marco nach wenigen Sekunden einfach ab oder, noch schlimmer, sagte am Ende der Rede: »Kannst du das noch mal wiederholen, dann kann ich mir beim zweiten Mal überlegen, ob es mich vielleicht interessiert.« Aber Andrea wurde nicht einmal sauer. Er fühlte sich überlegen.

Jetzt fiel Marco wieder ein, dass er eigentlich gerne eine rauchen würde. Dazu hätte er nicht einmal aufstehen müssen, er brauchte nur die Hand auszustrecken, die Schublade des Nachttischchens herauszuziehen und hinten, unter den Papieren, nach der Schachtel Marlboro zu kramen, die er dort versteckt hatte.

Andrea wusste ohnehin von seinem kleinen Laster und missbilligte es natürlich. Wenn sie Streit hatten, drohte er manchmal damit, ihn bei den Eltern zu verpetzen, aber gemacht hatte er das noch nie.

Während Andrea in seine Lektüre versunken war, hörte er im Hintergrund wie von weit her die rauhe, melodiöse Stimme von Bob Dylan, die aus den Kopfhörern drang. Dann das Aufziehen einer Schublade, das Rascheln von Papier, das lautstarke Zuknallen der Schublade und dann das Klickklack eines Feuerzeugs. Dieses Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, und als er sich umdrehte, erblickte er vor sich die Glut einer Zigarette und das Profil seines Bruders, aus dessen Mund Rauch hervorquoll.

»Was machst du denn da, bist du verrückt geworden?«

Marco hörte nichts, guckte weiter an die Decke und zog dann noch einmal, wobei er genüsslich die Augen schloss. Erst als er den Rauch wieder ausstieß, machte er die Augen auf und sah erstaunt Andrea an, der vor ihm stand und immer wieder dieselbe Frage wiederholte. Diesmal, auch wenn er nichts hörte, las er sie von den Lippen ab.

»Ist das jetzt das Neueste? Willst du jetzt etwa auch noch hier in der Wohnung rauchen?«

Ja, ab heute rauche ich auch hier in der Wohnung. Was geht dich das an? Ich habe keine Lust mehr, mich zu verstecken, ich bin sechzehn, und wenn ich eine rauchen will, dann mache ich das. Fick dich, du kannst mich mal, hätte er am liebsten geantwortet, aber er hatte keine Lust auf lange Diskussionen.

»Wenn du in der Wohnung rauchen willst, musst du das mit Papa regeln, aber in meinem Zimmer wird nicht geraucht.«

Immerhin ist es auch mein Zimmer. Das wäre die richtige Antwort gewesen, hätte er denn Lust gehabt, überhaupt etwas zu erwidern.

»Du brauchst gar nicht so zu gucken, wenn ich da bin, wird hier nicht geraucht, weil mich das stört. Die eine da, die kannst du noch am Fenster zu Ende rauchen. Aber das war die Letzte.«

Marco hatte keine Lust mehr auf die Diskussion, an der er sich gar nicht beteiligte. Er ging ans Fenster und löschte die Zigarette auf der Fensterbank, wobei ein schwarzer Strich zurückblieb wie von einem Kohlestift. Dann schnippte er sie in die Luft und katapultierte sie möglichst weit weg.

»Du bist einfach unmöglich. Immer tust du, was dir gerade einfällt. Sobald sich auch nur die klitzekleinste Möglichkeit für irgendeinen Blödsinn bietet, bist du sofort zur Stelle. Was hast du eigentlich im Kopf?«

Da er nun schon aufgestanden war, nutzte Marco die Gelegenheit, um auf dem Rückweg beim Plattenspieler haltzumachen und andere Musik aufzulegen.

Diesmal legte er keine Platte seines Vaters auf, sondern eine eigene, Combat Rock von den Clash, und setzte die Nadel bei dem Song Should I Stay or Should I go auf.

Er legte sich wieder aufs Bett und steckte sich ein Kaugummi mit Pfefferminzgeschmack in den Mund, eins von den schmalen langen, die man vor dem Kauen zusammenbiegt. Andrea saß schon wieder am Schreibtisch.

 

Plötzlich erschallte wieder das nervtötende Geheul einer Alarmanlage. Nicht zum ersten Mal. Vor ein paar Monaten hatte sich ein Nachbar aus dem Haus gegenüber ein neues Auto gekauft, einen Fiat Ritmo Cabrio metallic, und seither war die Alarmanlage bereits mehrfach angesprungen.

»Nicht zu glauben, schon wieder dieses dämliche Auto. Heute rufe ich die Polizei, das ist eindeutig ein Fall von Ruhestörung«, sagte Andrea.

An jedem anderen Abend wäre Andrea nach einer gehörigen Schimpf‌tirade zu seiner Lektüre zurückgekehrt, aber an diesem Abend war alles anders. Er stand auf und ging in den Flur, wo das graue Telefon stand, und wählte die 113.

Er ließ es klingeln. Während er darauf wartete, dass jemand abnahm, sah Andrea in den Spiegel und versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen, auch wenn das am Telefon nichts nützte. Er war neunzehn, wirkte aber älter, reifer und verantwortungsbewusster als andere Jungs in seinem Alter. Wenn ihm das jemand sagte, ein Lehrer oder die Eltern von Freunden, war er hin und weg.

