Ernst Jünger
Afrikanische Spiele
Roman
J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Mit einem Nachwort des Autors
Klett-Cotta
© Werner Schwarze
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901–1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 1914–1918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 1919–1923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 1936–1938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 1939–1941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 1946–1947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 1966–1981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen.
ERSTAUSGABE 1936
Es ist ein wunderlicher Vorgang, wie die Phantasie gleich einem Fieber, dessen Keime von weither getrieben werden, von unserem Leben Besitz ergreift und immer tiefer und glühender sich in ihm einnistet. Endlich erscheint nur die Einbildung uns noch als das Wirkliche, und das Alltägliche als ein Traum, in dem wir uns mit Unlust bewegen wie ein Schauspieler, den seine Rolle verwirrt. Dann ist der Augenblick gekommen, in dem der wachsende Überdruß den Verstand in Anspruch nimmt und ihm die Aufgabe stellt, sich nach einem Ausweg umzusehen.
Das war der Grund, aus dem das Wörtchen »fliehen« seinen besonderen Klang für mich besaß, denn von einer bestimmten Gefahr, die seine Anwendung berechtigt hätte, konnte schlecht die Rede sein – vielleicht abgesehen von den sich häufenden und in den letzten Wochen recht drohend gewordenen Klagen der Lehrerschaft, die sich mit mir wie mit einem Schlafwandler beschäftigte.
»Berger, Sie schlafen, Berger, Sie träumen, Berger, Sie sind nicht bei der Sache«, war da der ewige Reim. Auch meine Eltern, die auf dem Lande wohnten, hatten bereits einige der bekannten Briefe bekommen, deren unangenehmer Inhalt mit den Worten »Ihr Sohn Herbert …« begann.
Diese Klagen aber waren weniger die Ursache als die Folge meines Entschlusses – oder sie standen vielmehr in jener Wechselwirkung zu ihm, die abschüssige Bewegungen zu beschleunigen pflegt. Ich lebte seit Monaten in einem geheimen Aufstand, der in solchen Räumen schlecht verborgen bleiben kann. So war ich bereits dazu übergegangen, mich am Unterricht nicht mehr zu beteiligen und mich statt dessen in afrikanische Reisebeschreibungen zu vertiefen, die ich unter dem Pult durchblätterte. Wenn eine Frage an mich gerichtet wurde, mußte ich erst all jene Wüsten und Meere überwinden, bevor ich ein Lebenszeichen gab. Ich war im Grunde nur als Stellvertreter eines fernen Reisenden anwesend. Auch liebte ich es, ein plötzliches Unwohlsein vorschützend, das Klassenzimmer zu verlassen, um unter den Bäumen des Schulhofes spazierenzugehen. Dort sann ich über die Einzelheiten meines Planes nach.
Schon hatte der Klassenlehrer das vorletzte Mittel der Erziehung gegen mich ergriffen, das die endgültige Trennung andeuten soll – ich wurde von ihm als Luft behandelt, »mit Nichtachtung gestraft«. Es war ein schlimmes Zeichen, daß selbst diese Strafe nicht mehr verfing – ein Zeichen dafür, wie sehr ich eigentlich schon abwesend war. Diese Absonderung durch Verachtung war mir eher angenehm; sie legte einen leeren Raum um mich, in dem ich mich ungestört meinen Vorbereitungen widmete.
Es gibt eine Zeit, in der dem Herzen das Geheimnisvolle nur räumlich, nur auf den weißen Flecken der Landkarte erreichbar scheint und in der alles Dunkle und Unbekannte eine mächtige Anziehung übt. Lange, halb trunkene Wachträume während meiner nächtlichen Spaziergänge über den Stadtwall hatten mir jene entfernten Länder so nahegerückt, daß nur noch der Entschluß nötig schien, um in sie einzudringen und ihrer Genüsse teilhaftig zu sein. Das Wort »Urwald« schloß für mich ein Leben ein, dessen Aussicht man mit sechzehn Jahren nicht widersteht – ein Leben, das der Jagd, dem Raube und seltsamen Entdeckungen zu widmen war.
Eines Tages stand es für mich fest, daß der verlorene Garten im oberen Stromgeflecht des Niles oder des Kongo verborgen lag. Und da das Heimweh nach solchen Orten zu den unwiderstehlichsten gehört, begann ich eine Reihe von tollen Plänen auszubrüten, wie man sich am besten dem Gebiete der großen Sümpfe, der Schlafkrankheit und der Menschenfresserei nähern könne. Ich heckte Gedanken aus, wie sie wohl jeder aus seinen frühen Erinnerungen kennt: ich wollte mich als blinder Passagier, als Schiffsjunge oder als wandernder Handwerksbursche durchschlagen. Endlich aber verfiel ich darauf, mich als Fremdenlegionär anwerben zu lassen, um auf diese Weise wenigstens den Rand des Gelobten Landes zu erreichen und um dann auf eigene Faust in sein Inneres vorzudringen – natürlich nicht, ohne mich zuvor an einigen Gefechten beteiligt zu haben, denn das Pfeifen der Kugeln kam mir wie eine Musik aus höheren Sphären vor, von der nur in den Büchern zu lesen war und deren teilhaftig zu werden man wallfahrten mußte wie die Amerikaner nach Bayreuth.
