Dieter Bürgin und Barbara Steck

Indikation psychoanalytischer Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen

Diagnostisch-therapeutisches Vorgehen und Fallbeispiele

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Klett-Cotta

© 2013 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © Dieter Bürgin

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94 829-5

E-Book: ISBN 978-3 608-10-592-6

Dieses E-Book beruht auf der 1. Auflage 2013 der Printausgabe

Inhaltsverzeichnis

I Allgemeiner Teil

1. Einführung

1.1 Anmerkungen zum Evaluationsprozess

(Erfassbare Information. Integration der Befunde. Diagnostische Untersuchung. Diagnostisch-therapeutische und/oder psychopathologische Wertigkeit. Konzeptualisierungskontext. Arbeitsbündnis)

1.2 Die Gesamteinschätzung der Information und der Bereitschaft zu psychischer Arbeit

(Leidensfaktor. Funktionsstörung. Störung der Gesamtentwicklung)

1.3 Ist ein psychoanalytisches Verfahren, sei dies nieder- oder hochfrequent, in dieser Situation die bestmögliche Behandlungsmethode?

2. Anmerkungen zur Entwicklung des Kindes bzw. des Jugendlichen

2.1 Zur biologisch-genetischen Entwicklung

(Epigenetik)

2.2 Zur psychischen Entwicklung

(Entwicklung des Selbst. Affect attunement. Social referencing. Emotionale Spiegelung. Kognitive Integration. Verlusterleben. Pubertät)

2.3 Frühestes postnatales Leben

2.4 Zur psychosexuellen Entwicklung aus psychoanalytischer Sicht

2.4.1 Bedürfnis – Begehren – Verlangen

2.4.2 Körper – Körperöffnungen – erogene Zonen

2.4.3 Phantasiebildung – halluzinatorische Wunscherfüllung – Zärtlichkeit – Liebe

2.4.4 Geschlechtsunterschiede – ödipale Situation

2.4.5 Primäre Betreuungspersonen – Sexualität der Eltern

2.4.6 Das infantil Sexuelle

2.5 Wechselwirkungen von Psyche und Körper

2.6 Zur Kommunikation

2.6.1 Kommunikationsmotive

2.6.2 Kommunikationskonventionen

2.6.3 Gesten

2.6.4 Soziale Interaktionen: Protokonversationen

2.6.5 Identifikation

2.6.6 Spiel und Imitation

2.7 Anmerkungen zur Sprache

2.7.1 Spracherwerb

2.7.2 Die Sprachlernfähigkeit

2.7.3 Die Entwicklung des Spracherwerbs

2.7.4 Spätere Sprachleistung

2.7.5 Sprachliches Bedeutungserleben

2.8 Zur Entwicklung der Selbstrepräsentanzen und der eines »falschen Selbst«

3. Psychisches Trauma und pathologische Entwicklung

3.1 Ausbleiben der Befriedigung im frühesten Kindesalter

3.2 Psychisches Trauma

3.2.1 Allgemeines

(Frühkindliches Trauma. Aufgaben des analytisch-psychotherapeutischen Diagnostikers und Therapeuten. Kryptenbildungen)

3.2.2 Posttraumatische Folgen

(Komplexe dynamische Wechselwirkungen. Rolle später erfolgenden Stresses)

4. Trauer (Kindertrauer. Pathologische Trauer. Familiengeheimnisse. Transgenerationalität)

4.1 Der Trauerprozess

4.2 Transgenerationalität

5. Indikationskategorien

5.1 Grobkategorien bei der Indikationsstellung

(Therapiebedürftigkeit, Therapiemotivation und Therapiefähigkeit)

5.2 Evaluationskriterien

5.2.1 Einschätzungskriterien für diagnostisch-therapeutische Gespräche

5.3 Operationalisierte psychodynamische Diagnostik im Kindesund Jugendalter (OPD-KJ)

6. Allgemeines zur Indikation

6.1 Unterschiede bei der Indikationsstellung für eine psychoanalytische Psychotherapie zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen

(Das diagnostisch-therapeutische Gespräch. Patient als Kooperationspartner)

6.2 Setting und Rahmen

6.3 Psychische Untersuchung

(Diagnostiker als beteiligter Interaktionspartner)

6.4 Squiggle-Zeichnungen

(Subjektives Objekt)

7. Anmerkungen zum diagnostisch-therapeutischen Prozess

7.1 Erstinterview

(Technik. Gegenübertragungsfragen. Innere Haltung. Prozessorientierte Fragen. Denk-, Erlebnis- und Deutungsarbeit)

7.2 Intersubjektive Beziehungsrealität

(Intrapsychisch-interpersonal. Eigenverantwortung)