»Hallo, hier ist Andrea Bertelli, ich habe folgendes Problem …«

Während er dem Polizisten die Sache erklärte, sah er sich selbst im Spiegel an, als redete er mit sich selbst.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte: »… und überhaupt, wo kämen wir denn hin, wenn jeder anrufen täte, wenn bei ihm vorm Haus eine Alarmanlage losgeht …«

Diese unschöne Formulierung war für Andrea so unerträglich wie das Kratzen von Fingernägeln auf der Tafel.

»Sie kennen doch den Besitzer des Fahrzeugs, warum klingeln Sie dann nicht einfach bei ihm und bitten ihn, die Alarmanlage abzustellen? Oder Sie warten einfach ab, in Kürze schaltet sich das Ding ohnehin automatisch ab.«

»Ja, ich weiß, dass sich der Alarm automatisch abschaltet, das Problem ist nur, dass er dann bald wieder losgeht.«

Andrea bedankte sich sarkastisch bei dem Polizisten und kam zurück, um seinem Bruder von dem Telefongespräch zu erzählen.

Aber Marco war nicht interessiert.

»Immer ist dir alles egal, dabei weißt du genauso gut wie ich, dass wir diese Scheißalarmanlage irgendwie zum Schweigen bringen müssen.«

Wie erwartet, ging die Alarmanlage aus und sprang wenig später wieder an.

Andrea beschloss, dem Rat des Polizisten zu folgen und bei dem Nachbarn zu klingeln. Es war kurz vor Mitternacht.

»Wenn Papa fragt, wo ich bin, erklärst du es ihm.«

Andrea verließ das Zimmer, ging am Elternschlafzimmer vorbei und legte das Ort an die Tür, um zu hören, ob sie noch wach waren: alles ruhig, bis auf das Surren des Ventilators. Dann verließ er die Wohnung. Auf dem Weg nach unten spürte er, wie aufgeregt er war, vielleicht aus Angst vor dem Autobesitzer, dabei hatte er keineswegs vor, aggressiv oder unhöf‌lich zu werden, er wollte nur, dass der andere etwas unternahm, um das störende Geheul abzustellen. Er überlegte, ob er vielleicht erklären sollte, warum das für ihn ein ernsthaftes Problem darstellte, hielt es dann aber doch für unangebracht, von persönlichen Dingen und familiären Problemen anzufangen. Während er noch nach den richtigen Worten suchte, stand er plötzlich auf dem Bürgersteig, genau vor dem Auto, das immer noch wie verrückt jaulte. Er trat dicht an das Fenster heran, hielt die Hand über die Augen, um das Licht der Straßenlaterne abzuschirmen, und schaute in das Auto hinein, auch wenn es dafür keinen Grund gab – so ähnlich wie einer, wenn sein Auto streikt, die Motorhaube aufmacht und hineinsieht, obwohl er von Motoren überhaupt keine Ahnung hat.

Nach dieser höchst überflüssigen Ortserkundung ging er auf das Haus gegenüber zu und fixierte schon von weitem die Liste mit den beleuchteten Namensschildern.

Der Mann hieß Pezzini, das wusste Andrea von seinem Vater, der ihn schon einmal darauf angesprochen hatte, ob es wirklich nötig sei, die ganze Nachbarschaft derart zu terrorisieren.

Darauf hatte Signor Pezzini, ein Mann um die fünfzig, ein bisschen übergewichtig und nicht sehr groß, erwidert, es tue ihm leid, aber das Auto sei nagelneu und er könne kein Risiko eingehen. »… und mit der Alarmanlage, das ist halb so schlimm, am Anfang hört man sie noch, aber dann gewöhnt man sich daran. Der Krach dient nur zur Abschreckung der Diebe, doch nach einer Weile wird der Ton so vertraut, dass davon keiner mehr aufwacht. Das ist wie bei den Ehefrauen, die den Wecker ihres Mannes nicht mehr hören und einfach weiterschlafen.«

»Aber meine Frau hört den Wecker immer, und obwohl sie nicht aufstehen muss, tut sie es trotzdem, um mir einen schönen Tag zu wünschen.«

»Haben Sie es gut, meine Frau macht mir morgens nicht mal einen Kaffee. Haben Sie bitte noch ein bisschen Geduld, leider ist dieses Modell zurzeit sehr gefragt, und eine Garage kann ich mir leider nicht leisten. Jedenfalls sind Alarmanlagen gesetzlich erlaubt.«

Andrea war an der Haustür angekommen. Eine Weile starrte er den Schriftzug SIG. PEZZINI auf dem Klingelschild an. Dann drückte er den Knopf, sein Mund war ausgetrocknet, und er schwitzte, nicht nur wegen der Hitze. Während er auf die Stimme aus der Sprechanlage wartete, drehte er sich um und konnte so das Licht in seinem Zimmer sehen, und er malte sich aus, wie sein blöder Bruder auf dem Bett lümmelte, Musik hörte und vermutlich eine weitere Zigarette rauchte.

Wenn ich ihn noch einmal beim Rauchen erwische, dann setzt es was. Im Schlafzimmer der Eltern hingegen war alles dunkel, weil die Läden heruntergelassen waren.

