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Guido Knopp

Die letzte Schlacht

Hitlers Ende


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Autor

Prof. Dr. Guido Knopp, Jahrgang 1948, arbeitete nach dem Studium als Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und als Auslandschef der „Welt am Sonntag“. Von 1984 bis 2013 war er Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Seitdem moderiert er die Sendung History Live auf Phoenix. Als Autor publizierte er zahlreiche Sachbuch-Bestseller. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Jakob-Kaiser-Preis, der Europäische Fernsehpreis, der Telestar, der Goldene Löwe, der Bayerische und der Deutsche Fernsehpreis, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und der Internationale Emmy.

Vorwort

Dies ist die Geschichte von zwölf Tagen, die in der Historie Deutschlands einzigartig sind. Der letzte Akt in der Geschichte eines Reiches, das tausend Jahre dauern sollte und nach zwölf in einer Orgie von Gewalt und Feuer unterging. Schauplatz ist Berlin, die Hauptstadt dieses Reiches, Hitlers Residenz. Alles, was den Krieg ausmachte, ballte sich in diesen Tagen in Berlin. Während Hitler in den Katakomben seines Bunkers unter der Reichskanzlei mit Geisterdivisionen operierte und sich erst im letzten Augenblick das Leben nahm, tobte auf den Straßen, in den Kellern der zerstörten Stadt die letzte Schlacht. Halbwüchsige wurden sinnlos geopfert, Frauen reihenweise vergewaltigt. Gläubige Parteigenossen, die den Sieg der Truppen Stalins als den Untergang der Welt begreifen wollten, nahmen sich zu Tausenden das Leben. Jahrelang versteckt gehaltene Juden hofften auf Befreiung. Alte Kommunisten fahndeten nach ihren gut versteckten oder gar vergrabenen Parteibüchern – Zeitenwende in einer zerstörten Stadt.

»Europa hat niemals eine solche Katastrophe seiner Zivilisation erlebt, und niemand kann sagen, wann es beginnen wird, sich von ihren Auswirkungen wieder zu erholen«, schrieb die britische Zeitung Manchester Guardian am 2. Mai 1945, dem Tag, als Berlin kapitulierte. Das Ende der Kämpfe – für die meisten Deutschen in der Hauptstadt wie anderswo war es ein Fall ins Bodenlose. Sich bedingungslos ergeben, auf Gnade oder Ungnade: Viele Völker hatten das seit der Antike über sich ergehen lassen müssen. Dennoch war der mitteleuropäische Zusammenbruch des Jahres 1945 etwas Einzigartiges, gewaltiger und schlimmer als der letzte Akt des Dreißigjährigen Krieges, der das Land verwüstete und die Nation in Stücke riss. Nicht von ungefähr erinnerten Augenzeugen die Trümmerfelder Berlins an das zerstörte Karthago, das die siegreichen Römer dem Erdboden gleichgemacht hatten.

Das vorliegende Buch beruht auf Recherchen für ein Filmprojekt, das die Schlacht um Berlin und das Ende Hitlers darstellt. Noch sind die Menschen, die diese Ereignisse erlebt haben, unter uns und können erzählen, »wie es war«. Und noch haben wir die Chance, ihnen zuzuhören, wenn sie von den Grenzerfahrungen ihres Lebens berichten: Deutsche und Russen, Soldaten und Zivilisten, Frauen, Männer und Kinder, die ein für uns heute kaum noch vorstellbares Inferno durchlebt haben. Nicht wenige von ihnen berichten zum ersten Mal über ihre eigene, ganz persönliche Geschichte von der letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Europa – einer Schlacht, die nie hätte stattfinden dürfen, wenn es nach den Regeln der Vernunft gegangen wäre.

Mitte April 1945 konnte eigentlich kein Zweifel mehr daran bestehen, dass der Krieg binnen weniger Wochen mit einer deutschen Niederlage enden würde. Im Westen hatten Briten und Amerikaner den Rhein überquert und die Elbe erreicht. Im Osten stand die Rote Armee an der Oder, nur noch 60 Kilometer von Berlin entfernt. Dennoch hielt sich zäh der Glaube an die »Wunderwaffen«, träumten selbst jene, die es besser hätten wissen müssen, von einem Bruch der gegnerischen Koalition, der Hitlers Reich noch in letzter Sekunde retten würde. Der Kriegsherr selbst trieb seine Soldaten unerbittlich in den aussichtslos gewordenen Kampf. »Hier gibt es kein Ausweichen und Operieren, hier gilt es zu stehen, zu halten oder zu sterben«, lautete nur einer von zahllosen Durchhaltebefehlen, die die letzten Monate des Krieges begleiteten.

Von den Menschen, die ihm zugejubelt hatten, war der Kriegsherr längst schon isoliert. Dass die Städte des Reichs in Trümmern lagen, kümmerte ihn wenig. Gewiss sei es bedauerlich, was etwa in Berlin geschehe, äußerte er gegenüber seinem vormaligen Generalbaumeister Albert Speer, doch das erspare auch die ohnehin anstehende Arbeit, Tausende von Häusern selbst abzureißen, um die Welthauptstadt »Germania« aufzubauen! Wie weit diese Zuversicht gespielt, wie weit sie echt war, haben selbst engste Mitarbeiter des Diktators nicht recht zu durchschauen gewusst.

Aus dem »Führerbunker«, acht Meter unter der Erde, kommandierte Hitler Armeen, die oft nur mehr in seiner Fantasie bestanden. Aus dieser »Grabkammer des modernen Pharao«, wie es ein Zeitzeuge nannte, schickte er noch einmal Hunderttausende in einen sinnlos gewordenen Kampf, ohne dass die Generäle in seiner Umgebung gegen diesen Wahnsinn revoltiert hätten. Die Geschichte von Hitlers Ende ist auch die Geschichte von versagter Verantwortung, von einem verabsolutierten Gehorsamsbegriff, der das Korrektiv des persönlichen Gewissens und der christlichen Moral bewusst unterdrückte und damit in vielen Fällen Schuld begründete.

