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Inhalt

Impressum

Vorwort

David

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99038-910-2

ISBN e-book: 978-3-99038-911-9

Lektorat: Pia Euteneuer

Umschlagfoto: Elisabeth Winter

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorwort

Knappe vier Jahre, nachdem Dennis und Elisabeth einander kennen und lieben lernten, starb Dennis. Für die junge Frau brach die Welt zusammen. Noch zu Dennis’ Lebenszeit hatte sie bemerkt, dass sein Bruder David, 20 Jahre älter als sie, sie nur zu gerne sah. Bestärkt durch die Ignoranz ihrer Familie ob ihres Schicksalsschlages floh sie nach Dennis’ Tod in seine Arme. Sie stimmte zu, mit ihm gemeinsam ihr weiteres Leben zu verbringen, wäre da nicht seine zweijährige Inhaftierung in einem amerikanischen Militärgefängnis in Vietnam, wegen unerlaubter Dreharbeiten in seiner Rolle als Kriegsberichterstatter, gewesen. Elisabeth meinte, nachdem er weder zur vereinbarten Zeit zurückgekehrt, sie auch keine Nachricht von ihm erhalten hatte, er habe nur mit ihr gespielt. Im festen Glauben an seinen Verrat heiratete sie Rudi.

David aber sehnte sich nach ihr, schrieb wöchentlich an sie, gab aber nach einigen Monaten auf, da sie nie antwortete. Erst als er zwei Jahre später nach ihr suchte, um eine Aussprache mit ihr zu führen, erfuhr er, dass sie keinen einzigen seiner vielen Briefe erhielt. David ließ sich nicht abschütteln und versuchte unbeirrt, solange er lebte, Elisabeth zu seiner Gattin zu machen. Die Ehe Elisabeths und Rudis begann, aus den Fugen zu geraten.

Um noch lebende Personen zu schützen, wurden den Akteuren andere Namen verliehen. Auch die Orte der Handlungen wurden geändert.

Die Hauptakteurin trägt, auf ihren Wunsch, den Vornamen der Autorin. Etwaige Namensgleichheiten mit existierenden Personen wären rein zufällig.

David

Versunken in tiefer Trauer stand David, seine Mutter stützend, am offenen Grab seines Bruders Dominik. Der heruntergeleierten Begräbnisansprache des Geistlichen konnte David nichts abgewinnen. Als die schriftliche Todesnachricht vom Heldentod des Bruders seine Mutter und ihn erschütterte und er den Satz „Er gab sein Leben für sein Vaterland“ seiner Mutter vorlesen musste, packte ihn maßlose Wut. Er fühlte sich beleidigt vom Euphemismus, mit dem man das Ableben eines Menschen beschönigte. Die Umstände von Dominiks Tod wurden ihnen nie mitgeteilt, Anfragen blieben unbeantwortet. Was war wirklich geschehen? War er etwa einem „Friendly Fire“ zum Opfer gefallen und diese Tatsache musste verschwiegen werden? Er konnte sich das gut vorstellen, denn er sah weltweit zu viel Unrecht und Irrtum während seiner Tätigkeit in der Kriegsberichterstattung. Zu viele Fehler der Militärs kosteten jungen Amerikanern viel zu oft das Leben. Und was nicht sein kann, nicht sein darf, militärische Geheimhaltung als oberstes Prinzip war immer mühelos in der Lage, eigene Fehler zu übertünchen, ja den „Schwarzen Peter“ dem Feind zuzuschieben. Manchmal schreckte er im Schlaf hoch, von Albträumen geplagt. Im Traum sah er ausgemergelte Kinder nach der Mutter schreien, Leichen von unschuldigen Menschen, die weder Verräter noch Spione waren, von hasserfüllten Soldaten gnadenlos niedergemetzelt. „Okay“, gestand er sich ein. „Die Berichterstattung ist mein Beruf. Ich muss damit leben.“ Und als der nächste Auftrag eintraf, ließ er alle Bedenken fallen und eilte als Erster aufgeregt und wissbegierig zum Ort des Geschehens.

Helle Begeisterung ergriff ihn, als seine Bewerbung als Assistent eines renommierten Kameramannes der Universal Wochenschau angenommen wurde. Seine Einsatzfreude und seine Gelehrigkeit sprachen sich sehr schnell im Genre herum und es folgten bald weitere Engagements. Während des Koreakrieges zeichnete er sich durch seine draufgängerische Vorgangsweise aus. Kein Risiko scheuend, warf er sich in das Kriegsgeschehen so nahe der Front wie nur möglich, hielt durch, so lange sie mussten, und lieferte gute Arbeit. Damals noch sehr jung verschloss er sich vor den immensen Strapazen und Qualen der Soldaten und der Zivilbevölkerung. Das Wichtigste für ihn war sich zu etablieren. Mochte das Kriegsgeschehen ruhig auf ihn einstürmen! Er wollte dabei sein und alles wirklichkeitsgetreu berichten. Mit zunehmendem Alter und Routine kühlte sich sein Enthusiasmus etwas ab und er betrachtete Kriege nur noch als den Wahnsinn der Mächtigen. Wurde sein Team aus arbeitsrechtlichen Gründen turnusmäßig abgelöst, ließ man die Mitarbeiter frei entscheiden, wo sie ihre Freizeit verbringen wollten. David entschied sich meistens, in seine Heimat zu reisen. Er lebte damals mit Rachel, der wesentlich älteren Frau, zusammen und überlegte jedes Mal, wohin er sollte. Nach Erie oder nach Los Angelos zu Rachel. Er entschied sich immer öfter für Erie. Bei seiner Mutter lebte er friedlich, konnte ruhen, während der Aufenthalt bei Rachel durch ihr Verlangen nach extensiver Sexualität fern jeder Erholung, die er immer dringender benötigte, verlief. Ein einziges Mal blieb er auf Drängen eines Freundes, in Korea. Sie blieben in Seoul.

