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Guido Knopp 

Das Bernsteinzimmer

Dem Mythos auf der Spur


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Autor

Prof. Dr. Guido Knopp, Jahrgang 1948, arbeitete nach dem Studium als Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und als Auslandschef der „Welt am Sonntag“. Von 1984 bis 2013 war er Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Seitdem moderiert er die Sendung History Live auf Phoenix. Als Autor publizierte er zahlreiche Sachbuch-Bestseller. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Jakob-Kaiser-Preis, der Europäische Fernsehpreis, der Telestar, der Goldene Löwe, der Bayerische und der Deutsche Fernsehpreis, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und der Internationale Emmy.

Vorwort

Die schönsten Legenden sterben nie. Seit nunmehr sechs Jahrzehnten suchen Archäologen und Abenteurer, Sammler und Sponsoren, Betrüger und Besessene nach den Wandverkleidungen aus Bernstein. Das Bernsteinzimmer, einst ein Geschenk des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. an den russischen Zaren Peter den Großen, wurde 1941 von deutschen Soldaten aus dem Zarenschloss nach Königsberg verschleppt. Dort verlor sich bei Kriegsende jede Spur. Erst sein Verschwinden hat das legendäre Gemach wahrhaft berühmt gemacht. Wie kaum ein anderes Rätsel der Geschichte weckte das verloren gegangene »achte Weltwunder« die Fantasie der Zeitgenossen.

Wurde das weltberühmte Wandgetäfel noch, wie ursprünglich geplant, aus der belagerten »Festung« Königsberg geschafft? Fiel es dem Feuer von Luftangriffen, Artilleriegeschossen oder Siegesfeiern zum Opfer? Wurde es verbunkert, vergraben oder verschüttet? Bis heute zieht dieses Geheimnis die Jäger des verlorenen Schatzes geradezu magisch an. Über hundert Theorien gibt es zum Verbleib des Zimmers, an Dutzenden von Stellen wurde gegraben, Stollen wurden aufgesprengt, Seen betaucht, sogar das Wrack der 1945 in der Ostsee gesunkenen »Wilhelm Gustloff« wurde aufgeschweißt. Immer wieder kam es zu Todesfällen, die die Schatzsucher bis heute in dem Glauben bestärken, ein dunkles Syndikat beschütze das Zimmer vor seiner Entdeckung. Die Geschichte der Suche nach dem Bernsteinzimmer ist ein Kriminalroman mit realen Figuren, eines der spannendsten Suchunternehmen der Nachkriegszeit.

Der Schlüssel zum »Geheimnis Bernsteinzimmer« liegt in Königsberg. Im Dezember 1945 wüteten Hunger und Seuchen in den Trümmern jener Stadt, die einst die stolze Metropole Ostpreußens gewesen war. Es war daher kein Einzelfall, dass der Museumsdirektor Alfred Rohde und seine Frau einen anonymen Tod an Hunger-Typhus starben. Ein tragisches Schicksal – eines unter Tausenden zu jener Zeit.

Und doch schössen wenig später böse Gerüchte ins Kraut. Der Mann sei ermordet worden, hieß es; der Arzt, der den Tod bescheinigte, verschwunden. Rohde war Kurator der Königsberger Kunstschätze – und somit der Einzige, der 1945 die ganze Wahrheit über das Bernsteinzimmer wusste, bis zu seinem mysteriösen Tod. Er hatte 1944, nach dem Luftangriff auf Königsberg, die bernsteinbestückten Edelplatten in Kisten packen lassen und nach eigenem Bekunden an einem sicheren Ort verwahrt. Als die Rote Armee im April 1945 die Stadt eroberte, war das Bernsteinzimmer jedenfalls verschwunden – wohin, wusste nur der Hüter des Schatzes.

Hatte er die Kisten noch rechtzeitig aus der belagerten Festung geschleust? Oder liegen sie bis heute unter den Trümmern der Stadt in einem verschütteten Depot? Für beide Varianten gibt es schlüssige Indizien. Sie legen die Vermutung nahe, dass das Konvolut, wie damals durchaus üblich, aus Sicherheitsgründen gar nicht komplett an einem Ort aufbewahrt, sondern rechtzeitig in kleinere Bestände aufgeteilt wurde. Nachweisbar zerstört wurden allenfalls kleinere Teile davon.

Heute, da zum dreihundertsten Geburtstag von St. Petersburg das wiederhergestellte Bernsteinzimmer schöner und prächtiger denn je erstrahlt, hat die Frage nach dem Schicksal des Originals besonderes Gewicht – und neuen Reiz. Für dieses Buch wurden die neuesten Spuren verfolgt und auf ihren Gehalt überprüft. Wir haben Menschen begleitet, die zu Schatzjägern geworden und dem Schatz des Zaren bis heute auf der Spur sind. Unsere Suche führt nach Russland, Polen, in die Kellergewölbe des ehemaligen Königsberger Schlosses, in thüringische Stollen und sächsische Schlösser. Wir haben Zeitzeugen befragt, die darauf schwören, die fraglichen Kisten noch im April 1945 gesehen zu haben. Wir haben neue Materialien ausfindig gemacht, unter anderem den Nachlass des russischen Kunstschutzbeauftragten Alexander Brjussow – einer Schlüsselfigur der Bernstein-Legende.

