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Dietmar Bittrich (Hg.)

Aber erst wird gegessen

Schon wieder Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Dietmar Bittrich (Hg.)

Dietmar Bittrich lebt in Hamburg. Bei Rowohlt veröffentlichte er unter anderem «Das Weihnachtshasser-Buch», «Lasst uns roh und garstig sein» und «Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft». Bittrich ist tragisch vorbelastet. Sein Urgroßvater gründete vor hundert Jahren Deutschlands ersten Weihnachtsmannservice.

Über dieses Buch

Eben erst haben wir ihre Geschenke entsorgt, da stehen sie schon wieder auf der Matte: unsere Cousinen, Schwäger und Tanten, Onkel und Patchwork-Verwandten. Schöner sind sie nicht geworden. Was sie erzählen, kennen wir längst. Ihr Gesang ist dünn, ihre Gaben sind dürftig. Dafür wollen sie auf unsere Kosten ausgiebig essen und trinken. Die Kinder ziehen sich an piepende Tablets zurück, Oma hält es für ihren Geburtstag. Wir nennen es Weihnachten und sind fest entschlossen zu überleben.

Mit Tilman Birr, Frau Freitag & Frl. Krise, Sebastian Schnoy, Sören Sieg und vielen anderen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Illustration: Patrick Wirbeleit)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-63050-7

ISBN E-Book 978-3-644-49911-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-49911-9

Sebastian Schnoy

Die Bescherung verzögert sich um voraussichtlich zehn Minuten

Als Leo und ich aus dem Taxi stiegen, spürten wir, wie dicht Berlin geographisch an Russland lag. Der Eiswind blies auf den wenigen Metern zwischen Auto und Hauptbahnhof den letzten Funken Wärme aus uns heraus. Es war früher Nachmittag am 24. Dezember, und der Wind fand auch einen Weg durch sämtliche fünf Etagen des Bahnhofs, deren höchste wir erklimmen mussten.

«Papa, das ist kalt.»

Das stimmte, aber ich konnte ihn nicht auf den Arm nehmen, da ich schon eine Reisetasche voller Schlafanzüge und «Shaun das Schaf»-DVDs, zwei Tüten vom Kadewe, gefüllt mit Geschenken und Château-Coulon-Flaschen und einen Aluminium-Trolley schleppte.

«Warum geht das nicht?», rief Leo und meinte die Rolltreppe.

«Die ist kaputt.»

«Warum ist die kaputt?»

«Sie ist alt», sagte ich und dachte, dass sie eben nicht alt sei, sondern so neu wie das restliche Gebäude. Bei meiner letzten Reise war der Zug nach Hamburg auf dem obersten Gleis abgefahren, auf dem schönsten Bahnsteig, überwölbt von einem langen Glasdach mit Blick über die Stadt, nun war nur noch ein kurzes Stück von ihm betretbar, dann stand man vor einer Absperrung.

«Hier oben fährt heut jar nichts mehr, det Dach is kaputt, da fallen die Platten runter.»

«Ist das alt?», fragte Leo, aber der Mann in Uniform hörte es nicht, er hatte den Kopf in den Wind gedreht und die Augen zugekniffen.

«Nach Hamburg? Da müssen Se in den Keller, am besten gleich, bevor hier noch was runterfällt.»

Unten war noch Zeit für eine große Kinderenttäuschung. Leo hatte mich überredet, dass es absolut überlebenswichtig war, aus einem Automaten ein Twix zu ziehen. Man sagt immer, dass man, wenn man Kinder hat, seine eigene Kindheit noch einmal nacherlebt. In diesem Moment stimmte das. Die verdreckten Automaten auf dem Bahnsteig waren für mich über dreißig Jahre aus gutem Grund nicht mehr der Ort, an dem ich mich mit Essbarem versorgte; warum, wurde mir schlagartig klar, als ich knapp über einen Euro für das Twix in den Schlitz gesteckt hatte und Leo erwartungsvoll durch die Glasscheibe schaute. Auf Regalen waren die verschiedenen Riegel in eine vertikale Metallspirale gesteckt, die sich nun zu drehen begann, worauf das Twix immer weiter nach vorne rutschte und schließlich über die Kante fallen sollte. Keine zwei Sekunden später musste ich ein Trauma neu erleben, das mich genau in Leos Alter eine Menge Urvertrauen gekostet hatte. Wenige Millimeter vor der Kante blieb die Spirale stehen und damit auch das Twix, früher Raider genannt, an seinem Platz, eben ohne über die Kante hinab in einen Auffangtrog zu fallen, zu dem man durch eine Klappe hindurch mit der Hand greifen konnte. Er verstand nicht den Ernst der Lage.

«Noch mal!», rief er.

«Auf Gleis 8 fährt jetzt ein …»

Es gab kein Nochmal. Sicher war es nicht vorbildlich, als Vater wild fluchend auf den Automaten einzutreten, die Scheiben waren wie schon 1974 aus Panzerglas. Ich würde die Firma verklagen und mich mit den Mitteln eines gut vernetzten Erwachsenen wehren, das schwor ich mir, und es dauerte lange, bis Leos Tränen getrocknet waren. Wenigstens gab es die PEZ-Automaten nicht mehr. In meiner Kindheit hingen sie noch an jeder Ecke und wurden ab irgendeinem ominösem Datum – vielleicht der Ölkrise? – nicht mehr nachgefüllt. Es begann eine Zeit, in der ich immer wieder mal mit dem Rest meines kindlichen Urvertrauens zwanzig Pfennig hineinsteckte und sich nichts rührte. Seitdem bin ich bei allem skeptisch. Was konnte ich für Leo tun? Seine Fragen beantworten, auch wenn er gerade in der anstrengenden Warum-Phase war.

«Warum ist der kaputt?», fragte er.

«Weil es der Firma egal ist.»

«Warum?»

«Weil die nur ihre Kohle machen wollen und es ihnen auch egal ist, wenn Kinder wie du weinen.»

«Warum?»

«Das ist im Kapitalismus so. Die Gemeinen verdienen viel Geld und werden reich, und die Ehrlichen bleiben arm, und das wird sich wohl nie ändern.»

«Warum?»

«Weil sie sich nicht wehren, so wie wir. Unser Geld steckt im Automaten und das Twix auch. Es müsste eine Revolution geben, aber sie wird nie kommen.»

«Warum?»

Es hatte keinen Zweck. Ich ging wieder dazu über, nicht jede Frage zu beantworten, auch wenn das pädagogisch fragwürdig sein soll.

«Nicht immer ‹Hm› sagen», forderte er schließlich im Abteil, und, ja, ich hatte an diesem Tag schon viele Male «Hm» gesagt. Als der ICE der neuesten Baureihe eingefahren war («Der ist nicht alt, oder? Der ist ganz neu, oder?»). Auf dem Weg zu den Plätzen 68 und 69, als er bei jeder Sitzreihe fragte: «Sind das unsere?» Hm, hm, hm, nicht immer «Hm» sagen. Bald würden wir am Hamburger Dammtor auf meine Eltern und meine Frau treffen, die schon als Unterstützung vor Ort war, und mir wurde bewusst, wie anstrengend es sein würde, wenn wieder alle gleichzeitig redeten. Denn in meiner Familie wurde zwar viel geredet, aber meistens nicht miteinander, sondern durcheinander.