7.3 Symptomatologie

7.4 Arbeitsbündnis

(Aufgaben des Therapeuten. Diagnostisch-therapeutischer Prozess)

7.5 Supervision

8. Anmerkungen zum analytisch-psychotherapeutischen Prozess

8.1 Allgemeines

8.2 Woran soll sich der analytische Diagnostiker orientieren?

8.3 Anmerkungen zu einer »Theorie der Technik«

8.4 Vorstellungen des Patienten von »Therapie«

8.5 Der psychotherapeutische Stil

8.6 Das »desiderium sanandi« oder der »furor curandi«

(Projektive Identifizierung. Transformation von Bedeutungsinhalten. Plötzliche Veränderungen)

8.7 Der analytisch-therapeutische Prozess beim traumatisierten Kind

8.8 Der analytisch-therapeutische Prozess mit Adoleszenten

9. Anmerkungen zum »Dialog« im analytischtherapeutischen Prozess

9.1 Kinder und Jugendliche

(Vertrauensaufbau)

9.2 Therapeuten

9.3 Übertragung

(Amorphe Elemente. Spaltungen. Alphaelemente)

9.4 Intervention und Deutung

9.5 Träume

9.6 Spiel

(Ko-Kreation eines Dritten in einem Spielraum)

9.7 Narrative

(Persönliche, dialogische und kulturelle Aspekte)

9.8 Die »historische Wahrheit«

9.9 Temporalität: Gedächtnis, Nachträglichkeit

10. Unterschiedliche Haltungen einer rein medizinischen und einer rein psychoanalytisch-psychotherapeutischen Sicht

(Steigerung der Fähigkeit, Konflikte zu lösen. Ethik des Gebens und Nehmens)

11. Übergeordnete Gesichtspunkte

11.1 Von der Primär-Untersuchung zum Therapieplan

(Vorgehen nach der Erstuntersuchung. Zusammenarbeit mit den Eltern/Bezugspersonen)

11.2 Therapiebedürftigkeit, Therapiemotivation und Therapiefähigkeit

(Allgemeiner Therapieplan)

11.3 Indikatoren für einen höher- oder niederfrequenteren psycho- analytischen Prozess

11.4 Wie werden die genannten Ziele erreicht?

(Woran sich orientieren?)

12. Praktisches Vorgehen nach der Indikationsstellung

(Fragen eines eventuellen Therapeutenwechsels zwischen Diagnostik und Therapie)

II Falldarstellungen

Anmerkungen zu den Falldarstellungen

Fallbeispiel Bea (4½ Jahre alt, schwere emotionale Deprivation mit ausgeprägter Mutter-Kind-Beziehungsstörung)

Fallbeispiel Isabelle (5½ Jahre alt, Entwicklungsrückstand)

Fallbeispiel Leandro (5½ Jahre alt, frühkindliche Deprivation und multiple Entwicklungsrückstände)

Fallbeispiel Zoe (6½ Jahre alt, Anorexie im Kindesalter, anaklitische Depression)

Fallbeispiel Irene (7 Jahre alt, tiefgehende frühkindliche Traumatisierung mit genereller Entwicklungsretardation)

Fallbeispiel Ulrike (8 Jahre alt, narzisstische Störung mit Verhaltens- und Beziehungsproblemen)

Fallbeispiel Immanuel (8 Jahre alt, multiple frühkindliche Traumatisierungen; Tod der Mutter)

Fallbeispiel Christian (8 Jahre alt, schwere Bindungsstörung mit Somatisierungen, Beziehungsproblemen und autoaggressivem Verhalten; Tod des Vaters)

Fallbeispiel Zenon (10 Jahre alt, hypochondrische Ängste und Identitätsproblematik)

Fallbeispiel Samuel (10 Jahre alt, neurotisch-depressive Störung mit Somatisierungen; Tod des Vaters)

Fallbeispiel Oskar (10 Jahre alt; frühkindliche Traumatisierung und schwere Beziehungsprobleme; narzisstisch-depressive Störung und diverse Verhaltensprobleme; Zustand nach Suizidversuch)

Fallbeispiel Luca (10¾ Jahre alt; dysharmonische, aggressiv-depressive Entwicklung mit einer schweren Selbstwertproblematik bei einem unter Adipositas und Pubertas präcox leidenden Jungen; Tod einer Schwester)

Fallbeispiel Theresa (11 Jahre alt, hysteriforme Persönlichkeitsstörung mit narzisstisch-depressiven Zügen)

Fallbeispiel Ruth (11½ Jahre alt, Borderline-Persönlichkeitsstörung)