Die Aussicht auf ein großes Nachleben in der Geschichte war die einzige Quelle, aus der der Diktator angesichts der auf ihn niederprasselnden Katastrophen noch eine gewisse Befriedigung schöpfte. Bedenkenlos setzte er das Leben und die Existenzgrundlage von Millionen aufs Spiel, um seinen Untergang in einer beispiellosen Weise in Szene zu setzen. Es war dieser »gänzliche Mangel an überpersönlichem Verantwortungsbewusstsein«, wie der Historiker Joachim Fest zu Recht feststellte, der Hitler von jedem Vorgänger unterschied. Ungerührt nahm er das Leid und die Zerstörung um sich herum zur Kenntnis: »Einmal muss man doch den ganzen Zinnober zurücklassen«, beschied er seiner Umgebung in den letzten Tagen – als gäbe es kein Morgen, wenn er selbst es nicht erlebte.

Hitlers Vernichtungswut richtete sich nun gegen das eigene Volk. Es war das Werkzeug seines zerstörerischen Wahns und hatte doch zuletzt aus seiner Sicht versagt. Hitler sah in der Geschichte, gemäß dem Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts, einen steten Kampf der Völker um Macht und Raum, bei dem der Unterlegene zu weichen hatte. Für den Diktator hatte das deutsche Volk mit der Niederlage sein Lebensrecht verspielt. Sollte es doch mit ihm, Hitler, untergehen! Ein schlechtes Gewissen plagte ihn auch in seinen letzten Tagen nicht. Die Niederlage des Reichs führte er auf die Schwäche und den Verrat der »anderen« zurück. Der Holocaust galt ihm nicht als entsetzliches Jahrhundertverbrechen, sondern als Monument, das seinen Tod überdauern würde.

Im Kontrast zur Menschenverachtung, zur gleichgültigen Zerstörung der Lebensgrundlage von Millionen, steht Hitlers Anteilnahme am Schicksal seiner persönlichen Umgebung. Der private Hitler war kein Monster. Er, der ungerührt noch immer Hunderttausende Soldaten in den Tod marschieren ließ, sorgte sich im Bunker um seine Sekretärinnen und die Geliebte Eva Braun, die er gern per Flugzeug in das sichere Bayern ausgeflogen hätte. Erschüttert stand er vor dem Kadaver seiner Schäferhündin Blondi, die er vergiften ließ, weil er, wie er sagte, die Vorstellung nicht ertragen konnte, dass sie in die Hände der Russen falle. Obgleich sein Gesicht und Körper von Krankheit und Erschöpfung gekennzeichnet waren, entfaltete Hitler noch immer eine erstaunliche Suggestionskraft. Bis zuletzt war er der Dreh- und Angelpunkt des Dritten Reiches.

Am Ende entzog sich Hitler der Verantwortung durch Selbstmord. Seinen Nachfolgern blieb es überlassen, schnell und bedingungslos zu kapitulieren. Ab dem 8. Mai um 23.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit sollten die Waffen schweigen. Nach sechs Jahren war der Krieg in Europa zu Ende. Diejenigen, die in der Trümmerwüste Berlins überlebten, fanden zunächst keine Zeit für Tränen. Nichts als überleben wollten sie, während in den darauf folgenden Monaten Hunderttausende den Hungertod starben. Später verdrängte der notwendige Wiederaufbau den Gedanken an die unmittelbare Vergangenheit. Ihre traumatischen Erlebnisse in der »letzten Schlacht« des Zweiten Weltkriegs haben Zeitzeugen wie Ilse Anger dennoch nie vergessen. »Je älter ich werde, desto mehr träume ich von dieser Zeit«, sagt sie heute. Und: Vielleicht fange die richtige Verarbeitung erst jetzt wirklich an.

Freitag, 20. April 1945

Der sechzehnjährige Armin Lehmann konnte sein Glück nicht fassen: In wenigen Augenblicken würde er seinem Idol Adolf Hitler vorgestellt werden, dem »Führer des Reiches und ersten Soldaten Deutschlands«, wie ihn die Propaganda jahrelang gefeiert hatte. Die Umstände des Zusammentreffens hatte er sich in seinen jugendlichen Fantasien freilich anders ausgemalt. Aufgeregt blickte der Hitlerjunge auf die Gratulantenschar, die sich um ihn herum zur Feier von Hitlers 56. Geburtstag zusammengefunden hatte. Vorbei die Zeiten, als dieser Geburtstag ihm und seinen Getreuen der Anlass gewesen war, sich selbst und ihr »Tausendjähriges Reich« glanzvoll zu inszenieren. Vorbei die Zeiten der prachtvollen Paraden, bei denen Hunderttausende Hitler zugejubelt hatten. Der Geburtstag des »Führers« fand nicht einmal mehr in den aktuellen Meldungen des Großdeutschen Rundfunks vom 20. April Erwähnung. Am Vorabend hatte Propagandaminister Goebbels seinen Meister zum letzten Mal in einer langen Rundfunkansprache gefeiert.

Im kraterübersäten Garten der Reichskanzlei waren nur noch drei dünne Reihen »verdienter Kämpfer« aufmarschiert, die dem »Führer« ihre Glückwünsche überbringen durften. In der Reihe vor Lehmann standen Soldaten der SS-Division Frundsberg, viele davon hochdekoriert mit Ritterkreuz. Hinter ihnen, in der zweiten, mittleren Reihe, hatten sich zwanzig Hitlerjungen aufstellen dürfen, die sich im Kampf um Berlin und anderswo ausgezeichnet hatten, unter ihnen auch Armin Lehmann. Da er der Größte in der Reihe war, stand er als Erster direkt neben dem »Reichsjugendführer« Artur Axmann. In der Reihe dahinter folgten Soldaten der eingeschlossenen Heeresgruppe Kurland, die eigens für diese Zeremonie nach Berlin eingeflogen worden waren.