«Na, Kleiner, da bist du ja», würde meine Mutter frohlocken und mein Vater brummen: «Wir müssen schnell los, das Parkticket ist abgelaufen, am Ende schleppen sie uns noch ab.»

Sie: «Ich muss noch schnell zu Wegner wegen der Baguettes, die ich bestellt habe.»

Er: «Zwei Euro für zwanzig Minuten, das ist einfach Wucher. Was ist nur los mit dieser Stadt?»

Dazu käme noch meine Frau.

«Hallo, Schatz! – (kleiner Kuss und Lächeln, routiniert, aber immer noch aufrichtig) – Was ist denn das für ein T-Shirt? Ich hatte doch alles für Leo rausgelegt, das schöne Hemd und die dunkle Jeans?»

«Die von Wegner sind einfach die krossesten. Einmal habe ich welche bei Kamps gekauft, das ist wirklich kein Vergleich. Gib mir deine Tasche. Kein Vergleich! Na, Leo, ich hab für dich ’ne Überraschung zu Hause.»

«Pure Abzocke, als wenn wir nicht schon genug Steuern zahlen.»

«Was für eine Überraschung?»

«Dieses T-Shirt ist völlig okay, wir müssen ihn eh noch mal umziehen. Ist alles im Koffer.» Das wäre ich, an meine Frau gerichtet, und zu meinem Vater: «Bist du nicht Rentner? Seit wann zahlen die Steuern?» Ich hatte mir angewöhnt, in Gesprächen mit meinem Vater nur noch Fragen zu stellen, die seine Position in Frage stellten. Hatte nicht Sokrates auf diese Weise seine intellektuelle Überlegenheit gezeigt? In meinem Fall war es sinnlos, denn kaum war ich bei meinen Eltern, wurde auch mir nicht mehr zugehört.

«Was für eine Überraschung?»

«Allein, was die mit der Mehrwertsteuer einnehmen, die zahle ich ja wohl auch. Zuletzt fast zweihundert Euro Mehrwertsteuer für diesen Kärcher. Das ist wirklich ein Skandal.»

«Sag die Überraschung!»

«Hast du Leos Schnuffelhasen mit? Nicht? Na, das gibt noch ein Theater heute Abend.»

«Früher hatten wir vierzehn Prozent, ist noch gar nicht lange her, und jetzt …»

«Wirst schon sehen.»

«Neunzehn!»

«Sag sie jetzt!»

 

Das Durcheinander von vier Menschen, die einfach ihre Geschichte weitererzählten, egal, ob irgendjemand zuhörte, es irgendwie zu dem passte, was vorher gesagt wurde – es war für mich in diesem Moment nur ein Hintergrundrauschen, eine ferne Melodie, die indes mit jedem Kilometer nach Hamburg gewisser werden sollte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diese mich sonst schnell ermüdende Familiensuppe heute noch sehr vermissen würde. Bis jetzt saßen Leo und ich allein an einem Tisch im Großraumwagen und warteten mit vielen anderen auf die Abfahrt. Als der Zugbegleiter schon seine rote Karte in die Luft hielt, sich die anderen Türen piepend und mit schwerem Wumms geschlossen hatten und nur seine geöffnet blieb, sprang noch ein Mann mit einem großen Geschenkpaket in den Waggon und setzte sich an unseren Tisch, gegen die Fahrtrichtung, am Gang. Ein Platz, der nie reserviert wurde und stets bis zum Schluss frei blieb. Er grüßte nicht, er telefonierte, während er mit einer Hand Gepäck auf der oberen Ablage verstaute.

«Sagen Sie Herrn Schwaake, er soll die Verpflichtung auf die Termine in den Vertrag reinnehmen, sonst machen wir das nicht. Die garantierten Termine, die sind wichtig.»

«Warum schreit der Mann so?»

Der Bahnhof Spandau flog an uns vorbei, und mit jedem Kilometer wurde die Netzverbindung schlechter, als müsste der Zug Sibirien durchqueren, aber es waren nur das sibirisch kalte Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, fast dreihundert Kilometer Strecke, auf der man keinen wirklichen Ort durchquerte, nichts, wo es sich anzuhalten lohnte, bei abendlichen Zügen fast nur einer dunklen Wand entgegenfuhr wie in dem nicht enden wollenden Tunnel in Dürrenmatts gleichnamiger Erzählung.

«Hm.»

«Nicht hm sagen, warum schreit der Mann so?»

«Wahrscheinlich ist die Verbindung schlecht.»

«Ja, sag ich doch. Die Termine müssen sicher sein. Meine Verbindung ist schlecht. Wir fahren jetzt durch den Osten. Den Osten! Ja, auf jeden Fall. Sonst sagen Sie Frau Dahlke, dass ich mich am 27. bei ihr melde. Ein Sonntag? Ja, dann am 28. oder, ach wissen Sie was, das machen wir alles im nächsten Jahr.»

Er atmete durch, als sei das nächste Jahr erst nächstes Jahr, aber es war schon nächste Woche. Leo schaute aus dem Fenster ins Dunkel.

«Wo sind wir?»

«Ich weiß nicht, irgendwo zwischen Berlin und Hamburg.»

Der Mann probierte es noch mal.

«Ach, eins noch, Nicole, ist der Revisionsbericht gekommen? Den muss ich sofort haben. Und wir sollten uns möglichst schnell mit den anderen treffen und das durchgehen, damit wir die richtigen Antworten haben, wenn gefragt wird. Nicole? Frau Huber?»

Der Mann ließ das Handy auf den Tisch fallen, mit einer enttäuschten Geste, als habe es ihn im Stich gelassen. Seine letzten Sätze waren zum Selbstgespräch geworden.

«Die Verbindung ist schlecht», wiederholte Leo.

Und der Mann fragte: «Wie heißt du denn?»

«Leo.»

In Wittenberge hielt der Zug, allein, eine Stadt konnte man im Schneetreiben nicht ausmachen. Stieg überhaupt jemand aus? Lange ging niemand an unserem Fenster vorbei, dann doch noch ein kleiner runder Mann, der einen riesigen mit Gürtel umschlungenen Trolley hinter sich herzog. Es lag Schnee auf dem Bahnsteig, und er zog mit dem Koffer eine Spur hinein, keine Rollenspur, da die Rollen längst blockierten, eher eine Schleifspur. Die Schleifspur eines Neandertalers, der ein erlegtes Wildschwein durch den Wald zog. Dann ging die Fahrt weiter, rauschend durch das Dunkel dieses Dezembernachmittags. Leo las ein Buch mit einer unbekannten Piratengeschichte, und kurz nach einer Durchsage mit einer Aufforderung zum Besuch des Speisewagens, in dem es nun heißen Kaffee und zum Beispiel ein Stück Käsetorte gebe, wurde der Zug immer langsamer, bis er schließlich hielt. Auf freier Strecke, wie man so schön sagt. Die Katastrophe hörte sich zunächst nach Routine an:

«Unsere Weiterfahrt wird sich um wenige Minuten verzögern.»

