Das Ende einer Reise


Mora Shina

Tanja Schneider

 

Schneider, Tanja

geboren 1981 in Altötting; arbeitet als Mediengestalterin für Print und digitale Medien. Ihre Freizeit verbringt sie gern in der Natur, zusammen mit Familie, Hund und Pferd. Schon sehr früh begann sie zu schreiben, lange Zeit jedoch nur für sich selbst. Einige Kurzgeschichten sind in Anthologien erschienen, zumeist in den Genres Mystery und Erotik.



Bayern-black


Mora Shina

 

Einmal endet jede Reise,
und oft wird erst am Ende offenbar,
dass der Weg das eigentliche Ziel war.


 

Mai 1980

 

„Ich sehe eine junge Frau. Sie ist erfolgreich und wohlhabend.“ Elvira streichelte zärtlich Alfreds Hand. „Vier Kinder wird sie dir schenken, und ihr werdet in einer noblen Dachterrassenwohnung leben.“

Alfred griff nach Elviras Händen, drückte sie sacht. „Du bist eine jämmerliche Wahrsagerin.“

Elvira schnaubte verächtlich, doch Alfred fuhr unbeirrt fort:

„Soll ich dir sagen, was ich sehe? Ich sehe eine bildhübsche junge Frau mit tiefen, unergründlichen Augen. Ich sehe, dass sie schon bald ein besseres Dasein leben wird. Ich sehe Liebe, und ich sehe noch etwas.“ Alfred beugte sich ihr entgegen. „Ich sehe, dass sie gleich den besten Kuss ihres Lebens bekommt“, flüsterte er.

Mit dem Kuss hatte er recht.

„Du machst es mir nicht gerade leicht, Lebewohl zu sagen.“

„Geh nicht, Elvira. Bleib bei mir.“ Seine Hände drückten noch fester zu. „Vielleicht werden wir nie in einer noblen Dachterrassenwohnung leben, vielleicht werden wir nie erfolgreich sein – doch wir haben uns, und das ist genug!“

Was hatte sie schon zu verlieren? Als Waise, geschwisterlos und immer auf Reisen mit dem kleinen Wanderzirkus ihrer Tante?

Sie blickte in seine Augen. Es war Liebe, auch damit hatte er recht. Ein völlig neues Gefühl. Sollte sie es wagen? Mit Alfred, einem frenetischen Geschichtsfanatiker und Lehramtsstudenten?

Sie teilten ein leidenschaftliches Lächeln.



26 Jahre später

 

Elvira zupfte hastig ihre Bluse zurecht. Mit glühend heißen Ohren und rasendem Puls stand sie im Backstage-Bereich und wartete auf das verabredete Zeichen. Es war ihr erster Fernsehauftritt. Schon hörte sie die Stimme des Moderators: „Begrüßen Sie mit mir, liebe Zuschauer, unseren heutigen Gast. Elvira Hausmann, besser bekannt als die berühmte Wahrsagerin Mora Shina. Herzlich willkommen!“

Die Zuschauer klatschten, und der Mann mit den Kopfhörern gab ihr das Zeichen. Mit weichen Knien schritt sie die letzten Meter zur Bühnentür, drückte sie auf und betrat den Zuschauerraum.

Diesen Moment würde sie nie vergessen. Ihre Gefühle – eine trunkene Mischung aus Angst und Begeisterung – ließen sie wie im Rausch die wenigen Schritte bis zum Talksofa schweben.

„Ich freue mich sehr, dass Sie heute mein Gast sind, Frau Hausmann.“ Thomas Schütz, der Moderator, trat ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. „Herzlich Willkommen.“ Recht energisch schüttelte er ihre Hand.

„Vielen Dank, Herr Schütz. Ich freue mich auch sehr, heute Abend hier sein zu dürfen.“

Thomas Schütz bot ihr mit einer winzigen Handbewegung den Sitzplatz an. Elvira ließ sich erleichtert nieder. Obwohl die Nervosität nach dem ersten Adrenalinstoß jetzt etwas nachließ, traute sie ihrem Gleichgewicht noch nicht.

„Frau Hausmann, Sie sind ja wirklich eine Koryphäe auf Ihrem Gebiet. Noch nie hat es eine ähnlich erfolgreiche Wahrsagerin in Deutschland gegeben. Selbst Berühmtheiten aus Politik und Business schwärmen von Ihren Fähigkeiten. Verraten Sie uns: wer ist Ihr berühmtester Kunde?“ Thomas Schütz grinste sie bübisch an.

„Sie wissen doch, ich bin an die Schweigepflicht gebunden. Berufsehre.“ Elvira lächelte keck zurück.

Der Mann nickte anerkennen. „Sie sehen, meine Damen und Herren, diese Frau versteht etwas von ihrem Job! Da würde selbst ich mich bedenkenlos an sie wenden. Wollen Sie uns denn vielleicht erzählen, wie es anfing mit der Wahrsagerei?“ Der Moderator lächelte ihr ermunternd zu.

„Sehr gerne, Herr Schütz. Es ist schwer zu sagen, an welchem Tag meine Glückssträhne begann. Aber es hängt wohl mit meinem speziellen Talisman zusammen. Vor Jahren fand ich einen kleinen roten Halbedelstein. Er ist eher unscheinbar, doch eines Tages fing er an, mir Bilder von der Zukunft zu zeigen.“

„Sie sprechen von einem Talisman.“

„Genau. Ein Jaspis. Bestimmt möchten Sie ihn sehen.“ Elvira zog einen Stein aus ihrer Tasche. „Nur bitte berühren Sie ihn nicht.“

Selbst wenn er den Stein ablecken würde, dachte Elvira, hätte der nicht die geringste Wirkung. Thomas Schütz warf ihr einen skeptischen Blich zu. Er wusste, dass der Stein ein Double war. Sie hatten es vor der Sendung abgesprochen. Doch er spielte den Zuschauern überzeugende Bedenken vor: „Ist der Stein denn gefährlich?“

„Vielleicht. Wir sollten es nicht ausprobieren, oder?“

Die Zuschauer lachten.

„Also schön, Frau Hausmann. Dann erzählen Sie uns doch bitte, wie Sie zu dem Stein gekommen sind.“

 


Januar 1980, städtisches Krankenhaus

 

Das letzte Zimmer für heute, was für ein Glück. Elvira seufzte. Langsam schob sie den Wagen mit den Reinigungsutensilien zum nächsten Zweibettzimmer. Sie klopfte leise.

„Herein“, trällerte eine fröhliche Stimme. Eine Frau, noch keine dreißig. Hatte Probleme mit einem Knie. Musste irgendwas am Knorpel wegschneiden lassen. Weiß der Teufel.

Elvira versuchte nicht, ihre schlechte Laune zu verbergen. „Darf ich kurz stören?“

„Natürlich“, flötete die Stimme zurück.

Normalerweise hätte Elvira nicht gefragt, doch ein Arzt stand neben dem Bett.