„Deutschland ist noch immer das Land der Treue. Sie soll in der Gefahr ihre größten Triumphe feiern. Niemals wird die Geschichte über diese Zeit berichten können, dass ein Volk seinen Führer oder dass ein Führer sein Volk verließ. Das aber ist der Sieg.“
Joseph Goebbels, Rundfunkrede am 19. April zum Geburtstag Adolf Hitlers

Langsam, fast zögerlich trat Hitler im Garten der Reichskanzlei auf die Reihen der Soldaten und Hitlerjungen zu. Da es bereits wärmer geworden war, trug er keinen Mantel, sondern eine fellgraue Jacke und eine schwarze Hose. Mit gebeugtem Rücken schritt der »Führer« die erste Reihe ab. Einer der Soldaten überreichte ihm etwas – später hörte Lehmann, es sei ein Scheck für die Winterhilfe gewesen. Dann kam Hitler auf Axmann zu, der ihn mit der linken Hand grüßte, da er die rechte im Krieg verloren hatte. Für Lehmann war es ein Schock, als er Hitler nun zum ersten Mal aus der Nähe sah: »Er kam auf mich zu und fragte, wo ich im Einsatz war und so weiter. Ich war ganz erschrocken. Es war ja sein sechsundfünfzigster Geburtstag, aber er sah aus wie siebzig. Er gab mir erst die rechte Hand und dann auch die linke Hand, und er zitterte am ganzen Körper, auch sein Gesicht zitterte. Das Einzige, was noch stark erschien, war sein Blick, der Ausdruck, sonst sah er aus wie ein Greis.«

Mit Axmann im Gefolge schritt Hitler die Reihe der Hitlerjungen ab, tätschelte den einen oder anderen an der Wange oder Schulter und sagte, dass die Schlacht um Berlin unter allen Umständen gewonnen werden müsse. Kurz darauf brach er ab. Er hatte wohl selbst das Gefühl, nicht mehr überzeugen zu können, es sei denn, durch Mitleid – das war jedenfalls der Eindruck seines bei der Zeremonie anwesenden Rüstungsministers Albert Speer. Am Ende rief Hitler mit müder Stimme: »Heil euch!« Doch niemand antwortete. »Nur in der Ferne«, so heißt es im Bericht des Reichsjugendführers Artur Axmann, »hörte man das Grollen der Front, kaum noch dreißig Kilometer entfernt.«

Die misslungene Gratulationscour im Garten der Berliner Reichskanzlei war Symbol für die desolate Stimmung an der Spitze des »Dritten Reiches«. Noch ein Mal, zum letzten Mal, hatte sich die Führung des Dritten Reiches an diesem Mittag inmitten der zerstörten Reichshauptstadt versammelt, um ihrem »Führer« zum Geburtstag zu gratulieren. Noch ein Mal, zum letzten Mal, hatte sich Hitler hierfür aus seiner Katakombe unter der Reichskanzlei in die oberen, noch halbwegs festlichen Räume begeben. Die mächtigsten Männer des untergehenden Reiches, Hermann Göring, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler und Martin Bormann, Albert Speer, Joachim von Ribbentrop, und einige Gauleiter sowie die Spitzen der Wehrmacht waren gekommen, um ihre Glückwünsche zu überbringen. Nacheinander traten sie an Hitler heran, »der ihre Glückwünsche den Umständen entsprechend kühl und fast abwehrend entgegennahm«, wie einer der Anwesenden bemerkte. Nach dem kurzen Empfang, bei dem eine heitere Stimmung nicht aufkommen wollte, folgten die Paladine Hitler zurück in den Bunker, wo sie an der anschließenden Lagebesprechung teilnahmen.

Die militärische Lage des Reiches und seiner Hauptstadt war verzweifelt, das war allen Anwesenden bewusst. Ende März war die Rheinfront, die letzte große Verteidigungslinie im Westen, zusammengebrochen. Aus ihren Brückenköpfen bei Remagen und Wesel waren britische und amerikanische Truppen im Eiltempo in das Innere des Reiches vorgedrungen und hatten im Ruhrgebiet die komplette Heeresgruppe B eingeschlossen, die am 16. April kapitulieren musste. 300 000 deutsche Soldaten gingen in Gefangenschaft, während ihr Oberbefehlshaber Feldmarschall Walter Model sich in einem Waldstück südlich von Duisburg erschoss. Schon am 12. April erreichten die Amerikaner südlich von Magdeburg und am 19. April die Briten bei Lauenburg die Elbe. Für einen kurzen Augenblick bot sich ihnen die Chance, Stalin zuvorzukommen und vor den Truppen der Roten Armee Berlin einzunehmen. Insbesondere der englische Premier Winston Churchill bedrängte die amerikanische Führung, sich über die bei der Konferenz von Jalta verabredeten Besatzungszonen hinwegzusetzen und so weit wie möglich nach Osten vorzustoßen. Doch Washington winkte ab. »Berlin ist kein strategisches Ziel mehr«, diktierte der Oberkommandierende der westalliierten Truppen, General Eisenhower, seinen Generälen. Statt über die Elbe auf Berlin zu marschieren, dirigierte er seine Truppen nach Süddeutschland und Österreich.

Währenddessen hatte die Rote Armee in den Morgenstunden des 16. April mit einer riesigen Streitmacht den lang erwarteten Großangriff auf Berlin und den Rest des verbliebenen Reiches begonnen. Drei sowjetische Armeegruppen mit insgesamt 2,5 Millionen Soldaten, 6250 Panzern und Sturmlafetten, 41 000 Geschützen und Granatwerfern waren an den Ufern der Oder und der Neiße angetreten, um die nur noch 60 Kilometer entfernte Reichshauptstadt zu erobern. Im Norden stand die 2. Weißrussische Front unter Marschall Konstantin Rokossowskij. Weiter im Süden bei Küstrin massierte sich die 1. Weißrussische Front unter dem Oberbefehl von Marschall Georgij Schukow. Seine Heeresgruppe war Berlin am nächsten, daher reklamierte Schukow für sich die Ehre, die Hauptstadt des Reiches einzunehmen. »Der Gegner ist auf dem kürzesten Weg nach Berlin zu zerschlagen. Die Hauptstadt des faschistischen Deutschland ist einzunehmen und über ihr das Banner des Sieges zu hissen«, lautete der Tagesbefehl, mit dem er seine Truppen auf die letzte Schlacht einstimmte. Schukow wusste, dass er nicht der Einzige war, der sich Berlin als Siegestrophäe sichern wollte. Sein größter Rivale war der Oberbefehlshaber der 1. Ukrainischen Front, Marschall Iwan Konjew, dessen Heeresgruppe etwas weiter südlich an den Ufern der Neiße zum Sprung ansetzte. Ein stummer Wettkampf war zwischen den beiden Marschällen entbrannt, der durch Stalin bewusst angestachelt wurde. In den Augen des misstrauischen Diktators war der Kriegsheld Schukow bereits allzu populär geworden. Noch brauchte er ihn, um Hitler endgültig niederzuringen, danach würde man sehen. Auf jeden Fall hielt es Stalin für klug, den selbstbewussten und erfolgsverwöhnten Marschall mit Hilfe seines ehrgeizigen Rivalen Konjew in Schach zu halten.