Das war die neue Informationspolitik. Schon die geringste Abweichung vom Fahrplan wurde kommuniziert. Mein Verhältnis zur Bahn ist gelassen, ich bin niemand, der sich ständig aufregt. Dagegen ist mir die Milde ein Rätsel, die die meisten bei Autoreisen haben. Ein «Was? Ihr seid 750 km von München nach Hamburg gefahren und habt jetzt eine halbe Stunde Verspätung? Was war denn da los?» hört man nie. Aber jetzt im Zug dachte sicher jemand: «Was, schon wieder einige Minuten Verzögerung? Jetzt reicht’s! Wenn man alle Minuten Verzögerung der Bundesbahn im Jahr zusammenrechnet, wie viele Menschenleben sind das? Können Sie mir das erklären? Häh?» Aber für mich bedeuteten wenige Minuten nichts. Um kurz nach drei waren wir in den Zug gestiegen, um kurz vor fünf würden wir ankommen. Und ob nun um 18 Uhr das Glöckchen für die Bescherung schellte oder wenige Minuten später? Das war mir egal, sofern ich ein Glas guttemperierten Château Coulon in der Hand hielt.

«Wann fahren wir weiter?», fragte Leo.

«Gleich, in wenigen Minuten, hat der Mann gerade gesagt.»

Die anderen Reisenden verwandelten den Waggon in ein Wohnzimmer, gleich auf mehreren Tablets liefen Spielfilme, vor denen Zuschauer mit Kopfhörern konzentriert schauten; an einem anderen Tisch saßen ebenfalls Kinder in Leos Alter und spielten ein Spiel, bei dem jede Minute einmal laut gelacht wurde. Ein Herr, der sich wohl dachte, man könne die gut neunzig Minuten Fahrt einen riesigen Rucksack auf den Beinen behalten, trank eine Dose Bier, und unser Geschäftsmann versuchte mit seinem iPad ins Netz zu gehen, aber auch wenn der Zug hielt, das Netz tauchte nicht auf. Filme hatte er wohl keine zur Entspannung dabei, und so ließ er auch dieses Gerät resigniert auf den Tisch rutschen und schaute aus dem Fenster, wo es nichts zu sehen gab.

«Aufgrund eines technischen Problems wird sich unsere Weiterreise um circa zehn Minuten verzögern.»

Als Vielreisender wusste ich, dass man auf solche Ansagen nichts geben konnte, sobald sie mit einem technischen Problem kombiniert wurden. Die Bahn rückt immer erst nach und nach mit der Wahrheit heraus. Ich habe einmal auf einen Zug gewartet, der drei Stunden Verspätung hatte und dann gar nicht kam. Rein psychologisch ist es am besten so, wie die Bahn es macht. Es werden immer nur zehn weitere Minuten Verspätung eingestanden. Das stärkt die Moral. Jeder mag denken: «Was, noch zehn Minuten später? Aber dann reicht es auch! Also gut, zehn Minuten.» Selbst wenn der Zug entgleist ist, weil Terroristen eine Elbbrücke gesprengt haben, alle Waggons auf der Seite liegen und der Lokführer mit der Brezelverkäuferin getürmt ist, wird der Zugchef dem Schaffner zuraunen: «Sag erst mal ‹Zehn Minuten›.» Die Bahn sollte Gefängnisse betreiben; es wäre gut für die Zufriedenheit der Insassen, wenn sie nicht in der Erwartung eines vieljährigen Aufenthaltes dort ausharren müssten, sondern zunächst mal nur eine Woche, das geht doch noch, darauf kann man sich einstellen. Was, noch eine Woche? Na gut, aber dann ist hoffentlich Schluss.

«Verehrte Fahrgäste, wegen eines technischen Defekts verzögert sich unsere Weiterfahrt um weitere zehn Minuten.»

Dicke Flocken fielen vor dem Fenster hinab, und trotzdem hatte ich immer die Erwartung, Leo und ich würden heute in Hamburg an einem Sommertag aussteigen. Das lag daran, dass ich das letzte Mal an einem heißen Sommertag dort ausgestiegen war und mein Gewohnheitsgehirn nun davon ausging, auch alle weiteren Tage am Dammtorbahnhof müssten sonnig sein, voller Menschen in T-Shirts und mit langer Schlange vor der beliebten Eisdiele.

Schließlich erklang die sechste Zehnminutendurchsage, was hieß, dass wir schon eine ganze Stunde Halt auf freier Strecke verbrachten. Zwischendurch verbreitete die ebenfalls über Lautsprecher verbreitete Aufforderung zu Kaffee und Kuchen im Speisewagen den Anschein von Normalität. Eine Stunde. Wir würden erst gegen 18 Uhr ankommen, wenn eigentlich das Glöckchen unter dem Weihnachtsbaum klingeln sollte.

Der Geschäftsmann stöpselte sein Handy in die Steckdose und sagte dann mit schräger Falte auf der Stirn: «Sie sind tot.» Er hatte dabei einen bedrohlichen Tonfall, genau den, mit dem in Edgar-Wallace-Filmen nach dem Abheben des Telefonhörers gesagt wird: «Die Leitung ist tot.» Allerdings waren unsere Telefone tatsächlich tot, es gab kein Netz, mit oder ohne Strom, das spielte keine Rolle mehr. Wie lange würde Leo das Spiel mit diesem hüpfenden Ding auf meinem Handy spielen können, bevor auch dort der Saft ausgehen würde?

Eine weitere Durchsage erhöhte die Bedrohungslage: «Verehrte Fahrgäste, wegen des Ausfalls der Kühlung im Speisewagen können wir Ihnen dort nur noch kalte Speisen anbieten.» Obwohl ich mich insgeheim gerne zu den Intellektuellen zähle, brauchte ich lange, bis ich Logik in diese Ansage bringen konnte. Die Kühlung fällt aus, und deshalb gibt es nur noch kalte Speisen? Warmes Bier, das hätte ich verstanden. Im Übrigen konnte man in unserer Lage einfach den Inhalt des Kühlschranks neben den Zug in den Schnee legen, wer weiß, wie lange wir noch hier bleiben mussten.

Es war sicher nicht der richtige Moment, unsere Vorräte leichtfertig zu schmälern. Wenn nach einer Woche ein Hungriger in den Speisewagen kommen würde, der zuvor einen Teil der Warteschlange getötet hatte, um überhaupt nach vorne durchzudringen, und dann zu allem entschlossen eine Lasagne bestellte, dann war als Antwort des Kellners sicherlich besser: «Moment, ich gehe kurz nach draußen und schaue unter dem Zug, wir haben ja minus vierzehn Grad, da ist alles noch frisch», als: «Tut mir leid, wegen des Ausfalls der Kühlung können wir die Haltbarkeit der Speisen nicht gewährleisten.»

Neben uns, auf der anderen Fensterseite, saß eine Frau. Sie hatte ihre Pumps ausgezogen, die Füße auf den Sitz hochgelegt und darauf einen Pullover ausgebreitet. In ihrem Rock und der Bluse sah sie schon etwas festlich aus. Vor ihr auf dem Tisch, an dem sich vier Sitze befanden, lag ein in Papier verpackter Blumenstrauß. Sie versuchte zu schlafen, vielleicht das Beste, was man tun konnte, bis wir endlich da waren, aber es wurde kühl im Abteil, und sie zog ihre Jacke wieder an und versuchte sich wie ein Tier vor dem Winterschlaf in die bestmögliche Position zu bringen. Der extrem dicke Kerl, der ebenfalls an ihrem Tisch saß, hatte noch gar nichts mitbekommen, da er die ganze Zeit auf den Bildschirm eines monströsen Notebooks starrte, auf dem irgendein Spiel lief, das sein Gesicht im Sekundentakt mit verschiedenen Farben beleuchtete. Die Frau war schön, er sah es nicht.

