Roger Smith

ISHMAEL TOFFEE

Aus dem Englischen von Simone Salitter

Tropen

Impressum

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Tropen

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

»Ishmael Toffee« als ebook bei Tin Town.

© 2012 by Roger Smith

Für die deutsche Ausgabe

© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Klett-Cotta Design Stuttgart

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-608-10606-0

Dieses E-Book ist eine deutsche Originalausgabe und nur in digitaler Form erhältlich.

1

Ishmael Toffee erwacht, greift nach dem Messer, doch seine Finger ertasten nur Sand und eine zerrissene Decke. Er richtet sich auf, hört den Krach von draußen: Eine gellend schreiende Frau und das kehlige Lachen der Männer.

Der Krach hat ihn nicht geweckt. Den ist er aus dem Gefängnis gewohnt. Er kann trotzdem schlafen, kein Problem. Auch die Scheinwerfer der Autos und die Boom-Boom-Bässe stören ihn nicht. Sie dringen durch ein Loch in der Wand, wo die rostige Blechplatte und die Latten nicht gut aneinanderpassen. Das Loch muss er mal flicken. Richtig zunageln. Er braucht nicht rauszuschauen. Alles, was man dort zu sehen kriegt, sind die Probleme anderer Leute. Und Probleme hat er selbst weiß Gott genug.

Nein, geweckt hat ihn schlicht und einfach die Angst. Er hat eine Scheißangst, draußen zu sein, wieder das zu ein, was man einen freien Mann nennt. Er fühlt sich nicht wie ein freier Mann, nicht wenn er in diesem dunklen Verschlag rumkriecht, in dem nicht mal ein Gnom wie er aufrecht stehen kann. Er hat Angst vor dem nächsten Tag. Angst, dass sie kommen und ihn zurück ins Gefängnis bringen, wo die Schweinehunde ihn garantiert umbringen werden.

Er lässt sich wieder auf die Decke zurücksinken, um noch ein bisschen Ruhe zu finden, doch heute Nacht wird es für Ishmael Toffee keinen Schlaf mehr geben.

Als er am Morgen aus dem Verschlag kommt, erstreckt sich Tin Town, dieses Meer verrosteten Blechs, so unendlich weit zum Horizont, dass es ihm den Atem raubt und er fast wieder in seine Höhle zurückkriecht. Doch dann streift er seinen Rucksack über und schließt seine Bude ab, indem er mit zitternden Fingern das glänzende neue Vorhängeschloss zufummelt, das er von dem bisschen Geld gekauft hat, das sie ihm gegeben haben, als sie ihn rausließen.

Ein weißer Streifenwagen holpert die Straße herauf, in seiner Windschutzscheibe spiegelt sich die Sonne, Ishmael hechtet zwischen zwei Hütten, starrt stur auf die staubige Erde. Das Hemd hat er bis zum Kragen zugeknöpft und die Ärmel runtergerollt, um seine Frikadellen zu verbergen. Wenn die Cops seine Gang-Tattoos sähen, gingen sie ihm in null Komma nichts an die Gurgel. Ishmael ist so in Hektik, dass er fast von einem alten Mann angepisst wird, der auf eine Krücke gelehnt in seiner Tür steht und einen dünnen Strahl in den Sand sprüht. Ishmael flucht, und der Alte schüttelt erbost seinen Schwanz ab.

Ishmael taucht unter Wäscheleinen durch, läuft an einem Schaf vorbei, das mit lang verfilzter Wolle knietief im Unrat grast. Ein kleiner Köter hopst um das Schaf herum und beißt es in die Hinterbeine. Ohne sein Frühstück zu unterbrechen, schlägt es aus und tritt ihn weg. Der Köter wittert Ishmael und fletscht die Zähne. Ishmael tritt nach seinen dürren Rippen und läuft weiter. Das Gehupe der Minibus-Taxis zerfetzt die stehende Hitze.

In der Ferne erhebt sich der Tafelberg mitsamt seiner Wolkendecke und zeichnet sich scharfkantig über der endlosen Ansammlung von Baracken und Kartonbuden der Cape Flats ab, in denen Millionen farbiger Menschen wie Ishmael hausen. Weitab von den Stränden und Weinbergen des touristischen Kapstadt, das Ishmael sowieso nur aus dem Fernsehen kennt, sind die Flats eine der gewalttätigsten Gegenden der Welt.

Er zwängt seinen mageren Arsch in das rote Sammeltaxi, das ihn aus Tin Town raus - und zu seinem Job bringen wird. Dem ersten in seinen fünfundvierzig Jahren auf Gottes elender Erde.