Um 3 Uhr morgens am 16. April stießen auf Schukows Befehl 300 000 Rotarmisten vom Brückenkopf bei Küstrin in Richtung Seelower Höhen vor, eine hufeisenförmige Hügelkette im Nordwesten der Stadt Seelow. Das Inferno begann mit einem Dauerfeuer aus mehr als 20 000 Geschützen. Ihr Mündungsfeuer und der Flammenschein der detonierenden Granaten tauchten die Hügelkette in ein gespenstisches Licht und hinterließen bei Angreifern und Verteidigern einen unauslöschlichen Eindruck. »Es war eine Art Höllengewitter, wie man es sich einfach nicht vorstellen kann«, schilderte ein dort eingesetzter Hitlerjunge den Angriff. »Man sitzt im Loch, und die Minuten werden zu Viertelstunden, und die Viertelstunden werden zu Ewigkeiten. Die Zeit läuft nicht mehr. Alles wurde umgepflügt mit fürchterlichen Opfern. Da wussten wir alle: Das war das Ende unserer Kindheit – im Grunde das Ende unserer Jugend. Nichts würde mehr so sein wie bisher.« Verbissen kämpfte die deutsche Abwehr gegen den vielfach überlegenen Angreifer. Wie schon oft zuvor seit den Tagen von Stalingrad hatte Hitler ein Zurückweichen der Truppe kategorisch ausgeschlossen. »Widerstand bis zum letzten Mann«, lautete die stets aufs Neue wiederholte Parole.

Tatsächlich konnten die deutschen Soldaten und Volkssturmangehörigen die Rote Armee in den ersten Tagen unter empfindlichen Verlusten zurückschlagen. Doch rücksichtslos jagte Schukow seine Truppen in immer neue Angriffe auf die Seelower Höhen – zumal ihm bewusst war, dass sein Konkurrent Konjew im Süden die Neiße überquert hatte und seine Heeresgruppe zügig in Richtung Westen vorankam. Erneut pochte Schukows Nebenbuhler darauf, an der Eroberung Berlins beteiligt zu werden – und tatsächlich erteilte ihm Stalin jetzt die Genehmigung, mit zwei Panzerarmeen Richtung Norden auf Zossen und Berlin einzuschwenken.

Zeitgleich setzte sich nun aber auch an den Seelower Höhen das vielfache Übergewicht der Angreifer gegen die zermürbte Verteidigung durch. Am 19. April war die gesamte Hügelkette von Seelow bis hinauf nach Wriezen in sowjetischer Hand. Mehr als 20 000 Tote hatte der Kampf um die Seelower Höhen Schukows Heeresgruppe gekostet, während die Verluste der Deutschen mit etwa 10 000 Soldaten wesentlich geringer ausfielen. Doch nach drei Tagen Kampf hatte Schukow sein Ziel erreicht. Zwischen seinen Truppen und Berlin gab es keine zusammenhängende deutsche Front mehr. Bereits am nächsten Tag, dem 20. April, eroberten seine Armeen das nur gut 15 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegene Städtchen Bernau. Der Endkampf um Berlin, die letzte Schlacht, hatte begonnen.

Die verzweifelte militärische Lage im Westen und Osten des Reiches, wo der Feind nun bereits bis auf wenige Kilometer an Berlin herangekommen war, bot wenig Ermutigendes für die hochkarätige Gratulantenschar, die sich bei der Lagebesprechung um Hitler drängte. Hauptthema war das schnelle Vordringen der Roten Armee Richtung Elbe, das ihre baldige Vereinigung mit den dort schon stehenden Amerikanern und Briten und damit eine Trennung des Reiches in Nord und Süd immer wahrscheinlicher machte. Hitler setzte daher eine bereits vorbereitete Weisung in Kraft, die den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, für diesen Fall den Oberbefehl im Nordraum zuwies. Im Süden sollte der Oberbefehlshaber West, Feldmarschall Albert Kesselring, das Kommando übernehmen.

Bis zum Vorabend hatte Hitler noch mit dem Gedanken gespielt, sich in sein Domizil auf dem Obersalzberg abzusetzen und von dort aus den Endkampf weiterzuführen. Goebbels hatte ihm heftig abgeraten, »ein Mann von seiner Größe dürfe sich nicht in seinem Sommerhaus verkriechen«. Nur in Berlin, auf das die Augen der Welt gerichtet seien, könne ein »moralischer Welterfolg« erzielt werden. Wahrscheinlich war es dieser Hinweis, der den stets auf Wirkung bedachten Diktator überzeugte. Er sei mit sich über Nacht ins Reine gekommen und werde in der Hauptstadt bleiben, erklärte Hitler den überraschten Anwesenden. Als diese ihn nach kurzem Schweigen bestürmten, Berlin, »solange es noch ginge«, zu verlassen und den Kampf vom Obersalzberg weiterzuführen, wies Hitler alle Argumente und Bitten zurück. »Wie soll ich die Truppen zum entscheidenden Kampf um Berlin bewegen, wenn ich mich im gleichen Augenblick in Sicherheit bringe.« Dem anwesenden Albert Speer schien es, als wäre Hitler in diesem Augenblick von seiner eigenen Entscheidung, in Berlin zu bleiben und sein Leben aufs Spiel zu setzen, selbst ergriffen gewesen.