«Mir ist kalt», sagte Leo, und ich zog ihm einen Pullover an.

«Oh, Mann, wann fahren wir endlich weiter?», fragte er.

«In zehn Minuten, haben sie doch eben gesagt.»

Es schien, als sei wirklich auch die Heizung ausgefallen, zumindest wurde es immer kälter im Wagen, und es bildete sich Feuchtigkeit an den Scheiben, weil die Luft weniger Wasser speichern konnte. Langsam wurde auch mir die Situation unangenehm. Vielleicht könnte ich mit Leo einfach durch den Wald stapfen, warme Sachen hatten wir. Wenn es ein Dorf in der Nähe gab, konnte man von dort ein Taxi nehmen. Doch was, wenn wir nirgendwo ankämen? Ich dachte an die alte Geschichte, in der ein Vater mit seinem Sohn und einem Pferd im Winter durch den Wald wanderte, und als sich abzeichnete, dass das Kind erfrieren würde, erschlug er mit der Axt das Pferd und legte das Kind in den dampfenden Leib, auf dass es warm bleibe, bis er Hilfe holen konnte.

Wie kam ich nur auf solche Gedanken? Ich hatte doch nicht mal ein Pferd. Vielleicht konnte ich den dicken Typen, der die ganze Zeit am PC spielte, überreden mitzukommen? Nur für den Notfall? Die kleine Dame mit den Pumps würde keine hundert Meter im Wald schaffen, selbst für die geplante Strecke vom Bahnsteig bis zur U-Bahn schien die Schuhwahl sehr gewagt. Dagegen war der Mann mit dem Rucksack geradezu ideal ausgerüstet für einen Notfall. Als Einziger trug er Wanderschuhe, dazu eine Kapuzenjacke von Jack Wolfskin. Er würde auch in einem Rudel Wölfe überleben.

«Ne, näh, jetzt ist auch noch die Heizung im Arsch, was für ein Scheißladen!», rief jemand in unserem Großraumabteil, den ich noch nicht wahrgenommen hatte.

«Scheiße sagt man nicht», sagte Leo zu mir.

«Stimmt, und Arsch auch nicht.»

«Arsch sagt man nicht?»

«Nein, das ist unhöflich.»

Immer mehr Jacken wurden angezogen. Meine Uhr zeigte halb sechs.

«Ich will nicht noch einen Pullover.»

«Zieh ihn an, du hast schon ganz kalte Hände.»

Sobald es ein größeres Problem gibt, ist niemand Verantwortliches mehr zu sehen. Es hätte reichlich Zeit gegeben, die Tickets zu kontrollieren, doch sie blieben ungeknipst und ungeprüft. Erst nach einer internen Durchsage mit einem Buchstabencode, den ich nicht verstand, kam ein Schaffner auf uns zu.

«Was ist das überhaupt für ein Service!?», schrie der Businessmann an unserem Tisch den verschreckten Bahner an.

«Wir stehen hier jetzt geschlagene neunzig Minuten herum, und man sagt uns einfach nicht, warum wir hier stehen. Technisches Problem, technisches Problem, ich möchte wissen, WAS FÜR EIN TECHNISCHES PROBLEM! Das ist doch kein Geschäftsgebaren, so geht man doch nicht mit seinen Kunden um. Ich bin Comfortkunde, ich habe die Netzkarte, und so etwas wie heute…»

«Warum schreit der Mann so?»

«Er ist mit dem Service nicht zufrieden.»

«Wieso ist die Heizung ausgefallen?», rief einer von hinten.

«Wieso fahren wir nicht weiter? Menno!», sagte Leo.

Der Schaffner schaute einen Moment angstvoll, wartete die Beschimpfungen ab und ging dann wortlos weiter. Er erinnerte an den Kapitän in der Verfilmung des Untergangs der Titanic. Der hatte im Angesicht der Katastrophe auch nicht mehr auf Ansprache reagiert, sondern sich auf seinem Kommandostand eingeschlossen und auf das Wasser gewartet. Würde sich unser Schaffner im Dienstabteil mit dem Vierkantschlüssel einschließen und auf den Kältetod warten? Oder darauf, dass die in Ostdeutschland wieder heimischen Wölfe durchs Fenster kommen und ihn holen würden?

«Papa, mir ist kalt.» Jetzt noch die Jacken, aber mehr hatten wir nicht. Um sechs war definitiv klar, dass die Bescherung in diesem Jahr ausfallen würde. Standen meine Eltern noch am Bahnhof? Was machte meine Frau? Fragen konnte ich sie nicht.

«Verehrte Fahrgäste, hier spricht der Lokführer. Wegen eines Triebwerksschadens kann unser Zug die Fahrt nicht fortsetzen. Wir warten auf einen Ersatzzug auf dem Nachbargleis. Er wird in circa zehn Minuten eintreffen.»

Im Abteil brandete Applaus auf, der Applaus der Verzweifelten.

«Zehn Minuten», dachte ich, «darauf kann man sich einstellen.» Eigentlich hätten wir um diese Zeit schon mit meiner Familie unter dem Tannenbaum gesessen, durcheinandergeredet und Leo dabei zugeschaut, wie er seine Murmelbahn aufbaut. Ich hätte zu dieser Stunde längst ein Glas Château Coulon in der Hand gehabt. In diesem Moment kramte die kleine Dame gegenüber vier Kerzen aus ihrer Tasche, befreite sie von Geschenkpapier und ließ sich von mir Feuer geben. Sie hat recht, dachte ich und zog den Château Coulon aus der Tüte. Auf meine in den Raum gerufene Frage: «Verzeihen Sie, hat irgendjemand einen Korkenzieher?», kam Leben in den Großraumwagen. Plötzlich wurde überall geraschelt. Der Mann mit den Wanderstiefeln streckte mir ein Schweizer Offiziersmesser entgegen. Er bekam dafür den guten Tropfen in seinen Klappbecher kredenzt. Die kleine Dame ließ sich auf ein Gläschen einladen, das heißt auf einen Schluck, den ich ihr in den Deckel ihrer Thermoskanne goss, der Businessmann schob einen leeren Pappbecher herüber, in dem sich vor langer Zeit einer jener scharfen Bahnkaffees befunden hatte, mit denen man auch prima Möbel abbeizen kann. So stießen wir an, ich mit der Flasche.

«Sag mal, Leo, möchtest du dein Geschenk schon jetzt haben? Das kann hier noch dauern», fragte ich.

«Ja!»

Waren es die Kerzen? War es die Bewegung der Leute? War es der Château Coulon? Oder ging die Heizung wieder? Es wurde mir warm ums Herz. Leos Augen leuchteten angesichts der Kugelbahn. Der Businessmann schien Ingenieur zu sein, er kannte sich mit der Konstruktion von Kugelbahnen bestens aus. Leo ließ sich gerne helfen und nahm Schokolade von der kleinen Dame an.

«Ausnahmsweise», sagte ich.