Eingezwängt hockt er zwischen zwei hypergestylten, mit Make-up und Parfüm zugekleisterten Mädels, die über ihn hinwegquatschen, als gäbe es ihn gar nicht. In einem anderen Leben wäre Ishmael den Schlampen vom Bus aus gefolgt, hätte ihnen ein Messer an den Hals gedrückt und sie nacheinander besinnungslos gefickt. Und ihnen dann die Kehlen durchgeschnitten. Aber das ist vorbei. Er ist rehabilitiert, ein neuer Mensch. Zumindest haben die Behörden das gesagt, und wer ist er schon, denen nicht zu glauben.

Warum er den Blutdurst verloren hat, kann Ishmael Toffee nicht sagen. Das Töten ist ihm immer leichtgefallen. Seit er alt genug war, ein Messer zu halten, hat er Leute abgestochen. Wenn die Gangster, damals in Paradise Park, jemanden kaltmachen wollten, hieß es immer: „Holt den Jockey!“. So wurde er genannt, weil er so ein Gnom war und ein Kindergesicht hatte. Letzteres hat sich erledigt. Die Jahre haben ihm Furchen in die Haut gekerbt, so tief wie Messernarben.

Das Töten hat Ishmael ins Gefängnis gebracht und dafür gesorgt, dass er drinblieb. Wenn man gut ist, hat man keine Ruhe. Die Gangs kämpften auch im Gefängnis um Macht und Einfluss, und ein Killer wird dort nicht arbeitslos. So vergingen die Jahre, die Leichen türmten sich, und während die Tattoos seiner Gang-Karriere langsam jeden Quadratzentimeter seiner braunen Haut bedeckten, wurde er immer gefürchteter.

Bis er eines Tages nicht mehr wollte. Nähert sich auf dem Sportplatz seinem Opfer, bereit, ihm das Shank reinzustechen. Der Mann sieht ihn, wird starr wie ein Kaninchen, Pisse färbt den Schritt seines orangefarbenen Overalls dunkel. Doch Ishmael lässt den Shank stecken, berührt den Wichser erst gar nicht, sondern geht einfach weg.

Seine Gang überzog ihn mit Hohn und Wut. „Was’n los, Jockey? Wirst du jetzt weich oder was?“

Ishmael zuckte nur mit den Schultern, ging zurück in seine Zelle, die er mit den stinkenden Ärschen von dreißig anderen Männern teilte, und legte sich auf seine Pritsche. Sah sich im Fernsehen Dr. Phil an, den fetten, glatzköpfigen Wichser, der über Motivationsverlust redete. „Genau das habe ich“, dachte Ishmael. „Scheiß-Motivationsverlust hat mich erwischt.“ Dr. Phil meinte, ein Mann müsse seine Leidenschaft entdecken. „Jawoll, Doc, was ist so geil daran, ein armseliges braunes Würstchen nach dem anderen kaltzumachen?“

Das sprach sich natürlich herum, und er wusste, jetzt würden sie es bei ihm versuchen. Ein Killer geht nicht in Rente. Er stirbt.

Ein Wärter, der sich seiner annahm, rettete ihm den Arsch. Der Wärter, braun wie er selbst, war ein Wiedergeborener und versuchte Ishmael zu verklickern, dass er Gott gefunden habe. Ishmael hatte noch keinen Gott gefunden. Er hatte überhaupt nichts gefunden. Er hatte was verloren. Seinen Blutdurst. So einfach war das.

Der Wärter erkannte, dass Ishmael im normalen Vollzug nicht überleben würde, und steckte ihn in eine Einzelzelle. Stellte ihm einen Fernseher hin und einen Wellensittich im Käfig. Ishmael ließ den Wellensittich raus, damit er auf seinem Kopf und seinen Schultern herumspazieren konnte. Manchmal schiss der Vogel ihn auch voll. Das störte ihn nicht.

Dann sagte der Wärter ihm, er solle im Gemüsegarten arbeiten, der sich entlang des äußeren Zauns von Pollsmoor, so hieß der Knast, erstreckte. Und da fand Ishmael die von Dr. Phil beschriebene Leidenschaft. Er konnte es kaum erwarten, morgens rauszukommen und seine Hände in der Erde zu vergraben. Setzlinge pflanzen und zusehen, wie sie wuchsen.

„Toffee, du hast den grünen Daumen“, sagte der Wärter.

Die nächsten paar Jahre war Ishmael Toffee ein glücklicher Mann. Er, sein Garten und sein Wellensittich. Dann hieß es, er mache so gute Fortschritte, sie würden ihn auf Bewährung setzen. Er wollte keine Bewährung. Bewährung war das Letzte, was er wollte. Sein Wellensittich starb, und plötzlich stand er auf der Straße. Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren. Sie besorgten ihm die Bude in Tin Town und den Job.