„Alles Weitere bespricht dann der Narkosearzt mit Ihnen“, sagte der Arzt und klappte sein Memo zu. „Bis morgen, Frau Wagner.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Zimmer. Elvira machte sich an die Arbeit. Das Bad war glücklicherweise frei, die zweite Patientin musste unterwegs sein.

Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand, obwohl sie keine Lust hatte. Nach knapp fünfzehn Minuten war sie so gut wie fertig.

„Morgen muss ich unters Messer.“

Warum konnten die Patienten ihre Geschichten nie für sich behalten? Als wäre sie zur Unterhaltung gekommen.

„Sie schaffen das schon.“ Elvira wischte noch unter den Betten durch.

„Wissen Sie, da ich ein paar Tage hier bleiben werde, würden Sie mir einen Gefallen tun?“

Ein Seufzen entrann Elviras Kehle.

„Schon möglich. Womit kann ich Ihnen helfen?“

„Es ist so, dass die Heizung nicht richtig funktioniert. Ich habe der Schwester bereits Bescheid gesagt, doch der Monteur kann offenbar nicht vor morgen früh kommen.“ Sie kam ins Stocken.

„Glauben Sie wirklich, ich könnte eine Heizung reparieren?“

Die Patientin lachte etwas unsicher. „Nein, ich dachte nur, vielleicht ist die Heizung nicht kaputt, sondern schmutzig.“

Elvira stöhnte lautlos. Hätte sie einfach direkt gefragt, könnte sie jetzt schon fertig sein. Sie schnappte sich einen Lappen und eine lange dünne Bürste und machte sich an die Arbeit. Viel Staub kam zum Vorschein, sehr viel. Plötzlich landete etwas Rotes klackend auf dem Boden. Elvira holte einen kleinen Stein aus dem Staub, einen Jaspis. Auf einer Seite war er mit einem eingeritzten Pentagramm verziert worden. Wirklich seltsam. Elvira steckte den Jaspis ein.

„Ob die Heizung nun besser läuft, weiß ich nicht. Sauber ist sie aber auf alle Fälle.“

„Vielen Dank, Frau …?“

„Shina.“

„Shina?“

„Mein Künstlername. Mora Shina! Wahrsagerin.“

„Aha. Sagen Sie …“

„Ob ich Zigeunerin bin, weil ich so aussehe?“

„Nein, Nein …“

Ihre schroffe Art schüchterte die Patientin offenbar ziemlich ein.

„Ich wollte Sie fragen, ob Sie Kummer haben.“

Warum bin ich nur so unhöflich, fragte sich Elvira.

„Wissen Sie, mein Freund studiert Lehramt und ich verdiene hier stundenweise ein paar Kröten. Es sind nur die ewigen Geldsorgen. Alles Gute für Ihre Operation, auf Wiedersehen.“

Ihre Hand umklammerte den Jaspis. Er war sicher nicht wertvoll, doch wertvoller als alles, was sie bisher besessen hatte.

 


Mai 2006

 

Laut dröhnte das Getriebe des Zuges unter Elvira. Die Talkshow gestern war ein voller Erfolg gewesen.

Sie holte den Jaspis aus ihrer Tasche und betrachtete ihn wie schon so viele Male. In Momenten wie diesem konnte sie es selbst kaum glauben. Ihr Leben war so schön, so einfach geworden. Dieser Stein hatte ihr unendlich viel Glück gebracht. Und Geld.

„Entschuldigung“, flüsterte jemand neben ihr. „Sind Sie die Wahrsagerin Mora Shina, die gestern Abend bei Thomas Schütz auf dem Talksofa saß?“

„Sie haben die Sendung verfolgt?“

Elviras Finger schlossen sich fest um den Stein.

„Ja, ich frage mich …“ Sie ließ sich gegenüber von Elvira nieder und fing an, ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Elvira hörte nur mit halbem Ohr zu. Solche Situationen überraschten sie schon lange nicht mehr. Wie ihr Manager immer sagte: Ein Leben in der Öffentlichkeit hat auch viele Schattenseiten. Die fehlende Privatsphäre war nur ein Teil davon.

Ihre Finger umschlossen den wertvollen Stein so fest, dass der schmale Goldring an Elviras Hand unangenehm drückte.

Sie hatte geflunkert in der Sendung.

Natürlich wusste sie genau, wann der Stein zum ersten Mal seine Kräfte gezeigt hatte, und diesen Tag würde sie nie vergessen. Ihr Ehering, der gerade so unangenehm drückte, erinnerte sie jeden Tag daran.

 


7 Jahre zuvor

 

„Alles Gute zum Geburtstag, Schatz!“ Alfred umarmte sie herzlich, küsste sie. Elvira hätte weinen mögen. Neununddreißig Jahre wurde sie heute. Sie hatten immer noch kein Geld, keine eigene Wohnung und keine Kinder. Der Gedanke an ein Kind tat besonders weh.

„Danke“, sagte sie traurig. Dann drehte sie sich um und ließ ihn stehen. Es kam ihr selber hart vor, doch sie konnte ihm nichts mehr geben.

„Was ist mit dir, Schatz?“ Alfred klang besorgt.

Elvira wandte sich zum Wandschrank und holte die alte Schatulle heraus. In dieser Schatulle befanden sich die wenigen Dinge, die sie als wirklich wertvoll empfand. Sie öffnete die Schatulle und holte den Inhalt heraus. Ein alter Brief ihres Vaters. Mein kleiner Engel, begann er. Jedes Wort kann sie auswendig.

Sie nahm die wenigen anderen Gegenstände in die Hand. Wie immer, wenn sie Trost suchte. Eine alte Brosche, das Haarband ihrer Mutter, der Jaspis.

Elvira rollte den Stein zwischen den Fingern hin und her.

„Schatz?“

Sie ließ sich lange Zeit mit ihrer Antwort.

„Ich hätte mir Kinder gewünscht“, sagte sie. „Ein kleines bisschen Komfort, einmal Urlaub auf den Malediven.“ Sie seufzte.

„Alfred, ich liebe dich, aber manchmal frustriert mich unser Dasein. Vielleicht sollten wir …“

„Was?“ Alfred wirkte äußerst angespannt.

„Einfach eine Weile getrennte Wege gehen.“

Alfred atmete langsam und tief aus, schwieg.

Plötzlich erschauderte Elvira und ihr Blickfeld verschwamm. Sie sah die gleiche Situation, und doch war es nicht dieselbe. Die Stimmung! Sie wirkte feierlich. Elvira drehte sich etwas, sah sich im Zimmer um. Alfred kniete vor ihr, hielt ihre Hand.

„Seit 26 Jahren liebe ich dich, dennoch habe ich mich nie getraut zu fragen. Wenn ich es jetzt nicht schaffe, soll mich der Teufel holen!“, Alfred lachte. „Willst du meine Frau werden?“

Elvira wurde schwindlig und stürzte. Sie spürte Alfreds Hände, die sie fassten und auffingen.