Und als irgendein Idiot das Lied «Oh Tannenbaum» anstimmte, sangen viele mit. Leo aus voller Kehle, der Mann mit dem Rucksack nuschelnd. Die kleine Dame lachte, und der Businessmann schüttelte ebenso lachend den Kopf und baute weiter an der Kugelbahn. Als es wieder ruhig wurde, rief die kleine Dame: «Und die dritte Strophe?» Dann sang sie ganz allein.

«… dein Kleid will mich was lehren.

Die Hoffnung und Beständigkeit

gibt Mut und Kraft zu jeder Zeit.»

Die letzten Silben stimmte sie verlangsamt an, ihr Solo auskostend. Als sie verstummte, wurde noch einmal geklatscht im Waggon.

«Der ist gut», sagte der Businessmann.

«Château Coulon», sagte ich.

Neben uns tauchte ein Tablett mit Tütchen voller Gummibärchen auf, gereicht von einer Frau in Bahnuniform, ein Service, der sonst nur Erste-Klasse-Gästen vorbehalten war, für den sie auf dieser Strecke gerne siebzig Euro extra zahlten.

«Kann ich auch deine?», fragte Leo.

Jeder nahm sich ein Tütchen, und der Businessmann vergaß, sie als Vertreterin der Bahn zur Rede zu stellen. Und es gab weiteren Applaus, als schließlich ein hell erleuchteter leerer ICE neben uns auftauchte, sich ganz langsam weiterschob und dann zum Stehen kam. Aus dem Businessmann war bis dahin Matthias geworden, aus der kleinen Dame Franziska, und der Mann mit den Wanderschuhen hieß Marten. Nur den Namen des dicken PC-Spielers haben wir nicht mehr erfahren, er war die ganze Zeit in seine Welt versunken und schaute noch auf den Bildschirm, als ich mit Leo den Waggon verließ, auf dem Weg zu Wagen 5, von dem man in den anderen Zug umsteigen konnte.

 

«Endlich, endlich!», rief meine Mutter «Wir haben uns schon solche Sorgen gemacht!»

«Man könnte auch sagen, wir haben uns den Arsch abgefroren», dröhnte mein Vater.

«Arsch sagt man nicht», sagte Leo.

Meine Frau schlang sich um meinen Hals und küsste mich. Leo war da schon auf ihrem Arm.

«Es war lange unklar, was eigentlich los war. Es hieß immer wieder ‹zehn Minuten später›.»

«Was für ein Saftladen. Und die wollten an die Börse gehen, das muss man sich mal vorstellen.»

«Ich hoffe, du hast dir ein Fahrgastformular geben lassen, für die Erstattung.»

«Solche Sorgen gemacht! Kinder, es ist schon halb acht. Lasst uns schnell los, ich habe ja längst noch nicht alles fertig.»

«Fünfzig Prozent mindestens.»

«Komm, Leo, der Weihnachtsmann musste ja lange auf uns warten, ich hoffe, er war schon da.»

«Aber die Fahrpreise erhöhen, das können sie.»

«Lasst uns los!», rief Leo.

«Das ist das Einzige, was sie hinkriegen.»

 

Der Fisch war erst gegen neun gar, und als wir aßen, schlief Leo schon, direkt neben uns auf dem Sofa, hell erleuchtet zwischen Geschenkpapier. Es war alles wie immer, fast. Das Gefühl, wie schillernd und verheißungsvoll doch das Altgewohnte werden kann, wenn es einem auch nur kurz genommen wird, schwang noch in jedem Blick, jedem Kuss, jeder Bewegung mit. Oder wie mein Vater später sagte: «Man kann ja froh sein, dass man überhaupt ankommt.»

Frl. Krise und Frau Freitag

Tolle Ideen

Wie siehst du denn aus, Frau Freitag? Deine Nase ist ja ganz rot!»

«Na, Frl. Krise, ich möchte dich mal sehen, nach vierzig Minuten Hofaufsicht. Es ist total kalt draußen, und die schmeißen wie die Irren mit Schneebällen. Vor allem deine Jungs. Hast du denen keine Belehrung …»

«Was? Ich hab ihnen sogar mit schriftlichen Tadeln gedroht, wenn sie auch nur EINEN Schneeball werfen! Wer war das denn?»

«Keine Ahnung. Gib allen einen Tadel. Wie lange ist es denn noch bis zu den Weihnachtsferien? Ich kann bald nicht mehr.»

«Übermorgen ist der erste Advent, Frau Freitag! Also noch knapp vier Wochen. Oh, ich darf nicht vergessen, morgen auf dem Markt ein Weihnachtsgesteck für den Klassenraum zu kaufen. Und dann lese ich Montag in der ersten Stunde etwas Schönes vor, und wir werden ganz besinnlich. Na ja, ich jedenfalls.»

«Klingt grauenhaft. Von wem sind denn die Dominosteine? Gib mal einen rüber!»

«Von Frau Nolte. Und selbstgebackene Plätzchen, wie jedes Jahr, superlecker! Backst du auch Plätzchen, Frau Freitag?»

«Ja, Frl. Krise, mit meiner Klasse. Montag in der achten und neunten Stunde.»

«DU? Hahaha! Niemals, oder?!»

«Nee, nee, war nur Spaß. Vielleicht kaufe ich kleine Schokoladenweihnachtsmänner zu Nikolaus. Obwohl – diese Weihnachtsfeierei geht mir total auf den Wecker. Apropos Nikolaus, wo ist denn dein Azubi? Der klebt dir doch sonst immer am Rockzipfel.»

«Mein kleiner Referendar Felix? Der muss gleich kommen. Der Ärmste! Er ist völlig mit den Nerven runter. Praxisschock, immer noch!»

«Wie alt ist der eigentlich?»

«Sechsundzwanzig! Der wohnt noch bei seinen Eltern, musst du dir mal vorstellen!»

«Ach Gottchen … schmiert ihm die Mama jeden Tag die Schulbrote?»

«Wahrscheinlich! Frau Freitag, weißt du schon, dass der jetzt den Pommer als Klassenlehrer vertreten muss? Das ist die Höchststrafe.»

«Allerdings! Das ist aber auch ein unsymphatischer Haufen. Richtige Ekelpakete und die Mädchen … ein paar arrogante Zicken. Wenn ich bei denen Kunst habe, muss ich ständig irgendwelche Konflikte klären. Vanessa wird von der halben Klasse auf Facebook gemobbt. Du glaubst ja wohl nicht, dass der Pommer sich je um so was gekümmert hat.»

«Felix gibt sich echt Mühe, aber die Schüler nehmen sein Babyface überhaupt nicht ernst!»

«Oh Mist, jetzt klingelt’s. Ich muss hoch zu Englisch. Bis später, Frl. Krise.»

«Ich habe eine Freistunde, ich hole mir erst mal einen Kaffee!»

«Überarbeite dich nicht!»

*

In der Cafeteria ist es leer. Es duftet nach Kaffee und frischem Gebäck. Frau Özatay, die gute Seele des Caterings, trägt wie immer eine lange blütenweiße Schürze. Heute steht in roter Schrift I love Christmas darauf.

«Guten Morgen, Frau Özatay! Einen Kaffee, bitte!»

«Frl. Krise, auch noch was zu essen? Heute gibt es Lachsbrötchen. Oder lieber was Süßes? Hier! Ich habe den ersten Christstollen!»