Fallbeispiel Raphael (11½ Jahre alt, schwere narzisstische Störung mit Beziehungsproblemen bei einem zu früh geborenen, kleinwüchsigen und entwicklungsretardierten Kind)

Fallbeispiel Renata (12 Jahre alt, Somatisierung und Selbsteinschränkung bei ausgeprägter Devitalisierungsneigung)

Fallbeispiel Konrad (12 Jahre alt, psychosexuelle Identitätsproblematik bei einem zu früh geborenen, behinderten Adoptivkind)

Fallbeispiel Margrit (13½ Jahre alt, Ermordung der Mutter durch den Vater. Migrationsproblematik)

Fallbeispiel Ivan (13½ Jahre alt, Borderline-Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, depressiven und regressiven Anteilen)

Fallbeispiel Chantal (14½ Jahre alt, chronische, paranoide Schizophrenie)

Fallbeispiel Nadja (17 Jahre alt, konversionsneurotische »Anfälle«)

Fallbeispiel Erich (17 Jahre alt, ausgeprägte narzisstische Störung mit Beziehungs- und Verhaltensproblemen; wahrscheinlich Residualzustand einer frühkindlichen Psychose

Literatur

Informationen zu den Autoren

TEIL I
Allgemeiner Teil

KAPITEL 1
 
Einführung

1.1 Anmerkungen zum Evaluationsprozess

Die Literatur zur Indikation einer Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen ist dürftig. Anna Freud (1967) betont, dass die Kindheit ein Prozess sui generis sei, nämlich eine Reihe von Entwicklungszuständen, in welchen jedes psychische Symptom seine Wichtigkeit hat, und zwar als Übergangsphänomen und nicht als Endresultat. Es ist essentiell, dass die Fähigkeit eines Kindes, sich zu entwickeln, nicht blockiert wird, bevor der Reifeprozess zum Abschluss gekommen ist. Die Indikation für eine Psychotherapie wird weitgehend von den blockierten seelischen Reifungsprozessen eines Kindes diktiert. Die Evaluation einer psychischen Störung verschiebt sich also von rein klinisch-symptomatischen auf entwicklungspsychologische Aspekte.

Die erfassbaren Informationen eines diagnostisch-therapeutischen Prozesses stammen aus verschiedenen Quellen und bedürfen einer abschließenden Koordination und Integration. Viele anamnestische Daten und Symptombeschreibungen werden von den Eltern oder ihren Substituts-Personen beigetragen. Die Interviews und andere Interaktionen mit den Kindern/Jugendlichen sind zentrale Quellen für das Verständnis. Aber auch verschiedenste komplementäre Untersuchungen wie testpsychologische Untersuchungen (in Form von projektiven Tests oder Fragebögen, als Erfassung psychomotorischer oder sprachlicher Fähigkeiten) und die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung (inkl. gegebenenfalls einer neurologischen Abklärung, bildgebender Verfahren oder der Chromosomenuntersuchung und der Aminosäurenserologie) sowie die Überprüfung der gesamten Sensorik gehören – sorgfältig ausgewählt – dazu.

Die Integration verschiedenster, durch unterschiedliche Personen erhobener Befunde zu einem ganzheitlichen diagnostischen Bild gleicht einer komplizierten Patchwork-Arbeit. Sie entspricht der Herausarbeitung von Spezifika, die – obwohl sehr verschieden voneinander – einander nicht widersprechen, sondern kontextabhängige Facetten ein und desselben Geschehens darstellen (Kraemer et al.,2003). Das in sich selbst scheinbar Widersprüchliche enthält – bei disziplinierter Aufarbeitung – eine Information besonderer Art über den Patienten.

Die diagnostische Untersuchung umfasst nicht nur die Klärung, aus welchen Motiven um eine Konsultation nachgesucht wurde, sondern auch eine detaillierte Beschreibung der Symptome: z. B. seit wann bestehen sie, unter welchen Bedingungen/Kontexten haben sie sich alleine oder zusammen mit anderen Symptomen entwickelt, in welcher Intensität und Häufigkeit traten sie auf, wie werden sie verstanden, welche Auswirkungen auf die Entwicklung haben sie gehabt und in welche Lebenszusammenhänge (auch der Eltern/Großeltern) lassen sie sich stellen? Eine solche Beschreibung der Symptome erfolgt am besten aufgrund spontaner Mitteilungen der Eltern und der Kinder/Jugendlichen, mittels entsprechendem Nachfragen und durch die Beobachtung der Emotionen und der Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern selbst und der Kommunikationsart innerhalb der Dialoge, Triloge oder Polyloge mit den untersuchenden Personen. Seit es innerhalb des psychoanalytischen Denkens offensichtlich geworden ist, dass nicht nur die Sprache einen Zugang zu vor- und unbewussten Dynamiken erlaubt, sondern auch die Beobachtung von Interaktionen und Verhalten, lässt sich das psychoanalytische Verfahren auch bereits bei Säuglingen/Kleinkindern und ihren Hauptbetreuungspersonen anwenden, allerdings zumeist immer noch in einem Drei-Personen-Setting. Denn erst, wenn sich ein Kind mühelos für ca. 30 Minuten von der Hauptbetreuungsperson trennen kann, hat eine Arbeit in einem dyadischen Setting einen Sinn.