Als sie wieder wach wurde, lag sie auf dem Boden, und Alfred kniete mit besorgter Miene über ihr.

„Was ist passiert?“, fragte sie benebelt. „Hast du mir eben einen Heiratsantrag gemacht?“

Alfred zögerte. „Das hatte ich vor, bis du mir davonlaufen wolltest.“ Er lächelte. „Doch genau wie vor 26 Jahren werde ich dich zum Bleiben überreden.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Bleibst du bei mir, Schatz? Wir werden uns unsere Träume erfüllen, ich verspreche es.“

„Habe ich eben die Zukunft gesehen?“

„Elvira?“ Er runzelte verwirrt die Stirn.

„Entschuldige! Ja, ja ich will bei dir bleiben!“

 


Mai 2006

 

Das eindringliche Läuten ihres Handys weckte Elvira aus der Gedankenwelt. Alfred.

„Entschuldigen Sie kurz“, unterbrach sie den Redeschwall der jungen Frau und nahm den Anruf entgegen, ohne auf eine Antwort zu warten.

„Hallo, Schatz!“, flötete sie in den Hörer.

„Hallo. Bist du schon auf der Rückfahrt?“ Alfred klang angespannt, fast gereizt.

„Ja, ich bin schon fast zuhause.“

„In Ordnung.“ Seine Stimme klang reserviert, fast kühl.

„Was ist los, Darling?“ Sie versuchte, sorglos zu klingen, merkte aber selbst, wie gekünstelt ihre Stimme trällerte. „Du klingst irgendwie genervt.“

Kein Geräusch drang durch die Leitung.

„Darling? Alfred?“

„Äh, wir sprechen ja schon seit einiger Zeit recht kühl miteinander.“

„Wie kommst du denn darauf? Und was willst du damit sagen?“

Alfred seufzte. „Dir fällt es wirklich nicht auf, oder? Dass du dich ziemlich veränderst in letzter Zeit. Seit du den Stein benutzt.“

Sofort wurde Elvira wütend, wie schon häufiger in den letzten Monaten. Immer diese Diskussionen um den Jaspis.

„Ach jetzt fang doch nicht wieder damit an!“

Im Augenwinkel sah sie den neugierigen Blick des Mädchens gegenüber, und das machte sie noch wütender.

Immer noch pressten sich Elviras Finger um den Stein. Sie spürte ein leichtes Vibrieren und die glatte Oberfläche des Jaspis wurde wärmer.

Elvira versuchte sich zu beruhigen. Bitte jetzt keine Vision hier im Zug. Sie lockerte ihren Griff etwas und räusperte sich. „Ich wollte auf dem Heimweg noch im Reisebüro vorbei. Dort wollte ich die Unterlagen für unsere Hochzeitreise abholen.“

„Hochzeitsreise?“

Erneut stieg heiße Wut in ihr auf.

„Ja, Hochzeitsreise! Die, die uns aus akuter Geldnot vor sieben Jahren verwehrt blieb – wie so vieles andere auch.“

Warum zum Teufel war sie nur so boshaft?

„Jetzt haben wir ja genug Geld. Wenn es dich also glücklich macht, fliege ich gern mit dir auf die Malediven oder wo auch immer du hin möchtest.“

Hinter seinem spöttischen Unterton bemerkte Elvira seine unerschütterliche Ehrlichkeit. Es tat weh, dass er die Wahrheit aussprach. Sie hatte sich verändert und das machte sie wütend.

Der Zug fuhr ratternd in den Hauptbahnhof ein.

„Na schön“, brach Elvira das Gespräch ab. „Lass uns zuhause darüber sprechen. Ich hoffe, deine Stimmung bessert sich, wenn ich nach Hause komme.“

Während sie den kleinen roten Knopf auf ihrem Handy drückte, hörte sie noch Alfreds Stimme. „... deine sicher nicht“. Ein kurzer Piep und das Gespräch war beendet.

Der Jaspis in Elviras Hand glühte und sie musste die Augen schließen, denn plötzlich peitschten ihr weiche Zweige ins Gesicht.

 

Es waren die jungen Triebe des Ginsters, der zu dicht neben den Pfad gepflanzt worden war, der in den Garten hinter ihrem Anwesen führte. Sie drückte sie zur Seite und hielt inne.

Dort im Garten bot sich ihr ein skurriles Bild. Alfred kniete in einem Kreis, der mit Sand gezogen worden war. An vier Stellen stand eine Kerze, drei brannten, und die vierte hielt er gerade an ein Feuerzeug. In der Mitte loderten Flammen aus einer Feuerschale und darauf qualmte Räucherwerk.

„Elvira.“ Alfred klang überrascht.

„Was zum Henker treibst du da?“

„Lass es mich erklären. Aua!“ Er ließ das Feuerzeug fallen. Elvira trat ein paar Schritte an das Szenario heran.

„Was ist das hier alles? Was soll das?“

Sie griff nach einem schwarzen, grob eingebundenen Buch, das auf einem Stein lag, klappte es auf und wieder zu.

„Das ist ein Grimoire, das Buch eines Hexenzirkels“, erklärte Alfred. Er hatte nun die vierte Kerze angezündet und stand auf. „Ich bin durch Zufall darauf gestoßen, durch einen meiner Studenten.“

„Nur Hieroglyphen, wer soll das lesen können?“

„Ich kann es lesen“, sagte Alfred ganz ruhig. „Schlag die letzte Seite auf, ganz hinten sind einige Skizzen. Dann blättere drei Seiten nach vorne.“

Elvira tat es und stockte. Sie sah das Abbild von drei Steinen, alle drei hatten diesen Drudenfuß eingeritzt. Der mittlere Stein musste ganz unverkennbar der ihre sein – er hatte sogar den gleichen winzigen Fehler, der beim Einritzen passiert sein musste – an der unteren Zacke war der rechte Strich einen Tick zu lang geraten.

Viridis virginis, stand unter dem linken Stein, ruber matris unter dem mittleren und ater ani ganz rechts.

„Die Steine wurden während eines Ritus der dreifaltigen Göttin zu Ehren erschaffen, vor knapp vierhundert Jahren“, fuhr Alfred fort. „Ich habe in den letzten Monaten sehr viel darüber recherchiert.“

Bei diesen Worten zog er etwas aus seiner Hosentasche und öffnete die Hand. Auf seiner Handfläche lagen ein grüner Malachit und ein schwarzer Achat – und der Jaspis. „Den Achaten habe ich zufällig über den Onlineblog eines Schotten entdeckt. Ich habe das Internet seit Jahren im Auge behalten. Den Malachit zu finden, war viel schwieriger. Eine Journalistin hat ihn aus Kambodscha mitgebracht. Sie hatte einen Artikel darüber geschrieben, aber den Stein zwischenzeitlich weitergegeben. Es hat eine Weile gedauert, bis ich nachvollziehen konnte, durch wessen Hände er gegangen ist und wer ihn jetzt letztendlich hatte. Und den Jaspis, nun ja …“ Alfred räusperte sich erneut. „Den habe ich heute Morgen aus deinem Geheimversteck genommen.“ Er senkte den Blick um Elvira nicht in die Augen schauen zu müssen.