Ein Ergebnis steht zumindest fest: Die vielfach verbreitete Annahme, das »achte Weltwunder« sei vollständig verbrannt, lässt sich nicht halten. Denn authentische Berichte belegen: Brjussow, auf dessen Notizen diese Behauptung beruht, hat sie später selbst zurückgezogen – nicht unter Druck, sondern aus eigener Einsicht. Fazit: Der überwiegende Teil der Kisten ruht wohl weiter im Verborgenen. Und so führen uns die Spuren zum einen in ein geheimes Stollensystem in Mitteldeutschland, in dem noch bis Kriegsende mehr als dreitausend Menschen für den Bau einer Flugbenzin-Raffinerie geschuftet hatten. Es ist das größte bislang noch nicht untersuchte Geheimprojekt der Nazi-Zeit. Und unsere Suche bringt uns wiederum zurück nach Königsberg – in jene zahlreichen Keller, die bis heute nicht einmal im Ansatz erforscht und freigelegt worden sind. So auch zu jenem viel zitierten »Bunker 3«, dessen verschütteter Standort bis dato lediglich aufgrund von Georadar-Untersuchungen vermutet wird.

Die Suche nach dem Bernsteinzimmer ist noch nicht zu Ende. Doch bevor Sie uns beim Graben helfen – lesen Sie die Geschichte. Die ganze Geschichte.

Ein geheimnisvoller Todesfall

Der Tod war kein seltener Gast zu jener Zeit in den Trümmern von Königsberg. Nach Bombenangriffen und Belagerung, Standgerichten und Häuserkämpfen, nach Hunger, Verwüstung und Vergeltung war die alte ostpreußische Krönungsfeste in jeder Hinsicht ruiniert. Menschenleben zählten nicht mehr viel.

So nahm auch kaum jemand Notiz, als am 7. Dezember 1945 Alfred Rohde starb – ein frühzeitig gealterter, kranker Mann, der dem eklatanten Versorgungsnotstand zum Opfer fiel, wie so viele der verbliebenen Stadtbewohner. »Typhus« stand in seinem Totenschein, eine Krankheit, vom Hunger gezeugt, die ohne ausreichende Medikamente in vielen Fällen tödlich verlief. Wenige Tage später folgte Rohdes Frau ihrem Mann ins Grab, auch sie überlebte die Zeit der Entbehrungen nicht. Ein tragisches Schicksal – eines unter Abertausenden in einem Panoptikum von Unrecht und Grausamkeit.

Und doch sollte sich dieser Todesfall als besonders dramatisch erweisen, hatte er doch unabsehbare Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Denn der unscheinbare Beamte Dr. Alfred Rohde nahm ein Geheimnis mit ins Grab, das außer ihm niemand aufzulösen vermochte und bis heute nicht vermag.

Der langjährige Direktor der Königsberger Kunstsammlungen war von Amts wegen Hüter des legendären Bernsteinzimmers. Nachdem die deutsche Besatzungsmacht das weltberühmte Wandgetäfel 1941 aus dem Katharinenpalast bei St. Petersburg entführt und nach Königsberg verfrachtet hatte, stand es unter der besonderen Obhut des Bernsteinkenners. Er ließ die kostbaren Wandverzierungen, in Kisten verpackt, vor Bombenangriffen in Sicherheit bringen. Und nur er konnte verlässlich Auskunft darüber geben, was in den Turbulenzen des Jahres 1945 weiter mit ihnen geschah. Wurden sie noch, wie ursprünglich geplant, aus der belagerten Stadt abtransportiert? Fielen sie dem Feuer von Luftangriffen, Artilleriegeschossen oder Siegesfeiern zum Opfer? Wurden sie verbunkert, vergraben oder verschüttet? Kein Dokument überlieferte eine eindeutige Antwort, keine Zeugenaussage erbrachte einen schlüssigen Beweis. Einzig der Schatzwächter Rohde hütete nach Kriegsende die ganze Wahrheit über das Schicksal des Bernsteinzimmers – bis zu seinem überraschenden Tod.

Kein Wunder, dass sich bald schon die Legenden rankten. Rohde habe Selbstmord begangen, sei gar von finsteren Mächten ermordet worden, um den Standort des Bernsteinzimmers im Verborgenen zu halten. Der Arzt, der seinen Tod bescheinigt hatte, sei unmittelbar darauf aus der Stadt verschwunden, mehr noch: Als Rohdes Grab geöffnet wurde, um die Todesursache zu überprüfen, sei kein Leichnam aufzufinden gewesen, das Rätsel seines plötzlichen Ablebens somit weiter offen.

Auf der Grundlage der verfügbaren Belege und Zeugenaussagen, etwa der behandelnden Krankenschwester, entlarven sich all diese immer wieder gern kolportierten Gruselgeschichten unzweifelhaft als Märchen. Die Verschwörungstheorien mochten gleichwohl nie verstummen.