Ich war also bereit, auf jedes Kalbsfell der Welt zu schwören, wenn es mich wie Fausts Zaubermantel bis zum Äquator getragen hätte. Aber auch die Fremdenlegion gehörte schließlich nicht zu den dunklen Mächten, die man nur an den nächsten Kreuzweg zu zitieren braucht, wenn man mit ihnen zu paktieren gedenkt. Irgendwo mußte es sie zwar geben, soviel war sicher, denn oft genug las ich in den Zeitungen über sie Berichte von so ausgesuchten Gefahren, Entbehrungen und Grausamkeiten, wie sie ein geschickter Reklamechef nicht besser hätte entwerfen können, um Tunichtgute meines Schlages anzuziehen. Ich hätte viel darum gegeben, wenn einer dieser Werber, die junge Leute betrunken machen und verschleppen und vor denen mit Engelszungen gewarnt wurde, sich an mich herangemacht hätte; doch diese Möglichkeit kam mir für unser so friedlich im Wesertale schlummerndes Städtchen recht unwahrscheinlich vor.
So schien es mir denn richtiger, erst einmal die Grenze zu überschreiten, um damit den ersten Schritt aus der Ordnung in das Ungeordnete zu tun. Ich hatte die Vorstellung, daß das Wunderbare, das Reich der sagenhaften Zufälle und Verwicklungen sich mit jedem Schritt deutlicher offenbaren würde, wenn man den Mut hatte, sich aus dem Gewöhnlichen zu entfernen – man mußte seine Anziehung um so stärker erfahren, je mehr man ihm entgegenging.
Es blieb mir aber nicht verborgen, daß jedem Zustand eine große Schwerkraft innewohnt, aus der sich herauszuspielen der bloße Gedanke nicht genügt. Freilich, wenn ich, etwa abends vor dem Einschlafen, daran dachte, auf und davon zu gehen, schien mir nichts leichter und einfacher, als mich gleich anzuziehen und auf dem Bahnhof in den nächsten Zug zu steigen. Aber sobald ich dann mich auch nur zu regen suchte, fühlte ich mich durch bleierne Gewichte beschwert. Dieses Mißverhältnis zwischen den ausschweifenden Möglichkeiten der Träumerei und den geringsten Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung bereitete mir viel Verdruß. Wie mühelos ich auch im Geist die unwegsamsten Landschaften nach Herzenslust zu durchstreifen vermochte, so merkte ich doch zugleich, daß in der wirklichen Welt auch nur eine Fahrkarte zu lösen einen weit stärkeren Aufwand voraussetzte, als ich geahnt hatte.
Wenn man, des Springens ungewohnt, auf einem hohen Sprungbrett steht, fühlt man sehr deutlich den Unterschied zwischen einem, der hinunter möchte, und einem anderen, der sich dagegen sträubt. Wenn der Versuch, sich selbst am Kragen zu nehmen und hinunterzuwerfen, mißglückt, so bietet sich ein anderer Ausweg an. Er besteht darin, daß man sich überlistet, indem man den Körper am äußersten Rand des Brettes solange ins Schwanken bringt, bis man sich plötzlich zum Absprung gezwungen sieht.
Ich fühlte wohl, daß diesen Bemühungen, mir den ersten Anstoß in die Abenteuerwelt zu geben, nichts hinderlicher war als meine eigene Furcht. Mein stärkster Gegner war in diesem Falle ich selbst, das heißt, ein bequemer Geselle, der es liebte, die Zeit hinter den Büchern zu verträumen und seine Helden in gefährlichen Landschaften sich bewegen zu sehen, anstatt bei Nacht und Nebel aufzubrechen, um es ihnen gleichzutun.
Da war aber noch ein anderer, wilderer Geist, der mir zuflüsterte, daß die Gefahr kein Schauspiel sei, an dem man sich vom sicheren Sessel aus ergötzt, sondern daß eine ganz andere Erfüllung darin liegen müsse, in ihre Wirklichkeit sich vorzuwagen, und dieser andere versuchte, mich auf die Bühne hinauszuziehen.
Mir war bei diesen geheimen Unterhaltungen, bei diesen immer erbitterteren Ansprüchen, die an mich gestellt wurden, oft himmelangst. Auch fehlte es mir an praktischer Begabung; die Aussicht auf all die kleinen Mittel und Schliche, die aufgewendet werden mußten, um fortzukommen, bedrückte mich. Ich wünschte mir, wie alle diese Träumer, Aladins Wunderlampe oder den Ring Dschudars, des Fischers, mit dessen Hilfe man dienstbare Genien beschwören kann.