„Du bist doch völlig verrückt geworden.“ Elvira griff erneut nach dem Grimoire, dachte einen Moment daran, es in die Feuerschale zu werfen. Doch da wehte der Wind den Duft von verglühendem Olibanum, Alant und Wacholderharz zu ihr. Verwirrt hielt sie inne.

Alfred begann, eine monotone Melodie zu summen. Langsam schritt er dabei um die Feuerschale herum.

Was tat Alfred da? Seit wann glaubte er an so einen Hokuspokus? Er, der Wissenschaftler?

An einer der vier Kerzen blieb Alfred stehen. Er wandte sich zur rauchenden Feuerschale und hielt sich beide Hände ans Herz.

„Hekate, öffne die Pforte des Ostens und erhöre meine Bitte.“ Er öffnete seine rechte Hand über dem rauchenden Olibanum. Auf seiner Handfläche lag leuchtend grün der Malachit. „Nimm die Macht der Dreifaltigkeit wieder an dich, Hekate! Der Stein der Jungfrau beendet seine Reise.“ Alfred ließ den Stein in die Feuerschale fallen.

Erneut schritt er den Zirkel ab, blieb an der nächsten Kerze stehen, verschränkte seine Hände vor der Brust und wandte sich zur Feuerschale.

„Hekate, öffne die Pforte des Südens und erhöre meine Bitte.“ Er öffnete wiederum seine rechte Hand über dem rauchenden Olibanum. Der Jaspis lag auf seiner Handfläche.

„Nimm die Macht der Dreifaltigkeit wieder an dich, Hekate! Der Stein der Mutter beendet seine Reise.“ Seine Hand neigte sich und der rote Stein begann zu rollen.

Irgendetwas ist anders, dachte Elvira.

Der Jaspis glühte nicht, als er in die Feuerschale fiel. Es zischte und ein paar Funken sprangen heraus.

Alfred griff sich ans Herz. Stöhnte. Sackte zusammen.

„Alfred!“ Elvira lief zu ihm, wollte ihn auffangen. Doch er war zu schwer. Mit einem dumpfen Geräusch traf sein Körper auf den Boden.

Erneut stöhnte er.

„Alfred! Was ist los?“ Hektisch beugte Elvira sich über ihn.

„Fluch der Hexen“, keuchte er. „Mortem obire.“

„Du darfst nicht sterben!“ Elvira packte seine Schultern und schüttelte ihn energisch.

Alfred öffnete seine Augen noch einmal kurz.

„Endstation“, sagte er mit fremder Frauenstimme.

 


Mai 2006

 

„Hier ist Endstation. Wir müssen aussteigen“, wiederholte die Stimme. Völlig verdattert schreckte Elvira hoch.

„Alles in Ordnung?“ Allmählich wurde sich Elvira wieder bewusst wo sie war. Im Zug, auf dem Weg nach Hause. Sie nickte.

„Sie sind kurz eingeschlafen. Ist wirklich alles in Ordnung?“

Kurz eingeschlafen? Noch nie hatte eine Vision so lange gedauert.

Mortem obire, schoss ihr wieder in Erinnerung.

Elvira sprang auf und lief zum Ausgang. Sie hörte noch ein: „Hey, nicht so hastig!“, während sie sich durch die Passanten am Bahnsteig schubste.

„Verdammter Idiot!“, schrie sie laut, in Gedanken bei Alfred – völlig egal, wer sich angesprochen fühlte. Sie stieß die Türe auf und lief die Straße hinunter, suchte nach einem Taxi.

Sie hätte es wissen müssen, denn geahnt hatte sie es irgendwie bereits.

Gestern früh, bevor sie zum Interview aufgebrochen war, hatte er diese merkwürdige Frage gestellt. Nach dem Stein.

Den Jaspis nimmst du nicht mit, oder?“, wollte er wissen.

Elvira hatte gestutzt. Sie nahm immer ein Double mit. Der echte Stein blieb immer gut verwahrt zuhause, und das wusste Alfred. Genauso wie er wusste, wo das Versteck des Steins war.

Noch nie hatte er danach gefragt!

In diesem Moment hatte Elvira beschlossen, nur dieses eine Mal den echten Stein mitzunehmen.

 

Instinktiv griff sie in ihre Tasche. Dort war er, der echte Jaspis. Was würde geschehen, wenn Alfred das Ritual mit einem gefälschten Stein vollzog? Mortem obire. Er würde sterben.

„Da vorne links, bitte. Zum Ende der Straße.“

Der Taxifahrer setzte den Blinker und bog schwungvoll ab.

 

Warum Alfred die Steine zerstören wollte, war Elvira klar, er wollte die Frau zurück, in die er sich verliebt hatte. Vielleicht konnte sie ihn noch rechtzeitig aufhalten.

Mit einem ruppigen Quietschen kam das Taxi zum Stehen. Elvira warf dem Fahrer einen 50 Euro Schein auf den Vordersitz, rief: „Passt so, danke!“, und sprang aus dem Auto. Blindlings stürmte sie los.

Wieder streiften die jungen Ginstertriebe ihr Gesicht.

„Alfred!“, schrie sie. „Nicht!“

„Elvira?“

Er hatte das Ritual noch nicht begonnen. Elvira seufzte erleichtert und eilte zu ihm.

„Du wirst mich nicht aufhalten“, sagte Alfred bestimmt.

„Warum willst du die Steine zerstören? Wir verdanken meinem Stein doch so viel!“ Elvira griff nach seinem Arm.

„Die Steine? Du weißt, dass es drei sind?“ Verunsichert wich er ein Stück zurück.

„Elvira, Darling. Versteh doch“. Seine Stimme war voller Leidenschaft. „Die Macht dieser Steine wird unvorstellbares Leid heraufbeschwören. Sind sie zusammen, verdreifacht sich die Magie. Wenn das bekannt wird, werden alle ihre Hände danach ausstrecken. Wir haben keine Vorstellung davon, was sie in den falschen Händen anrichten könnten.“

Energisch schüttelte er den Kopf. „Außerdem ist es falsch die Magie weiter zu benutzen. Wir haben alles, was wir uns je gewünscht haben. Der Stein war ein Geschenk für uns, aber er hat nicht jedem seiner Besitzer Glück gebracht. Jeder weitere Tag, jede weitere Vision wäre ein Frevel gegen die Natur.“

Er schnaubte, und trat einen weiteren Schritt zurück. „Nein, du wirst mich nicht aufhalten!“

Alfred schritt wie in ihrer Vision um die Feuerschale herum.

„Warte!“, rief Elvira. „Ich habe die Zukunft gesehen. Du wirst sterben, wenn du das Ritual vollziehst!“

„Du hast die Zukunft gesehen?“ Er hielt inne. „Aber wie ist das möglich?“

Alfred blickte sie eine Weile an. „Du hast den echten Stein genommen?“

Elvira erschauderte, nickte dann.