Die Unterscheidung in »diagnostisch« und »therapeutisch« ist aus formalen und didaktischen Gründen wesentlich, obwohl beide Vorgehensweisen tief miteinander verschränkt sind. Unseren Erachtens sollte aber jegliche Diagnostik stets auch einen therapeutischen Teil in sich tragen und in jedem therapeutischen Prozess auch die diagnostische Frage aktuell bleiben.

Die Interventionen der untersuchenden Personen im Bereich der Psychodynamik und des analytischen Vorgehens werden somit auf die Frage zentriert sein, ob und wie die Patienten einen solchen Input nutzen können, wie weit ihr Ich damit funktionsfähiger wird und ob es dem Selbst damit vermehrt gelingt, die diagnostisch-therapeutische Beziehung im Dienste einer freieren Entwicklung zu nutzen.

Das Spiel als Ort und Tätigkeit, mit der sich ein Stück Innenwelt in der Außenwelt zu erkennen gibt, die von Winnicott beschriebene Squiggle-Technik, die einen gemeinsamen virtuellen Spielraum zu eröffnen versucht, und auch Verfahren des analytischen Psychodramas (Steck, 1998, 1999) erleichtern die Informationsgewinnung. Nie verfügt die untersuchende Person über einen mit der Situation bei der Erwachsenenexploration vergleichbaren, aufgrund des Settings gegebenen Schutz. Sie ist viel stärker in das Beziehungs-Geschehen einbezogen, bedarf einer diesbezüglich vertieften Übung und einer verstärkten, disziplinierten Reflexion, um nicht mit den eigenen Struktur- und Konflikt-Anteilen auf den Patienten und/oder seine Familie einzuwirken.

Bei der Einschätzung der psychopathologischen Wertigkeit von geschilderten Schwierigkeiten spielen deren unbewusster symbolischer Gehalt und die damit verbundenen Entwicklungsbeeinträchtigungen eine maßgebliche Rolle:

Um nicht in einer Aufzählung von Symptomen stecken zu bleiben, sollten verschiedene Parameter in einen psychoanalytischen Konzeptualisierungs-Kontext gebracht und dort als der gegenwärtige Stand des Verständnisses festgehalten werden. So lässt sich bilanzierend zum Beispiel fragen:

Haben bestehende Ängste einen überschwemmenden und damit das Individuum in Not bringenden Charakter, oder können sie wie Wegweiser zu den problematischen Bereichen genutzt werden? Mit welcher Frustrationstoleranz kann gerechnet werden? Welches Sublimationspotential besteht? Wie differenziert sind die Steuerungsfunktionen für emotionale Abläufe und Triebbegehren ausgestaltet? Bestehen nachweisbare Neigungen zu Progression und hat die Neugierde im Sinne eines Interesses für unerklärliche innere Abläufe freie Bahn? Wie sehr vermag ein Patient Geschehnisse im eigenen Körper und Anteile seines Verhaltens als Ausdruck problematischer Strukturen internalisierter Beziehungen in seiner Innenwelt zu sehen? Verwischen sich die Grenzen zwischen Innenwelt und äußerer, mit anderen geteilter Realität, oder sind diese übermäßig starr? Stehen Fantasien, die auftauchen, im Dienste einer intrapsychischen omnipotenten Wunscherfüllung oder entsprechen sie innerspychischen Entwürfen beim Versuch, Konflikte anders zu lösen? Können automatisiert und unbewusst ablaufende Abwehrvorgänge zu einem gemeinsamen Thema gemacht werden? Zu welchen Verzichtleistungen ist ein Individuum innerhalb und zugunsten einer aufkeimenden Beziehung bereit? Steht die erfassbare Flexibilität der Besetzungen im Dienste der Vermeidung oder kann sie auch als eine Unterstützung beim gemeinsamen Entwickeln neuer Bedeutungsstrukturen verstanden und gebraucht werden? Welche Balance zwischen aktiven und passiven Strebungen stellt sich spontan ein, und wie weit verändert sie sich im entstehenden diagnostisch-therapeutischen Prozess? Welche Qualität hat die vorwiegende Beziehungsform?