Sein Freund Jim unterhielt mit einer Koreanerin seit Beginn des Krieges eine Liebesbeziehung, jede freie Stunde verbrachte er mit dem Mädchen. Die Koreanerin stammte aus einer gutbürgerlichen Familie, ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann gewesen. Bei einem der ersten Luftangriffe starben ihre Eltern und ihre Geschwister, das Haus der Familie wurde komplett zerstört. Sie als einzige Überlebende kam nur deswegen mit dem Leben davon, weil ihr Vater ihr aufgetragen hatte, nach einer kranken Verwandten zu sehen. Sie fand Zuflucht, sofern man ein Hausen im Freien unter einem Stofffetzen als Dach als Schutz bezeichnen kann, beim älteren Bruder ihres Vaters. Der alte Mann hatte Glück, dass ihn bloß ein Balken am Fuß beim Einstürzen seines Hauses traf. Seine Kinder und Enkelkinder starben, wurden erschlagen von den Wänden des Hauses. Davids Freund lernte das Mädchen in den Trümmern dieses Hauses kennen. Sie versuchte, die paar Nahrungsmittel aus dem Schutthaufen auszugraben. Das magere Geschöpf tat ihm leid. Ihr Gesicht schien nur aus großen, schwarzen Augen zu bestehen. Sie hatte Angst vor ihm, verstand kein Wort Englisch. Mit Gesten versuchte er ihr zu erklären, dass er ihr nicht wehtun würde. Er bot ihr ein Täfelchen Schokolade von ihm an. Sie aß es nicht sofort. Sie teilte es mit dem Onkel mit dem verletzten Bein. Jim taten diese Menschen leid, er versuchte, ihre Not zu mildern. Er kaufte in den XP-Läden Lebensmittel, hauptsächlich Konserven und Schokolade, für sie, versorgte sie mit Streichhölzern und Kerzen, Splitterholz hatten sie selbst genug. Der Onkel tadelte sie für den Umgang mit dem Amerikaner, er meinte, dass der fremde weiße Mann sie nur als Zeitvertreib benutzen werde. Jim und das Mädchen verliebten sich ineinander. Sie wurde schwanger. Jim setzte alles daran sie zu heiraten, doch der amerikanische Amtsschimmel, „The Red Tape“, galoppierte nicht schnell genug. Sein erster Sohn wurde unehelich geboren. Er als Vater musste das Kind vor dem koreanischen Gesetz anerkennen, um dem Kind eine bürgerliche Existenz zu ermöglichen. In Korea zu dieser Zeit oblag es dem Vater das Kind anzunehmen und zu legalisieren, das Kind war praktisch Eigentum des Vaters. Die zahlreichen Mischlingskinder der unverheirateten Koreanerinnen, gezeugt von den UN-Soldaten, deren Väter sie nicht annahmen oder nicht mehr annehmen konnten, da sie in der Zwischenzeit gefallen waren, hatten kein Recht auf ihre Existenz und viele von ihnen fristeten ein unmenschliches Dasein. Man nannte sie Rundaugen, verspottete sie und überließ sie ihrem Elend. Sie durften weder Schulen besuchen noch sonstige öffentliche Einrichtungen aufsuchen. Noch Jahre nach dem Krieg überlegten die Verantwortlichen Koreas die Bastarde zu töten: „Schmeißt sie ins Meer“, hieß es.

David bereute es damals, so sehr er seinen Freund auch schätzte, während seiner Freizeit in Korea geblieben zu sein. Nie in seinem Leben vergaß er die Grausamkeit, mit der man Menschen, in diesem Fall Eurasier, behandelte. Viele Jahre verbrachte er in Asien, aber zur Mentalität dieser Menschen und deren Kultur fand er nie Zugang. Er hütete sich davor, eine Liebesbeziehung mit einer Asiatin einzugehen.

Nachdem er aus Indochina zurückgekehrt war, lernte er in Erie eine junge Frau kennen. Ihr selbstbewusstes Wesen erregte sein Interesse. Geschickt stellte er Kontakt zu ihr her und sie verfiel seinem Charme. Sie, zwei Jahre jünger als er, glaubte an die große Liebe und versuchte ihn davon zu überzeugen, ein geregeltes, normales Leben an ihrer Seite zu führen. Bald schon redete sie von Hochzeit, einem geordneten, perfekt geplanten Leben, in dem nichts dem Zufall überlassen werden sollte. David versprach darüber nachzudenken, ob er nicht überhaupt einen anderen, risikoloseren Beruf ergreifen sollte. In Korea und Indochina hatte er genug Geld verdient, um einige Zeit ohne Beschäftigung zu überbrücken, widmete sich seiner Freundin und erfreute sich an ihrem Sexualleben. Nach ausreichender sexueller Befriedigung in so mancher Nacht schlief sie gleich ein, er hingegen blieb meistens noch einige Zeit munter und überlegte die Konsequenzen eines Berufswechsels. Eines Nachts stellte er sich folgendes Szenario vor: Morgens aufzustehen, zu frühstücken, sie zum Abschied zu küssen, danach eine sieben- oder achtstündige Tätigkeit in einer Firma oder Bank, nach Arbeitsende zurückzukehren, zu Abend zu essen und mit ihr zu schlafen. Und das ein Leben lang, Tag für Tag, Nacht für Nacht, ein lebenslanger Kreislauf. „Nein“, sagte er zu sich, „das ertrage ich nicht.“ Die Beziehung scheiterte abrupt.

David schlich einige Zeit, geplagt vom schlechten Gewissen umher, aber er bedauerte keineswegs, diese Partnerschaft so schnell beendet zu haben. Obwohl ihn diese schöne Frau liebte, Sex-Appeal und Intelligenz in sich vereinte, geriet David in Panik, als er sich vorstellte, ein Leben lang in ein Schema gepresst leben zu müssen.

David vertrug keine Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit, von wem auch immer. Er kannte sich zu gut und sah sich genauso wie er war. Nie verspürte er das Bedürfnis, ein perfekt geplantes und eingeteiltes Leben führen zu müssen. Er verabscheute es, dem landesüblichen Klischee, mit 30 Jahren ein Haus gebaut, zwei Kinder gezeugt und einen Baum gepflanzt zu haben, folgen zu müssen. Er liebte es, die Dinge auf sich zukommen zu lassen, entsprechen zu reagieren und wollte auf keinen Fall in einem geplanten Korsett, wie er es ausdrückte, eingeschnürt werden und dahinvegetieren. Seine Entscheidungsfreiheit, seine kurzfristige Zukunftsplanung ging ihm über alles. Dazu gehörten auch Tiefschlägen und berufliche Misserfolge, die sich hin und wieder einstellten. Gelassen begegnete er ihnen, korrigierte, rettete, was zu retten war, schloss unvermeidliche Kompromisse und lebte dabei mit sich selbst in gutem Einvernehmen. Gerne ging er in sich, um zu ergründen, was ihm gefiel, was er ablehnte. Er liebte das Abenteuer, war aber auch ein glühender Befürworter der Ehe, er wäre gerne verheiratet gewesen, aber die Frauen, die er bis dato kennengelernt hatte, entsprachen nicht seinen Vorstellungen. Entweder klammerten sie zu viel oder waren zu dominant.