„Also vertraust du mir nicht mehr“, schloss er traurig.

„Ich sterbe also, wenn ich das Ritual durchführe?“

Elvira öffnete ihre Hand und hielt ihm Jaspis entgegen. „Nicht wenn du den echten Stein verwendest.“


 

 

Ende

cover

 

Die Reise der Hexensteine

 

Anthologie

 

Isabella Benz / Tanja Schneider

(Hrsg.)

 

steine 


Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Cover: Elle Arden / www .shutterstock .com

Landkarten im Buch: Wikipedia, gemeinfreie historische Karten

Haselünne

2015

ISBN 978-3-95959-005-1


Der Beginn einer Reise


Die Macht der Steine

Tanja Schneider



Schneider, Tanja

geboren 1981 in Altötting; arbeitet als Mediengestalterin für Print und digitale Medien. Ihre Freizeit verbringt sie gern in der Natur, zusammen mit Familie, Hund und Pferd. Schon sehr früh begann sie zu schreiben, lange Zeit jedoch nur für sich selbst. Einige Kurzgeschichten sind in Anthologien erschienen, zumeist in den Genres Mystery und Erotik.



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Die Macht der Steine


Am Anfang einer unbekannten Straße steht das Ungewisse.

Wohin wird sie führen?

Wem werden wir begegnen?

Und werden wir das Ziel erreichen?

Wer weiß das schon …


 

Kurfürstentum Bayern, 1625

 

Ursula saß entspannt auf der hölzernen Bank und betrachtete das schneebedeckte Bergmassiv in einiger Entfernung. Eine neunköpfige Königsfamilie - so erzählte es die Sage - die einst vor lauter Grausamkeit versteinerte. Mit etwas Fantasie ähnelten die Gipfel tatsächlich einer Gruppe Menschen. Der größte hatte sogar ein richtiges Gesichtsprofil. Unter dem Frühlingshimmel sahen sie recht friedlich aus. Ihre weißen Mäntel glitzerten im Sonnenlicht.

Weiter unten am Berg ertönte das Geräusch hastiger Schritte auf dem Waldboden. Ursula erhob sich. Wer mochte das sein? Besuch war ungewöhnlich, nur wenige Dorfbewohner fanden den Weg hierher.

Eine dunkel gekleidete Gestalt zwängte sich durchs dichte Buschwerk und kam auf den schmalen Holzverschlag zu, der schräg an die hohen Felsen gezimmert war und Ursula seit wenigen Wochen als Unterschlupf diente.

„Fabiane?“ Erstaunt ging Ursula der Freundin entgegen.

„Ursula!“ Fabiane keuchte. Einige Momente lang stützte sie die Hände auf ihre Oberschenkel. Sie musste den ganzen Weg vom Dorf hierher sehr geeilt sein.

„Rosemarie wurde verhaftet“, presste Fabiane mühsam hervor.

„Was?“ Rosemarie? Die brave Tochter des Schmieds, die häufig bei Verwandten in der Stadt verweilte und dort im Schreiben und Rechnen unterrichtet wurde?

Fabianes Atem beruhigte sich. „Der Prokurist! Rosmarie hat sich in der Stadt mit seiner Tochter angefreundet und den Gesang geübt.“ Hass blitzte in ihren Augen auf. „Er sagt, Rosemarie habe seine Tochter mit einem Fluch belegt. Einem Liebeszauber.“

„Ja, ich habe gehört, dass Rosemarie der Umgang mit einem bestimmten Bauernlümmel verboten worden ist und sie nicht mehr in die Stadt darf.“ Ursula schmunzelte. Ein Liebeszauber wäre das Letzte, was Rosmarie nötig gehabt hätte.

„Ursula, die Sache ist sehr ernst! Die Tochter des Prokuristen ist schwanger, und der gibt Rosemarie die Schuld.“ Fabianes Wangen waren stark gerötet. „Geh nicht ins Dorf, Ursula. Es heißt, du bist die Nächste. Wenn der Bischof zum Gericht in die Stadt kommt, soll er nicht umsonst gekommen sein. Das hat der Prokurist wörtlich so gesagt!“

Ursulas Lächeln erstarb. Seit Kindertagen waren sie schon befreundet. Fabiane sorgte sich schnell, doch dieses Mal sorgte sie sich nicht unbegründet. Mehrmals schon war Ursula in üble Gerüchte verwickelt gewesen. Einmal, so hieß es, hätte sie die Ernte des Nachbarn verderben lassen, weil die Rüben in jenem Jahr nicht wachsen wollten. Ein anderes Mal wiederum behaupteten dieselben Nachbarn, sie hätten Ursula beim Satansgebet überrascht. Diese Kleingläubigen! Ursula gehörte zwar einem Konvent an, der Riten nach heidnischer Überlieferung vollzog, aber dem Teufel widersagten sie genauso. Ihre Mutter, die Hohepriesterin dieses Konvents, war den Dörflern ohnehin schon lange Zeit ein Dorn im Auge. Gerüchte waren es bisher, nur die unheilschwangere Stimme neidischer Widersacher. Eine Anklage hatte niemand erhoben. Dennoch, seit einiger Zeit lebten sie und ihre Mutter zu ihrem eigenen Schutz hier oben am Berg. Nur selten wagten sie den Marsch ins Dorf. Allerdings schürte diese abgeschiedene Lebensweise das Misstrauen der Dörfler noch mehr.

„Sie haben keine Beweise gegen mich oder Mutter. Der Häresie werden so einige der Bäuerinnen bezichtigt, aber niemand versteckt sich, außer uns.“

Ihre Mutter hatte die Stimmen gehört, trat jetzt aus dem Verschlag und begrüßte Fabiane.

„Hast du gehört, Mutter? Rosemarie ist verhaftet worden.“

„Ich weiß. Ein Bote war vorhin bei der Quelle. Der Bischof ist tatsächlich auf dem Weg ins Dorf. Welch grausamer Mann. Das Mädchen wird nicht lange schweigen.“

Fabiane sprach nunmehr so leise, dass es einem Flüstern glich. „Man munkelt, dass morgen nach der Mittagsruhe der Hexenhammer zum Geständnis führen soll. Noch bevor der Bischof hier ist.“

„Aber der Prokurist ist ein Betrüger!“, rief Ursula. „Er erhält immer ein Geständnis, und wenn er`s mit unrechten Mitteln erpresst.“

Und deren gab es einige. Die Reisenden erzählten viel über die allgegenwärtigen Prozesse und Hinrichtungen. Sie zeigten Nadeln von Scharfrichtern, mit denen sich keiner stechen konnte, und sie banden Knoten, die mit einem leichten Zug geöffnet werden konnten. Obwohl der Widerstand gegen die Folter wuchs, waren die Prozesse schlimmer denn je.