Die Geschichte der Suche nach dem verlorenen Schatz aus Bernstein ist reich an modernen Mythen dieser Art. Wie kaum ein anderes Rätsel der Geschichte setzt der schillernde Stoff Fantasien frei. Sein mysteriöses Verschwinden hat das Bernsteinzimmer erst richtig berühmt gemacht. Schon den Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts galt es als das »achte Weltwunder«. Die Wände des etwa hundert Quadratmeter großen Saales waren rundum mit zierlichen Dekorationen, weich glänzenden Mosaiken und ganzen Gemälden aus Bernstein verkleidet, zu deren Herstellung fünf bis zehn Tonnen Rohmaterial verbraucht wurden. Akanthusranken und Rosetten, blitzendes Kristall, glitzernde Lüster und funkelnde Leuchter trugen zum Zauber einer einzigartigen Schatz-Kammer bei, dem sich kaum ein Betrachter entziehen konnte. »Der Stil des Bernsteinzimmers ist ein Gemisch aus Barock und Rokoko und ein wahres Wunder«, begeisterte sich 1912 der russische Kunsthistoriker Sergej N. Wilkowskij, »nicht nur wegen des hohen Materialwertes, der kunstvollen Schnitzereien und der Leichtigkeit der Formen, sondern hauptsächlich wegen des schönen, bald dunklen, bald hellen, aber immer warmen Tons des Bernsteins, der dem ganzen Zimmer einen unaussprechlichen Reiz verleiht.« Der Kenner fasste damit den Eindruck der meisten Besucher des Saales in Worte, die sich von der Wirkung des leuchtenden Gesteins verzaubern ließen.

Dass dieses auf einen Wert von 125 Millionen Dollar geschätzte Wunder-Werk unwiederbringlich verschollen sein sollte, damit mochten sich Generationen von Schatzsuchern nicht abfinden. An die hundert Versionen über den Verbleib der Holzkisten mit dem erlesenen Inhalt zählt die Chronik bis heute, und es kommen weiter neue hinzu. In Bunkeranlagen Thüringens wurde das verschollene Tafelwerk ebenso vermutet wie in Schiffsbäuchen auf dem Grund der Ostsee, in verschütteten Stollen Niedersachsens ebenso wie in ostpreußischen Sümpfen. Kellergruften von Schlössern, Burgen oder Kirchen im Osten wie im Westen Europas orteten Augenzeugen als potenzielle Fundorte, bis in die Schweiz, sogar in die Vereinigten Staaten von Amerika soll der Wandschmuck der Zaren geraten sein.

Beteiligt an der Großfahndung waren Kunstexperten, Historiker, Abenteurer, Detektive, Grabungsprofis, enthusiastische Amateure, verbohrte Psychopathen, Politiker wie auch Geheimdienste in Ost und West. Viele Ingredienzien eines Kriminalromans hafteten der Geschichte des verlorenen Schatzes an oder wurden in sie hineingemengt: Spionage, Verschwörungen, Adelsverbindungen, Nazi-Seilschaften, Kalter Krieg, Verrat, sogar Mord. Wildeste Spekulationen wucherten über den Verbleib der Kammer ebenso, wie scharfsinnige Argumentationsketten entworfen wurden.

Doch nicht nur akademische Gedankenspiele setzten die Schatzgräber in Gang, sondern auch Schaufelräder, Bagger, Spitzhacken und Spaten, die an Dutzenden vermeintlicher Fundstellen die Erde aufwühlten, zugemauerte Eingänge durchbrachen, verschüttete Gänge freilegten. Tiefseetaucher durchleuchteten den Rumpf längst versunkener Fregatten aus dem Zweiten Weltkrieg. Keine der Grabungen und Tauchausflüge hat auch nur Bruchstücke des prominenten Objektes zu Tage gefördert. Und dennoch ist die Aussicht, die verborgenen Überreste dereinst noch zu bergen, keineswegs absurd. Ein Beweis für die restlose Vernichtung des Bernsteinzimmers ist bisher gleichfalls ausgeblieben. Der Tatendrang der Kunstfahnder ist ebenso ungebrochen wie die Faszination des goldgelben Schimmergesteins.

Stoff, aus dem Träume sind

Nicht von ungefähr wird Bernstein auch »Gold der Ostsee« genannt. Ebenso wie das wertvolle Edelmetall übt es eine starke Anziehungskraft auf die Menschen aus und vermag sie in seinen Bann zu ziehen. Nach der griechischen Sage entstand Bernstein aus den Tränen der Heliaden, jener ungehorsamen Schwestern des Sonnengottes Helios, die der Göttervater Zeus zur Strafe in Pappeln verwandelt hatte.

In der Tat ist Bernstein eine Frucht des Waldes, es ist nichts anderes als das gehärtete Harz urzeitlicher Kiefernbäume, die vor 55 bis 35 Millionen Jahren in Nordeuropa tropische Wälder bildeten. Das Holz segnete das Zeitliche, aber das Harz, das aus der Rinde geronnen war, blieb bestehen. Es versickerte im Waldboden und versteinerte in Millionen Jahren zum Fossil – vor allem in dem Teil der Erde, wo sich später die Ostsee ausbreitete. Doch ist der Bodenschatz kein starres Gestein, sondern er führt ein empfindsames Eigenleben. Bernstein ist ein organisches Material, zerbrechlich und weich. Es reagiert auf UV-Licht, Säure, unter bestimmten Einflüssen kann es austrocknen, die Farbe verändern oder zerfallen.