Was für eine verdammte Welt.

Das Sammeltaxi hat jetzt eine von Bäumen und hohen Mauern gesäumte Straße erreicht, mit schicken Autos, die kein Geräusch machen, wenn sie dir entgegenkommen. Braune Menschen mögen es, wenn ihre Autos richtig Krach machen, zahlen sogar gutes Geld dafür. Whitey dagegen will es immer schön leise haben. So ist das eben.

Im noblen Constantia steigt Ishmael aus. Pollsmoor ist gar nicht weit weg, die Stacheldrahtzäune und Wachtürme hinter den Bäumen und Weinbergen bloß noch eine schlechte Erinnerung für ihn. Ishmael hört das Getrappel von Hufen, und schon kommt ein junges weißes Mädchen in Stiefeln und engen Hosen auf einem braunen Pferd angetrabt. Sie trägt einen schwarzen Helm, und ihre kleinen Titten winken ihm zu, während sie im Sattel auf und ab wippt.

„’tschuldigung, Missy“, sagt Ishmael und hebt die Hand zum Gruß.

„Ich habe kein Geld dabei“, erwidert sie mit einer Stimme, die Glas schneiden könnte, und trabt an ihm vorbei.

Ishmael läuft ihr nach. „Nein, Missy, ich will kein Geld. Ich suche eine Adresse.“

Sie gräbt ihre Sporen in die Flanken des Pferdes, das davonschießt, als hätte ihm jemand eine brennende Zigarette ins Arschloch geschoben.

Ishmael hört eine Hupe, und als er sich umdreht, fährt ein Pickup so dicht an ihn heran, dass er gerade noch seinen Hintern aus der Schusslinie nehmen kann, sonst hätte er ihn gerammt. Zwei Männer, braun wie er, sitzen im Wagen, Mietbullen mit Sonnenbrillen und kugelsicheren Westen.

Der Beifahrer, ein hünenhaftes Arschloch mit der Visage einer Bulldogge und einer Pistole am Gürtel, steigt aus und geht auf Ishmael los.

„Hey du, was willst du hier?“

„Ich suche den Price Drive, Bruder.“

„Ich bin nicht dein verfickter Bruder, du armseliges Stück Scheiße.“

Er stößt Ishmael gegen den Truck und tritt ihm die Beine auseinander. „Los, Hände aufs Dach!“

Als Ishmael nicht schnell genug gehorcht, fängt er sich eine Schelle aufs Ohr ein. Inzwischen ist auch der Fahrer ausgestiegen, er zieht Ishmael den Rucksack von der Schulter und sieht hinein.

„Was willst du hier?“, fragt Bulldogge und filzt ihn rüde.

„Ich fange einen neuen Job an. Bei Mr. Goddard. Als Gärtner. In der Tasche ist ein Brief.“

Der Fahrer holt den Brief raus, verfasst von dem Mädel, das sich Sozialarbeiterin nannte und ihm diesen Job besorgt hatte, weil der Wärter aus Pollsmoor ihn empfohlen hat.

Der Fahrer grunzt und steckt den Brief zurück.

„Wo ist dieser Price Drive?“, fragt Ishmael.

Bulldogge deutet auf das Straßenschild. „Kannst du nicht lesen, du Schwachkopf?“

Ishmael kann nicht, aber das muss ja keiner wissen. „Und Nummer fünfzehn?“

„Drei Häuser weiter“, sagt der Fahrer und wirft ihm den Rucksack zu. Ishmael wagt nicht, die Hände vom Dach zu nehmen, der Rucksack trifft ihn an den Rippen und fällt zu Boden.

Der Mann, der ihn gefilzt hat, wendet sich ab. „Dann setz endlich deinen stinkenden Arsch in Bewegung.“

Ishmael hebt seinen Rucksack auf und entfernt sich. Er kommt an ein Doppeltor, so hoch wie die Mauern im Gefängnis. Klingelt. Nichts. Klingelt wieder, endlich, eine quakende Frauenstimme – farbig. „Ja?“

„Ishmael Toffee. Ich komme wegen des Jobs.“

„Ich weiß, wer du bist. Du kommst zu spät.“

Das Tor öffnet sich klickend, und Ishmael geht über eine Zufahrt, die durch einen wundervollen Garten führt, zum Haus, das größer ist als alles, was er bisher gesehen hat. Die Luft duftet frisch und sauber, und durch die Bäume scheint die Sonne, als wäre sie eigens für diesen kleinen Flecken Himmel erschaffen worden.