«Christstollen? Nee, danke, Frau Özatay!»

Weihnachten ist schön und gut, aber weshalb man in dieser Zeit immerzu all diesen süßen Kram essen muss, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben. Wer erfindet mal einen weihnachtlichen Käse?

Ich steuere einen Tisch in der hintersten Ecke an.

«Hallo, Frl. Krise!» Mein «Azubi» steht plötzlich vor mir. Er sieht verfroren aus, an seinem Anorak kleben Schneeklumpen, und in seinen Haaren glitzern Eiskristalle.

«Felix! Komm, setz dich zu mir! Willst du Kaffee und Christstollen?»

Felix schüttelt den Kopf und lässt sich schwer auf den Stuhl neben mir fallen.

«Deine kleinen Ganoven aus der Sieben haben mich auf dem ganzen Weg von der Turnhalle bis hierher mit Schneebällen beworfen!», sagt er, klopft auf seiner Jacke herum und holt ein in Frischhaltefolie verpacktes Brot aus seiner Tasche.

«Geht das jetzt etwa den ganzen Winter so, Frl. Krise?»

«Es wird ja nicht andauernd schneien! Eigentlich ist die Zeit vor Weihnachten sogar sehr schön, da kann man so viel mit den Schülern machen.»

«Was denn?»

Oh nein, was der für Fragen stellt! Muss man den Referendaren denn auch alles beibringen? Man sollte denken, dass jeder weiß, was Kinder in der Vorweihnachtszeit lieben: Die drei großen Bs Basteln, Backen und Besinnlichkeit.

Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, wie Felix mit der Pommer-Klasse Strohsterne bastelt oder weiße Wattebäuschchen auf Bindfäden zieht und sie ans Fenster hängt. Er ist dafür einfach nicht der Typ.

«Du bist jetzt Klassenlehrer, Felix! Jedenfalls solange der Pommer fehlt. Du musst für weihnachtliche Stimmung in deiner Klasse sorgen. Häng einen Adventskalender auf und kauf einen Adventskranz! Du könntest auch einen Julklapp für den letzten Schultag vor den Ferien anleiern. Da machen alle Klassen ihre Weihnachtsfeiern.»

Felix guckt mich mit großen Augen an.

«Wann soll ich DAS denn alles machen? Ich hab doch nur Sport bei denen!»

«Und einmal in der Woche eine Klassenlehrerstunde!»

Felix stöhnt auf und rollt die Augen.

«Ich weiß, das ist alles lästig und anstrengend. Aber es muss sein, Felix. Es ist gruppendynamisch wichtig. Ich lese in dieser Zeit auch oft vor – am besten frühmorgens im Kerzenschein. Das tut den Kindern gut, die sind doch immer so überdreht. Bei denen zu Hause läuft den ganzen Tag der Fernseher, und so was wie Vorlesen kennen die überhaupt nicht. Ich finde, in der Adventszeit muss man sich einfach ein bisschen Zeit füreinander nehmen und zur Ruhe kommen.»

«Ja, ein bisschen Ruhe in der Klasse von Pommer würde nicht schaden!» Felix seufzt.

«Ganz bestimmt nicht! Ich will dieses Jahr sogar einen Baum aufstellen, damit es richtig stimmungsvoll wird.»

Felix beißt in sein Brot und kaut langsam. «Weihnachtsbaum? Echt? Warum das denn? Deine Schüler sind doch fast alle Muslime!»

«Na und? Ein bisschen Weihnachten hat noch keinem geschadet!»

*

«Hamid, warum packst du denn deine Sachen schon ein? Wir haben noch zwanzig Minuten Unterricht.» Volkans Tisch ist auch schon leer. Günther sitzt bereits in der Daunenjacke vor mir, und die anderen scheinen auch nicht mehr heiß darauf zu sein, weitere Übungsaufgaben im Workbook zu bearbeiten.

«Können wir nicht schon gehen, Frau Freitag?», fragt Erhan und guckt mich über seine Kinderbrille mit Dackelaugen an.

«Nein! Auf keinen Fall. Das wisst ihr doch. Wegen der Aufsichtspflicht.»

«Menno, gerade heute», flüstert Vincent und guckt aus dem Fenster. Ich weiß, sie wollen auf den Hof, sich im Schnee suhlen und mit Schneebällen schmeißen.

«Frau Freiiiiiitaaaaag!» Rosa meldet sich.

«Ja, Rosa?»

«Frau Freitag, können wir dies Jahr wieder diese Julklapp machen?»

Oh nein, Julklapp! Da ist es wieder. Das Unwort des Schuljahres. Sie vergessen es nie.

«Machen wir Julklapp, Frau Freitag?», fragt Rosa. Ihr pubertärer Blick fixiert mich erwartungsvoll. Und nicht nur sie starrt mich an, mittlerweile habe ich die volle Aufmerksamkeit meiner Klasse. Wenn ich jetzt nein sage, dann fallen sie über mich her. Erst mal Zeit schinden.

«Aber ihr haltet euch doch nie an die Preisabsprachen», gebe ich zu bedenken.

«Was Preissprachen?», fragt Hamid.

«Na, letztes Jahr hatten wir gesagt, dass ihr nur etwas für fünf Euro kaufen sollt, und alle haben viel mehr Geld ausgegeben.»

Alle. Nur ich nicht. Und ich stand ganz schön doof da, mit meinem Fünf-Euro-Parfüm von Drospa. Elena hat sich höflich bedankt, aber toll fand sie das Geschenk nicht. Traurig hat sie ihren Mitschülerinnen zugesehen, wie die sich über ihre Hello Kitty-Sachen gefreut haben. Schrecklich war das. Und beim Aufräumen hat mir auch niemand geholfen.

«Wir machen so mit Frühstücken und dann Geschenke», schlägt Rosa vor. «Biiiittttteeee, Frau Freitag, ist doch für Weihnachten.» Als würde mich das umstimmen.

Das Klingeln erlöst mich, und mit einem «Okay, Leute, ich überleg’s mir, und wir sprechen dann Montag noch mal drüber» verabschiede ich meine Klasse ins Wochenende.

*

«Männe! Was hältst du davon, wenn wir dieses Jahr unseren Baum mal nicht in Rot schmücken?», frage ich beim Abendessen und fische mir ein Gürkchen aus dem Glas.

Meinem Mann sind Dekofragen ziemlich egal, aber er mag keine Veränderungen. Er schweigt und kratzt mit seinem Messer über ein Toastbrotscheibe. Die zu schwarz geratenen Krümel hopsen in alle Richtungen.

«Kann man einen Weihnachtsbaum denn auch anderes als mit ROTEN Kugeln behängen?», fragt er und wischt mit der Hand über den Tisch. «Wir hatten doch immer rote!»

«Ja, man kann! Beige ist zum Beispiel ganz modern! Die sehen toll aus.»

Männe seufzt. «Beige! Kann ich mir nicht vorstellen. Na ja, aber wenn du meinst!»

«Die alten roten Kugeln nehme ich mit in die Schule. Ich möchte einen Baum in meiner Klasse haben. Weißt du, in der Schule ist es gerade soooo ungemütlich. Die Räume sind überheizt, die Schüler wälzen sich in den Pausen im Schnee, alles ist nass und dreckig – grauenhaft. Und das ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit. Da muss man doch gegensteuern.»