Der Einschätzung eines möglichen Arbeitsbündnisses sowohl mit den Eltern als auch insbesondere mit dem Kind bzw. Jugendlichen kommt eine besondere Bedeutung zu. Das heißt, das gesamte Verfahren sollte so ausgerichtet sein, dass schon in der Diagnostik für die Eltern und die betreffenden Kinder/Jugendlichen aus eigener, unmittelbarer Erfahrung spürbar wird, was »analytische Arbeit« heißen würde. Damit wird das Kind bzw. der Jugendliche1 zu jemandem, der mithilft, diesen Ablauf zu gestalten (Ko-Kreation). Das Arbeitsbündnis wäre somit eine mehr oder weniger implizite Vereinbarung, gemeinsam mit den funktionalen Teilen des Patienten an den dysfunktionaleren, d. h. beeinträchtigenden Strukturen der Innenwelt seiner Person, die sich in den übertragungshaften Gestaltungen der analytisch-psychotherapeutischen Beziehung abzuzeichnen beginnen, verändernd zu arbeiten.


1Im nachfolgenden Text wird aus Vereinfachungs- und Lesbarkeitsgründen meistens die männliche Form verwendet. Mit der männlichen Bezeichnung ist aber immer auch die weibliche gemeint.

1.2 Die Gesamteinschätzung der Information und der Bereitschaft zu psychischer Arbeit

Die Gesamteinschätzung der Information und der Bereitschaft zu psychischer Arbeit impliziert nicht nur die Frage, ob ein psychoanalytisches Verfahren angemessen erscheint oder entsprechende Vorarbeiten notwendig sind, sondern umfasst auch Überlegungen zur Intensität, d. h. zur Häufigkeit der Sitzungen pro Woche, die als optimal, wünschbar oder realisierbar angesehen wird. Zwar haben Lehrer, Richter oder Sozialarbeiter oft ein zielsicheres Gefühl, dass bei einem Kind bzw. Jugendlichen Hilfe nötig ist. Die Indikationsstellung für eine psychoanalytische Psychotherapie oder gar für eine Kinder- oder Jugendlichen-Analyse aber kann nur durch die entsprechenden Fachpersonen erfolgen.

Der Leidensfaktor als Kriterium ist bei Kindern und Jugendlichen viel schwieriger einzuschätzen als bei Erwachsenen. Das manifeste Leiden liegt oft bei den Eltern oder anderen Personen in der Umgebung. Dies mag den Eindruck erwecken, als empfänden Kinder oder Jugendlich ihr Leiden nicht. Dieser Schein trügt, denn das entsprechende Leiden ist oft nicht offensichtlich, sondern abgewehrt und nur indirekt erschließbar. Auch die Funktionsstörung ist nicht so einfach als Kriterium zu verwenden. Die Balance zwischen den libidinösen und aggressiven Besetzungen ist nach dem ersten Lebensjahr zwar üblicherweise meist zugunsten der Außenwelt, d. h. der Objektbesetzungen, verschoben, aber ihre Rückbindung ins Autoerotische und Autoaggressive ist ebenso kein wirklich verlässliches Kriterium zur Indikation einer psychoanalytischen Behandlung.

Die Beurteilung einer Störung der Gesamtentwicklung stellt wahrscheinlich einen der wichtigsten Schritte dar. Sie entspricht aber einem komplexen Verfahren und trägt die Verführung in sich, zu genaue und auf zu lange Zeiten ausgerichtete Antizipationen vorzunehmen. In jedem Falle müssen stets qualitative und quantitative Faktoren verschiedenster Funktionen und Beziehungsanteile sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Anna Freud (1967) sah vor allem eine Indikation bei permanenten Entwicklungsstörungen und generalisierten Ich-Schädigungen. Sie fand eine analytische Behandlung dann angezeigt, »wenn Kinder trotz potentiell guter Intelligenz realitätsfremd bleiben, wenn sie keinen Zugang zu ihrem eigenen Gefühlsleben haben, wenn ihre Gedächtnislücken weiter gehen als die normale infantile Amnesie, wenn sie in ihrer Person gespalten sind, wenn ihre Motilität nicht ihren Ich-Interessen zur Verfügung steht« (S. 252).

1.3 Ist ein psychoanalytisches Verfahren, sei dies niederoder hochfrequent, in dieser Situation die bestmögliche Behandlungsmethode?