Andrea konnte nicht wissen, dass sein Bruder gar nicht mehr in ihrem Zimmer war, dass das Bett leer war, dass Marco in der Zeit, die er, Andrea, bis zur Haustür des Nachbarn gebraucht hatte, eine wichtige Entscheidung getroffen hatte. Andrea wusste nicht, dass sein drei Jahre jüngerer Bruder ruckartig von seinem Bett aufgesprungen war, sich leise am Schlafzimmer der Eltern vorbei aus der Wohnung geschlichen und dann in einem solchen Tempo die Treppe genommen hatte, dass er die Füße quer stellen und sich am Geländer festhalten musste. Er war so ungestüm die Treppe hinuntergesprungen, dass das ganze Haus bei jedem Schritt erzitterte. Weg, nur weg aus dieser Welt, weg aus diesem Leben, weg aus dieser Familie. In der Hoffnung, der Ungerechtigkeit Gottes, der Angst und dem Unglück zu entfliehen und ein neues Leben zu finden, alles zu zertrümmern, was ihm nicht mehr passte, und endlich aufzuatmen.

Signor Pezzini hatte das erste Klingeln ignoriert, weil er es für einen dummen Scherz hielt, doch beim zweiten Mal stand er auf und schlurf‌te zum Hörer. »Wer ist da?«

»Hallo, ich heiße Andrea und wohne gegenüber, genau da, wo Sie Ihr Auto ge…«

Als er gerade den Satz beenden wollte, wurde die Haustür in seinem Haus hörbar aufgerissen. Als Andrea sich umdrehte, sah er seinen Bruder mit irgendetwas in der Hand wild entschlossen aus dem Haus stürmen. Es dauerte eine Hundertstelsekunde, bis Andrea begriff, dass er seinen Baseballschläger dabeihatte. Wie eine Furie tobte sich sein Bruder an dem heulenden Auto aus: Blinker, Seitenwände, Fenster und mehrere Schläge auf den Kofferraum. Langsam füllten sich die Fenster der umliegenden Wohnhäuser mit dunklen, von dem Lärm angelockten Silhouetten, Brustbilder im Rahmen, als wären die Fenster große Fernseher. Dann gelang es einigen Leuten, die auf die Straße heruntergekommen waren, Marco zu stoppen. Als der Besitzer des Autos unten ankam, waren drei Männer erforderlich, um ihn zu bändigen. Er brüllte, versuchte sich loszureißen und drohte Marco, ihn umzubringen. Dann kam der Vater, dann die Polizei.

 

Der Vater redete mit den Polizisten, aber es war nichts zu machen, Marco wurde in Handschellen abgeführt und auf die Rückbank des Streifenwagens verfrachtet.

Marco sagte nichts, war knallrot im Gesicht und tränenüberströmt. Kurz bevor das Polizeiauto abfuhr, hatte er einen Moment das untrügliche Gefühl, seine Mutter stünde oben am Fenster und sähe zu ihm hinunter. Da war er sich ganz sicher. Dann drehte er sich langsam um und sah nach oben. Die Rollos waren geschlossen. Da sagte sich Marco, er müsse endlich aufhören, an Wunder zu glauben. Zwei Tage nach diesem Vorfall starb seine Mutter.

London

In der Charlotte Street roch es gut, nach Winterende. Alles war ruhig, sanft fiel der leichte Londoner Regen auf alles herab, was ihm begegnete: auf Dächer, Telefonzellen, Autos. Und auf ein paar seltene Passanten. Verschwommen schwebte das gelbe Licht der Straßenlaternen in der von Feuchtigkeit gesättigten Luft.

Marco hatte gerade sein Restaurant abgeschlossen, das ungefähr in der Mitte der Straße lag, ein italienisches Restaurant, das er seit ein paar Jahren gemeinsam mit seinem Teilhaber führte. Er wollte noch die Abrechnung machen und ein paar Dinge erledigen, bevor er nach Hause ging.

»Adriano, trinken wir noch ein Glas Rotwein?«, fragte er den Koch, der noch in der Küche war.

»Ja gern, ich komme gleich.«

Marco ging zum Tresen, blieb aber auf halbem Weg stehen. »Musik!« Er nahm den MP3-Player, der an die Stereoanlage angeschlossen war, und wischte mit dem Daumen über den Touchscreen, um die richtige Playlist zu finden: Inspiration’s Muse. Ein paar Sekunden später erfüllten die Klänge von Something das Restaurant, und er ging weiter, um den Wein einzuschenken.

Während er auf Adriano wartete, ließ Marco noch einmal prüfend den Blick durch das Lokal wandern und sah auch in den Kühlschränken nach, ob das Personal alles ordentlich hinterlassen hatte. Er hatte ein gutes, freundschaftliches Verhältnis zu seinen Angestellten, aber alles musste perfekt funktionieren.

Leben war das eine, Arbeiten das andere, und bei der Arbeit kannte er kein Pardon.

Kurz darauf kam Adriano, und sie setzten sich mit der Flasche und zwei Gläsern an einen Tisch.

Marco zündete sich eine Zigarette an und wedelte mit der Hand, um das Streichholz zu löschen.

»Wie spät ist es?«, fragte Adriano. »Ich habe das Telefon in der Küche gelassen.«

»Viertel vor eins.«

»Ich glaube, die kommen nicht mehr.«

»Die kommen bestimmt, in einer Viertelstunde sind sie da, wollen wir wetten? Fünfzig Pfund?«

»Fünfzig? Nein, wie wär’s mit zwanzig?«

»Gut, zwanzig.«

»Eine Wette, die ich am liebsten verlieren würde«, sagte Adriano, bevor er mit Marco anstieß, um die Sache zu besiegeln. Adriano war Römer, Starkoch und Küchenchef des Restaurants. Sonst blieb er nie bis zum Schluss, doch an diesem Abend hatte er seine Gründe.