Nachdem die Begräbnisfeierlichkeiten für Dominic zu Ende waren, brachte David seine Mutter nach Hause. Er sah ein, dass er sie im Zustand der tiefen Trauer und Verzweiflung nicht alleine lassen konnte. Deswegen ersuchte er einen Kollegen, anstatt seiner für die nächsten 14 Tage nach Vietnam zu fliegen. Der Krieg gegen den Vietcong verschärfte sich und die Berichterstattung lief auf Hochtouren. Man sah ein, dass David aus familiären Gründen momentan zu Hause unabkömmlich sei, außerdem rissen sich die Berichterstatter diverser Nachrichtensender und Wochenschauen förmlich um Aufträge dieser Dimension. Jeder Journalist und Kameramann sah eine große Chance, sich mit sensationellen Berichten und Filmmaterial über das Kriegsgeschehen zu etablieren.

David liebte seine Mutter. Es gelang ihm letztlich auch, sie zu beruhigen und ihr über den Tod des älteren Bruders hinwegzuhelfen. Er kümmerte sich rührend um sie, lud sie zu Ausflügen ein, half ihr im Haushalt und munterte sie mit heiteren Geschichten aus der Kindheit der drei Brüder auf. Mary staunte, wie viele Streiche und Abenteuer ihre Söhne der Mutter verschwiegen hatten. „Um Gottes willen“, rief sie aus und musste wohl oder übel lachen. „Wenn ich gewusst hätte, was ihr alles angestellt habt, hättet ihr wochenlangen Hausarrest aufgebrummt bekommen.“

David grinste breit und schaute seine Mutter schelmisch an. „David“, fragte sie forschend, „habt ihr mich jemals angelogen?“

„Nein“, antwortete er gelassen. „Gelogen haben wir nicht, wir haben dir nur nicht alles erzählt.“ David log wenig. Er tat dies nie, um anderen zu schaden oder anzugeben. Er wollte auch keinen Vorteil durch Lügen herausschinden, aber versuchte man ihn in die Enge zu treiben, um seine intimsten Gedanken zu ergründen – diese Eigenschaft bemerkte er vor allem bei Frauen –, blockte er ab, schwieg und sah seinem Gegenüber lange in die Augen. Sensible Personen erkannten seine Gefühle – in Davids Augen konnte man lesen wie in einem Buch –, die Unsensiblen setzten sich über sein Schweigen hinweg, wollten ihn aushorchen, dabei kam es schon vor, dass er log.

David half seiner Mutter beim Wegräumen von Dominiks Sachen. Die Bücher brachte er in sein Zimmer und verstaute sie in dem Bücherregal über seinem Bett. Und die Bekleidung des Bruders verschenkte er bis auf eine Lederjacke. Dominik hatte sie beim Motorradfahren getragen.

Er vermisste seinen Bruder, wenngleich Dominik die meiste Zeit auf See verbracht hatte, aber alleine das Bewusstsein, verlässliche Brüder zu haben, bereicherte sein Leben.

Die Brüder wuchsen in Eintracht miteinander auf. Ihre Mutter und der Großvater behandelten ihre Kinder mit Respekt und gaben ihr Bestes. Sie achteten die Söhne, aber vor allem liebten sie sie. Die Heranwachsenden mussten nie um die Liebe der Mutter oder des Großvaters buhlen. Sie belohnten die ihnen entgegengebrachte Achtung ihrer Erzieher mit Lebensmut.

David setzte sich an Dominiks Schreibtisch. Seine Seele schmerzte, es stach und bohrte in ihm. Obwohl er im christlichen Glauben erzogen wurde, zweifelte er an einem „Leben“ nach dem Tod. „Nie mehr werde ich Dominik sehen oder mit ihm sprechen“, sprach er gedanklich zu sich. Tränen standen in seinen Augen, als Mary ins Zimmer kam. David wendete sich verlegen zur Seite, denn die Mutter sollte seine Gefühlsaufwallung nicht sehen. Sie bemerkte es dennoch und nahm ihn in ihre Arme. Geteilter Schmerz lässt sich zu jeder Zeit leichter ertragen!

Mary übergab David den eben erst erhaltenen Brief aus Wien. Sie wusste, dass der Brief von Dennis kam, da er aber nur selten schrieb – meist telefonierte er –, fürchtete sie erneut schlechte Nachrichten zu erhalten. Zittrig bat sie David den Brief zu öffnen und vorzulesen. Sie lauschte gespannt auf jedes Wort des Schreibens, und als David zu Ende gelesen hatte, wurde sie nachdenklich. Sie sagte zu ihm: „Meine Söhne sind gute Menschen und verdienen keine Missachtung. Ich muss unbedingt Dennis anrufen, um zu erfahren, warum sie nicht heiraten durften.“ Auch David fand die Tatsche höchst merkwürdig, dass Elisabeths Vormund ihr die Heirat mit Dennis verbot. Er beruhigte seine Mutter mit der Meinung, dass die beiden ohnedies durch nichts und von niemandem zu trennen seien. Er wusste damals nicht, wie sehr er sich irrte.

Die 14tägige Gesellschaft Davids tat Mary gut. Die Gespräche über ihre Pläne, die beiden Häuser zu verkaufen, die Umsiedelung nach Wien von Mary und später eventuell auch von David, halfen den beiden mit der Trauer besser fertig zu werden.

Bevor David wieder seinen Pflichten nachkommen musste, nach Vietnam ins Kriegsgeschehen zu reisen, bemühte er sich seine Mutter mit positiven Aspekten zu beschäftigen. „Mom, denk an den Weihnachtsurlaub in Wien, überlege dir Geschenke für uns, überlege, ob und wann du die Häuser verkaufen willst, und belohne dich endlich selbst“, riet David seiner Mutter. Er selbst erhoffte sich, Ablenkung von der Trauer über den Tod seines Bruders in der Arbeit zu finden. Mit dieser Hoffnung fuhr er zum Flughafen. Mary befahl ihm beim Abschied, mehr als dass sie ihn bat, auf sich aufzupassen, denn den Tod noch eines Sohnes würde sie nicht überleben. Er versprach, es zu tun.