Insekten, Schnecken oder Blüten, die einst in der klebrigen Masse hängen geblieben waren, überdauerten in ihrem goldenen Grab bis heute. Inclusen (Einschlüsse) werden diese Phänomene genannt. Die meisten Bernsteinstücke, oft vom Meer an den Strand gespült, sind winzig klein, gerade recht für ein Schmuckstück oder einen Talisman. Aber es gibt auch größere Exemplare. Sammler, gerade wenn sie systematisch graben, stoßen schon mal auf Brocken von mehreren Kilogramm Gewicht. Der größte bekannte Bernsteinfund bringt annähernd zehn Kilo auf die Waage.

Typisch ist die durchsichtige bis matte honiggelbe Färbung, doch die Farbpalette reicht von hellem Gelb bis zu rötlichem Braun, mitunter ist gar ein bläulicher oder grünlicher Schimmer erkennbar. Aber nicht nur das schillernde Aussehen zog die Menschen an. Schon frühzeitig schrieben sie dem Bernstein Wunder- und Heilungskräfte zu. Zermahlen zu Pulver, mit Ölen vermischt, als Salbe oder als Bruchstück im Amulett sollte es böse Geister und Krankheiten abwehren. Die heilende Wirkung leitete man auch aus einer anziehenden Eigenschaft des Materials ab: Durch Reibung wurde es magnetisch.

Nicht nur wegen seiner Ausstrahlung, sondern vor allem dank seiner weichen und leichten Beschaffenheit wurde Bernstein schon seit der Steinzeit zu Schmuck und Dekor von Gebrauchsgegenständen verarbeitet. Frühzeitig setzte ein schwunghafter Handel ein, ganze Berufszweige gediehen längs der Handelswege. Besonders im 17. und 18. Jahrhundert entstanden Ketten, Pokale, Essbestecke, Schatullen, Kronleuchter, Griffe von Gehstöcken oder Degen aus dem beliebten Material. Versierte Bernsteindreher fertigten Plastiken, Schränke, Kommoden, Spiegelrahmen, Altäre, selbst Querflöten daraus. Allein am sächsischen Kurfürstenhof in Dresden waren zeitweise an die hundert Bernsteinkünstler tätig.

Der Schwerpunkt der Bernsteinverarbeitung lag traditionell an der Ostseeküste. Zwar ist das schimmernde Gestein mit etwas Glück auch im Binnenland, am Mittelmeer, am Schwarzen Meer oder in der Karibik zu finden. Das Hauptvorkommen erstreckt sich jedoch der Ostsee entlang und dort besonders an der »Bernsteinküste« in der Region um Kaliningrad, das frühere Königsberg. Dort warten nicht nur Bernsteinfischer darauf, dass die See die begehrten Brocken wieder an Land spült. Der Bodenschatz wird überdies bis heute im großen Stil mit Bergbaumethoden unter einer etwa 30 bis 40 Meter dicken Tonschicht zu Tage gefördert. Aus der Tagebaugrube »Blaue Erde« nahe der vormaligen ostpreußischen Hauptstadt stammen immer noch neun Zehntel des weltweit geförderten Bernsteins. In diesem Gebiet hat die Meisterschaft in der Gestaltung des Materials ihr traditionelles Zuhause.

Krönung des Aufstiegs

Hier war es auch, wo der Hohenzollern-Regent Friedrich III. seine Leidenschaft für das »Gold der Ostsee« entdeckte. In den Berliner Gemächern des bauwütigen Kunstkenners wuchs eine ansehnliche Sammlung rarer und auserlesener Bernsteinfunde heran. Doch nicht in erster Linie seine Sammelleidenschaft war es, die den aufstrebenden Regenten nach Königsberg führte. In der alten Trutzburg des deutschen Ordens, eines der Wegbereiter für die Osterweiterung des späteren Preußens, sollte nach seinem Willen der politische Aufstieg seiner Dynastie unübersehbar dokumentiert werden: Eigenhändig wollte er sich hier zum ersten preußischen König krönen. Mit riesigem Hofstaat und allein dreihundert Gepäckwagen traf der künftige König vor der Wende zum Jahr 1701 in der Ost-Dependance seines Herrschaftsgebietes ein. Am 18. Januar setzte er sich vor viertausend Gästen in einem weihevollen Zeremoniell die neue Krone auf. Auch für sein Reich stand der Staatsakt am Anfang einer ruhmreichen Karriere.

Als der frisch gekürte König, nunmehr Friedrich I., Königsberg im März verließ, nahm er – inspiriert von der Bernsteinkunst seiner Krönungsstadt – auch die Idee für ein prestigeträchtiges Weihegeschenk an sich selbst mit nach Hause. Unmittelbar nach seiner triumphalen Ankunft in Berlin beauftragte Friedrich, so mutmaßen Sachkenner, seinen damaligen Hofarchitekten Andreas Schlüter, den berühmten Erneuerer des Berliner Stadtschlosses, mit den Plänen für ein »Bernstein-Cabinett«. Es sollte eine Weltneuheit werden: Noch nie zuvor hatte Bernstein für die komplette Ausgestaltung einer Kammer Verwendung gefunden. Als Verwirklicher dieser Innovation empfahl der befreundete König von Dänemark seinen Bernsteinschneider Gottfried Wolffram.