Marco nahm einen kleinen Schluck und sagte dann, als sei es ihm gerade erst wieder eingefallen: »Hör mal, ehe ich es vergesse … Nächste Woche ist mein Geburtstag, ich habe vor, hier am Sonntagnachmittag ein kleines Fest zu machen. Ich koche selbst, du brauchst mir nur alles Nötige zu bestellen.«

»Klar, du kochst selbst, so wie letztes Mal, als ich dann dreißig Wolfsbarsche ausnehmen durf‌te. Es sei denn, du lädst mich nicht ein, dann kochst du diesmal wirklich selber.« Dann fügte er lachend hinzu: »Wie alt wirst du eigentlich?«

»Vierzig«, antwortete Marco, wobei er den Kopf schüttelte, als sei das wirklich schrecklich.

»Glückwunsch, in fünf Jahren bin ich dran«, sagte Adriano.

»Ich dachte an irgendwas Einfaches, ohne großen Aufwand: Käse, Aufschnitt, ein erster Gang und ein Dessert.«

»Wie originell! Wie viele Personen?«

»Um die zwanzig, mehr nicht.«

»Und was wünschst du dir?«

»Nichts.«

»Mann, dann muss ich mir ja selbst was ausdenken, komm, Alter, jetzt sag schon, was du willst. Ich kann doch nicht ohne Geschenk aufkreuzen.«

»Na gut, ich denk drüber nach. Es ist schon krass, dass ich dann zu den Vierzig plus gehöre. Das ist ein richtiger Einschnitt.«

»Alles nur psychologisch, faktisch ändert sich doch so gut wie nichts.«

»Von wegen. Es ändert sich eine Menge. Du hast das Gefühl, an einem Wendepunkt in deinem Leben zu stehen. Du weißt, jetzt wirst du alt. Die Augen werden schlechter, du musst zum Pinkeln nachts aufstehen, und wenn du mit einer unter dreißig ausgehst, dann ist der Abstand zwischen ihrer Zwei und meiner Vier vorne schon gewaltig.«

»Wieso, soll das heißen, du kriegst immer noch welche unter dreißig ab? Mich schauen die gar nicht mehr an.«

»Das liegt nur an deiner Glatze, guck dir dagegen meine Matte an, eine richtige Mähne.« Marco fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

»Vorne sieht’s nach Mähne aus, aber hinten wirst du auch schon kahl.«

»Ich werd nicht kahl, das ist ein Wirbel.«

Adriano brach in Lachen aus.

»Auf jeden Fall hatte ich schon lange keine mehr unter dreißig. Zuletzt die mit dem tätowierten Drachen, die du so toll fandest, erinnerst du dich? Die Hübsche.«

»Hübsch? Das war eine total scharfe Braut. So eine, die würde ich nur mit K.-o.-Tropfen rumkriegen.«

Wieder brachen sie in Lachen aus.

»War das nicht gerade Something von den Beatles?«

»Ja, aber in einer Coverversion von Ray Charles.«

»Schön, kannte ich gar nicht.«

»Den Song hat George Harrison für seine Frau Pattie Boyd geschrieben. Auf dieser Playlist sind nur Titel, die für die Musen der Rockmusik geschrieben wurden. Das jetzt ist Layla von Eric Clapton, auch für Pattie Boyd.«

»Was, Clapton hat einen Song für die Frau von Harrison geschrieben?«

»Mehr als einen.«

»Und war Harrison da nicht sauer?«

»Keine Ahnung, ob er deswegen sauer war, aber bestimmt ist es ihm gegen den Strich gegangen, als Clapton sie dann auch noch gevögelt hat.«

»Erzähl keinen Quatsch.«

»Doch, und dann hat er sie auch noch geheiratet.«

»Schöner Freund.«

»Clapton rief sogar bei Harrison an, um mit seiner Frau zu sprechen, und spielte ihr dann Layla am Telefon vor. So bestürmte er sie, langsames Handsolo inklusive.«

»Der arme Harrison. Wo er doch der Gute war bei den Beatles, spirituell gesehen.«

»Na ja, das stimmt nicht so ganz. In der Zeit, als Clapton Pattie Boyd zu bezirzen versuchte, hat er die Frau von Ringo gevögelt.«

»Ringo, der Drummer?«

»Ja, Harrison war damals gerade auf seinem Meditationstrip und hatte sich dafür extra einen Raum einrichten lassen. Darin verschwand er oft mit der Frau von Ringo, zum Meditieren, versteht sich, und zwischendurch trieb er es mit ihr, geistig-spirituell, aber vor allem körperlich.«

»Verdammt heiße Truppe, kein Wunder, dass sie in der Welt herumgezogen sind, um freie Liebe zu propagieren.«

»Na klar, jeder mit jedem. Pattie Boyd soll auch mit John Lennon und Mick Jagger gebumst haben, bevor sie sich mit Clapton zusammentat, aber sie hat das immer abgestritten. Derweil trieb es Mick Jagger mit David Bowie und seiner Frau.«

»So, so.« Adriano trank einen Schluck Wein, dann sagte er: »Stell dir vor, letztes Jahr habe ich den Gitarristen der Stones hier in London in der U-Bahn gesehen.«

»Wen? Keith Richards?«

»Ja.«

»Was redest du denn da? Keith Richards in der U-Bahn? Der weiß doch gar nicht, dass es in London überhaupt eine U-Bahn gibt.«

»Ich sage dir, er war’s. Als ich in Finsbury Park eingestiegen bin, das muss so um Mitternacht gewesen sein, saß er mir gegenüber. Außer uns war sonst keiner in dem Wagen.«