Zurück in der Hölle der tropischen Hitze des Dschungels und des Krieges in Vietnam konzentrierte sich David auf seine Arbeit. Wagemutig filmte er die schlimmsten Szenen des Kriegsgeschehens, stets bestrebt jede Einzelheit in den „Kasten“ zu bekommen. Die Nachrichtensender setzten bei der amerikanischen Regierung endlich durch, dass die Zensur der Berichterstattung durch das Militär aufgehoben wurde, somit durften alle Vorkommnisse, von Journalisten und deren Kameraleuten unzensiert und nicht mehr militärisch geschönt, gezeigt werden. Die schockierenden Bilder sehr junger Soldaten, denen Beine oder Hände von Granatsplittern oder Bomben abgerissen worden waren, durften nicht mehr geheim gehalten werden. Sie gingen um die Welt, wenngleich sie oft erst in den Nachtstunden ausgestrahlt wurden. Die Filme über die Massaker der eigenen Truppen an der unschuldigen Zivilbevölkerung konfiszierte das Militär zunächst, konnte aber die Veröffentlichung nur mehr verzögern.

Die Bilder schockierten, danach war nichts mehr so wie zuvor. Der Glaube an Gerechtigkeit, an Ehrenhaftigkeit, an einer gerechten Hilfe für ein bedrängtes Volk in einem ungerechten Krieg war für immer dahin. Die Mär vom „gerechten Krieg“ gehörte für immer der Vergangenheit an. David nahm sich vor, exakt zu dokumentieren, wie schlimm sich die Zwangsrekrutierung von unerfahrenen 18- bis 25jährigen Burschen auswirkte. Vielen Burschen, die aus Kleinstädten oder Bauernhöfen kamen, waren noch nie verreist, sie hatten Heimweh, oft Depressionen und wünschten nichts sehnlicher als ein Ende dieser Qualen, egal ob sie dabei starben oder mit dem Leben davon kämen. Nur ein Ende des Schreckens sollte es sein. Oft lag er neben einem dieser jungen Männer bei einem Gefecht im Morast und hielt, wenn dieser durch Kugeln oder Splitter getroffen worden war, dessen Hand und sprach ihm Trost zu. Er kannte die ungeheuren Strapazen, die diese Männer ertragen mussten, nur zu genau. Er verstand es voll und ganz, dass sie sich in ihrer Freizeit mit den einheimischen Mädchen einließen. Sie taten es nicht, weil die Mädchen so begehrenswert waren – sie taten es, um nicht alleine zu sein, sich anlehnen zu können, umarmt zu werden, und sie fragten sich, warum sie eigentlich in diesem verdammten Land sein mussten. Viele von den jungen Burschen hatten ihre ersten sexuellen Kontakte mit den Asiatinnen, jenseits von Vernunft und Angst vor Geschlechtskrankheiten. David, beinahe eine Generation älter als die zwangsrekrutierten jungen Männer, saß oft mit einer Gruppe der Burschen in Kneipen und hörte aufmerksam zu, wenn sie sich den Kummer von der Seele redeten. Jedes Mal, wenn er von seinem Heimurlaub zurückkam, fehlten einige in seiner Runde.

Bittere Gedanken begannen, die Herrschaft über sein Ich zu übernehmen. „Nur wahnsinnige Menschen zetteln Kriege an! Aber die meisten der anderen müssen sich von den Wahnsinnigen vereinnahmen lassen, auf Kosten ihrer Jugend. Man übersieht es leicht, im Hintergrund spinnen die mörderischen Militärlobbys die Fäden, die ihre eigenen verqueren Interessen vertreten. Den Tod zahlreicher Menschen nehmen sie mit einem Schulterzucken zur Kenntnis, schamlose Argumente wie „gestorben für das Vaterland“ unter die Untertanen streuend, vom gemeinen Volk Zustimmung für ihr Handeln heischend, igeln sich die Mächtigen in ihrer Traumwelt ein. Toleranz kennen sie nicht, Mitleid mit den Opfern beider Seiten haben sie nicht, Gehorsam vom Volk und vom kleinen Soldaten verlangen sie, Sterben für die Wahrung ihrer Interessen fordern sie. Selbst die Mächtigen jener Völker, die „Freiheit allen unterdrückten Menschen“ und „Nächstenliebe“ auf ihre Fahnen heften, interessieren sich im Grunde nicht für die Leiden der Zivilbevölkerung und der Soldaten. Überleben sie den Wahnsinn, na gut, sterben sie, ist eine letzte Ruhestätte für den Soldaten, zum Helden hochstilisiert, in Arlington oder anderen Gedächtnisstätten für verheizte Soldaten allemal vorreserviert, pathetische Phrasen für die Angehörigen sind inbegriffen“, dachte er.

Obwohl er an fast allen Kriegsschauplätzen der Welt arbeitete und immer dort anzutreffen war, wo es am gefährlichsten war, blieb er unverletzt. Oft hatte er bloß Glück. Es bot sich ihm überall und zu jeder Zeit, wo ein Krieg ausgefochten wurde, das immer gleiche Bild. Bloß die Zerstörungskraft der eingesetzten Waffen hatte sich wieder gewandelt. Zerstörung und Tod leisteten ihm anhängliche Gefolgschaft, nur fand er sich nie so recht damit ab. Die Routine, mit der er die von den Machthabern initiierten militärischen Auseinandersetzungen betrachtete und filmisch dokumentierte, erreichte bald die Grenzen des Erträglichen. Verachtung und Hass für diverse Staatsoberhäupter weltweit, die skrupellos die eigenen Landsleute abschlachten ließen und dabei von ihren bequemen Lehnstühlen aus kommandierten, seine Heimat nicht ausschließend, waren die Folge. Er hielt sich mit der Äußerung dieser Meinung auch nie zurück und die dadurch vorprogrammierten prekären Situationen, in die er immer wieder schlitterte, waren unvermeidbar.

Sei es Bestimmung, sei es Zufall, niemand weiß, warum das Schicksal so bösartig in das Leben eines Menschen eingriff.