Auf der anderen Seite drang die Langeweile jeden Tag stärker wie tödliches Gift in mich ein. Es schien mir ganz unmöglich, etwas »werden« zu können; schon das Wort war mir zuwider, und von den tausend Anstellungen, die die Zivilisation zu vergeben hat, schien mir nicht eine für mich gemacht. Eher hätten mich noch die ganz einfachen Tätigkeiten gelockt, wie die des Fischers, der Jägers oder des Holzfällers, allein seitdem ich gehört hatte, daß die Förster heute eine Art von Rechnungsbeamten geworden sind, die mehr mit der Feder als mit der Flinte arbeiten, und daß man die Fische in Motorbooten fängt, war mir auch das zur Last. Mir fehlte hier selbst der mindeste Ehrgeiz, und jenen Gesprächen, wie sie die Eltern mit ihren heranwachsenden Söhnen über die Aussichten der verschiedenen Berufe zu führen pflegen, wohnte ich bei wie einer, der zu Zuchthaus verurteilt werden soll.
Die Abneigung gegen alles Nützliche verdichtete sich von Tag zu Tag. Lesen und Träumen waren die Gegengifte – doch die Gebiete, in denen Taten möglich waren, schienen unerreichbar fern. Dort stellte ich mir eine verwegene männliche Gesellschaft vor, deren Symbol das Lagerfeuer, das Element der Flamme war. Um in sie aufgenommen zu werden, ja nur um einen einzigen Kerl kennenzulernen, vor dem man Respekt haben konnte, hätte ich gern alle Ehren dahingegeben, die man innerhalb und außerhalb der vier Fakultäten erringen kann.
Ich vermutete mit Recht, daß man den natürlichen Söhnen des Lebens nur begegnen könne, indem man seinen legitimen Ordnungen den Rücken kehrt. Freilich waren meine Vorbilder nach den Maßen eines Sechzehnjährigen geformt, der den Unterschied zwischen Helden und Abenteurern noch nicht kennt und schlechte Bücher liest. Gesundheit aber besaß ich insofern, als ich das Außerordentliche jenseits der sozialen und moralischen Sphäre vermutete, die mich umschloß. Daher wollte ich auch nicht, wie es diesem Alter oft eigentümlich ist, Erfinder, Revolutionär, Soldat oder irgendein Wohltäter der Menschheit werden – mich zog vielmehr eine Zone an, in der der Kampf natürlicher Gewalten rein und zwecklos zum Ausdruck kam.
Eine solche Zone hielt ich für wirklich; ich verlegte sie in die tropische Welt, deren bunter Gürtel die blauen Eiskappen der Pole umkreist.
Ich hatte mir ein Ultimatum gestellt, dessen Frist eine Woche nach Beginn der Schule endigte. Das Mittel, das ich mir ersonnen hatte, um mich auf eine entscheidende Weise aus dem Gleichgewicht zu bringen, war nicht übel; es bestand darin, daß ich das Schulgeld, mit dem versehen ich nach den Herbstferien in der kleinen Stadt wieder eingetroffen war, in den Dienst meiner großen Pläne zu stellen beabsichtigte.
Obwohl eine solche Verwendung des Geldes mir unvergleichlich sinnvoller erschien als der Zweck, zu dem es eigentlich berechnet war, zögerte ich lange mit diesem ernsthaften Schritt. Ich fühlte wohl, daß ich mit ihm unwiderruflich den Kriegspfad betrat und daß die Verfügung über diese Summe nur statthaft war als eine bereits dem offenen Gegner auferlegte Kontribution. Im Kriege ist bekanntlich alles erlaubt.
Erst kurz vor Ablauf der Frist, an einem feuchten und dunstigen Herbstnachmittag, trat ich mit Zittern und Bangen in einen Trödlerladen ein, um einen sechsschüssigen Revolver mit Munition zu erstehen. Er kostete zwölf Mark – das war eine Ausgabe, die unter keinen Umständen wieder zu ersetzen war. Ich verließ den Laden mit einem Triumphgefühl, um mich gleich darauf zu einem Buchhändler zu begeben und ein dickes Buch »Die Geheimnisse des dunklen Erdteils« zu erwerben, das ich für unentbehrlich hielt. Es wurde in einem großen Rucksack verstaut, der dann an die Reihe kam.
Nach diesen Einkäufen fühlte ich, halb mit Befriedigung, daß mir der Boden unter den Füßen zu brennen begann. Ich ging in meine Wohnung zurück, um Schuhe und Wäsche einzupacken, und was mir sonst noch für eine lange Reise nötig schien.