»Das war bestimmt nur einer, der ihm ähnlich sieht, Keith Richards mitten in der Nacht allein in der U-Bahn, das glaubst du doch selber nicht!«

»Wieso nicht? Meinst du etwa, er muss immer einen bei sich haben, weil er nicht alleine U-Bahn fahren kann? Vielleicht wollte er nur mal seine Ruhe haben, war auf der Suche nach Inspiration. Mir kommen in der U-Bahn immer die besten Ideen. Neue Rezepte zum Beispiel, die fallen mir nur da ein. Oder auf dem Klo.«

»Wer weiß, was du da genommen hast. Du glaubst also wirklich, Keith Richards fährt mit der U-Bahn, um sich inspirieren zu lassen? Dafür zieht der sich doch Koks rein, und nicht zu knapp, bei dem ist jede Line so fett wie ein totes Kaninchen. Von wegen U-Bahn … Weißt du eigentlich, dass er sich sogar seinen Vater reingezogen hat?«

»Wie jetzt?«

»Er hat sich die Asche seines Vaters reingezogen, das hat er selbst erzählt.«

»Aber ich sage dir, er war’s, denn als ich irgendwann angefangen habe, den Anfang von I Can’t Get No Satisfaction vor mich hin zu pfeifen, hat er überhaupt nicht reagiert. Alles Tarnung, verstehst du? Er wollte mich bloß abwimmeln, damit ich ihm nicht auf den Geist ging. Typisch VIP. Jeder andere hätte zumindest mal rübergeguckt, aus Neugier den Kopf gehoben, meinst du nicht?«

»Blödsinn! So ein Hirngespinst, das kannst auch nur du dir ausdenken! Wie die Story mit dem Papst, den du angeblich gesehen hast, wie er mit einer abgenutzten schwarzen Aktentasche voller Unterlagen ganz allein durch eine römische Gasse eilte, oder die mit dem Sushi, wo der Koch angeblich den Fisch, nachdem er ein Stück abgeschnitten hatte, wieder ins Aquarium zurückgeworfen hat, damit er frisch bleibt. Dünner, aber frisch. Du bist einfach ein unglaublicher Aufschneider.«

Kaum hatte er den Satz beendet, klopf‌te es am Fenster.

Marco stand auf, um aufzumachen.

»Da sind sie, du schuldest mir zwanzig Pfund. Welcome back«, sagte er, während er den beiden Argentinierinnen die Tür öffnete.

Manchmal kam es im Lauf des Abends vor, dass zwei Frauen an einem Tisch saßen, dann bediente Marco sie persönlich und versuchte herauszufinden, ob sie Touristinnen waren, woher sie kamen und wie lange sie blieben. Für den Umgang mit Kunden hatte er ein Händchen, speziell bei Frauen. Wenn sich etwas ergab, informierte er Adriano, ließ ihn später an den Tisch der Frauen kommen und stellte ihn als italienischen Starkoch vor. Dann plauderte man ein bisschen, und beim Bezahlen stellte sich unweigerlich heraus, dass der Wein aufs Haus ging. Wenn die Frauen dann das Lokal verließen, lud Marco sie ein, später nach Geschäftsschluss noch auf ein Glas vorbeizukommen. Am liebsten waren ihnen Touristinnen auf der Durchreise, denn damit waren spätere Komplikationen von vornherein ausgeschlossen. Kamen die Frauen später noch einmal vorbei, war es ein guter Abschluss des Tages, wenn nicht – auch kein Problem.

Die Frauen an diesem Abend stammten aus Rosario in der Nähe von Buenos Aires, waren knapp über dreißig und hießen Lupe und Celeste. Lupe hatte ein sehr schönes Gesicht und einen etwas rundlichen Körper, Celeste ein weniger schönes Gesicht, dafür aber einen atemberaubenden Körper, einen kleinen Hintern, fest und einladend.

»Möchtet Ihr ein Glas vino tinto

»Ja gern, aber eigentlich lieber etwas Stärkeres, wenn’s geht.«

»Claro que sì, Whisky? Wodka? Rum? Alles da.«

»Könnte es auch eine Margarita sein?«

»Gute Wahl, wir haben den besten Tequila der Stadt. Zwei?«

»Ja bitte.«

»Mit Eiswürfeln oder Frozen?«

»Frozen.«

»Also vier Frozen Margaritas, kommt sofort.«

Marco ging zum Tresen, während Adriano sich mit den Frauen unterhielt. Sie redeten eine Mischung aus Englisch, Spanisch und Italienisch. Die beiden Argentinierinnen bewegten sich so natürlich, als wäre ihnen das Restaurant seit je vertraut.

Lieber die hübsche Rundliche oder die nicht so Hübsche mit dem sagenhaften Hintern? Adriano und er hatten keine Regel, denn sie wussten, dass die Frauen meistens schon ihre eigene Entscheidung getroffen hatten. Es sind immer die Frauen, die entscheiden.

Tatsächlich kam bald eine der beiden zu ihm an den Tresen: damit war klar, wer mit wem. Er bekam die weniger Hübsche mit dem sagenhaften Hintern, Celeste.

»Wie lange bist du schon in London?«

»Als ich zum ersten Mal herkam, war ich noch keine zwanzig, danach ich bin oft hin und her gereist. Jetzt wohne ich seit etwa zehn Jahren hier. Meine Großeltern waren Italiener.«

»Woher?«

»Aus Padua.«

Während sie redeten, füllte Marco das Eis in den Mixer, fünf Zehntel Tequila, zwei Zehntel Limettensaft und drei Zehntel Cointreau. Dann holte er vier Gläser aus dem Gefrierschrank, rieb den Rand mit Zitrone ein und tauchte ihn in Salz.