David stand die Damenwelt offen. Er konnte wählen unter den Schönen und Klugen, verzettelte sich aber mit der zärtlichen Zuneigung zu seiner Schwägerin in spe. Er kannte die tiefen Gefühle, die Elisabeth und Dennis füreinander empfanden. Er schämte sich, als er sich selbst eingestehen musste, dass er die junge Frau gerne für sich gewinnen mochte. Außer seiner Mutter entdeckte niemand sein Verlangen nach Elisabeth, glaubte er. „Elisabeth und Dennis, vollkommen miteinander verbunden, bemerken nichts von meinen Gefühlen für Elisabeth“, sagte er sich. Gut, er bemühte sich seine Torheit, wie er es nannte, auszumerzen. Paradoxerweise verlangte es ihm mehr denn je nach ihr, je mehr er sich sagte: „Vergiss sie! Sie gehört zu deinem Bruder. Was denke ich eigentlich, warum will ich sie?“ Das Unerreichbare schien ihm begehrenswerter zu sein. Jedenfalls war er Manns genug seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Auf gar keinen Fall wollte er die Familie brüskieren, um letztlich den anderen Bruder auch noch zu verlieren.

Die Urlaube in Wien schätzte er. Die familiäre Bindung, die Nähe zu der jungen Frau, die er heimlich bewunderte und verehrte, lenkten ihn von den Gräueln seines Alltages ab. Auf Dauer in Wien zu leben, das konnte er sich vorstellen!

Kapitel 1

Elisabeth saß im Garten des psychiatrischen Krankenhauses. Sie dachte über den Tod nach. Ihr schlechter seelischer Zustand, zusätzlich die Einnahme der Psychopharmaka stumpften sie ab, ja verleiteten sie zum Sinnieren. Sie sah im Tod eher einen Freund als einen Feind. „Natürlich“, sprach sie zu sich selbst, „zu sterben wäre der einzige Weg, den ich einschlagen könnte, um mit Dennis und unserem Kind wieder vereint zu sein. Ich träume vom Sterben, ja ich sehne den Tod herbei und überlege, wie ich es am besten anstelle, aber hier an diesem Ort wird man meinen Willen nicht akzeptieren. Hier entmündigen sie mich eher, als mich sterben zu lassen, denn sie sind dazu verpflichtet, mich am Leben zu erhalten, egal ob es für mich gut ist oder nicht. Sie verurteilen mich zum Leben. Das Schicksal sollte sich als Wiederholungstäter betrachten, denn es zwang mich schon einmal zum Leben, es fragte mich nicht, ob ich überhaupt auf die Welt kommen wollte. Ihr dort! Ja, ihr, wer immer ihr seid, du Schicksal dort im Jenseits, sprich! Warum bin ich auf dieser Welt? Warum musste Dennis diesen sinnlosen Tod erleiden? Wieso musste mein Kind sterben, weshalb wurde ich in diese miesen Verhältnisse hineingeboren? Wären die Antworten nur fadenscheinige Ausreden? Die katholischen Geistlichen sagen, dass Gott seine Gründe habe einen Menschen zu sich zu rufen, wann und wo es ihm passt. Aber kann ein liebender Gott so handeln? Er nimmt keinerlei Rücksicht auf die Gefühle und das Befinden der Zurückgebliebenen.“

Sie erhob sich von der Gartenbank und spazierte die Kieswege entlang. „Morgen“, überlegte sie weiter, „morgen ist der zehnte Juni, Dennis bestimmte diesen Tag zu unserem Hochzeitstag.“ Ein stechender Schmerz fuhr in ihr Herz, aber sie weinte nicht.

Keiner ihrer leiblichen Verwandtschaft sah nach ihr. Weder ihre Mutter noch ihr Vater kümmerten sich um sie. „Und ehrlicherweise“, gestand sie sich ein, „bin ich auf diese Subjekte auch gar nicht neugierig. Ich bin froh, sie nicht empfangen zu müssen und mir ihre salbungsvollen, von Falschheit triefenden Sprüche anhören zu müssen.“ Die Tränen versagten ihr seit einiger Zeit den Dienst. Sie sehnte sich danach zu weinen, aber es gelang ihr nicht. „Wahrscheinlich“, tröstete sie sich, „habe ich meinen Tränenvorrat verbraucht, nichts als trockene Augen bleiben zurück.“

Die Wochen der Behandlung zogen sich dahin. Langsam, ganz langsam stabilisierte sich Elisabeths Psyche. Nicht dass sie frohen Mutes wurde, aber immerhin nahm sie wieder mehr Anteil an ihrem Leben. Sie unterhielt sich scheu mit anderen Patienten. Diese stellten ihr hin und wieder Fragen, mehr aus Langeweile als aus Interesse, und vergaßen die Antworten gleich wieder. Einer fragte sie täglich dasselbe, sie antwortete immer mit denselben Worten: „Ja, ich bin traurig.“

Ein paar Wochen vergingen. Das Essen schmeckte wieder besser und sie schlief weniger. Die Leidenschaft, mit der sie ans Sterben dachte, verlor an Intensität, wandelte sich langsam in die Akzeptanz ihres Lebens. Sie hatte seit Dennis Tod den Schrecken vor dem Sterben verloren. Die meisten Menschen schaudert es, wenn sie an ihren Tod denken und ihnen dadurch im Laufe ihres Lebens viele bange Stunden entstehen. Sie schloss ihren Frieden mit der Tatsache, einst ihrem eigenen Tod gelassen gegenübertreten zu können. Das einzige Ungeheuerliche, wovor ihr bange wurde, war ein Sterben auf Raten, an Schläuchen hängend, um schon halb tot noch zu lange am Leben erhalten zu werden. Davor musste sie sich bewahren, das versprach sie sich. „Eigentlich“, beruhigte sie sich, „habe ich genug durchgemacht, um mir einen Tod ohne Qualen zu verdienen“, lächelte sie matt.

David betrat das Krankenzimmer, um Elisabeth abzuholen. Er hatte sie vor acht Wochen nach ihrem Nervenzusammenbruch zum Arzt gebracht, der wies sie sofort in die Spezialklinik ein. Wann immer er das Kriegsgebiet Vietnams verließ, besuchte er sie oder erkundigte sich telefonisch nach ihrem Befinden. Er kümmerte sich seit Dennis’ Ableben um sie.