„Ein betrügerischer Prokurist und ein blutgieriger Bischof.“ Mutter blickte kurz zum Himmel. „Ich bete, dass es keinen Kettenprozess gibt.“

Ursula erschauderte. Sie fühlte sich schrecklich machtlos.

Leise seufzte Mutter. „Du solltest heiraten.“ Sie senkte den Kopf und bedachte ihre Tochter mit einem ernsten Blick. „Das würde die Aufmerksamkeit gewisser Leute von dir ablenken.“

„Aber Mutter, ich ...“

„Du bist schon sechzehn und hübsch genug allemal.“

„Mutter, ich würde dich nie im Stich lassen.“

„Dann könnten sie auch dich verhaften. Und wenn die Schmerzen nur groß genug sind, meine geliebte Tochter, dann wirst du ihnen alles sagen, was sie hören wollen.“

Mutter blickte erneut zum Himmel. „Es ist spät und wir müssen noch einiges vorbereiten. In wenigen Tagen ist Walpurgisnacht. Wir werden einen besonderen Ritus vollziehen. Nach Sonnenuntergang auf der Lichtung. Sagt es den anderen.“

 

Vier Fackeln erleuchteten die Lichtung, für jede Himmelsrichtung eine. Der Wald hinter ihnen war dunkel, aber vertraut. Die Natur war ihr Freund, sie achteten und ehrten ihre Mutter Erde. Die Nacht und der Wald, so dunkel sie auch sein mochten, brachten keine Gefahr.

Mutter schritt mit dem Räucherschälchen aus Ton in den Händen zum dritten Mal die Grenze des Zirkels ab. Ihre dunkle, schmale Gestalt wandte sich zum Ostlicht. Sie hob ihre Hände empor.

„Ich rufe die Mächte des Ostens, die Kräfte der Luft und des Geistes. Seid gegrüßt!“

„Seid gegrüßt!“, rief der Konvent, während sich Mutter zum Südlicht wandte.

„Ich rufe die Mächte des Südens, die Kräfte des Feuers und des Gefühls! Seid gegrüßt.“

„Seid gegrüßt“, stimmte Ursula ein.

„Ich rufe die Mächte des Westens, die Kräfte des Wassers und der Seele! Seid gegrüßt.“

„Seid gegrüßt.“

Ein eisiger Wind kam auf und ließ die Flammen der Fackeln tanzen. Es war eine ungewöhnlich kalte Nacht für Ende April, doch der vertraute Ritus der Walpurgisnacht wärmte Ursula von innen heraus. Wie eine wollene Decke breitete sich dieses Gefühl über ihren Schultern aus und legte sich weich über ihre Glieder.

„Ich rufe die Mächte des Nordens, die Kräfte der Erde und des Lebens! Seid gegrüßt.“

„Seid gegrüßt.“

Ursula stimmte mit geneigtem Kopf in das summende Gebet ein, während sich alle Mitglieder des Konvents an den Händen hielten. Als Mutter hinter ihr vorbeiging, streifte Ursula der starke Geruch rauchendem Olibanums, Alants und Wacholderharzes.

Am Nordende des Zirkels ließen Sarolf und Fabiane die Hohepriesterin unter ihren nach oben gestreckten, verschränkten Händen in die Kreismitte treten.

Mutter stellte das Räuchertöpfchen ab und legte ihr Athame darauf. Schwach glänzte die Klinge im Licht des Feuers. „Sei gegrüßt, Hekate, Göttin der Dreifaltigkeit. Erhöre unsere Gebete.“

Ursula betrat die Mitte des Kreises und streckte die Hand aus.

Mutter ergriff sie. „Du, meine geliebte Tochter, trägst den grünen Malachit als Jungfrau und jüngstes Mitglied unseres Konvents. Sei achtsam mit der Magie des Steins.“

Ursula spürte das leichte Gewicht des grünen Steins, den Mutter in ihre Hand legte. Er fühlte sich heiß an, fast als würde er glühen. Hellglänzend durchschnitt der eingeritzte Drudenfuß die ebenmäßige Oberfläche des Malachits. Ursula schloss ihre Finger und hob die Hand empor.

„Ich danke dir Hekate, dass du unsere Gebete erhört hast“, rief sie zum Himmel, und nahm wieder ihren Platz im Kreis der Betenden ein.

Den Stein legte sie in ein eckiges Lederstück und knotete ein langes Band geflochtener Lederstreifen darum. Kein besonders hübsches Schmuckstück, doch über dem Gewand würde sie es ohnehin niemals tragen.

„Kunigunde, aus deinem Becken entsprangen acht gesunde Leben. Du sollst den roten Jaspis als Mutter tragen. Sei achtsam mit der Magie des Steins.“ Mutter reichte den Jaspis an Kunigunde weiter.

„Ich danke dir Hekate, dass du unsere Gebete erhört hast“, rief auch Kunigunde und nahm ebenfalls ihren Platz im Kreis des Konvents wieder ein.

„Und den schwarzen Achat werde ich tragen, als Greisin und Älteste des Konvents.“

Mutter griff nach dem Athame und streckte ihre Arme zum Sternenzelt empor. „Ich danke dir Hekate, dass du unsere Gebete erhört hast! Göttin der Dreifaltigkeit, Herrin der Himmelsrichtungen. Mögen die Kräfte von Mutter Natur Gerechtigkeit bringen!“ Mit einem festen Stoß beugte sie sich hinab und versenkte den Dolch im Boden.

 

„Sie ist tot!“ Fabiane stürzte völlig aufgelöst aus dem dichten Blattwerk auf die Lichtung. Ihr Kleid verhedderte sich in Brombeerranken und das grobe Leinen riss.

„Sie ist tot!“, schrie Fabiane erneut. Schluchzend fiel sie in Ursulas Arme. „Die Göttin möge ihren Leib segnen. Agnes wurde hinterhältig ermordet!“

„M–Mutter ist tot?“

„Es tut mir so leid“, flüsterte Fabiane. „Sie liegt dort hinten, blutüberströmt. Ihr Mörder kann nicht weit sein.“

Sarolf machte sich sofort auf den Weg, zwei weitere Mitglieder des Konvents schlossen sich ihm an.

Ursula spürte trostlose Kälte. Mutter? Du bist doch nicht tot? Du kannst nicht einfach tot sein!

Nur am Rande nahm sie die Gebete der anderen Hexen wahr, die den Verlust ihrer Priesterin betrauerten. Ebenso wie die Lichter, die sich den Hügel heraufschlängelten. Lichter? Wen kümmerte es. Ihr war alles gleichgültig.

Eine einzelne Träne fand ihren Weg über Ursulas Wange. Fabianes feuchte Wange klebte an der ihren. Mutter war nicht tot. Nein.

„Sie kommen“, flüsterte Fabiane. „Jemand hat uns verraten.“

Die Fackeln kamen näher. Fabiane rüttelte Ursulas Schultern. Erst zaghaft, dann energischer.

„Wir müssen weg“, zischte sie.