Bereits im April 1701 ging der versierte Kunsthandwerker im Schloss Lietzenburg, dem späteren Charlottenburger Schloss, ans Werk. Dabei wandte er ein neu entwickeltes Verfahren an, die so genannte Inkrustationstechnik (mosaikartiges Verfahren zur Bearbeitung von Bernstein): Tausende von Bernsteinstücken der verschiedensten Farbschattierungen wurden auf zwölf großformatigen Holztafeln, so genannten Paneelen, und zehn Sockelplatten, die in beliebiger Anordnung an der Wand befestigt werden konnten, aufgeklebt und zu kunstvollen Mosaiken zusammengefügt. Aus dem natürlichen Rohstoff wurden in millimetergenauer Maßarbeit dekorative Muster, filigrane Figürchen, Ornamente, Verzierungen, herausragende Rahmen, Zierleisten, Wappen, kleine Gemälde für sich und Schriftzeichen herausgearbeitet. Um die natürliche Farbpalette noch zu erweitern, kochten die Bernsteinkünstler die Plättchen in Öl, dem nach streng geheimen Rezepturen natürliche Pflanzenfarben beigemengt waren.

Die Mitwirkung des Bildhauers und Hofbaumeisters Andreas Schlüter bis zu seiner Entlassung im Jahr 1707 schließen Fachleute auch aus der frappierenden Ähnlichkeit von acht Masken toter Krieger im Rahmendekor des Kabinetts mit jenen zweiundzwanzig Krieger-Masken, die der Bildhauer im Innenhof des Zeughauses geschaffen hatte.

Doch die Schaffensfreude währte nicht lange. Wegen der wuchernden Kosten, wohl auch weil er sich mit dem neuen Hofbaumeister Eosander von Goethe nicht verstand, wurde Bernsteinschneider Gottfried Wolffram 1707 vor die Tür gesetzt. Der König beschloss, die bisher gefertigten Elemente in sein Stadtschloss zu verlagern und dort für die Täfelung eines Raumes zu verwenden. Beauftragt wurden diesmal, gegen geringeres Entgelt als der dänische Meister, die Danziger Kunsthandwerker Gottfried Turau und Ernst Schacht. In ihrem Können standen sie dem Vorgänger indes nicht nach. In nur wenigen Jahren vollendeten sie das Werk des Dänen auf meisterhafte Art und zauberten eine einzigartige Vertäfelung, die später das glanzvolle Kernstück des berühmten Bernsteinzimmers werden sollte.

Doch wie ihr dänischer Vorgänger blieben auch die Schöpfer des Bernsteinkabinetts nicht dauerhaft im Stand der Gnade. Als Preußens König kurz nach dem Einbau der Wandvertäfelung feststellte, dass die Wände hinter den Bernsteintafeln von Schimmelpilz befallen waren, ließ er den Meister Turau wegen Hochverrats in den Kerker werfen. Immerhin zierte das noch nicht gänzlich vollendete Getäfel ab 1711 im Stadtschloss das »tabacs-collegium« des Königs. In dieses Eckzimmer mit der teuersten Tapete der Welt, die den preußischen Staatssäckel empfindlich geleert hatte, konnte er sich zurückziehen, in vertrauter Gesellschaft ein Pfeifchen schmauchen, das Kartenspiel pflegen oder vertrauliche Gespräche führen. »Aller Zwang ist aus dieser Gesellschaft verbannet«, rühmte ein Höfling die Atmosphäre der Raucherstube, »und darf jedermann sitzen, inmassen der König von der Ihm sonst gebührenden Ehrerbietung zu der Zeit etwas nachlasset.«

Allzu lange jedoch konnte der barocke und kunstsinnige Herrscher den abendlichen Mußestunden im neuen Ecksaal nicht mehr frönen. 1713 starb der erste Preußenkönig.

Sein Sohn, der nach ihm den Thron einnahm, konnte unterschiedlicher nicht sein. Friedrich Wilhelm I. war ernst und sparsam, mied jede nicht unbedingt dienliche Staatsausgabe – bis zum Geiz. An die Stelle von barocker Verschwendungssucht traten Enthaltsamkeit und strenge Pflichterfüllung. Die Neigung des Thronfolgers gehörte nicht den Künsten und der Wissenschaft, sondern seiner Armee. Der »Soldatenkönig« trug als oberster Krieger selbst gern die Uniform, die unter seiner Herrschaft zum »Ehrenkleid« avancierte. Wie ein Rekrut schlief er auf einem Feldbett und deckte sich mit einem rauen Tuch zu.