Während des langen Vortrags saß Hermann Göring wie auf glühenden Kohlen. Der Reichsmarschall, laut Erlass Hitlers noch immer zweiter Mann im Staat, war entschlossen, die Stadt auf den immer schmaler werdenden Fluchtkorridoren so schnell wie möglich Richtung Süddeutschland zu verlassen. Schon seit Monaten hatte er seine Flucht aus Berlin vorbereitet. Als im Januar 1945 sowjetische Truppen nahe an die heile Welt seines pompösen Landsitzes Karinhall gerückt waren, hatte er seine Frau Emma und die gemeinsame Tochter Edda nach Bayern gebracht. Während Dresden im Inferno unterging, schickte er erste Ladungen seiner Kunstschätze per Lastwagen nach Berchtesgaden, wo sie in einem Bergstollen versteckt wurden.

In der Reichskanzlei war er an diesem Tag nicht mehr in seiner silbergrauen Uniform mit den fünf Zentimeter breiten, goldgeflochtenen Achselstücken erschienen, sondern hatte sich in ein blaugraues Tuch gezwängt, auf das schlicht sein Rangabzeichen, der goldene Reichsmarschall-Adler, geheftet war. »Wie ein amerikanischer General«, flüsterte einer der Anwesenden, doch Hitler schien sich an der Verwandlung seines Paladins nicht zu stören. Kaum war die Lagebesprechung beendet, die Generäle verabschiedet, als sich Göring verstört an Hitler wandte. »Göring erklärte«, schilderte Albert Speer die Szenerie, »er habe in Süddeutschland dringendste Aufgaben zu erledigen. Hitler sah ihn geistesabwesend an. Mit gleichgültigen Worten gab er Göring die Hand, ließ sich nicht anmerken, dass er ihn durchschaute. Ich stand wenige Schritte von beiden entfernt und hatte das Gefühl eines historischen Augenblicks. Die Führung des Reiches ging auseinander.«

Der Abgang Görings war das Startsignal für den großen Exodus der Parteioberen und Minister. Nacheinander drängten sich die Gratulanten an Hitler heran, um sich mit einigen verlegenen Worten zu verabschieden und Berlin den Rücken zu kehren. »Hitler war von dem Wunsch seiner Paladine, ihn jetzt zu verlassen, tief enttäuscht, ja erschüttert. Er hat lediglich mit dem Kopf genickt und verabschiedete sich wortlos von den Männern, die er einst mächtig gemacht hatte«, sagte sein langjähriger Adjutant Julius Schaub später aus. Am Abend rief Hitler gegen 22 Uhr die Mitglieder seines persönlichen Stabes zusammen und erklärte, dass er durch die Ereignisse der letzten Tage gezwungen sei, einen Teil von ihnen nach Süddeutschland zu schicken. Vielleicht werde er nachkommen, setzte er beim Abschied hinzu, obwohl er sich bereits dagegen entschieden hatte.

Zu denen, die in den nächsten Tagen nach Berchtesgaden ausgeflogen wurden, gehörten unter anderem Hitlers Sekretärinnen Johanna Wolf und Christa Schroeder sowie sein Leibarzt Dr. Theodor Morell, der ihn seit Jahren mit Aufputschspritzen versorgt hatte. Auch seinen Lieblingsdiener Wilhelm Arndt schickte Hitler mit einer Kiste voller Akten und Schriftstücke in den Süden. Seine Maschine, eine Ju 352 der Führerstaffel, sollte als einzige unterwegs bei Börnersdorf abstürzen und so Jahrzehnte später den Ausgangspunkt für eine der größten Fälschungen des 20. Jahrhunderts bieten: die »geheimen Tagebücher Adolf Hitlers«.

Nachdem er seine Mitarbeiter verabschiedet hatte, zog sich der Diktator früher als üblich in seine privaten Zimmer im Führerbunker zurück. Zur gleichen Zeit gab Martin Bormann die Weisung aus, dass die obersten Reichsbehörden Berlin zu verlassen hätten, bevor die letzte Straße nach Süden blockiert sei. Heimlich hoffte er, dass auch Hitler sich noch entschließen würde, aus Berlin zum Obersalzberg zu flüchten. In Windeseile breitete sich die Nachricht aus, dass der Weggang aus Berlin für die Spitzen des Regimes freigegeben sei.

Eine lange Reihe von Antragstellern bildete sich am Kommandantenhaus in der Nähe des Berliner Schlosses, wo die Passierscheine ausgestellt wurden. »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, meinte einer der Offiziere, die den Ansturm der Antragsteller zu bewältigen hatten. Mehr als 2000 Passagierscheine wurden in nur wenigen Stunden ausgegeben, während Greifkommandos die Hauptstadt auf der Suche nach wehrtüchtigen Männern für die Endschlacht um Berlin durchkämmten. In der Nacht und am nächsten Morgen rollten Fahrzeugkolonnen mit Hitlers Elite aus Berlin heraus nach Westen, um sich dem drohenden Zugriff der Roten Armee zu entziehen.

Einer, der bleiben musste, war Otto Busse. Seit September 1944 diente der Soldat der Waffen-SS als Ordonanz in der Reichskanzlei. Drei Jahre Fronteinsatz in der Leibstandarte Adolf Hitler lagen hinter dem Zweiundzwanzigjährigen, dreimal war er verwundet worden, zuletzt in der Normandie, von wo aus er in eine Genesendenkompanie nach Berlin verlegt worden war. Eines Morgens hatte sein Kompaniechef sich vor ihm aufgestellt und erklärt, er solle sich in der Personalstelle der Reichskanzlei melden. Die Versetzung war Busse als großer Glücksfall erschienen; für ihn war der Fronteinsatz erst einmal vorbei – und noch besser: In der Küche der Reichskanzlei, das konnte er bald feststellen, gab es so viel Eintopf, wie er nur essen wollte. Darüber hinaus war sein Dienst nicht besonders hart. Mit anderen Kameraden zusammen betreute er die zahlreichen Generäle und hohen Stabsoffiziere, die im ständigen Wechsel zu den täglichen Lagebesprechungen kamen und gingen und manchmal auch zum Schlafen in den Gästezimmern unterhalb der alten Reichskanzlei untergebracht wurden. Die Uhrzeiten seines Dienstes waren freilich alles andere als normal. Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass das Leben in der Reichskanzlei und im Führerbunker dem Rhythmus Hitlers zu folgen hatte, der die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht machte. Viele Lagebesprechungen begannen erst nach Mitternacht und dauerten bis in die frühen Morgenstunden. Erst wenn Hitler sich endlich zur Ruhe begab, wurde es friedlicher, bis in den frühen Nachmittagsstunden erneut die Lagebesprechungen einsetzten.