Als ich endlich gerüstet auf der Schwelle stand, kam es mir vor, als ob mein kleines Zimmer noch nie so gemütlich gewesen wäre wie gerade heut. Zum ersten Male seit dem Winter brannte Feuer im Ofen, und das Bett war einladend aufgeschlagen für die Nacht. Selbst in den Schulbüchern auf dem wurmstichigen Brett über der Kommode, in der halbzerfetzten Ploetzschen Grammatik für den Gebrauch der Unterprima und in dem dicken lateinischen Handwörterbuch von Georges offenbarte sich eine heimische Anziehungskraft, ein Bann, der gar nicht so leicht zu brechen war. Es schien mir mit einem Male sinnlos und unerklärlich, dies alles im Stich zu lassen, es gegen eine ganz ungewisse Zukunft vertauschen zu sollen, in welcher sicher die gute Frau Krüger mir morgens nicht das Bett machen und abends die brennende Lampe in das Zimmer bringen würde. Es wurde mir plötzlich deutlich, daß die Fremde auch eine eisige Seite besitzt. Aber das war eine Einsicht, die bereits von außen kam. Denn schon hatte ich diesen traulichen Kreis verlassen, und ich fühlte wohl, daß jetzt die Zeit der Überlegungen vorüber, daß ich selbständig war und damit in einem mir bisher fremden Sinne zu handeln hatte.
Es war ein ungemütliches Wetter, als ich meine Wanderung begann, mehr ein Wetter, um im trockenen Zimmer mit angezogenen Knien auf dem Sofa zu liegen und zu lesen, wie ich es gewohnt war, mit einer Kanne voll Tee auf dem Stuhl daneben und einer kurzen Pfeife in Brand. Wind und Regen warfen mit vollen Händen zackiges Platanenlaub auf die Steinplatten der zum Bahnhof führenden Allee. Die Gaslaternen spiegelten sich in der feuchten Schwärze des Weges, der von den vergilbten Blättern wie ein Mosaikband gemustert war. Ich hatte meinen weiten Regenmantel über den Rucksack gehängt und meine rote Schülermütze, zum äußeren Zeichen meiner neuen Freiheit, mit einem Hut vertauscht. Am Schalter löste ich eine Karte nach der nächsten Großstadt, die der Provinz ihren Namen gab.
Ich hatte Glück, denn der Zug stand bereits unter Dampf. Ich war auf das Geratewohl gegangen, weil ich unfähig war, die rätselhaften Zeichen des Kursbuches und der in den Wartesälen ausgehängten Tafeln zu entziffern. Alles, was ich wußte, war, daß Köln, Trier oder Metz in der Nähe der westlichen Grenze lagen, denn meine geographischen Kenntnisse waren schwach, und für mich begannen gar bald die unbekannten und fabelhaften Länder dieser Welt, wie sie auf den Landkarten der Alten verzeichnet sind.
Nur den Namen Verdun hatte ich mir gemerkt, denn ich hatte in der Zeitung gelesen, daß dort der Bürgermeister einer deutschen Kleinstadt in die Fremdenlegion eingetreten war. Sein Fall hatte vor kurzem bedeutendes Aufsehen erregt, und das Ausschneiden der Notizen, die sich mit ihm beschäftigten, war vielleicht die einzige Maßnahme gewesen, die einen sachlichen Zusammenhang mit meinem Plane besaß. Was ich meine Vorbereitung nannte, bezog sich durchaus auf das andere, auf jene rätselhafte, schmerzliche und doch innige Verwirrung, die sich plötzlich wie ein Wirbel im stillen Wasser meiner bemächtigt hatte, und auf ihre Deutung als einen Ruf, der aus der Ferne kam.
Ich setzte mich in einen Wagen vierter Klasse, der überfüllt war mit Bauern aus dem Wesertal, kleinen Händlern und Marktfrauen, die hinter ihren Tragkörben kauerten. Als der Zug anfuhr, spürte ich, daß ich mich jetzt in einer neuen Lage befand wie ein Späher in Feindesland, der niemanden mehr hat, mit dem er sich unterhalten kann. Ich war zufrieden mit mir, denn ich hatte kaum geglaubt, daß ich mich bis an diesen Punkt bringen würde. Nur hatte ich ein wenig Angst, daß der Wunsch umzukehren in mir erwachen würde, und ich nahm mir das Versprechen ab, ihm unter allen Umständen zu widerstehen. Das Rollen und Schlagen der Räder machte mir Mut, und ich murmelte in ihrem Takte kurze Sätze, etwa »Umkehren ist ausgeschlossen!« vor mich hin.