Sie standen einander gegenüber. Er, erschöpft und mager, und Elisabeth, blasser und schmäler denn je. Ein oder zwei Minuten lange standen sie unschlüssig da. David breitete seine Arme einladend aus. „Komm her, meine Kleine“, sagte er leise. Elisabeth flüchtete sich in seine Fürsorge, eng schmiegte sie sich an ihn. Sie begann zu weinen, sie weinte und genoss es, denn mit jeder Träne wich ein kleiner Teil des Schmerzes. Es schien, als wasche sie ihre Seele. Die schwarzen Flecken der Pein verloren an Farbintensität, während David sie an sich gedrückt hielt. Sie wusste nicht, wie lange sie so standen, als sie eine Stimme aufmerksam werden ließ: „Fräulein Fodor“, sprach die Stationsschwester. „Der Arzt möchte noch mit Ihnen sprechen, bevor Sie das Spital verlassen.“ Elisabeth wischte sich die Tränen aus den Augen und folgte der Schwester. Der behandelnde Psychologe bat Elisabeth, sich zu setzen. Er erklärte ihr, dass sie die Medikamente noch einige Zeit lang einnehmen müsse, und legte ihr nahe zum Kontrolltermin zu kommen. „Ich sehe, dass Sie auf den Weg der Besserung sind“, meinte er ehrlich. „Sie weinen. Das freut mich! Weinen Sie, wann immer Sie können, es hilft Ihnen, glauben Sie mir.“ Sie glaubte ihm, sie wusste es bereits. Sie verabschiedete sich von dem alten Arzt und ging zu David zurück. Er nahm ihre Tasche, sie hatte sie am Abend vor ihrer Entlassung aus der Klinik gepackt. Untergehakt bei David verließ sie das Krankenhaus.

David war am Abend des Vortages in Wien angekommen, vom Flughafen in die Wohnung gefahren und hatte sie für Elisabeths Heimkehr aus dem Spital geschmückt. Er hatte sich viel Mühe gegeben. Sie bemühte sich ihm liebevoll dafür zu danken, aber die Erleichterung des Schmerzes, als sie weinend in ihrem Krankenzimmer an David geschmiegt gestanden hatte, wich beim Betreten der Wohnung. Alles in diesen Räumlichkeiten erinnerte sie an Dennis. Wie ein Bergsturz brach der Schmerz wieder über sie her. Niedergedrückt blickte sie zu David. Sie hatte Gewissensbisse, da sie nicht in der Lage war, Davids Bemühungen gehörig zu würdigen. Sie lächelte schwach, aber ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Wieder nahm er sie in seine Arme, streichelte sie und wiegte sie hin und her wie ein kleines Kind.

Schwüle Hitze brütete in der Wohnung. Elisabeth schlief schlecht in der ersten Nacht nach ihrer Entlassung aus dem Spital. Sie drehte sich im Bett hin und her und suchte nach einem kühlen Plätzchen auf der Matratze. Sie stand auf, ging ins Badezimmer, wusch sich den Schweiß vom Gesicht, danach ging sie auf die Terrasse, um die Kühle der Nacht zu genießen. David stand dort. Sie stellte sich neben ihn. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. „Elisabeth“, flüsterte er, „das Schicksal spielt meiner Familie übel mit. Außer meiner Mutter und mir lebt keiner mehr, aber meine Gedanken sind angefüllt mit den Bildern meiner Lieben, mit denen der Toten und mit denen der Lebenden: Großvater, der Geschichtenerzähler. Er betreute uns, denn die Mutter arbeitete oft bis spät in die Nacht hinein. Und sie, meine Mutter, nahm es mit jeder Hürde in ihrem Leben auf, immer bereit für uns zu sorgen. Sie ist nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Mein älterer Bruder, seinem Vaterland treu ergeben, musste dafür sterben. Jetzt liegt er in einem Ehrengrab, welch eine Ironie! Der Kleine, unser Dennis. Er wusste genau, was er wollte, und wich keinen Fingerbreit von seinem Weg ab. Offensichtlich holte ihn der Tod, der ihm in Korea noch einen Aufschub gewährt hatte, in Europa in Friedenszeiten ab. Allerdings war er der glücklichste von uns drei Brüdern, denn er lernte die Liebe kennen. Er liebte dich über alles, meine Kleine. Ich beneidete ihn.“ Er drückte sie an sich und sie schlang ihre Arme um seinen Nacken. Sie weinte erneut und ihre Tränen rannen seine Brust hinunter. Sie zitterte leicht. Er nahm sie hoch, trug sie ins Zimmer zurück und legte sich neben sie auf das Bett. Umhüllt von seinen Armen und aufgewühlt von ihrer beider Einsamkeit, verloren sie sich im gegenseitigen Verlangen nach Liebe und Trost.

In dieser Nacht redeten sie lange über die Gnadenlosigkeit des Todes. David erzählte vom Schicksal einiger Kriegsversehrten. Von den Verwundeten, den Gelähmten, zum Vegetieren verdammt, nichts weiter als den Kopf hin und her bewegen könnend und jeden so lange anbettelnd, ihnen beim Sterben zu helfen, bis sie sich entweder an ihren Zustand gewöhnten oder aus Gram und Verzweiflung von alleine starben. Im Gegensatz sah er die Lebenshungrigen, sie wollten Leben um jeden Preis, aber dennoch verloren sie es nur allzu früh.

Immer wieder staunte sie darüber, wie sehr Davids Stimme der von Dennis glich. Sie schmiegte sich noch enger an ihn und atmete seinen ihr angenehmen Körperduft ein. „Er riecht wie Dennis“, erkannte sie. Die Dunkelheit gaukelte ihr die Illusion vor, neben Dennis zu liegen, und sie glaubte es nur zu gerne.

Am nächsten Tag erwachte David bei hellem Sonnenschein. Elisabeth lag noch schlafend, ihren Kopf auf seine Brust gebettet. Er lächelte, drehte sich sanft auf die andere Seite und schob einen Polster unter ihren Kopf. „Mein Gott, wie zerbrechlich sie aussieht“, dachte er und nahm sich vor sie gut zu versorgen. Einen mehrwöchigen Urlaub, er gab an, in Familienangelegenheiten gebraucht zu werden, hatte man ihm gewährt. Bevor er die USA verlassen hatte, hatte sich Mary aufgerichtet, für kurze Zeit ihren Schmerz vergessen und David eingebläut, Elisabeth zu verwöhnen und sie für sich zu gewinnen. Sie kannte seine Gefühle für sie. Er hatte versprochen, es zu tun.

Elisabeth wachte auf und sah in Davids Gesicht, als er sie zu wecken beabsichtigte, dabei beugte er sich über sie. Er lächelte.

„Das Frühstück wartet auf dich, Herzchen“, sagte er leise.