Der Tag begann für Otto Busse mit einer erfreulichen Überraschung: Während er eifrig herumwirbelte, um für die hochkarätige Gästeschar zu sorgen, stand plötzlich seine Verlobte Inge Meier vor ihm. Bei einem früheren Genesungsurlaub in Berlin hatten die beiden sich kennen und lieben gelernt. Als Busse in die Reichskanzlei versetzt wurde, hatten sie sich häufig sehen können, bis Inge zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und auf ein Gut nach Mecklenburg geschickt worden war. Von dort war sie geflohen, als die Russen näher rückten. Busse war es gelungen, ihr eine Stelle beim Telegrafenamt in Berlin zu verschaffen. Nun, da der Donner der russischen Geschütze in ganz Berlin zu hören war, hatte sie erneut ihre Siebensachen gepackt, um bei ihm in der Reichskanzlei Schutz zu suchen.

Busse überlegte nur kurz. Was in normalen Zeiten undenkbar gewesen wäre, erwies sich jetzt als unproblematisch. Schon einige Bedienstete der Reichskanzlei hatten ihre Frau, Verlobte oder Freundin bei sich untergebracht. Die Reichskanzlei galt wegen ihrer vielen Bunker als einer der sichersten Orte in Berlin. Niemand schien sich an diesem eigenmächtigen Handeln zu stören, zu sehr war jeder mit sich selbst beschäftigt. Die strengen militärischen Umgangsformen, die im Hauptquartier bislang geherrscht hatten, lösten sich auf, ohne dass von höherer Stelle dagegen eingeschritten wurde. Die Keller unter der Reichskanzlei verwandelten sich allmählich in ein Feldlager. Vor allem in das Bunkerlabyrinth unter der Neuen Reichskanzlei – etwas abseits von Hitlers Bunker – drängte sich ein wirres Gemenge von Mächtigen und Schutzsuchenden. Hitlers Sekretär Martin Bormann hatte hier sein Quartier aufgeschlagen, ebenso Hitlers Chefpilot Hans Baur und der Verbindungsoffizier Himmlers im Führerhauptquartier, SS-Gruppenführer Hermann Fegelein. Hier waren auch Hitlers Sekretärinnen, die Wachmannschaften, Ordonanzen und Funker untergebracht. In einem anderen Teil der Räume war ein Notlazarett eingerichtet worden, in dem Bombenopfer, verwundete Soldaten, Schwangere und Kinder ihre Zuflucht gefunden hatten. Mit jedem Tag stieg ihre Zahl, bis die Überfüllung fast unerträglich wurde.

Einen besonderen Termin hatte in dieser Nacht der Reichsführer SS Heinrich Himmler. Auf dem Rückweg von der Reichskanzlei in das nördlich von Berlin gelegene Sanatorium Hohenlychen, wo er, von tiefen Depressionen gequält, Quartier genommen hatte, äußerte er sich kopfschüttelnd über »die im Bunker«, die sämtlich »den Verstand verloren« hätten. Nicht weniger verstiegen waren allerdings seine eigenen Fantasien, wie ein Ausweg aus der scheinbar hoffnungslosen Lage noch möglich sein solle. Angetrieben von seinem Untergebenen, dem Chef der Auslandsspionage, Walter Schellenberg, und gequält von der Angst um sein Leben, träumte Himmler von einem Separatfrieden mit dem Westen, den er – da Hitler am Ende schien – persönlich aushandeln wollte. Als Reichsführer SS, Minister des Innern und Chef des Ersatzheeres wollte er Briten und Amerikanern seine vermeintliche Macht und Hilfe anbieten, um gemeinsam den Bolschewismus zu schlagen.

Dass mit ihm, dem Vollstrecker des millionenfachen Mordes, niemand verhandeln würde, wollte der Reichsführer SS nicht wahrhaben. Stets auf Symbole bedacht, überlegte er bereits, ob er Eisenhower bei einem Treffen die Hand geben solle oder nicht. Um den Boden für Verhandlungen mit dem Westen vorzubereiten, hatte er sich in das Landgut seines Leibarztes Felix Kersten in Hartzwalde bei Berlin für diese Nacht einen ungewöhnlichen Gast eingeladen. Getreu Hitlers Wahn, das internationale Judentum beherrsche die Welt, hatte er einen Vertreter ebendieser »Macht« zu sich gerufen. Unter strengster Geheimhaltung hatte die SS den Vertreter des Jüdischen Weltkongresses, Norbert Masur, aus dem neutralen Schweden eingeflogen.

Als Himmler ihm jetzt gegenübertrat, grüßte er ihn mit überraschender Freundlichkeit: »Willkommen in Deutschland, Herr Masur! Es ist Zeit, dass ihr Juden und wir Nationalsozialisten die Streitaxt begraben.« Masur antwortete nüchtern: »Dafür ist zu viel Blut zwischen uns. Aber ich hoffe, dass unsere Begegnung vielen Menschen das Leben retten wird.« Masur legte eine Namensliste vor: Wenigstens diese Menschen sollten freikommen, darunter 1000 Jüdinnen aus Ravensbrück und die holländischen Juden in Theresienstadt. Himmler zeigte sich entgegenkommend: Natürlich, alle Häftlinge auf den Listen würden entlassen werden – nein, Gefangene würden ab jetzt nicht mehr »evakuiert«, das heißt auf Todesmärsche geschickt werden. Weitere Abmachungen wurden in dieser Nacht nicht getroffen, doch allein die genannten Vereinbarungen hätten Hitler, wenn er davon erfahren hätte, zum Toben gebracht. Aber erst Tage später und auf andere Weise sollte er vom Verrat seines »getreuen Heinrich« erfahren.