2

Florence April guckt sich die dürre Gestalt in den schlecht sitzenden Klamotten an, die sich der Küchentür nähert. Sie schüttelt den Kopf und murmelt leise: „Ach, Mr. Goddard, Mr. Goddard …“

Sie ist diesem Mann noch nie begegnet, aber sie kennt ihn. Wenn man in den Cape Flats aufwächst, kennt man diese Typen nur zu gut. Brüder. Onkel. Nachbarn. Weiße Jungs gehen aufs College, braune in den Knast und sind auch noch stolz drauf, prahlen mit ihren Tattoos und ihrem verdrehten Slang, als wären sie was Besonderes. Ihr eigener Scheißkerl von Ehemann ist dort krepiert. Möge seine Seele in der Hölle schmoren. Das Letzte, was sie brauchen kann, ist einer von denen in ihrem ureigensten Reich.

Mr. Goddard und seine Ideen. Aber dieser hässliche Gnom wird sich nicht lange halten. Diese Typen landen immer wieder im Gefängnis. So viel zumindest weiß sie.

Sie reckt sich zu voller Größe und baut sich in ihrer penibel gebügelten Schürze in der Tür auf.

Der Mann bleibt stehen, nimmt die Mütze ab und dreht sie nervös zwischen den Fingern. Schmutzige, abgebrochene Nägel.

„Ich bin Ishmael Toffee, Schwester.“

„Für dich Mrs. April, kapiert?“

„Ja, kapiert.“

„Dann wartest du jetzt hier auf Mr. Goddard.“

Sie geht rein und schlägt ihm die Tür vor der Nase zu. Durchquert die Küche, die größer ist als ihr Zimmer hinten auf dem Hof, geht ins Esszimmer, wo Mr. Goddard gerade sein Frühstück zu sich nimmt und dabei Zeitung liest. Er sieht auf und lächelt sie an. Wunderbare Zähne hat dieser Johnny Goddard, blendend weiß und sauber und dazu ein gebräuntes Gesicht. Ein wirklich hübscher Mann, dem das glatte blonde Haar in die Stirn fällt, so dass er es immer wieder zurückstreichen muss. Und groß ist er. Heute Morgen trägt er Tennisklamotten, auf seinen Armen und Beinen kräuseln sich goldene Härchen. Er riecht, wie sie sich vorstellt, dass ein Pinienhain riecht.

„Da ist ein Mann, der Sie sprechen will, Mr. Goddard.“

Er schaut sie fragend an, hat die Kreatur, die er eingeladen hat, an ihrem Leben teilzunehmen, offenbar vergessen.

„Der Gärtner“, sagt sie.

Wieder lächelt er. „Ah ja, natürlich. Der Mann aus dem Resozialisierungsprogramm. Ich spreche gleich mit ihm, wenn ich gehe, Flo.“

Er steht auf. „Cindy“, ruft er in den Flur. „Cindy, komm, wir wollen gehen.“

Als das Mädchen hereinkommt, bückt er sich nach seinem Tennisschläger. Sie ist sechs, so blond wie ihr Vater und so schön, wie ihre Mutter gewesen ist. Er streckt dem Kind die Hand entgegen. „Komm!“

Sie zögert, nimmt dann aber seine Hand und geht mit ihm hinaus. Der goldene Vater mit seiner goldenen Tochter.

Florence räumt den Frühstückstisch ab und trägt das Geschirr in die Küche. Sieht, wie Mr. Goddard mit diesem Exknacki redet, weit ausholend auf den Garten zeigt, lächelt. Cindy spielt auf der Wiese Seilhüpfen, unter ihrem blonden Pony hervor beäugt sie den hässlichen kleinen Mann.

Florence lässt das Geschirr ins Spülbecken gleiten und geht ins Schlafzimmer. Ein massives Bett, die Bettdecke zurückgeschlagen. Ein teurer weißer Teppich verbindet Bett und Badezimmer. Florence kann das Badezimmer nicht betreten, ohne dass Mrs. Goddard ihr erscheint, Lucy, wie sie tot in der Badewanne liegt, das Wasser rot vom Blut, das aus ihren aufgeschlitzten Handgelenken rinnt.

So hat Florence sie eines Nachmittags gefunden, als Mr. Goddard bei der Arbeit war.

Florence packt eine Ecke des Lakens und zieht es vom Bett. Als das Laken herunterrutscht, fällt ein blassrosa Höschen auf den Boden. Das Höschen des Kindes. Florence bückt sich und hebt es auf. Sieht das Blut vorne auf der Baumwolle, die getrockneten Flecken von etwas anderem. Männerzeugs.