Sie stand auf, er half ihr in den Morgenmantel und führte sie zum Tisch. Scheu schaute sie ihn fragend an und meinte damit: „Wieso kam es vergangene Nacht zu unserer Umarmung? Was würde Dennis davon halten?“

Er verstand ihre stumme Frage und sagte zu ihr: „Honey, es kommt alles so, wie es kommen muss.“ Er stand auf, ging auf sie zu und küsste sie. Sie fügte sich. „Was möchtest du heute unternehmen?“, fragte er sie.

„Sonne, Licht und Schwimmen“, gab sie zur Antwort. Sie fuhren zu den Donauauen. Zum ersten Mal nach Dennis’ Tod fühlte sich Elisabeth wohl. Sie schwamm an Davids Seite, und wenn ihr bange wurde, legte sie ihre Hand auf seine Schulter. Die Sonne und die Luft taten ihr sehr gut.

Von den Strapazen der komplizierten Fehlgeburt erholte sich Elisabeths junger Organismus, aber die Psychopharmaka hinterließen deutliche Spuren. Der Abbau dieser Medikamente dauerte einige Zeit. Gegen die Anweisung des Psychologen beendete sie die Einnahme dieser Pillen, denn sie hasste es, diese Arznei zu schlucken. Zeitweise verfiel sie in melancholische Stimmung, reagierte über oder sie erlitt einen Weinkrampf. David stand eisern zu ihr und stellte sich auf ihre Stimmungsschwankungen geduldig ein. „Nun, mein Bruder ist gestorben“, dachte er traurig, „und ich bräuchte kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, weil ich für Elisabeth von Anfang an eine tiefe Zuneigung empfand, nun warum habe ich es jetzt? Ich wäre nicht länger gezwungen ein Geheimnis aus meiner Liebe zu ihr zu machen, aber wie nimmt sie es auf, wenn ich ihr so kurz nach Dennis’ Tod eine Liebeserklärung mache? Bin ich ein Schuft, dass ich letzte Nacht bei ihr gelegen habe? Ich konnte nicht widerstehen und ließ mich fallen!“

Er streichelte zart Elisabeths Haar, sie lag dicht neben ihm im Schatten einer riesigen Buche. Elisabeth genoss Davids Berührung, seine Liebe letzte Nacht, obwohl sie sich ihr selbst gegenüber ungehorsam war, da sie sich aufgetragen hatte, nicht so schnell wieder eine Liebesbeziehung einzugehen. Keine Spur von schlechtem Gewissen rührte sich in ihrem Herzen! Sie schob dies der Situation zu, dass jetzt, wo Dennis nicht mehr bei ihr war, David seinem Bruder in Stimme und Ausstrahlung so ähnelte, ihr die Sicherheit gab, Dennis nie zu vergessen. Sie wollte Dennis wieder zurückhaben, wieder seine Nähe spüren und glaubte, dies in David zu finden. Sie schmiegte sich enger an ihn, schloss die Augen und ersuchte ihn zu sprechen.

Nichts beflügelte David mehr, als wenn jemand ihn zum Erzählen aufforderte. Und er erzählte gut. Er schilderte viele Ereignisse aus seiner Kindheit und benutzte dabei drollige Ausdrücke. Elisabeth lächelte. Mit geschlossenen Augen lauschte sie seinen Erzählungen und fühlte sich Dennis so nahe wie zu dessen Lebzeiten. Für kurze Zeit vergaß sie sogar, dass er seit Wochen nicht mehr am Leben war.

Am nächsten Morgen erwachten beide nach gutem Schlaf zu gleicher Zeit. Sie drehten sich lächelnd einander zu und überlegten, was sie zu tun hatten. David übernahm ohne Elisabeths Zutun Dennis’ Pflichten. Er bereitete für sie das Bad mit wohlduftenden Essenzen, säuberte, nachdem sie mit dem Baden fertig waren, Zimmer und das Bad blitzblank, während Elisabeth das Frühstück nach Langem wieder zu einem Festessen herrichtete. Die Sonne schien warm durch die offene Terrassentüre, Spatzen hüpften auf der Terrasse Futter suchend, frech kamen sie in die Wohnung, um jedes Bröselchen aufzupicken. Elisabeth lächelte gerührt und warf den Vögelchen kleine Stücke Weißbrot und Kuchenbrösel zu. Gierig verschlangen die Tierchen das Dargebotene. Als David aus dem Bad kam, flatterten die kleinen Vögel etwas weiter auf die Terrasse hinaus, kamen aber gleich wieder zurück, nachdem sich David zum Tisch gesetzt hatte. Die Spatzen bestanden darauf, ihre Mahlzeit beenden zu dürfen.

Dennis und seine Tierliebe fielen ihr ein. Sie sah ihn ganz deutlich vor sich, wie er das Leben aller Individuen respektiert hatte. Weder Spinnen noch Fliegen hatte er getötet, denn er hatte den Wert jedes einzelnen Lebewesens und dessen Beitrag zum biologischen Gleichgewicht erkannt.

Offensichtlich bemerkte David, woran Elisabeth dachte, denn er sagte: „Schon als kleines Kind geriet Dennis außer sich, wenn Menschen Eichhörnchen oder Spatzen als Zielscheibe beim Wettschießen verwendeten.“

„Ich weiß“, antwortete Elisabeth traurig. „Edle Menschen, die wie Dennis lange vor ihrer Zeit sterben müssen, hinterlassen eine große Lücke bei allem und jedem.“

David bemühte sich, ihr über Dennis Tod hinwegzuhelfen. Es gelang mal besser, mal schlechter, aber in Momenten der Besinnlichkeit sah Elisabeth Dennis ihr zulächelnd im Raum stehen und alles Lebende verteidigend. Bei dieser Imagination überfiel sie unendliche Traurigkeit.

„Davy, hilfst du mir beim Sortieren von Dennis’ Kleidern? Und bitte nimm, was immer du für richtig hältst oder was dir gefällt.“ Sie räumten alle seine Kleidungsstücke aus dem Garderoberaum und begutachteten jedes einzelne Stück. Pullover, Hemden, Jeans, Schuhe und die Smokinghose, in der noch die Sicherheitsnadeln steckten. David wunderte sich und fragte, warum Dennis seine Hose mit diesen „Dingern“ verziert hatte. Elisabeth erklärte ihm den Grund für dieses Provisorium. David schnitt lustige, scherzhaft schmerzverzerrte Grimassen und bemühte sich zu erörtern, was alles durch die Sicherheitsnadeln im Hosenstall in Mitleidenschaft hätte gezogen werden können. Elisabeth lachte zum ersten Mal seit vielen Wochen. Beim Aussortieren der Krawatten fand Elisabeth einen Schlips. Er hatte ihn bei ihrem ersten Rendezvous getragen. Es versetzte ihrem Herzen einen Stich. Sie sah ihn wieder vor sich, gegen das Auto gelehnt auf sie wartend, schelmisch lächelnd. Weinen und Lachen, oft tat sie es gleichzeitig.