Auch war mir die Gesellschaft neu, die sich, ohne mich zu beachten, lebhaft unterhielt und durch die Aus- und Zusteigenden mannigfaltigen Wechsel erfuhr. Zuweilen traten merkwürdige Gestalten ein, um kleine, verbotene Schaustellungen zu geben und, nachdem sie mit ihrem Hute die Runde gemacht hatten, am nächsten Haltepunkt wieder zu verschwinden – so ein ausgemergelter Geselle, der, nachdem er sich in einer überraschenden Ansprache wundersamer Künste gerühmt, einen schmalen Degen aus seinem Stocke zog und ihn mehrere Male bis zum Griff im Munde verschwinden ließ. Auch ein dicker, leutseliger Herr, der etwas betrunken war und mit kräftiger Stimme einige Lieder wie »Kehrt ein Student um Mitternacht« oder »Der Liebe geweihter Altar« zum besten gab, fuhr eine Strecke lang mit. So fand ich denn, in meine Ecke gedrückt, daß die Reise ganz gut begann, und die zwei Stunden bis zur Großstadt waren bald vorbei.
Auf dem Hauptbahnhof forderte ich eine Fahrkarte nach Trier und hatte dabei das Gefühl, eine so auffällige Handlung zu begehen wie etwa einer, der ein Billett nach dem Amazonenstrom verlangt. Allein der Mann am Schalter nahm zu meiner geheimen Freude ganz gleichgültig das Geld in Empfang und beantwortete ebenso gleichgültig meine Frage nach der Abfahrtzeit. Der nächste Zug in dieser Richtung fuhr erst mitten in der Nacht, und so gab ich denn meinen Rucksack ab, um in die Stadt zu gehen. Es regnete immer noch, und ich trieb mich eine Zeitlang planlos in den Straßen umher. Es kam mir darauf an, in Bewegung zu bleiben und die Zeit totzuschlagen, deren plötzlicher Überfluß mir lästig war.
Bald wirkte jedoch die Schwerkraft auf mich ein, mit der jede Großstadt sich den Obdachlosen unterwirft, um ihn an ganz bestimmte Punkte zu ziehen. Ich folgte dem Verkehr, der noch lebendig war, bis in die Hauptstraße, um endlich von einem jener überdachten Verkaufsgänge eingesogen zu werden, die man Passagen nennt und in denen man zu jeder Stunde auf Gestalten stoßen wird, deren einzige Aufgabe im Schlendern oder im Verweilen besteht.
Hier fühlte ich mich geborgener, zugehöriger – ich hatte bereits vorhin im Zuge unklar gespürt, daß es für einen, der auf Abenteuer zieht, einen leeren Raum nicht gibt, sondern daß er bald mit unbekannten Kräften Berührung gewinnt. Es wird ihm, allein durch die veränderte Art, sich zu bewegen, ein neues Treiben sichtbar, das dem Müßiggange, dem Verbrechen, dem Vagantentum gewidmet ist – eine breite und überall verteilte Schicht, die das bürgerliche Element begrenzt und ihn als Bundesgenossen in Anspruch zu nehmen sucht.
Dieser Ort, an dem die Straße etwas von der verdächtigen Wärme eines rot beleuchteten Hausflures gewann und die Geschäfte an die Schaubuden auf den Jahrmärkten erinnerten, schien mir wohl geeignet für jemanden, der sich auf der Flucht befand und der zuweilen verstohlen mit der Hand in die Hosentasche fuhr, um den angerauhten Griff eines sechsschüssigen Revolvers zu liebkosen.
Ich verbrachte einige Zeit damit, die zweifelhaften Postkarten zu studieren, die in ungeheuren Mengen hinter den Schaufenstern aushingen. Dann zog mich der grelle Eingang eines Wachsfigurenkabinetts an. Mit beklommener Neugier wandelte ich in vielen verwinkelten Räumen zwischen den starren Abbildern berühmter und berüchtigter Zeitgenossen umher, mannigfaltigen Beispielen für die beiden Richtungen, in denen man die Heerstraße des gewöhnlichen Lebens verlassen kann. Vor dem letzten Zimmer wurde noch ein besonderes Eintrittsgeld erhoben: eine Sammlung von anatomischen, elektrisch beleuchteten Gebilden war dort unter Glasstürzen aufgebaut. Unerhörte Krankheiten waren da mit blauen, roten und grünen Farben auf wächserne Körperteile gemalt. Bei den ganz schrecklichen dachte ich mit einer halb grausenden Befriedigung: »Die kommen gewiß nur in den Tropen vor!«
Dem Wachsfigurenkabinett gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges, lag ein erleuchtetes Restaurant. Beim Eintreten sah ich, daß es automatisch betrieben war. Die verschiedensten, für das Auge bunt zubereiteten Speisen standen auf runden Platten oder in kleinen Aufzügen zur Wahl, und man brauchte nur ein Geldstück einzuwerfen, um durch ein schnurrendes Uhrwerk bedient zu werden. Ebenso konnte man kleine Hähne veranlassen, alle Getränke, die man sich denken mochte, in ein daruntergehaltenes Glas zu sprudeln. Für den, der so, von unsichtbaren Kräften bedient, gespeist und getrunken hatte, standen andere Apparate bereit, die bunte Bilder zeigten oder in Hörmuscheln kurze Musikstücke ertönen ließen. Selbst der Geruchssinn war nicht vergessen, denn es gab auch sinnreiche Zerstäuber, aus denen man sich durch winzige Düsen wohlriechende Flüssigkeiten mit exotischen Namen auf den Anzug sprühen lassen konnte.