Nicht nur das Militär formte Friedrich Wilhelm mit straffer Hand um, er schuf auch ein neues Finanzsystem, das die Ausgabenflut eindämmte, schwor das neu formierte und erweiterte Beamtentum auf preußische Werte ein und setzte die allgemeine Schulpflicht durch. In diesem soldatisch streng regierten Gemeinwesen war kein Platz mehr für höfische Prunkmanie. Er ließ die Arbeiten an den immer noch nicht vollendeten Bernsteinarbeiten im Schloss abbrechen und die bereits fertig gestellten Wandverkleidungen im Berliner Zeughaus einlagern.

Da traf es sich günstig, dass ein hochrangiger Besucher Gefallen an dem wertvollen Schmuckstück bekundete. Der russische Zar Peter I. hatte seinen Blick schon seit längerer Zeit mit Wohlgefallen auf das edle Kabinett geworfen, war er doch ein ausgesuchter Liebhaber des Edelgesteins von der Küste seines Heimatmeeres. Seine neu eingerichtete Kunstkammer, das erste Museum dieser Art in Russland, war bereits mit zahlreichen Pretiosen aus Bernstein angereichert.

Das kunstvoll ausgekleidete Tabakskolleg hatte die Bewunderung des Zaren schon hervorgerufen, als noch Friedrich I. im Berliner Stadtschloss residierte. Peter hatte ihm auf dem Weg zu seinen Truppen in Pommern 1712 einen Besuch abgestattet, und dabei hatte der Gastgeber es natürlich nicht versäumt, dem Kunstfreund voller Stolz seine neueste Errungenschaft vorzuführen. Der Zar war angetan, auch Jahre danach ging ihm das Bernsteinkabinett nicht aus dem Sinn.

Nun, da Friedrichs Epoche vorüber war und der neue, gestrenge Soldatenkönig solch verschwenderisches Dekor aus seinen Gemächern verbannte, stiegen die Aussichten für einen Besitzerwechsel. 1716 weilte der Zar mit seinem Hofstaat ein weiteres Mal in Brandenburg-Preußen. Friedrich Wilhelm I. hatte ihn eingeladen, weil er bestrebt war, die guten Verbindungen mit dem Riesenreich im Osten, die schon sein Vater gepflegt hatte, weiter zu vertiefen. Und er hatte einen triftigen Anlass dafür.

Im Bund mit dem aufstrebenden Nachbarstaat wollte er den Einfluss der Schweden im Ostseeraum zurückdrängen. Mit russischer Hilfe hoffte er die Truppen des schwedischen Königs Karl XII. aus Vorpommern zu verdrängen. Geschenke bewahren die Freundschaft – auch unter politischen Potentaten, das wusste Zar Peter, und das ließ er auch reichlich unverblümt wissen. »Am folgenden Tage zeigte man ihm alles Merkwürdige von Berlin, unter anderem auch die Medaillen- und Antikensammlung«, berichtete die Markgräfin Wilhelmine Friederike Sophie von Bayreuth, die Tochter des preußischen Königs. »Ohne das geringste Bedenken verlangte er diese und noch einige andere Statuen vom Könige, der sie ihm nicht abschlagen konnte, ebenso machte er es mit einem Schrank, der ganz mit Bernstein ausgelegt war. Dieser Schrank, der einzige seiner Art, der König Friedrich den Ersten ungeheure Summen gekostet hatte, hatte zum allgemeinen Leidwesen das Schicksal, nach Petersburg geführt zu werden.«

Und nicht nur dieses edle Möbelstück. Neben Präsenten wie etwa dem komplett ausgestatteten Jagdschiff »Liburnica« geriet das gesamte, über ein Jahrzehnt lang in mühsamer Kleinarbeit geschnitzte Inventar des Bernsteinkabinetts auf die Geschenkliste. Doch König Friedrich Wilhelm konnte gut davon lassen. Der calvinistisch geprägte Monarch hatte nicht viel Sinn für derlei irdischen Zierrat. Viel wesentlicher waren für ihn die Gegengaben des Zaren. Tatsächlich gelang es mit massiver russischer Schützenhilfe, die Schweden zurückzudrängen – im übrigens einzigen Feldzug während der Regierungszeit des militärbegeisterten Königs. Der Sieg brachte einen Gebietsgewinn, der das flickwerkartige Herrschaftsgebiet der Preußen ein weiteres Stück zusammenfügte: Stettin, das gesamte Vorpommern sowie die Inseln Usedom und Wollin wurden preußisch.

Als Dreingabe sandte Zar Peter nach seiner Rückkehr neben einer Drechselbank, einer Barke, einem gedrechselten Stock und einem selbst gefertigten Elfenbeinpokal noch eine ganz besondere Aufmerksamkeit, die mehr als jedes Kunststück das Wohlwollen des »Soldatenkönigs« weckte: 55 russische Leih-Soldaten von herausragender Körpergröße. Friedrich Wilhelm konnte sie in das neu formierte 1. Bataillon seines Garderegiments einreihen, das er bevorzugt mit »langen Kerls« bestückte. Es war eines seiner Lieblingsprojekte: eine Elitetruppe aus Leibgardisten, aus ganz Europa rekrutiert, die allesamt mindestens sechs Fuß (also 1,88 Meter) maßen. So tauschte der preußische König Soldatenherrlichkeit gegen Bernsteinglanz.