Florence weiß, was sie da sieht. Weiß es schon lange. Lange bevor Lucy Goddard es herausfand und sich die Pulsadern aufschlitzte. Florence verschließt die Augen davor. Geht sie nichts an.

Sie knautscht das Höschen mit dem Bettzeug zusammen, will es in die Waschküche tragen. Bleibt aber stehen und sieht aus dem Fenster, hinauf zum schwarzen Felsen des Tafelbergs. Heute Morgen, als sie ihm das Frühstück ins Esszimmer brachte, hatte sie sich nichts dabei gedacht, als sie Mr. Goddard an der Terrassentür telefonieren sah.

„Wir reden von einer fünfzigprozentigen Partnerschaft, nicht wahr? Okay, okay. Du weißt, Sydney hat mir schon immer gefallen, und in diesem verdammten Land hier wird die Lage von Tag zu Tag beschissener.“

Dann sah Mr. Goddard sie und ging hinaus auf die Terrasse, seine Stimme verebbte, aber sie hörte ihn noch etwas über ein neues Leben für ihn und Cindy sagen.

Aber jetzt ist der Groschen gefallen, und Florence weiß nur zu gut, was das zu bedeuten hat. Die werden ihre Sachen packen und nach Australien ziehen. Und was wird dann aus ihr? Sie wird nicht jünger. Familie hat sie nicht. Keine Pension. Das Einzige, was zwischen ihr und den Flats steht, ist dieser Job, und Mr. Goddard wird sie entsorgen wie eine Tonne Müll. So sind sie nämlich, diese Weißen. Sie hat es oft genug am eigenen Leib erfahren. Aber nun ist sie zu alt, um noch mal von vorn anzufangen.

Ohne wirklich einen Plan zu haben, nimmt Florence das Höschen des Kindes mit in die Küche und steckt es in einen Plastikbeutel. Sie schließt die Küchentür ab und geht in ihr Zimmer, das verborgen hinter Wäscheleinen und Mülltonnen liegt.

Sie schließt ihre Tür auf, schaut über das ordentlich gemachte Bett, den großen, alten Fernseher, die Kochplatte neben dem Ausguss aus dem Fenster in den Garten, wo der Mann bereits mit der Arbeit begonnen hat. Versteckt das Höschen im Schrank unter ihrem kleinen Stapel gefalteter Pullis.

Sie hat noch keine Ahnung, wie sie es benutzen soll, aber auf gar keinen Fall lässt sie sich wieder mit einem Fußtritt in die Welt dieses Dings da draußen befördern, das mit nacktem Oberkörper einen Busch stutzt, während sich seine kruden Knast-Tattoos wie Aale über seinen kaputten Körper schlängeln.

3

Schwitzend jätet Ishmael Unkraut. Der Garten des Hauses erstreckt sich über mindestens zwei Ar. In letzter Zeit hat sich niemand darum gekümmert. Zwischen den Blumen recken hässliche Dinge ihr Haupt. Macht aber nichts, Ishmael weiß, was zu tun ist.

„He du! Mittagessen.“

Er schaut auf und sieht, wie ihm das Schlachtross von der Küchentür aus zuwinkt. Er wäscht seine Hände am Wasserhahn, das Wasser ist von der Sonne ganz warm, zieht sein Hemd an und geht zum Haus. Die Frau hat ihm sein Essen auf einem gesprungenen Teller in den Kies gestellt, direkt neben den Wassernapf eines Hundes. Er hat keinen Hund gesehen. Mag Hunde nicht.

Während er den Teller aufhebt, sieht er das blonde Kind, das ihn durch eines der oberen Fenster beäugt. Als er ihren Blick auffängt, duckt es sich weg. Vorhin sind sie mit dem schicken Auto weggefahren, das Mädchen und sein Daddy, und vor vielleicht einer Stunde wiedergekommen. Der weiße Mann hat gewartet, bis das Kind im Haus war, und ist dann wieder weggefahren.

Ishmael sitzt unter einem Baum und isst mit dem Löffel, den die Frau dazugelegt hat. Ein verbogener alter Löffel, völlig ausgebleicht. Wie er selbst. Aber egal. Das Essen besteht aus Hühnchen und Graubrot mit Butter. Die Soße ist lecker, er isst alles auf. Erwischt das Mädchen, das ihn vom Fenster aus beobachtet. Und sich wieder wegduckt, als er aufsieht.

Er spült Teller und Löffel ab und stellt sie neben die Tür. Zieht sein Hemd aus und macht sich wieder an die Arbeit.