Die geisterhafte Bedienung schien mir äußerst bequem und wie geschaffen für einen, der triftige Gründe zur Zurückhaltung besitzt. Ich begann, verschiedene Salate und belegte Brötchen hervorzuzaubern, und trank dazu weit über den Durst, schon aus Neugierde, die Getränke mit den seltsamen Namen kennenzulernen. Ich sah mir die Bilder an, die eins nach dem andern herunterklappten, wenn man an einer Kurbel drehte, und denen man Überschriften wie »Der Besuch der Schwiegermutter« oder »Die gestörte Brautnacht« gegeben hatte. Dann ließ ich mir Musikstücke vorspielen und setzte die Parfümzerstäuber in Tätigkeit.
Diese Zerstreuungen bereiteten mir ein Vergnügen, das, wie jede Berührung mit der automatischen Welt, nicht ohne einen Stich von Bösartigkeit war. Ich wußte nicht, daß gerade an solchen Orten die Polizei ihre besten Fischgründe besitzt.
Es war hohe Zeit, als ich mich wieder zum Bahnhof begab. Der Zug wartete auf einem verödeten Bahnsteige, der vom weißen Licht elektrischer Bogenlampen überflossen war. Fast alle Wagen standen leer. Ich streckte mich auf eine Bank, legte meinen Rucksack unter den Kopf und breitete den Regenmantel über mich aus. Das Lager war hart und ungewohnt, allein ich war von den verschiedenen Likören halb betäubt, so daß ich schon fest eingeschlafen war, ehe die Fahrt begann.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ein Eisenbahner mit einer kleinen Lampe schüttelte mich und fragte nach meinem Reiseziel. Er sah mich mißtrauisch an, denn ich mußte erst meinen Fahrschein hervorsuchen, um ihm Auskunft geben zu können. Endlich brummte er:
»Hier ist Endstation! Anschluß um fünf Uhr früh!«
Ich nahm also meinen Rucksack auf und setzte mich in den leeren Wartesaal. Ich verspürte nun eine üble Nüchternheit, und auch an die Liköre hatte ich eine fade Erinnerung. Wieder kam mir der Einfall umzukehren, und wieder murmelte ich, allerdings schon bedeutend schwächer, mein »Rückkehr ist ausgeschlossen« vor mich hin. Allerlei lästige Gedanken tauchten auf, wie sie uns in den Morgenstunden solcher Unternehmungen zu beschleichen pflegen, so etwa der, daß es doch selbst in der Schule nicht langweiliger und ungemütlicher sei.
Ein anderer Umstand, der mich beunruhigte, lag in der Wahrnehmung, daß sich mein Zeitgefühl auf eine seltsame Weise zu verändern begann. So schien es mir ganz unglaublich, daß seit meiner Flucht noch nicht einmal ein voller Tag verstrichen war und daß, wenn ich zu Hause geblieben wäre, ich jetzt noch über vier Stunden im Bette liegen könnte, ehe Frau Krüger mich aus dem Schlafe wecken würde. Wie ich auch nachrechnen mochte – es blieb unzweifelhaft, daß ich mich nicht etwa schon seit einem Jahre, sondern erst seit wenigen Stunden auf dem Wege befand. Dieses Mißverhältnis hatte etwas Erschreckendes; es bestätigte mir mehr als alles andere, daß ich in ganz neue Bereiche eingetreten war.
Das Ungemütliche der Lage wurde gleichsam unterstrichen durch die Figur eines Stationsbeamten, der hin und wieder den Saal durchschritt, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und den eine Witterung von behaglicher Geschäftigkeit und frisch aufgebrühtem Kaffee umgab. Er trug seinen Dienstrock bequem aufgeknöpft, und ein stattlicher Pfeifenkopf, dem er mächtige blaue Wolken zu entlocken verstand, hing ihm an einem gebogenen Mundstück bis zur Brust herab.
Sein Anblick erfüllte mich halb mit Neid, halb fühlte ich mich auf eine merkwürdige Weise durch ihn erquickt, wie ein Wanderer durch ein Licht, das er in großer Ferne neben seinem Wege leuchten sieht.
Am frühen Vormittag war ich in Trier. Hier kaufte ich Proviant: Weißbrot, Butter, Wurst und eine Flasche voll Wein. Nachdem ich in einem Papiergeschäft noch eine »Radfahrkarte der weiteren Umgebung von Trier« erstanden hatte, setzte ich mich auf einer der nach Westen führenden Straßen in Marsch. Ich sah, daß es noch ein gutes Stück bis zur Grenze war, die ich unter großen Vorsichtsmaßregeln bei Nacht und möglichst in einem dichten Walde zu überschreiten gedachte. Diesen Übertritt stellte ich mir als den schwierigsten Teil des Unternehmens vor.