Männe guckt mich nachdenklich an.

«Aber einen Tannenbaum aufstellen? Das ist doch ein Symbol für ein christliches Fest! Wollen das deine Schüler überhaupt?»

«Ach, Weihnachtsbäume sind bei vielen ganz normal. Ich war Donnerstag bei Fuat zu Hause. Wegen der Geschichte mit dem geklauten Handy. Und du glaubst nicht, was die im Wohnzimmer stehen hatten! Einen voll geschmückten künstlichen Baum! Jetzt schon! Und obwohl sie Muslime sind. Aber die haben eben unsere Sitten und Gebräuche übernommen.»

Mist! Während ich das Männe erzähle, fällt mir ein, dass ich heute beim samstäglichen Einkauf vergessen habe, ein Gesteck für meine Klasse zu besorgen. Jetzt sind die Geschäfte schon geschlossen. Und morgen ist Sonntag. Wenn ich Montag ohne Adventskranz komme, fängt die Weihnachtszeit gleich schief an. Den Adventskalender habe ich auch vergessen!

Irgendwo in der Abstellkammer muss doch noch der künstliche Kranz herumfliegen, den mir unsere Nachbarin mal als Überraschung an die Wohnungstür gehängt hat. Besonders geschmackvoll war der nicht. Egal. Besser als nichts.

*

Das Wochenende ist immer viel zu kurz. Erst zieht sich die Woche endlos hin bis zum Freitag, und dann liegt man kurz auf der Couch, und schon kommt der Tatort, und dann ist auch gleich wieder Montag. Zum Glück habe ich erst zur zweiten Stunde, da kann man in der ersten seine Arbeitsblätter für die Woche kopieren. Montags nach acht ist unser Lehrerzimmer immer total leer. Wer zur ersten hat, ist im Unterricht, und die anderen liegen noch im Bett. Nur die Nolte schleicht zu Wochenbeginn hier früh herum, obwohl sie erst später Unterricht hat. Freitags sitzt sie auch immer noch im Lehrerzimmer, wenn ich gehe. Manchmal glaube ich, dass die in der Schule übernachtet.

«Hallo, Monika.»

«Guten Morgen, Frau Freitag.»

Frau Nolte legt ihre Schultasche auf einen Stuhl und geht zur Spüle. «Wie das hier wieder aussieht», sagt sie und sortiert einen Berg Teller und einige Tassen in die versiffte Spülmaschine. «Die Kollegen könnten ruhig auch mal abwaschen.»

«Hmmm, stimmt», sage ich. Hoffentlich macht sie gleich Kaffee. Ich bin noch so müde.

«Und, Frau Freitag, hattest du einen schönen ersten Advent?»

«Hm, ja, ging so», antworte ich. Erster Advent … der ist genauso wie der zweite, dritte und vierte Advent bei mir – wie jeder der anderen 48 Sonntage im Jahr. Ab und zu kauft der Freund ein paar Dominosteine. Ansonsten hält sich die vorweihnachtliche Stimmung bei uns zu Hause in Grenzen.

«Ach, bei uns war es herrlich! Ich habe mit der Kleinen von unseren Nachbarn Plätzchen gebacken, und mein Mann hat mir einen ganz reizenden Adventskalender geschenkt. Nicht so einen unpersönlichen gekauften.»

Mist, Adventskalender. So einen wollte ich auch für meine Klasse haben. Also eher für mich, damit ich die Tage bis zum Ferienbeginn runterzählen kann. Ich hatte dem Freund extra noch gesagt, er solle mir so einen von Netto mitbringen. Aber da gab es keinen mehr. Einen Tag vorm ersten Advent findet man keinen simplen Schokoladenkalender mehr – unverschämt.

«Guck mal, Frau Freitag, das war heute drin», sagt die Nolte und hält mir ein Stück Salami entgegen.

«Dein Mann schenkt dir Wurst?»

«Nein, hier, sieh doch mal, das ist ein Notizblock. Witzig, oder? Ich sag doch, mein Mann, der hat immer Ideen.» Monika Nolte stellt ihren Wurstblock auf ihren aufgeräumten Arbeitsplatz neben ihre Stiftebox. In der hat sie tausend verschiedene Schreibgeräte und sogar eine Schere. Auf meinem Platz liegt nur ein Kugelschreiber, und bei der Krise steht eine Dose mit ein paar schlechtschreibenden Buntstiften. Aber wenn man was braucht, dann holt man sich das sowieso bei der Nolte. Jetzt kramt sie in ihrer Schultasche. «Hier, ich habe noch ein paar Plätzchen mitgebracht.» Sie legt zwei runde Keksdosen mit Schneemotiven auf den Tisch. Ich öffne erst die eine und dann die andere. «Nein, die nicht», sagt sie und reißt mir die mit den Schlittschuh fahrenden Weihnachtsmännern aus der Hand. «Die sind für meine Klasse. Die lieben meine Plätzchen.»

*

«Frl. Krise! Haben wir jetzt bei Sie?» Erkan und Fuat sitzen auf der Treppe und versperren den Weg. Die beiden haben es nur bis in den zweiten Stock geschafft, unser Klassenraum ist aber ganz oben im vierten. «Natürlich! Steht mal auf. Es klingelt gleich!» Immer dasselbe. Montags sind alle lustlos und müde.

Meine Tasche ist extrem schwer wegen der Weihnachtsanthologie, aus der ich gleich eine Geschichte vorlesen möchte, und dann trage ich ja auch noch den blöden Teller mit dem Kranz. Die Kerze ist mir eben schon runtergefallen. Ich hatte vergessen, sie zu befestigen. Muss ich gleich oben nachholen. Hoffentlich finde ich noch ein Feuerzeug irgendwo in meiner Tasche.

«Fuat, bist du mal so lieb?» Fuat geht ungerührt weiter, aber Hakan nimmt mir bereitwillig den Teller aus der Hand. Er ist klein und zappelig und immer darauf bedacht, sich gut mit den Lehrern zu stellen. Dafür macht er keine Hausaufgaben und kommt zu spät.

«Ist das für unsere Klasse?» Hakan hält den Teller mit ausgestreckten Armen vor sich und schaut ihn kritisch mit gerunzelter Stirn an.

Vor dem Klassenraum stehen meine Schüler. Sie sehen müde aus und gehen nur widerwillig ein bisschen zur Seite, als wir drei oben ankommen. «Guten Morgen! Macht mal Platz! Wie soll ich hier aufschließen? Hakan, pass doch auf!» Schon liegt die Kerze wieder am Boden. Schöner wird sie davon auch nicht.

Wie immer dauert es viel zu lange, bis sich alle zu ihren Plätzen durchgeschoben haben.

«Setzt euch bitte! Hanna, machst du mal das Licht aus?»

«Au ja! Wir lassen auch noch Verdunklung runter!» Fuat ist schon aufgesprungen und macht sich an den Gurten der schwarzen Sichtblenden zu schaffen.

«Fuat! Nein! Hör auf. Lass das! Das wird doch viel zu finster!»

Merve, die genau vor mir sitzt, erhebt sich halb und zieht den goldenen Teller zu sich hin. Sie schnüffelt am Adventskranz und zieht eine Augenbraue hoch.