Letztlich endet die Untersuchung mit der Frage: Ist ein psychoanalytisches Verfahren, sei dies nieder- oder hochfrequent, in dieser Situation die bestmögliche Behandlungsmethode? (Dies ist gewiss nicht der Fall, wenn es sich um vorwiegend interpersonale Probleme oder harmlose ephemere Störphänomene handelt, wie sie in der Entwicklung von jedem Kind/Jugendlichen auftreten.) Falls ja, was steht im Vordergrund? Handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine sog. »frühe Störung«, bei welcher es über längere Zeit darum geht, innerhalb der Übertragungs-/Gegenübertragungsprozesse averbale Erfahrungsinhalte in angemessene verbale Inhalte zu übersetzen und bei ihrer Integration behilflich zu sein? Oder stehen isolierte, dissoziierte Erlebnisse eines frühkindlichen Traumas im Vordergrund? Wären vor allem die Ich-Funktionen zu stärken, damit sich der Patient mit intrapsychischen Funktionen (z. B. der Steuerung bzw. Regulation von Impulsen, Affekten, Denkabläufen und Handlungsweisen oder der Entwicklung besser geeigneter Abwehrformationen) oder Konflikten (z. B. zwischen Ich und Über-Ich oder zwischen widersprüchlichen Selbstanteilen) kreativ auseinandersetzen könnte? Sollte vor allem über die sich entwickelnde Beziehung eine Veränderung der Beziehungsfähigkeit erreicht werden? Wäre es angebracht, den Umgang mit dem eigenen Körper so verändern zu helfen, dass dieser, statt zum Schlachtfeld intrapsychischer Konflikte zu werden, zu einem Ort von angenehmen Empfindungen und damit gerne bewohnbar werden könnte? Solche Grundfragen sind schon deshalb relevant, weil sie die Theorie der Technik beeinflussen und eine zentrale Auswirkung auf die jeweilige Interventionsart haben.

Grundsätzlich kann von folgenden Fakten ausgegangen werden: Je schwerer, d. h. entwicklungsbeeinträchtigender eine Störung ist, desto mehr kann das Kind bzw. der Jugendliche von einem hochfrequenten, analytisch-psychotherapeutischen Prozess profitieren. Aber der Zeit- und Kostenaufwand für jeden solchen Prozess ist im Einzelfall frisch einzuschätzen, ebenso die Unterstützung bzw. mögliche Sabotierung eines analytischen Prozesses durch die maßgeblichen Betreuungspersonen. In nicht wenigen Fällen bedarf es vorausgehender oder parallel verlaufender, erzieherischer und/oder betreuerischer Maßnahmen und Beratungen, damit nachfolgend ein erfolgversprechendes, analytisch-psychotherapeutisches Setting etabliert werden kann.

Während früher die Indikationsstellung weitgehend von den psychopathologischen Phänomenen beim Patienten bestimmt wurde, wurde später, in einer Gegenbewegung, zunehmend Gewicht auf die Therapeuten-Variablen gelegt.

Wir gehen hier in erster Linie von der Frage aus, ob sich im diagnostisch-psychotherapeutischen Verfahren zwischen den jeweils einbezogenen Protagonisten erste Signa eines analytischen Prozesses abzeichnen und erfassen lassen. Ein solcher wird determiniert einerseits durch die Psychopathologie des Patienten, andererseits durch die kognitiven, emotionalen und beziehungsmäßigen Fähigkeiten der Untersuchenden und schließlich durch eine jeweils spezifische, wechselseitige Dynamik zwischen den beiden betreffenden Protagonisten (und dem jeweiligen Umfeld). Dies ist von besonderer Bedeutung, wenn die Behandlung gegebenenfalls nicht durch eine der untersuchenden Personen selbst durchgeführt werden kann. Wenn es zwischen der diagnostisch-psychotherapeutischen Person A und einem Patienten aber zu ersten Phänomenen eines analytischen Prozesses gekommen ist, so besteht eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, dass sich ein solcher auch mit einer analogen Person B entwickeln kann, sofern diese mit der gleichen analytischen Methodik arbeitet.

Der analytische Prozess wird somit geprägt sein durch die Psychen der beiden Protagonisten und ihre Fähigkeit, sich auf ihn einzulassen. Er trägt die unverwechselbaren Züge der jeweiligen Dyade und ihrer Aufgabenaufteilung.

Nicht jeder leidende Patient braucht Hilfe in Form einer analytischen Psychotherapie oder einer hochfrequenten Psychoanalyse. Aber das Feld der psychoanalytischen Interventionen hat sich infolge der Einflüsse der Säuglingsforschung, der Konzepte von Anna Freud, Melanie Klein, Winnicott, Bion, Ogden u. v. a. m. und zum Teil vielleicht auch der Selbstpsychologie stark ausgeweitet. Es hat sich gezeigt, dass das psychoanalytische Konzeptualisieren gerade bei frühgestörten oder sonst ernsthaft psychisch kranken Patienten viel zum Verständnis und zur psychischen Hilfe beizutragen hat. Es erscheint uns als wichtig, das analytische Reflektieren mit einem Entwicklungsmodell zu begleiten, um die Patienten nicht zu überfordern und gleichzeitig auch reflektierbare Kriterien für den analytischen Prozess zu schaffen.