Parohll auf dieser weldt ist nits als mühe und arbeit, und wo man nit selber, mit permission zu sagen, die nase in allen dreck selber stecket, so gehen die sachen nit wie es gehen soll, den auf die meiste bedinte sich nit zu verlassen, wo man nit selber danach sehet.
Friedrich Wilhelm, 1726

Rückkehr an die Ostsee

Zar Peter war gleichfalls zufrieden mit dem Tausch. »Ich habe ein höchst bedeutsames Praesent erhalten, ein Bernstein-Cabinett«, schrieb er voller Stolz an seine Gemahlin. Das innovative Tafel-Werk war dazu angetan, der Aufbauleistung des russischen Regenten ein besonderes Glanzlicht hinzuzufügen. Denn der »Kaiser aller Reußen« hatte während seiner Regierungszeit ein gewaltiges Werk in Angriff genommen. Ähnlich wie sein preußischer Amtskollege reformierte er die Zivilverwaltung und erweiterte seine Armee, mit deren Hilfe er Schweden aus seiner Vormachtrolle in Nordosteuropa verdrängte. Mit aller Gewalt und keineswegs immer förderlichen Folgen veränderte er das bäuerlich geprägte Riesenreich, ohne freilich die gesellschaftlichen Grundlagen wandeln zu können. Der tatkräftige Herrscher hatte sich vorgenommen, sein Land in jeder Hinsicht nach Westen zu öffnen. Dies war seine Vision, seit er als junger Mann in der Moskauer Ausländervorstadt in Kontakt mit Europäern verschiedener Nationen gekommen war. Damals lebten allein 18 000 Deutsche in Moskau.

Auf ausgedehnten Reisen in England, Österreich, Preußen und den Niederlanden hatte Peter wirtschaftlichen Aufbruch und westliche Lebensart aus der Nähe kennen gelernt. Zu diesem Zweck hatte er sich immer wieder von seinem Hauptberuf als aufgeschlossener Despot abgemeldet und die Fremde als anonymer Besucher bereist. Berühmtheit durch Lortzings Oper »Zar und Zimmermann« erlangte sein Aufenthalt in Amsterdam, wo der Zar sich inkognito als Zimmermann auf einer Werft verdingte. Das Symbol für sein westlich orientiertes Reformwerk ließ er selbst aus dem Sumpf erstehen: Sankt Petersburg, in nur wenigen Jahren aus menschenfeindlichem Morast zum neuen Regierungssitz seines Reiches erwachsen, war Peters Lebenswerk und sein Glaubensbekenntnis. Die neu erschaffene Hauptstadt, ein »Fenster nach Europa«, wie Puschkin schrieb, lag nicht nur geographisch im äußersten Westen der Großmacht, am Zufluss der Newa zur zunehmend russisch beherrschten Ostsee. Architekten aus den Niederlanden, Deutschland und Italien zauberten das barocke Flair ihrer Heimatländer in das Stadtbild des viel gerühmten »Venedig des Nordens«.

Freilich unter gewaltigen Opfern. Seit der Zar 1703 den ersten Spatenstich in dem von Mückenschwärmen bevölkerten Delta der Newa setzen ließ, fielen 30 000 der größtenteils zwangsrekrutierten Arbeitskräfte den Arbeitsbedingungen und Klimaverhältnissen zum Opfer. Allein zweihundertfünfzig Überschwemmungen machten die Baufortschritte immer wieder zunichte. Den Stadtbegründer kümmerten Ungemach und Menschenleben weniger, er sah sich mit seinem Wurf über derartige Widrigkeiten erhaben. Von der Geschichte erhielt der Zwei-Meter-Mann denn auch den Beinamen »der Große« zuerkannt.

Als Bewunderer holländischer Lebensart und Schaffenskraft taufte er seine neue Hauptstadt zunächst auf das Fremd-Wort »Sankt-Pieter-Burgh«, was für Weltoffenheit und Moderne stand. Später hieß die Neuschöpfung auf deutsche Art Sankt Petersburg. Das war kein Zufall. Deutsche wie der berühmte Hamburger Architekt Andreas Schlüter, zuvor schon in preußischen Diensten, standen dem Stadtgründer bei seinem Vorhaben zur Seite, Deutsche dienten dem Zaren als Berater, Architekten, Generäle, Ärzte und Kaufleute.

Da fügte es sich trefflich, dass er eines der entstehenden Schlösser an der Newa mit einer erlesenen Freundschaftsgabe aus Deutschland schmücken konnte. Die Bernsteintafeln aus Berlin waren für den Sommerpalast des Zaren bestimmt. Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Noch bevor Peter der Große die Hauptstadt Preußens verließ, beauftragte er den russischen Gesandten vor Ort, die sachgerechte Verpackung zu überwachen. Nach sorgsamer Registrierung durch den Grafen wurden 22 mit Bernstein verkleidete Paneele sowie 150 Platten und Schnitzereien wie Tulpen, Rosen, Muscheln, Schnecken oder Figuren in insgesamt 18 Kisten gepackt. Dann begann der Abtransport des Bernsteinzimmers auf acht sechsspännigen Fuhrwerken zunächst nach Memel (heute Klaipeda) – der erste Ortswechsel am Beginn einer über zweihundert Jahre andauernden Odyssee mit zahlreichen Stationen. Nach sechswöchiger Reise traf der Transport im Januar 1717 in Memel ein.