Während die einen durch Flucht, die anderen durch Verrat ihre Haut zu retten suchten, war es im Führerbunker nach Hitlers Rückzug ruhig geworden. Unter denen, die nach den aufwühlenden Ereignissen des Tages nicht schlafen konnten, war Hitlers langjährige Geliebte Eva Braun. Hitler hatte ihr geraten, nicht nach Berlin zu kommen, sondern auf dem Obersalzberg zu bleiben. Doch Anfang März 1945 hielt sie es nicht mehr aus, wie ihre Vertraute Margarete Mitlstrasser schilderte: »Freiwillig ist sie in das belagerte Berlin rausgefahren, am 7. März ‘45, mit dem Sonderzug. Und dann ist sie oben geblieben – obwohl Hitler entsetzt war und sie sofort zurückschicken wollte. Aber sie war nicht mehr davon abzubringen.«

Selbstzerstörerische Torheit oder letzter Liebesbeweis? »Jetzt zeigte sich, dass die Freundschaft Evas zu Hitler mehr war als die spekulative Schönwetterfreundschaft einer lebensgierigen kleinen Frau; und jetzt zeigte sich auch, dass Eva für Hitler mehr war als ein Spielzeug für wenige Stunden«, schrieb Evas Onkel Alois später. Was Hitlers Geliebte wollte, war die lang ersehnte Anerkennung, wenn nötig, um den Preis des Lebens. Im Bunker war sie eine der wenigen, die noch Lebenslust zeigten. Als Hitler sich nach dem Geburtstagsempfang in seine Bunkerzimmer zurückgezogen hatte, sammelte Eva Braun die verbliebenen Gäste ein und führte sie hoch zu einer Nachfeier in der »Führerwohnung« der Reichskanzlei.

Traudl Junge, die als Sekretärin bei Hitler arbeitete, hat das letzte Fest in der Reichskanzlei beschrieben: »Wen sie traf, wer ihr über den Weg lief, den nahm Eva Braun mit hinauf in ihr altes Wohnzimmer im ersten Stock, das noch erhalten geblieben war, wenn auch die schönen Möbel drunten im Bunker standen. (...) Sogar Reichsleiter Bormann wich von Hitlers Seite und verließ seinen Schreibtisch, der dicke Theo Morell kam aus seinem sicheren Bunker trotz des ständigen Dröhnens des Artilleriefeuers. Irgendwoher brachte jemand ein altes Grammophon mit einer einzigen Schallplatte. Blutrote Rosen erzählen dir vom Glück ... Eva Braun wollte tanzen. Ganz gleich, mit wem, und sie riss alle mit in einen verzweifelten Taumel, wie jedermann, der schon den leichten Hauch des Todes gefühlt hat. Es wurde Champagner getrunken und schrill gelacht, und ich lachte mit, weil ich nicht weinen wollte. Dazwischen ließ eine Explosion die Gesellschaft für einen Moment verstummen, eilte einer zum Telefon, holte ein anderer wichtige Meldungen ein. Aber keiner sprach vom Krieg, keiner vom Tod. Gespenster gaben hier ein Fest. Und immer erzählten rote Rosen vom Glück ...«

Samstag, 21. April 1945

Am frühen Morgen stand die 30. Sowjetische Artilleriebrigade, die zu Schukows Front gehörte, südlich von Bernau, nicht weit vom Berliner Ring. Am Tag zuvor hatte Oberfeldwebel Alexander Ribowskij eine Karte von Berlin und den Auftrag erhalten, die Koordinaten für den Beschuss an diesem Morgen zu errechnen. Schon diverse Male hatte er eine ähnliche Aufgabe gelöst, die Rechnung mit etwas Trigonometrie und analytischer Geometrie fiel ihm nicht schwer, auch wenn die Entfernung etwas großer war als sonst üblich. Und doch hatte er diesmal ein besonderes Gefühl verspürt, als ihm sein Vorgesetzter die Ziele nannte, für die er die Koordinaten errechnen sollte: Reichskanzlei und Reichstag – das tatsächliche und das symbolische Zentrum der Macht im Herzen des Deutschen Reiches.

»Das war schon ein besonderes Gefühl. Die Stimmung war sehr gut bei uns. Wir waren begeistert, dass wir nun in den letzten Kampf zögen, und dann würde Frieden sein. Wir spürten den Frieden schon und sehnten ihn herbei. Manche von uns waren schon viereinhalb Jahre an der Front. In der sowjetischen Armee erhielt ein Soldat oder Unteroffizier keinen Urlaub. Man verließ seine Truppe nur, wenn man verwundet oder tot war. Jetzt waren wir begeistert und glaubten, keine Macht könne uns stoppen. Alle waren überzeugt, dies war der letzte Kampf und der Weg führte nur nach vorne«, erinnert er sich heute. Während die Kanoniere sich bereit machten, rechnete Ribowskij ein letztes Mal die Koordinaten nach. Alles schien in Ordnung. Der Beschuss konnte beginnen.

Der Morgen begann für Hitler mit einer unliebsamen Überraschung. Um 9.30 Uhr weckte ihn sein Diener Heinz Linge, der durch Artillerieeinschläge im Stadtzentrum aufgeschreckt worden war. In dichter Folge waren Granaten am Brandenburger Tor, am Reichstag und bis zum Bahnhof Friedrichstraße eingeschlagen. Unmöglich konnte die Rote Armee schon so nahe sein! In heller Aufregung rief Hitler den Generalstabschef der Luftwaffe, Karl Koller, an: »Wissen Sie, dass Berlin unter Artilleriefeuer liegt? Das Stadtzentrum.« – »Nein.« – »Hören Sie das nicht?« – »Nein! Ich bin in Wildpark-Werder.« Hitler weiter: »Starke Aufregung in der Stadt über Artillerie-Fernfeuer. Es soll eine Eisenbahnbatterie schweren Kalibers sein. Die Russen sollen eine Eisenbahnbrücke über die Oder haben. Die Luftwaffe hat die Batterie sofort auszumachen und zu bekämpfen.«