David schlug vor Dennis’ Kleider und Schuhe, die ihm nicht zusagten, dem Roten Kreuz zu übergeben. Also packten sie die Kleidungsstücke in Kartons und David heuerte ein Taxi an, um die Pappkartons zu einer Übernahmestelle des Roten Kreuzes zu bringen. Von einigen Pullovern weigerte Elisabeth sich, sich zu trennen. Die Pullover strömten Dennis’ Duft noch aus, keinen Rasierwasser- oder Parfumduft. Der Duft seiner Haut und seines Haars hing in diesen Kleidungsstücken, sie liebte diesen Geruch. Sie erinnerte sich an die erste Nacht, als sie alleine in der Wohnung gewesen war, als Dennis für eine Woche hatte verreisen müssen, wie sie sich seinen Pullover als Trost, wie ein kleines Kind den Teddybär, mit ins Bett genommen hatte, um besser einzuschlafen. Sie sah sein Gesicht vor sich: Die klaren, braunen Augen, umrandet mit den langen, rotblonden Wimpern, die helle Haut mit den winzigen Sommersprossen, seine gerade, schmale Nase und den wohlgeformten Mund. Verträumt betrachtete sie das imaginäre Gesicht.

David holte sie in die Wirklichkeit zurück: „Honey, du träumst zu viel!“

„Sicher, du hast recht, ich sollte mit dem Träumen aufhören, aber dazu brauche ich viel Zeit. Entschuldige, mein Lieber“, antwortete sie. David sah sie forschend an. Beide hingen ihren Gedanken nach.

Er bemühte sich, Dennis Platz auszufüllen. In der kurzen Zeit nach Dennis’ Tod getraute er sich noch nicht über seine Gefühle für sie zu sprechen, stattdessen begann er sie zu verwöhnen mit allem, was er meinte, dass es ihr Freude bereiten könnte. Er neigte dazu, sie nicht nur mit materiellen Werten zu überhäufen, er begann auch, sie ein wenig zu bevormunden. Er tat es nicht aus egoistischen Gründen, er glaubte ganz einfach, sie wäre noch zu schwach, um ihr Leben wieder voll in den Griff bekommen zu können.

„Davy“, sagte sie eines Nachmittags zu ihm, „bitte, behandle mich nicht wie eine hilflose Person. Ich kann selber entscheiden, was gut oder schlecht für mich ist.“ Gekränkt sah er sie an. „Was fällt mir eigentlich ein, diesen lieben Menschen so zu behandeln“, schalt sie sich, ging zu ihm, setzte sich auf seinen Schoß und küsste ihn lange. Sie wusste, dass er sich um sie sorgte, dass er sie liebte, obwohl er nie über seine Liebe zu ihr sprach. Elisabeth versuchte, damit zurande zu kommen: David war genau 20 Jahre älter als sie, ein erfahrener Mann mit gutem Einkommen und blendendem Aussehen. Sie hatte seine Schwäche für sie schon lange bemerkt, noch zu Dennis’ Lebenszeit. Seine Zärtlichkeit, sein Temperament und seine Hingabe hatte sie in den vergangenen Nächten kennengelernt. Sie hätte sich als Bevorzugte schätzen können, seine Frau zu werden, wäre da nicht Dennis gewesen. Für sie stand fest, dass sie nie mehr wieder dasselbe Gefühl, wie sie es für Dennis empfand, jemals einem anderen Mann entgegenbringen würde. Sie hatte bei seinem Tod ihre große Liebe verloren, dabei war ihr Herz gebrochen. Nie würde sie diesen Schmerz vergessen können, das wusste sie. Andererseits sah Elisabeth in David einen Teil von Dennis. Mary, die Mutter von Dennis, war natürlich auch die Mutter von David und eine bessere Schwiegermutter hätte sie sich nicht wünschen können. Sie vermutete richtig, wenn sie annahm, dass Mary eine Verbindung von ihr mit David gerne gesehen hätte. „Bin ich überhaupt in der Lage, ihm all das zu geben, wonach er sich sehnt? Genügt er mir als David oder sehe ich ihn als einen Teil von Dennis? Heute komme ich zu keinem Entschluss, morgen ist auch noch ein Tag“, sprach sie zu sich.

David seinerseits grübelte darüber, ob sein Beruf familienfeindlich war oder nicht. Würde er seinen Beruf wegen einer Frau aufgeben? „Nicht für die, die ich bisher kannte“, sagte er sich. Das Filmen des ewigen Leides, war das alles in seinem Leben? „Ich lebe in ständiger Gefahr, wenn ich draußen bin. Kann ich es ihr zumuten, einen halben Monat alleine zu sein? Ich kann da draußen umkommen. Herr Gott, was soll ich tun? Es bleiben mir noch ein paar Wochen in Wien, die will ich mir nicht verderben. Wenn ich meinen Dienst wieder antrete, spreche ich mit dem Chef des Nachrichtensenders. Aber besser, ich verschiebe die Grübeleien auf den Zeitpunkt, wenn ich zurück in den Staaten bin“, beschloss er.

„Honey“, rief er Elisabeth aufmunternd zu, „lass das Kochen bleiben! Wir gehen essen!“

Elisabeth stimmte erfreut zu. Zum ersten Mal seit Dennis’ Tod achtete sie wieder auf ihr Outfit. „Seit Dennis’ Tod“, sagte sie sich. „Diesen Satz werde ich wohl noch lange verwenden“, vermutete sie, während sie ihre Kleidung aussuchte. Sie schlüpfte in eine leichte Sommerhose und in eine duftige Bluse aus Seide. David hatte sie ihr gekauft, als er bemerkt hatte, dass sie sie im Schaufenster lange betrachtet hatte. Prüfend begutachtete sie ihr Gesicht ausgiebig im Spiegel.

Den blassen Mund mit zartem Lippenrot und mit ein wenig Puder, um die schwarzen Schatten unter den Augen zu kaschieren, geschminkt und geschmackvoll gekleidet, erschien sie im Zimmer. David stieß einen leisen Pfiff durch seine Zähne. „Honey, du siehst fantastisch aus“, schwärmte er.