Der Marsch, der hügelauf, hügelab durch eine mit Gehöften locker besäte Herbstlandschaft führte, munterte mich auf. Ich setzte meine kurze Pfeife in Brand und gab mich allerlei angenehmen Träumereien hin.
Diese Pfeife, die mein unzertrennlicher Begleiter war, steckte ich freilich jedesmal, bevor ich ein Dorf durchschritt, wieder ein, denn ich besaß Selbstkritik genug, um zu ahnen, daß sie zu meiner Erscheinung in einem komischen Widerspruch stand, und ein scherzhafter Zuruf hätte mich in meiner Würde gekränkt, auf die ich hielt wie ein Spanier. Übrigens schmeckte mir der Tabak wenig, und ich wagte nicht, mir einzugestehen, daß er mir manchmal sogar ausgesprochene Übelkeit bereitete. Obwohl der Genuß also fast lediglich in der Phantasie bestand, diente das Rauchen doch sehr zur Erhöhung meiner Gemütlichkeit. So hatte ich, bevor ich auf die Afrikabücher verfallen war, an denen ich mich berauschte wie Don Quijote am »Amadis von Gallien«, zu den eifrigen Lesern des »Sherlock Holmes« gezählt, und es war mir stets unmöglich gewesen, einen Satz zu lesen, in dem der Detektiv wieder einmal bedächtig seine kurze Pfeife entzündete, ohne daß ich sogleich eine Pause eingelegt hätte, um ihn durch ein Brandopfer zu bestätigen.
Während des Marsches hatte ich gut Zeit, mich mit meinen Ideen zu beschäftigen. Es waren vor allem zwei ganz verschiedenartige Einbildungen, in die ich mich versponnen hatte; sie erscheinen mir heute sonderbar genug, und es fällt schwer, ihnen aus einem veränderten geistigen Zustand heraus auch nur in ihren Umrissen Leben zu verleihen.
Die erste von ihnen bestand in einem starken Hange zur Selbstherrlichkeit, das heißt, in dem Wunsche, mir das Leben von Grund auf so einzurichten, wie es meinen Neigungen entsprach. Um diesen äußersten Grad der Freiheit zu verwirklichen, schien es mir nötig, jeder möglichen Beeinträchtigung aus dem Wege zu gehen, im besonderen jeder Einrichtung, die eine, wenn auch noch so entfernte, Verbindung zur zivilisatorischen Ordnung besaß.
Es gab da Dinge, die ich vor allem verabscheute. Zu ihnen gehörte die Eisenbahn, dann aber auch die Straßen, das bestellte Land und jeder gebahnte Weg überhaupt. Afrika war demgegenüber der Inbegriff der wilden, ungebahnten und unwegsamen Natur und damit ein Gebiet, in dem die Begegnung mit dem Außerordentlichen und Unerwarteten noch am ehesten wahrscheinlich war.
Dieser Abneigung gegen den gebahnten Weg gesellte sich eine zweite und nicht minder heftige gegen die wirtschaftliche Ordnung der bewohnten Welt. In diesem Sinne galt Afrika mir als das glückselige Land, in dem man vom Erwerb, und im besonderen vom Gelderwerb, unabhängig war. Man lebte da meiner Meinung nach auf eine andere Art, von der Hand in den Mund, indem man sammelte oder erbeutete. Diese unmittelbare Art, das Leben zu fristen, schien mir jeder anderen weit vorzuziehen. Schon früh war mir aufgefallen, daß alles in diesem Sinne Erbeutete, etwa ein in verbotenen Gewässern geangelter Fisch, eine Schüssel voll Beeren, die man im Walde gesammelt hatte, oder ein Pilzgericht in einer ganz anderen und bedeutenderen Weise mundete. Solche Dinge spendete die Erde in ihrer noch nicht durch Grenzen abgeteilten Kraft, und sie hatten einen wilderen, durch die natürliche Freiheit gewürzten Geschmack.
Auf diese Weise gedachte ich mir da drüben ein herrliches Leben zu bereiten, um so mehr, als ich auf den Beistand der Sonne rechnete. In einem Lande, das tagaus, tagein eine starke, wärmende Sonne erleuchtete, konnte man, wie ich glaubte, weder betrübt noch unzufrieden sein.
Auch wußte ich bereits, was ich mit dieser neuen Freiheit beginnen wollte. Zunächst war da das gefährliche Abenteuer, das nach allem, was ich gehört und gelesen hatte, nicht lange auf sich warten ließ. Ich zog seinen Kreis sehr weit und rechnete selbst den Hunger den Abenteuern zu. Konnte mir denn da drüben etwas zustoßen, das nicht abenteuerlich war? Für die Zerstreuung war also wohl gesorgt.