Celeste sah ihm zu, mit einem tiefen, direkten Blick. Ihr gefielen seine Hände, wie geschickt er sie bewegte.

Nach ein paar Sekunden goss Marco alles in vier Gläser, trug sie zum Tisch, und sie stießen an.

Noch ein Trinkspruch. »Es lebe Maradona«, rief Adriano.

Marco mixte noch eine zweite Runde, dann suchte sich jedes Paar einen Platz im Restaurant nach einem Ritual, dem die beiden Argentinierinnen bereitwillig folgten. Gewöhnlich ging Marco in den hinteren Teil des Lokals, wo ein großer Tisch mit Bank und Kissen stand. Adriano dagegen nutzte den Vorwand, die Küche zeigen zu wollen.

Celeste trug eine altrosa Bluse, halb durchsichtig, bis zum Hals zugeköpft.

Marco blickte ihr tief in die dunklen Augen und begann schweigend, die Bluse aufzuknöpfen. Ohne Eile, ohne Unsicherheit, zum Schluss zog er die Bluse aus der Hose. Dann schaute er sich die kleinen Brüste an, nahm sie in die Hand und drückte die Brustwarzen.

Wenig später lag Celeste auf dem Tisch. Marco schob die Hände unter den Rock, zog die Unterhose herunter und drang in sie ein. Aus der Küche kam das lustvolle Stöhnen der anderen.

An einer Tischecke hatte Celeste ihr zweites Margarita-Glas abgestellt, ziemlich dicht am Rand. Bei jeder Bewegung des Tischs rutschte es nun unaufhaltsam darauf zu, und Marco dachte, dass es bald herunterfallen und zerbrechen würde.

Er starrte auf das Glas und war nicht bei der Sache, er wusste nicht, was er tun sollte, er konnte doch jetzt nicht aufhören, um das Glas in Sicherheit zu bringen, dann hätte er doch dagestanden wie eine verklemmte Hausfrau. Bei dieser Idee musste er lachen, verkniff es sich aber.

Er versuchte sich weniger heftig und langsamer zu bewegen, aber es war sinnlos. Das Glas stand kurz vor dem Absturz.

Bist du verrückt? Was interessiert dich ein blödes Glas? Guck lieber auf die heiße Braut, ermahnte er sich. Er beschloss, nicht mehr daran zu denken und sich auf die Frau zu konzentrieren.

Er schloss die Augen und bewegte sich wieder kraftvoller, bis das Glas in tausend Stücke zerbarst und der Krach ihn zwang, die Augen zu öffnen. Scheiße, sagte er zu sich selbst.

Bis auf diesen kleinen Zwischenfall amüsierte er sich prächtig. Celeste, von der er dachte, sie heiße Lupe, war wirklich eine amüsante Partnerin. Wie sie ihn ansah, was sie sagte, wie sie sich bewegte, war hinreißend.

Da klingelte das Handy. Das Telefon lag nicht weit weg auf einem Stuhl, doch Marco beschloss, nicht abzunehmen. Kurz danach klingelte es noch einmal. Diese Hartnäckigkeit ließ auf etwas Ungewöhnliches schließen, ein Notfall vielleicht oder ein Freund, der zu viel getrunken hatte und Hilfe brauchte.

Es gelang ihm, sich so weit hinüberzubeugen, dass er den Namen des Anrufers lesen konnte. Zu seiner Verblüffung sah er, dass es sein Vater war. Er rief fast nie an, so selten, dass Marco gar nicht mehr wusste, wann das zuletzt vorgekommen war.

Sonst rief immer Marco an, ein paarmal pro Monat, manchmal auch weniger.

Das Handy klingelte immer weiter, und diese Hartnäckigkeit beseitigte jeden Zweifel: Es war etwas Schlimmes passiert.

Mit einem Schlag waren Konzentration und Lust wie weggeblasen.

Da er ein Präservativ benutzte, spielte er zuerst mit dem Gedanken, einen Orgasmus zu simulieren, doch es war nicht seine Art, einfach vor der Frau zu kommen.

»Wo willst du hin? Du kannst doch jetzt nicht aufhören. Komm sofort wieder her«, sagte Celeste. Sie war stinksauer, weil sie kurz davor gewesen war zu kommen.

Marco bedauerte, dass er sie mittendrin im Stich ließ, er konnte verstehen, dass sie das verletzte.

Er klemmte das Handy zwischen Kopf und Schulter und versuchte, die Hose anziehen, während er bei seinem Vater anrief. Beim zweiten Klingeln nahm der Vater ab.

»Papa, was ist los?«

Man hörte seltsame Geräusche, auch verzweifeltes Keuchen.

»Papa … kannst du mich hören? Was ist los … Papa? Geht’s dir nicht gut?«

Kurz danach antwortete der Vater: »Marco, Marco … endlich hab ich dich gefunden.«

Wieder zusammen

Während er mit Marco den Flur entlangging, dachte Andrea, dass er den typischen Krankenhausgeruch eigentlich ganz und gar nicht abstoßend fand, den Geruch nach Alkohol und Desinfektionsmitteln.