Doch Ursula fühlte sich unfähig, auch nur einen Schritt zu tun. Ihre Beine wollten nicht gehorchen. „Lauf“, hauchte sie und drückte Fabiane von sich. „Los. Lauf.“

„Aber was …“

„Mach schon. Lauf! Wenn dein Name nicht genannt wurde, kannst du fliehen.“ Ursula drängte Fabiane weiter von sich. „Und wer bist du schon, dass dein Name von Wert wäre? Mein Name jedoch …“ Ihre Stimme erstarb.

„Ich kann dich nicht zurücklassen!“

Der erste Fackelträger hatte die Lichtung erreicht.

„Und ich kann dich nicht beschützen. Bei allem was mir noch bleibt – lauf endlich!“

Fabiane rannte los. Ein tiefer Seufzer entrann Ursulas Kehle. Im Halbdunkel würde niemand das Mädchen erkennen. Hoffentlich.

„Halt!“, rief eine tiefdröhnende Stimme hinter Ursula. Niemand folgte Fabiane. Sie hatten bereits, wen sie wollten. Ursula blieb mit weichen Knien stehen und regte sich nicht.

Die Spitze eines Degens bohrte sich schmerzhaft in ihren Rücken.

„Hexengör“, knurrte ihr Häscher. Dann traf ein heftiger Schlag ihren Hinterkopf.

 

Ursula erwachte in einer stinkenden Erdhöhle. Leises Scharren hatte sie geweckt und sie erhob sich. Sie spürte die Schmerzen am Hinterkopf von dem Schlag. Ein schlanker Mann, duckte sich durch die niedrige Holztür in ihr feuchtkaltes Verlies.

Ursula konnte nicht viel von ihm erkennen, denn das Licht im Hintergrund schnitt nur sein Schattenbild aus und ließ das Gesicht in Dunkelheit. In seinen Händen hielt er eine Schale Wasser und einen Korb mit schrumpeligen Äpfeln und trockenem Brot. Er stellte die Sachen vor ihr ab und blieb für einen Augenblick stehen.

„Armes Ding“, sagte er.

Wut peitschte in Ursula auf. „Ich brauche kein Mitleid!“

„Habe nichts gesagt“, murmelte er und verließ ihren Karzer rasch wieder. Er zog die Tür hinter sich zu, durch deren längliches Guckloch ausreichend Licht herein drang, um immerhin nicht in totaler Finsternis zu sitzen.

Gierig setzte Ursula die flache Holzschale mit dem moosigen Wasser an die Lippen. Schmeckt abscheulich, dachte sie. Jedoch quälte sie heftiger Durst, sodass sie in einem Zug austrank.

„Ob sie wohl singen kann?“, drang die Stimme des Mannes durch die Tür. „Bestimmt kann sie. Oder ein Gedicht aufsagen. Verfluchte Ödnis hier!“

War der Kerl nicht bei Sinnen?

Ursula tastete sich zur Tür des Karzers. Die wunde Stelle an ihrem Hinterkopf fing fürchterlich an zu pochen. Sie hielt inne und befühlte die dicke Beule. Vorsichtig tastete sie ihren ganzen Körper ab, doch außer ein paar Abschürfungen war sie unverletzt.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, hinaus zu sehen. Durch das Guckloch konnte sie den Rücken des jungen Mannes sehen. Er trug ordentliche Kleidung und sein blonder Haarschopf war gepflegt. Also kein Bauernjunge, kein Priester, und auch kein alter Mann. Doch wo lag diese Höhle? Hinter ihrem Wächter war nur endloser Wald zu sehen. Fremd aussehender Wald, mit vielen Fichten und dazwischen niederem Gestrüpp.

Ursula schluckte.

Wo immer sie war, es konnte sie nur die Folter erwarten. Fabiane hatte Recht behalten. Ursula schluckte erneut, doch der harte Kloß in ihrem Hals wollte nicht weichen.

„Wo sind wir?“, rief sie nach draußen.

„In der Nähe des Klosters“, antwortete er blitzschnell. Dann drehte er sich um und trat näher heran. „Du erwartest doch nicht, dass ich dir das verrate“, fügte er hinzu.

Er war tatsächlich weder alt noch ein Priester, sondern ein junger und attraktiver Mann, vielleicht sogar ein Gutsherr. Warum verbrachte so einer seine Zeit als Wachmann hier draußen in den Wäldern?

„Beim Kloster? Aber das sind zwei Tagesritte vom Dorf.“

Der junge Mann erschrak sichtlich, obwohl er es zu verbergen versuchte. „Ich sagte nicht, dass wir in der Nähe des Klosters sind.“

Ursula stutze. Sein Verhalten war sehr verwirrend. War der junge Herr nicht klar im Geiste?

„Mein Name ist übrigens Kasimir.“ Kasimir drehte sich weg und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Brombeerbusch.

„Schöne Augen hat die Kleine“, sagte er.

„Ist noch jemand hier?“

„Nein. Nur du und ich, Dirne. Wir sind völlig allein im tiefen, tiefen Wald.“

„Wollt Ihr mich ängstigen?“

Falls dies sein Ziel war, so hatte er es erreicht. Die Angst lag schwer in ihrem Magen. Sie war allein. Mutter? Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Unbewusst griff sie nach ihrer Brust und ihre Finger glitten über das geflochtene Lederband, das sie um den Hals trug. Der grüne Malachit! Ein warmes Gefühl durchflutete ihren Körper. Der Stein würde ihr helfen und Trost spenden, sie musste nur auf seine Magie vertrauen. Es fühlte sich gut an, seine geringe Last zu spüren. Vertraut.

„Du solltest schlafen, Dirne. Die Nacht kommt spät und dauert nicht lang im Mai.“

 

Der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes weckte Ursula am nächsten Morgen.

„Von Freyenstein!“, rief ein Jüngling mit arroganter Stimme. Ein Adliger! Ursula sprang auf und linste durch das Guckloch.

Der Fremde zügelte sein Pferd direkt vor ihren Wächter. „Kasimir von Freyenstein, was treibt Euch ins Dickicht?“, spöttelte der Besucher boshaft. „Müsst Ihr neuerlich Schweine hüten?“

„Das Gesetz meines Vaters ist unanfechtbar. Ihr wisst es doch, mein Freund Leopold.“ Der Schimmel tänzelte schnaubend im Kreis, beinahe trampelte er Kasimir auf die Füße.

„Freund? Ich pflege keine Freundschaften mit Schweinehütern. Lasst Euch gesagt sein…“ Den Rest verstand Ursula nicht, denn Leopold beugte sich zu Kasimir herab und flüsterte ihm etwas zu. Kasimirs Haltung versteifte sich.

„Also gebt Acht auf die Hexe“, lachte Leopold und ließ sein Pferd einige Schritte zurückgehen. „Und auf Euer eigenes Gemüt. Nicht, dass sie Euch mit einem Liebeszauber belegt und Ihr Euren Vater wiederum enttäuscht!“

„Warum seid Ihr überhaupt gekommen, Leopold?“ Kasimir klang sehr erbost.