Dort hatte der Zar seinem Gesandten bereits die Instruktionen zur Weiterbeförderung übermittelt: »Wenn aus Berlin das Bernstein-Cabinett, was Seine königliche Majestät von Preußen geschenkt hat, in Memel ankommt, so empfange und schicke es sofort über Kurland auf kurländischen Fuhren nach Riga, vorsichtig und mit dem Boten, welcher euch diesen Unseren Ukas mitteilt, und gebt ihm bis Riga eine Bedeckung von einem Unteroffizier und mehreren Dragonern; auch gebt dem Boten auf dem Weg bis Riga Geld zur Beköstigung, auf dass er zufrieden sei. Sollte er für den Transport des Kabinetts Schlitten fordern, so gebt ihm auch solche.«


1)      Zwei Große Wandstücken, worinnen zwei Spiegelrahmen mit Spiegeln.

2)      Zwei dergleichen Stücke, bei welchen nur ein lediger Spiegel Rahm.

3)      Vier dergleichen Wandstücken, ein wenig schmäler, ein jedes mit einem ausgeschweifften Spiegel zum Blaker.

4)      Zwei Flügel etwas breit, und nach zwey, so etwas schmäler. Diese 12 Stücke sind alle in einer Höhe.

5)      Zehen aparte Paneel=Stücken, von egaler Höhe, aber differenter breite, alle complet besetzt.

6)      Noch dabey gegeben folgende Stücke, so da können mit gebraucht werden, alß: ein vierekt Brett ganz belegt, ein fertig Schildt mit einem palmiten Kopff, drei fertige palmiten Köpffe aus Holz, sieben kleine Köpffe. Vierzehn fertige Tulipanen, zwölf fertige Rosen. Drey Stücken mit Muscheln und Schnecken ausgemacht. Zwey fertige Gesimmse. Zwei kleine Eckstücken. Ein klein länglichtes Brett, mit zwei Schrauben. Vier kleine auffgeschweiffter Bretter, so nur hin und wieder belegt. Noch zu einem Flügel ausgeschweiffter klarer Bernstein so in hundert und sieben kleine Stücken bestehen. 

Verzeichnis des Bernsteinzimmers vor seiner Verschickung nach Russland 1717


Solchermaßen eskortiert, gelangten die Kisten im Mai 1717 wohlbehalten in Sankt Petersburg an, wo sie von Aleksandr Menschikow, dem Gouverneur der Stadt, in Empfang genommen wurden. Allein: Sein Dienstherr, Zar Peter der Große, sollte das begehrte Bernsteinzimmer nie zu Gesicht bekommen. Den konsternierten Palastbauherren gelang es nicht, die unzähligen Einzelstücke anhand der Aufbauanleitung aus Berlin wieder zu einem Gesamtkunstwerk zusammenfügen zu lassen. Das Ergebnis: Das erlesene Mitbringsel wanderte schließlich wieder zurück in die Kisten, wurde in einem Seitenflügel des Sommerpalastes in Sankt Petersburg abgestellt und geriet allmählich in Vergessenheit.

Auch die Nachfolger Peters des Großen brachten nach seinem Tod im Jahr 1725 wenig Interesse für das preußische Präsent auf. Weder seine Witwe Katharina I. noch sein Enkel Peter II., noch seine Nichte Anna Iwanowna und schon gar nicht der von Katharinas Tochter Anna Leopoldowna in der Regentschaft vertretene Säugling Iwan VI., die einander in rascher Folge auf dem Zarenthron ablösten, teilten die Vorliebe ihres legendären Vorgängers für Bernstein.

Das änderte sich erst, als Peters jüngere Tochter Elisabeth sich 1741 gleichsam an die Macht putschte. Sie versuchte in vielerlei Hinsicht, an das Werk ihres Vaters anzuknüpfen. Dazu gehörte auch die Bauwut. Den gerade neu errichteten, nunmehr dritten Winterpalast in Sankt Petersburg erwählte die Zarin zu ihrer neuen Residenz. Als somit die Frage im (noch leeren) Raume stand, wie die Säle ausgestaltet werden sollten, entsann sie sich der inzwischen etwas angestaubten 18 Kisten aus dem Erbe ihres Vaters. Sie wollte vollenden, was ihm versagt geblieben war: eines der Schlossgemächer in ein Bernsteinkabinett umzuwandeln.

Für dieses Vorhaben stand an ihrem Hofe ein versierter Meister bereit, den sie mit den Entwürfen beauftragte. Elisabeths leitender Architekt Francesco Bartolomeo Rastrelli, 1700 in Paris geboren, war schon als Jugendlicher mit seinem Vater, einem italienischen Bildhauer, nach Sankt Petersburg gekommen. Nach dem Architekturstudium begann der geniale Planer, seine Wahlheimatstadt mit herausragenden Werken des russischen Barock zu schmücken – wie dem Smolnyj-Kloster, dem Stroganow-Palast und einigen weiteren Zarenschlössern.