Um ehrlich zu sein, hatte er sogar eine Schwäche für Krankenhäuser: das geschäftige Hin und Her von Ärzten und Pflegepersonal, der durchorganisierte Tagesablauf, Frühstück am frühen Morgen, Abendessen am späten Nachmittag und Kamillentee vor dem Einschlafen. Feste Termine, die dem Tag eine Struktur verliehen. Die permanente Wiederholung des Immergleichen, die Routine hatten etwas Beruhigendes. Außerdem war er ganz versessen auf die weißen Gummiclogs mit Löchern. Solche Clogs hatte er sich immer schon kaufen wollen, doch aus unerfindlichen Gründen war es nie dazu gekommen.

Es gab Augenblicke, vor allem im Winter, wo ihm die Vorstellung, den ganzen Tag im Schlafanzug im Krankenhaus zu verbringen, als durchaus interessante Alternative erschien: im Bett bleiben, sich ausruhen, bedient werden, mit den Pflegern scherzen, Kreuzworträtsel machen und sich einem kompletten Gesundheitscheck unterziehen.

Marco hingegen wollte dort so schnell wie möglich weg.

Zwei Tage waren seit dem Anruf seines Vaters vergangen, zwei Tage seit dem Abend, als er sich bei Celeste entschuldigen musste. Sie hatte Verständnis für seine Lage, war nur verärgert, als er sagte: »I’m sorry, Lupe.«

Neben seinem Bruder ging Marco den weißen, strahlend hell erleuchteten Flur hinunter, er trug eine Sonnenbrille. Frühmorgens war er mit dem Flugzeug aus London gekommen und hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen.

Weil alles so schnell gehen musste, hatte er nur noch einen Flug bei einer Billigfluglinie gefunden, einer von denen, die nur dann billiger sind, wenn man alles richtig macht. Begeht man aber den kleinsten Fehler und der Koffer wiegt ein halbes Kilo zu viel, ist der Aufpreis so gigantisch, dass du deine halbe Wohnung dafür hergeben musst.

Auf dem ganzen Flug war Marco mit den Knien an den Vordersitz gestoßen. Auf solchen Flügen sitzt man nicht, man wird eingequetscht. Die Plätze sind nicht nummeriert, man setzt sich, wo Platz ist, wie im Bus, wie in der U-Bahn. Deshalb drängeln sich die Leute rücksichtslos vor. An diesem Wettlauf hatte sich Marco nicht beteiligt, und als er endlich einstieg, war nur noch ein Mittelplatz zwischen zwei Mitreisenden frei. Weil er aufgekratzte, redselige Nachbarn auf Flügen unerträglich fand, hatte er sich eine Sonnenbrille und Kopfhörer aufgesetzt.

Der Mann links und die Frau rechts hatten bereits mit dem Ellbogen die Armlehnen okkupiert, so dass er gezwungen war, seine Arme auf die Oberschenkel zu legen.

Mit den Jahren hatte er eine Strategie entwickelt, mit diesem Problem umzugehen. Man durf‌te sich nur nicht ablenken lassen. Kein Mensch schafft es, sich den ganzen Flug über nicht zu bewegen, jeder kratzt sich mal im Gesicht, zieht eine Zeitschrift heraus, nimmt ein Getränk entgegen, holt einen Stift aus der Jacke oder irgendetwas aus der Handtasche. Hinter der Sonnenbrille gut getarnt, legte sich Marco deshalb wachsam wie eine Eule in der Nacht auf die Lauer. Fast immer ist es der linke Nachbar, der zuerst den Fehler begeht. Denn es gibt wesentlich mehr Rechts- als Linkshänder. Und genau so war’s.

Nur wenige Minuten nach dem Start griff der Mann zu seiner Linken nach der Bordzeitung, um sich ein Frühstück auszusuchen, musste dann, als er den Arm zurücklegen wollte, aber feststellen, dass sich Marco inzwischen auf der Armlehne ausgebreitet hatte, während er mit leicht geneigtem Kopf so tat, als schliefe er. Als der Kaffee serviert wurde, platzierte Marco auch den anderen Arm. Danach würde er sich nicht mehr rühren, bis zur Ankunft. Auch als ihm wie verrückt die Nase juckte, blieb er standhaft. Wie ein tibetanischer Mönch, wie ein Mailänder Ninja.

Jetzt war er hier im Krankenhaus und todmüde.

Noch immer hämmerte das Telefongespräch mit seinem Vater in seinem Kopf.

»Hallo, was ist los?«

»Marco … Marco …«

»Was ist denn, Papa? Was ist passiert?«

»Im Keller ist kein Fernseher.«

»Wie bitte?«

»Im Keller, ich bin im Keller, und da ist kein Fernseher. Du musst ihn mir bringen.«

»Papa, was sagst du da? Wo bist du?«

»Ich bin im Keller.«

»Was machst du denn mitten in der Nacht im Keller? Was soll das heißen, da ist kein Fernseher? Papa, geht’s dir gut?«

»Du hast den Fernseher, stimmt’s? Kannst du ihn mir nicht bringen?«

»Welchen Fernseher meinst du denn? Ich hab gar keinen.«

»Mama hat gesagt, der Fernseher ist im Keller, und wenn er da nicht ist, dann hast du ihn.«

Marco wurde heiß, eine Hitzewelle schoss durch seinen Körper bis ins Gesicht. Seine Mutter war seit über zwanzig Jahren tot.