Wir gehen von der Überzeugung aus, dass das Kind seiner Umgebung unbewusste Mitteilungen über Grundbedürfnisse und zentrale Entwicklungstendenzen »zur Verfügung stellt«. Mit dem, was es erkennen lässt, gibt es Kunde von dem, was es braucht.

Die Indikationsabklärung bezieht nicht nur den Patienten ein, sondern umfasst auch die Erarbeitung von gemeinsamen Sichtweisen, sowohl mit den Patienten als auch mit deren Eltern. Obwohl wir keineswegs die Bedeutung des Umfelds schmälern möchten, ist doch zu betonen, dass die Hauptarbeit eines analytischpsychotherapeutischen Prozesses an den internalisierten Strukturen und Beziehungsmustern des Kindes bzw. Jugendlichen stattfindet.

Die Arbeit mit dem persönlichen Umfeld eines Patienten wird hier nicht weiter ausgeführt. Gewisse Umweltkonfigurationen machen aber eine psychotherapeutische Arbeit an internalisierten Strukturen eines Kindes bzw. Jugendlichen unmöglich. Als solche sind sie somit in die Indikationsüberlegungen einzubeziehen.

Oft gebrauchen wir primär nicht bewusstes, theoretisch-praktisches Wissen, das unser Handeln leitet. Dieses könnten wir auch »implizite, vorbewusste Theorien« nennen. Obwohl wir gar nicht anders können, als Theorien und Konzepte zu bilden, ist die Einsicht in deren Beschränktheit und die Notwendigkeit einer anhaltenden Verbesserung unabweisbar. Dies gilt vor allem angesichts eines Unbewussten, das sich jeglicher Eingrenzung durch eine Theorie entzieht, und auch im Hinblick auf ein Vorbewusstes, das sich in dauernder, interpersonal und intrapsychisch bedingter Wandlung befindet. Die Überlegungen zur Indikation einer psychoanalytischen Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen enthalten notwendigerweise implizit ein Konzept darüber, was eigentlich der psychoanalytische Prozess innerhalb einer Psychotherapie sei.

Was sich, neben der unendlichen Vielfalt der Inhalte, im Verlaufe einer Psychotherapie prozesshaft verändert, ist die Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Diese Beziehung ist ein Austauschgeschehen mit dialogischem Charakter, ein Zwischen- und Übergangsbereich mit fluktuierendem Bedeutungsgehalt und wechselnder emotionaler Bewegung, in welchem sich Innenwelt in Außenwelt umsetzt und umgekehrt. Bei den Überlegungen zur Indikation ist somit zu fragen, wie weit ein Dialog mit dem Patienten und emotionale Bewegungen bei ihm in den diagnostisch-psychotherapeutischen Interviews möglich werden, die uns als Hinweise auf seine Fähigkeit dienen, sich auf einen psychoanalytisch-psychotherapeutischen Prozess einzulassen. Das Schaffen von Raum für emotionale Bewegungen, sowohl in der diagnostisch-psychotherapeutischen Beziehung als auch später im psychoanalytisch-psychotherapeutischen Prozess, ist kein ungefährliches Unterfangen. Solche Bewegungen bedürfen einer sorgfältigen gemeinsamen Steuerung von Seiten beider Interaktionspartner. Dies erfordert vom Patienten einiges an funktionaler Ich-Stärke und Vertrauen in die Beziehung, vom Therapeuten angemessene Abstinenz, aber auch Natürlichkeit und Fähigkeit zu spielerischem Ernst. Als gemeinsame Aufgabe gehört dazu die stete Wiederherstellung eines Arbeitsbündnisses. Beim Patienten wird die Steuerung immer wieder durch intrapsychische und interpersonale – somit auch durch intergenerationale – Konflikte, die in den analytisch-psychotherapeutischen Beziehungsraum einbrechen, infrage gestellt und gefährdet.