Vergebens versuchte Koller klarzustellen, dass es gar keine intakte Eisenbahnbrücke über die Oder mehr gab und der Beschuss bereits von Feldgeschützen der vorrückenden Einheit kam, die über Nacht in die Vororte Berlins eingerückt war. Hitler witterte hinter jedem Widerspruch Verrat, war zu einem halbwegs normalen Gespräch nicht mehr fähig. Mit aller Gewalt stemmte er sich gegen die Einsicht, dass die deutsche Verteidigung an der Oder von der Roten Armee zerschlagen worden war und die Eroberung Berlins nur noch eine Frage von wenigen Tagen sein konnte. Umso lieber ließ er sich von seinem Propagandaminister Goebbels die eigenen, fadenscheinig gewordenen Parolen der Siegesgewissheit wiederholen. Der gläubige Geselle suchte wie er selbst nur allzu gern Trost in vermeintlichen historischen Parallelen.

Über dem Schreibtisch im Arbeits- und Wohnraum seines Bunkers hatte sich Hitler ein Gemälde Friedrichs des Großen aufhängen lassen. Das verzweifelte Ausharren des Preußenkönigs, der im Siebenjährigen Krieg einer Niederlage gegen eine übermächtige Koalition nur durch allerlei glückliche Umstände entronnen war, war für Hitler ein häufig beschworenes Vorbild für den eigenen Kampf. Um ihn aufzumuntern, las Goebbels ihm aus Thomas Carlyles Geschichte Friedrichs des Großen vor: »Tapferer König, warte noch eine Weile, dann sind die Tage deines Leides vorbei, schon steht hinter den Wolken die Sonne deines Glücks und wird sich dir bald zeigen. Am 12. Februar starb die Zarin, das Wunder des Hauses Brandenburg war eingetreten.« Mit Tränen in den Augen lauschte Hitler Goebbels Worten. Beide suchten in geschichtlichen Vorbildern brüchigen Halt, um die inneren Krisen und Zweifel zu bestehen.

Die Abfolge der verheerenden Niederlagen, das verzweifelte Ankämpfen gegen das Unvermeidliche hatten Hitler gezeichnet. »Er bot körperlich ein furchtbares Bild. Er schleppte sich mühsam und schwerfällig, den Oberkörper vorwärts werfend, die Beine nachziehend, von seinem Wohnraum in den Besprechungsraum des Bunkers. Ihm fehlte das Gleichgewichtsgefühl; wurde er auf dem kurzen Weg aufgehalten, musste er sich auf eine der hierfür an beiden Wänden bereitstehenden Bänke setzen oder sich an seinem Gesprächspartner festhalten. Er hatte die Gewalt über den rechten Arm verloren, die rechte Hand zitterte ständig. Die Augen waren blutunterlaufen; obgleich alle für ihn bestimmten Schriftstücke mit dreimal vergrößerten Buchstaben auf besonderen ›Führerschreibmaschinen‹ geschrieben waren, konnte er sie nur mit einer scharfen Brille lesen. Aus den Mundwinkeln floss ständig der Speichel – ein Bild des Jammers und des Grausens«, beschrieb ein älterer Generalstabsoffizier seine Eindrücke.

Schon in früheren Jahren hatte in den Hauptquartieren eine merkwürdige Atmosphäre geherrscht. »Halb Kloster, halb Konzentrationslager«, hatte einer seiner engsten Berater, General Alfred Jodl, das Leben im innersten Machtbereich um Hitler einmal beschrieben. Nun, im Bunker der Reichskanzlei, bewegte sich der Diktator endgültig in einer düsteren Scheinwelt. Acht Meter unter der Erde im stetig grellen Licht der Glühbirnen verschwamm der Unterschied zwischen Tag und Nacht vollends, die letzte Lagebesprechung endete meist gegen 6 Uhr morgens. Vernünftige Ratschläge zur militärischen oder politischen Situation nahm der Kriegsherr längst nicht mehr entgegen. War eine deutsche Abwehrlinie durchbrochen, kannte er hierfür nur einen Grund: Verrat, wie auch die gesamte Ostfront nur durch Verrat zusammengebrochen sei. Doch obgleich sein Gesicht und sein Körper von Krankheit und Erschöpfung gekennzeichnet waren, entfaltete Hitler noch immer eine erstaunliche Suggestionskraft. Noch immer war er der Dreh- und Angelpunkt des »Dritten Reiches«. Gewiss häuften sich im Angesicht der Niederlagen die Eigenmächtigkeiten seiner Paladine und Generäle, aber noch immer hielt er die Zügel in der Hand. Solange er den Willen dazu hatte, wurde weitergekämpft. Niemand in seiner Umgebung hatte den Mut, offen gegen diesen Wahnsinn zu rebellieren.

Unter denen, die Hitlers Durchhaltebefehle treu befolgten, war auch Generaloberst Alfred Jodl. Als Chef des Wehrmachtsführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht war er seit Kriegsbeginn Hitlers engster militärischer Berater. An mehr als 5000 Lagebesprechungen hatte er nach eigener Berechnung im Hauptquartier teilgenommen und die großen Siege der Anfangsjahre und die immer verheerenderen Niederlagen von hier verfolgt. Schon seit Frühjahr 1942, so erklärte er in diesen Wochen, sei er sich im Klaren gewesen, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Und spätestens seit der gescheiterten Ardennenoffensive im Dezember 1944, so bekannte er später, habe auch Hitler den Krieg endgültig verloren gegeben: »Sein weiteres Verhalten und viele seiner Befehle sind nur noch mit dem Verhalten eines Schiffbrüchigen zu erklären, der, wenn auch ohne die mindeste Aussicht auf Errettung, eben schwimmt, solange seine Kräfte reichen. Der Gedanke, durch einen sofortigen Schluss die letzten Opfer und Zerstörungen im Sinne des Volkes zu vermeiden, ist ihm wohl nicht näher in seine Überlegungen gekommen. (...) Was ihm vorschwebte, war wohl ein heroischer Untergang, aus dem vielleicht spätere Geschlechter die Kraft zur Wiederauferstehung finden würden ...«