„Um Euch eine Botschaft von Eurem Vater zu überbringen.“

„Meine Neugier ist kaum auszuhalten“, spöttelte Kasimir.

„Ich soll euch mitteilen, dass Ihr, wenn Ihr einmal im Leben etwas zuwege bringen wollt, in die Stadt reiten und den Prokuristen beschützen sollt. Das Dorf ist in Aufruhr! Es scheint, als hätten die Hexen das Gemüt der Dörfler übernommen.“

Kasimir schaute seufzend zu Ursula.

Leopold verstand seinen Blick. „Tötet sie. Dann sagt, ein Bär habe sie gerissen.“ Er stieß dem Schimmel seine Fersen in die Flanken und galoppierte laut lachend davon.

„Bastard!“, rief Kasimir dem Reiter hinterher.

Doch hatten sich seine Lippen bewegt?

Ursula überlegte. Dieser Reiter zeigte ihr eines: Der Karzer musste direkt an einem Weg liegen! Allmählich reifte ein Plan heran.

Als der Reiter verschwunden war und Kasimir wieder seinen Platz vor ihrer Tür eingenommen hatte, fragte Ursula: „Gibt es einen Bach in der Nähe?“

Er rührte sich nicht.

„Hallo? Von Freyenstein? Gibt es einen Bach in der Nähe?“

„Sicher! Warum?“, fragte er endlich herablassend. Der lästernde Reiter hatte ihm sichtbar die Laune verdorben, doch allmählich verlor sie ihre Scheu. „Weil ich mich waschen möchte. Vorher müsste ich meine Notdurft verrichten. Oder soll ich das etwa hier drinnen tun?“

Sie hatte Kasimir richtig eingeschätzt. Allein der Gedanke daran, Abort und Pritsche wären in einem Raum, ließ ihn blass werden.

„Nein, nein. Natürlich nicht. Aber ...“

„Ich werde keine Dummheiten machen. Versprochen.“

Ursula ließ sich viel Zeit mit der Waschung. Sie bemerkte Kasimirs Blick im Rücken. Lange konnte sie es nicht hinauszögern, ohne auffällig zu werden. Es musste eine Chance zur Flucht geben.

Neben dem Verschlag graste ein braunes Pferd, doch es war an einer dickstämmigen Esche angebunden. So schnell würde sie das Tier nicht losbinden können. Ursula seufzte.

„Hoffentlich rutscht ihr das Kleid vom Leib“, hörte sie Kasimirs Stimme. Ursula drehte sich zu ihm und bedeckte ihre Brust mit den Armen.

„Wie bitte?“

„Ich habe nichts gesagt.“ Er grinste.

Konnte sie etwa seine Gedanken hören? Es musste so sein. Ursula beschloss, einen Test zu wagen.

Wie zufällig ließ sie beim Hochziehen des Mieders eine ihrer Brüste herausrutschen. Während ihre Hände blitzschnell die Tugend zurückholten, fixierten ihre Augen Kasimir.

Hat sie das mit Absicht getan? Durchtriebenes Luder.

Dieses Mal war Ursula sich sicher – seine Lippen hatten sich nicht bewegt.

„Helft ihr mir beim Ankleiden?“

„Wozu?“, fragte er ohne sich zu rühren.

„Ich habe Schmerzen im rechten Arm.“

„Na schön. Aber macht bloß keinen Unsinn.“

Kasimir näherte sich Ursula. Sie spürte seine Nähe und hörte seinen Atem, als er direkt vor ihr stand.

Sein Zögern verunsicherte Ursula, deshalb drehte sie ihren Kopf zur Seite.

Er verstand die Einladung und begann, die Stoffknöpfe an Ursulas Mieder zu schließen.

So eine Schande, sie kommt aus gutem Hause. Wenn wir uns nur unter anderen Umständen kennengelernt hätten, dann …

Einen Atemzug lang verschmolzen ihre Blicke.

Aus guten Hause? Welch Glück, dass Mutter so eine ausgezeichnete Näherin gewesen war. Mutter. Erneut fühlte sie einen dumpfen Schmerz, doch sie hatte keine Zeit zu trauern. Verzeih mir, Mutter. Aber ich muss einen klaren Kopf behalten. Sie zwang sich, die Gedanken an Mutters Tod nicht mehr zuzulassen.

„Was fehlt deinem Arm?“

Hörte sie da etwa Mitleid in seiner Stimme? Bastard! Ursula sammelte all die aufgestaute Wut in ihrem Körper.

„Hier unten am Handgelenk.“ Ursula nutzte den Moment seiner Unachtsamkeit und schlug ihre Wut mit dem Handballen gegen seine Nase.

Ein hässliches Geräusch ertönte, und Kasimir sackte stöhnend auf die Knie.

Die Wucht des Schlages hatte ihren ganzen Arm geprellt, doch Ursula rannte los.

Äste peitschten in ihr Gesicht, und zweimal knackste sie im morastigen Boden schmerzhaft um.

Dann hörte sie den Hufschlag des Pferdes im Galopp.

Dennoch rannte sie weiter. Nur wenige Meter – ein kräftiger Stoß von hinten – Ursula stürzte vornüber in den Matsch.

Kasimir rutschte vom Rücken des Pferds, packte sie an den Haaren und zog ihren Kopf aus dem Schlamm.

„Bist du von Sinnen, Dirne?“

„Ihr wollt mich töten, welche Wahl hatte ich denn?“

Kasimir erschauderte. „Du bist wirklich von Sinnen“, sprach er mit ruhigerer Stimme weiter. „Warum sollte ich dich töten wollen?“

Ursula fingerte den grünen Malachit aus dem Beutel. „Deshalb!“

„Es ist nur ein Stein.“

„Aber er brandmarkt mich als Häretikerin.“

„Dann wirf ihn weg.“

„Das kann ich nicht. Er ist alles, was mir von Mutter bleibt.“

„Sie wurde erstochen, ich weiß.“ Er reagierte erstaunlich ruhig.

Ursula sah Kasimir in die Augen. „Ich möchte den Stein in gute Hände geben, bevor ich mit Euch komme und den Tod begrüße.“

„Niemand wird dich töten.“ Kasimir hielt sie fest im Griff und schob sie zu seinem Pferd. „Aber ich kann dich nicht laufen lassen, es würde mir alles nehmen. Meine Familie, mein Erbe – einfach alles.“

„Kasimir“, flüsterte Ursula. „Wenn Ihr mir helft den Stein einem Freund zu bringen, folge ich Euch bedingungslos ins Erdloch zurück.“

Kasimir hielt inne, sagte jedoch nichts. Dann seufzte er ergeben.

 

Ursula fand das alte Versteck des Konvents auf Anhieb wieder, obwohl der Weg dorthin beschwerlich gewesen war. Sie mussten sich häufig verstecken und das Pferd am Wiehern hindern, wenn es Artgenossen witterte.