«Der ist nich echt, wa? Warum haben wir kein richtigen Kranz, Frl. Krise?»

Jenny neben ihr sagt mit beleidigter Stimme: «Nie haben wir einen schönen Kranz!»

«Die Klasse von Frau Nolte hat sogar Weihnachtsbaum!», ruft Fuat. «Hat sie Freitag mitgebracht!»

«Ihr könnt immer nur meckern! Und was heißt, wir haben nie einen schönen Kranz! Wir hatten doch noch gar keinen! Das ist doch unser erstes gemeinsames Weihnachten.» Ich fange an, mich zu ärgern. Wenigstens finde ich ein Päckchen Streichhölzer, und die Kerze brennt endlich.

«So, und jetzt seid schön ruhig, ich lese euch eine kleine Geschichte vor. Das machen wir bis Weihnachten jeden Montag!» Ein paar Schüler stöhnen auf, andere schauen mich erwartungsvoll an, soweit ich das bei der spärlichen Beleuchtung erkennen kann. Ich setze mich ans Pult, schlage das Buch mit den Geschichten auf und beginne zu lesen. «Vor hundert Jahren lebte eine bettelarme Familie in einem kleinen Dorf in den Bergen. Die Kinder der Familie freuten sich auf Weihnachten, obwohl sie keine Geschenke erwarten konnten und …»

«Voll langweilig!», sagt Fuat und legt seinen Kopf mit einem kleinen Knall auf dem Tisch ab. «Aua!» Er reibt sich grinsend über die Stirn.

«Pscht!»

Hakan liegt fast flach auf seinem Stuhl, und Merve hat die Augen geschlossen, sie gähnt laut. Hinten in der letzten Reihe blitzt ein Licht. «Hast du da ein Handy, Tim?»

«Äh … nein, Frl. Krise!»

Natürlich war da ein Handy im Spiel! Wollen die mich für dumm verkaufen? Ich lese weiter. Die Geschichte schleppt sich ein wenig dahin – zu dumm, das hatte ich gar nicht mehr so in Erinnerung. Ich hätte sie vielleicht vorher noch mal lesen müssen. Kein Wunder, dass meine Schüler langsam abbauen. Umut gähnt schon zum dritten Mal laut, und Sascha ist, glaube ich, schon eingeschlafen.

«Müssen wir diese Geschichte hören?» Nora ist aufgesprungen. «Ich hatte mich schon voll auf Deutsch gefreut, Frl. Krise. Wir wollten doch für die Arbeit üben! Ich habe extra alles mitgebracht.» Sie fuchtelt mit einem Hefter in der Luft herum.

«Ja! Für die Arbeit üben!», echot Serkan, der garantiert bis zu diesem Moment nicht mal wusste, dass wir eine schreiben.

Es ist wie immer. Egal, wie man es macht, es ist falsch. Hätte ich heute Morgen damit angefangen, Grammatikaufgaben zu bearbeiten, wäre ein großes Gejammer angestimmt worden. Aber bitte! Sollen sie sehen, wohin sie der pubertäre Widerspruchsgeist bringt. Ich klappe mein Buch zu und sage: «Wie ihr wollt. Ich will hier niemanden zu irgendetwas zwingen…»

*

Im Lehrerzimmer riecht es muffig nach Tütensuppe. Herr Böck hat mal wieder seine «Schnelle Tasse» gelöffelt, statt sich in der Cafeteria was Gesundes zu holen. Das Lehrerzimmer sieht aus wie die Papiersammelstelle eines Abfallentsorgers. Die Tische biegen sich unter hohen Papierstapeln, Bücherbergen, überquellenden Ablagen und Leitzordnern.

Hinter einem dieser Haufen sitzt Frau Freitag mitsamt Kaffeebecher, einem angebissenen Apfel, vom Freund geschmierten Vollkornbroten in einer Plastikdose, Federtasche und Haftzetteln. Sie wirft mir einen mürrischen Blick zu.

«Oh Mann, Frl. Krise. Ich sage nur Juuulklapp. Bähhhh!»

«Bähhh? Wieso Bäh?»

«Ich habe keinen Bock auf dieses Weihnachtsgedöns. Aber meine Klasse … die wollen natürlich wieder Frühstücken und Julklapp und den ganzen Schnulli.»

«Meine auch! Aber das ist doch ganz normal. Das sollen wir doch auch! Feste und Rituale sind doch angeblich so wichtig, du weißt schon!»

«Ich habe einfach keine Lust.»

«Hattest du ein traumatisches Erlebnis in deiner Kindheit? Ist der Tannenbaum abgebrannt? Oder hast du kein Schaukelpferd bekommen?»

«Ich hatte immer schöne Weihnachten. Wir waren sogar nachts in der Christmette. Aber jetzt finde ich das alles nur noch kommerziell und kitschig. Ach, guck mal, da kommt Felix. Frag den doch mal nach seinen traumatischen Erlebnissen.»

«Die wird der mir gerade erzählen!»

«Na, frag ihn trotzdem, ich hole mir jetzt erst mal ein Hanuta aus der Cafeteria!»

 

Ich winke Felix zu. Der Arme sieht schon wieder völlig ramponiert aus. Seine Jacke ist schief geknöpft, seine Haare stehen wirr ab, und die Schnürsenkel seines linken Turnschuhs sind aufgegangen. Felix nickt mir zu. Mehr kann er nicht, denn er trägt zwei Leitzordner, eine Plastiktüte und einen Karton. Auf dem Buckel hängt auch noch sein überdimensionaler Rucksack. Typisch Referendar. Für die täglichen zwei bis drei Stündchen schleppt er ein Equipment herbei, das ich nicht mal in drei Monaten benötige.

«Guten Morgen, Felix! Mein Gott, bist du beladen!»

«Hallo, Frl. Krise! In der Tüte ist Arbeitsmaterial für meine Klasse. Zum Basteln. Und der Karton ist ein Adventskalender für die Klasse – da sind vierundzwanzig Überraschungseier drin! Hab ich Samstag gekauft.»

«Überraschungseier? Bist du noch zu retten?»

«Wieso? Meinst du, den Kindern gefällt das nicht?»

«Natürlich gefällt das den Kindern! Aber das hat doch sicher ein Vermögen gekostet!»

«17,95 Euro. Wie teuer war denn dein Adventskalender ?»

«Meiner? Äh … ich hab noch keinen … ich wollte heute Nachmittag … Warum hast du nicht was aus Klorollen gebastelt!»

«Aus Klorollen?»

«Ja, ganz einfach! Man überzieht die Rollen mit grünem Krepppapier und klebt sie in Form eines Dreiecks, also wie ein Tannenbaum, aufeinander. Und dann kommen da noch ein paar Süßigkeiten rein!»

«Kannst du mir ja mal zeigen, wenn er fertig ist.»

«Nein, ich lasse mir dieses Jahr noch was anderes einfallen. Überraschungseier, nee! Erinnert mich an Ostern, ehrlich gesagt.»

Ich muss mir das Lachen verkneifen. Eier zu Weihnachten. Das hat schon was. Immerhin, der Gute hat sich meine Vorschläge zu Herzen genommen und in die Tat umgesetzt.

WAS IST DAS DENNÜBERRASCHUNGSEIERN