»Papa, geh wieder nach oben, ich rufe jetzt Andrea an, damit er dich abholt. In Ordnung?«

»Ich kann nicht nach oben gehen, ich liege auf dem Boden.«

»Wie auf dem Boden? Bist du gefallen?«

»Ja.«

»Und du kannst nicht mehr alleine aufstehen?«

»Nein.«

»Okay, bleib ganz ruhig, ich sage jetzt Andrea Bescheid, er wird gleich kommen und dir helfen.«

»Gut, aber wann bist du zurück? Hast du den Fernseher?«

»Ja, ich hab ihn, er steht hier vor mir. Bleib ganz ruhig, morgen bringe ich ihn vorbei.«

»Kannst du ihn nicht jetzt sofort vorbeibringen?«

»Ich kann’s versuchen, aber weißt du, ich bin ja in London.«

»Ist gut, dann erwarte ich dich morgen. Danke, Marco.«

Der Vater blieb auf dem Boden liegen, bis er Schritte hörte von einem, der im Laufschritt herbeieilte. Sein Sohn Andrea.

 

»Verzeihung, wir haben jetzt einen Termin bei Dottor Moro«, wandte sich Marco hilfesuchend an eine sehr hübsche Krankenschwester.

»Hier ist sein Sprechzimmer, sehen Sie? Im Augenblick untersucht er noch einen anderen Patienten, nehmen Sie ruhig Platz, sobald er fertig ist, ruft er Sie auf.«

Sie gingen zu den Stühlen vor dem Zimmer. Andrea setzte sich, schlug die Beine übereinander und legte den gelben Umschlag ab, der die letzten Untersuchungsergebnisse und Befunde seines Vaters enthielt. Er war schweigsam, musste immer wieder daran denken, was ihm seit zwei Tagen unaufhörlich im Kopf herumging und die Laune verdarb: Warum hatte der Vater bloß bei Marco angerufen, der weit weg in London lebte, und nicht bei ihm, wo er doch fast um die Ecke wohnte?

Marco blieb stehen und sprach ein paar Sekunden später erneut die Krankenschwester an. »Wissen Sie vielleicht, wie lange es noch dauert?«

»Genau kann ich es nicht sagen, aber bestimmt nicht mehr lange.«

Was soll diese Fragerei?, dachte Andrea und riss sich von seinen Gedanken los. Kann er nicht einfach warten und Schluss? Wo will er jetzt schon wieder hin?

»Andrea, willst du einen Kaffee?«

»Nein, danke, jetzt nicht, vielleicht sind wir gleich dran. Kannst du den Kaffee nicht hinterher trinken?«

»Da hinten im Flur ist ein Automat, es dauert nur eine Sekunde.« Dann streckte er seinem Bruder die offene Hand entgegen. »Hast du Kleingeld?«

Andrea beugte sich seitwärts nach hinten, um mit der Hand besser in der Hosentasche kramen zu können, dann gab er ihm sämtliche Münzen, die er gefunden hatte. »Den Rest kannst du behalten«, fügte er ironisch hinzu.

Mit entschlossenem Schritt, die Sonnenbrille auf der Nase, ging Marco in Richtung Kaffeeautomat.

A4 Verlängerter Espresso. Während er wartete, dass der Kaffee durchlief, betrachtete er Andrea aus der Ferne. Seit beinah einem Jahr hatten sie sich nicht gesehen, ab und zu telefonierten sie miteinander, redeten dabei aber zumeist über den Vater, kurze, förmliche Gespräche. Nichts Persönliches. Dafür waren sie einfach zu verschieden. Aber vor ein paar Monaten hatte Marco, als er zum Rauchen draußen vor seiner Haustür stand, seinen Bruder plötzlich vermisst. Das war ihm noch nie passiert, er war verblüfft. Plötzlich hätte er gern ein engeres Verhältnis zu ihm gehabt. Eine familiäre Vertrautheit. Immerhin war er sein Bruder. Er hätte gern mit ihm geredet, sich ihm anvertraut, die alten Vorbehalte vergessen.

An jenem Abend hatte er, während er ein paar tiefe Züge nahm, den dringenden Wunsch verspürt, ihn anzurufen, ihn zu fragen, wie es ihm ging, wie es ihm wirklich ging. Aber am Telefon wäre dieses aufrichtige Bedürfnis nur schwer zu vermitteln gewesen. Er befürchtete, dass Andrea, hätte er ihn wirklich angerufen, sofort gefragt hätte, ob er betrunken sei oder wieder Drogen nehme. Er, der sich immer für die falsche Seite im Leben entschieden hatte.

Schließlich hatte die Kontroverse in seinem Kopf mit dem Entschluss geendet, ihm wenigstens eine Nachricht aufs Handy zu schicken. Ciao … wollte nur wissen, wie’s dir geht. Alles okay? Wollt ihr beide, du und deine Frau, mich nicht mal in London besuchen? Ich würde mich sehr freuen.

Als er mit dem Eintippen der SMS fast fertig war, klingelte das Handy. Es war Jane, sie wollte kurz auf ein Bier vorbeikommen. Als er auf‌legte, war das positive Gefühl für seinen Bruder verpufft. Marco hatte die Nachricht gelöscht und das Handy eingesteckt.

Mit einem leisen Piep kündigte der Automat an, dass der Kaffee fertig war. Bevor er zu Andrea zurückging, beschloss er, das Wechselgeld für Wasser auszugeben.

»Nimm«, sagte er und reichte seinem Bruder die Flasche.

»Danke.«

»War schon jemand da?«

»Nein, noch nicht.«

Nach dem Kaffee stand Marco auf und ging los, um einen Platz zum Rauchen zu suchen.