Dann aber gedachte ich mich durch die Betrachtung zu erfreuen. Ich strebte einem Lande zu, in dem alles bedeutender war. Sicher waren dort die Blumen größer, ihre Farben tiefer, ihre Gerüche brennender. Es schien mir jedoch, als ob die Leute, die das Glück gehabt hatten, in jenen Gegenden weilen zu dürfen, sich über diese Dinge ausschwiegen. Wenn man hört, daß einer einen Fisch gefangen hat, so möchte man doch das Tier mit jeder Faser, mit jeder Schmelzschuppe und mit jedem Farbspritzerchen sehen. Man möchte sich die Finger an den stachligen Auswüchsen seines Kopfes blutig ritzen und seinen Leib eng mit den Händen umspannen, um zu prüfen, wie glatt und feucht die Häute, wie stark und geschmeidig die Muskelzüge sind. Ich nahm mir vor, das nicht außer acht zu lassen, und gab mir das Versprechen, daß ich immer, wenn mir so ein fremdes Bild entgegentreten würde, wenigstens für einen Augenblick den Atem anhalten wollte, um dessen eingedenk zu sein, und sollte es mir auch noch so schlecht gehen.
Als ich an die Beeren oder an die Früchte dachte, die den unseren entsprechen mochten, schoß mir durch den Kopf, daß ich vielleicht am besten tun würde, mich drüben gleich nach der Landung abzusondern, um an der wilden Küste entlangzugehen. Man konnte dort von Muscheln leben, deren es doch an jedem Meeresstrand in Hülle und Fülle gab. So zeichnete sich bereits ein neuer Fluchtplan in den alten ein.
Eine andere Frage, die mich beschäftigte, war die, ob ich mir einen Kameraden suchen sollte oder nicht. Ich hielt es für schwierig, einen Begleiter zu finden, und das hing wohl damit zusammen, daß mir ein Mensch von zwanzig Jahren schon sehr alt erschien und im Grunde unfähig zu wirklichen Erlebnissen. Ich war immer geneigt, Mangel an Teilnahme und Abgestumpftheit gegenüber den Dingen vorauszusetzen, und vor allem eine Art der überlegenen Ironie, die ich scheute wie Brennesseln. Schon aus diesem Grunde war ich bestrebt, meine Flucht ganz abzudichten, denn ich wußte wohl, daß sie vielleicht für jeden anderen den Anstrich des Lächerlichen besaß. Gerade hiervor hatte ich Angst – so bereitete mir der Gedanke, daß man an der Grenze vielleicht auf mich schießen würde, ebensoviel Vergnügen, wie mich auf der anderen Seite die Aussicht beunruhigte, daß mich etwa ein friedlicher Zöllner in aller Gemütlichkeit festnehmen und abliefern könnte.
Immerhin spürte ich das Bedürfnis nach Mitteilung, das Bedürfnis, mich zuweilen einem Geiste von starkem und durchdringendem Verständnis anzuvertrauen, der die geheimen Wurzeln unserer Pläne und Taten mühelos erfaßt. Das bringt mich auf die zweite Einbildung, von der ich sprach: sie bestand darin, daß ich in der Tat wähnte, einer solchen geistigen Verbindung teilhaftig zu sein. Gern hätte ich dieses Verhältnis dem so skeptischen und gebildeten Leser des 20. Jahrhunderts unterschlagen, allein es gehört nicht nur zur Vollständigkeit, sondern auch zum Verlaufe des Berichts. Seine Vorgeschichte reichte weit in die Kindheit hinein und in die Zeit, in welcher der innere Horizont durch die Künste des Lesens und Schreibens noch keine Einschnürung erfahren hat.
Ehe wir daher die beschauliche Wanderung zur westlichen Grenze fortsetzen, ist wohl ein kurzer Rückblick angebracht.
Ich lag in meiner kleinen Kammer, die durch mein Bett und zwei große Schränke fast ausgefüllt wurde, und war noch vollkommen wach. Die Großmutter war zu Besuch gekommen und saß mit meiner Mutter in einem Nebenzimmer, dessen Tür geöffnet war. Ich sah durch den breiten Spalt den matten Lichtstrahl der mit einem roten, gekräuselten Seidenschirm verhüllten Lampe und hörte dem Gespräch der beiden Frauen zu, das sich mit allerlei Wirtschaftssorgen beschäftigte.
Indem ich so lauschte, wurde ich durch ein fremdes Geräusch überrascht, und zwar durch ein leises, langsames und gedämpftes Trommeln, das offenbar nicht im Nebenzimmer, sondern dicht neben meinem Bett erscholl. Allerdings ist das Wort Überraschung nicht ganz zutreffend, denn das Geräusch war zunächst so schwach, als ob Sandkörner auf ein Trommelfell fielen, aber der Anschlag steigerte sich langsam und eindringlich. Jedenfalls wurde ich keineswegs erschreckt; die Töne glichen einem Vorspiel, durch das der Sinn des Hörers verändert und auf ein besonderes Ereignis vorbereitet wird.