KAPITEL 2
 
Anmerkungen zur Entwicklung des Kindes bzw. des Jugendlichen

2.1 Zur biologisch-genetischen Entwicklung

Der neuroanatomische Grundaufbau des Gehirns ist durch Erbanlagen bestimmt. Während der ersten Entwicklungsphasen beeinflussen Erfahrungsmuster die spezifische Gestalt der neuronalen Verzweigungen und Verbindungsstellen, welche sich nach dem Prinzip der Häufigkeit des Gebrauchs entwickeln. Die sensorischen Signale werden in neurochemische und zelluläre Prozesse umgesetzt, die Auswirkungen auf die Struktur und Funktion des Gehirns haben (van der Kolk, 1998). Neuronale Konnektivitäten und Funktionen sind auf allen Organisationsebenen des Gehirns von einer außerordentlichen Plastizität. Anatomische, physiologische und chemische Veränderungen finden während des ganzen Lebens in einem komplexen Wechselspiel mit umgebenden Kräften statt und formen kontinuierlich Verhalten, Wissen und Können eines Individuums. Gehirn und Umwelt kommunizieren interaktiv und beeinflussen sich gegenseitig. Die Einwirkung von Umweltfaktoren auf die genetische Trägersubstanz erfolgt über die Beeinflussung von Umhüllungsproteinen der Desoxyribonukleinsäuren in den Chromosomen, ein Einfluss, welcher die Expression von Genen mitbestimmt (Epigenetik). Mentale Prozesse sind letztlich alle mit biologischen Abläufen korreliert. Veränderungen von psychischen Prozessen sind somit stets mit entsprechenden organischen Modifikationen verbunden und vice versa (Price et al., 2000). Die Plastizität des Gehirns umfasst einerseits eine erhebliche Anpassungsfähigkeit, macht andererseits Säuglinge und Kleinkinder aber besonders anfällig auch für langfristige Auswirkungen störender traumatischer Einflüsse (van der Kolk, 1998; van der Kolk et al., 2000).

Wahrnehmung und Bewusstwerden von Körperempfindungen und Emotionen sind fundamentale Bausteine in der Entwicklung von Selbsterleben und Selbstbild sowie von kognitiven Prozessen und Kreativität. Diese grundlegenden Erfahrungsmuster bauen sich in den frühesten Beziehungen mit primären Betreuungspersonen auf. Bestimmte Bereiche des Nervensystems müssen in entscheidenden Entwicklungsphasen durch Interaktion des Individuums mit der Umwelt angemessen stimuliert werden, damit sie später optimal funktionieren können.

2.2 Zur psychischen Entwicklung

Das Individuum kann sich nicht allein seine eigene Geschichte aufbauen, da es immer in einer Familiengeschichte verankert ist. Diese enthält Prozesse, die dem Leben des Individuums vorausgehen und in denen es seinen Platz als Subjekt einnimmt. In diesem psychischen Übermittlungsprozess wird ihm das kulturelle Erbe der vorangegangenen Generationen transferiert. Die transgenerationelle Erbschaft, die aus psychischen Erlebnissen und den damit verbundenen Phantasmen, Bildern, Affekten und Identifikationen besteht, gestaltet ein mythisches Narrativ, aus dem jedes Individuum die notwendigen Elemente zur Bildung seiner persönlichen Familiengeschichte (und im weiteren Sinne seiner Kultur) entnimmt.

Säuglinge brauchen zu ihrer Entwicklung eine Geschichte, und zwar nicht nur eine biologische oder genetische, sondern auch eine Beziehungsgeschichte. Der Säugling schreibt sich in eine doppelte Filiation, d. h. in die intergenerationale Längsschnittsgeschichte seiner beider Eltern, ein.

Das Erleben des Säuglings besteht auf der einen Seite im Wunsche nach Kommunikation, d. h. nach zwischenmenschlichem, emotionalem Austausch, der von seiner Seite nur durch nonverbale Kommunikation zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Befriedigung vitaler Bedürfnisse auf der anderen Seite ist anfänglich zumeist mit kommunikativen Austausch-Aktivitäten verknüpft.

Die libidinöse »Besetzung« des Gegenübers wird umso größer, je mehr Kontinuität und lustvolle Erfahrungen damit verknüpft sind. Positiv und negativ erlebte Interaktionen werden als entsprechende Beziehungsrepräsentanzen gespeichert und phantasmatisch weiter elaboriert. Mithilfe der innerlich errichteten Repräsentanzen und der Phantasieaktivität werden Trennungen durch das Verlangen und das Sehnen nach Fortsetzung der Beziehung, d. h. des lustvollen emotionalen Austausches, intrapsychisch zu überbrücken versucht; negativ getönte Repräsentanzen worden oft mit Vermeidungen verknüpft.

Die Entwicklung des Selbst und der Aufbau der Selbstrepräsentanz finden in einem kontinuierlichen Prozess zwischen Säugling und den primären Betreuungspersonen statt. Dieser wiederum beruht auf der zwischenmenschlichen Kommunikation mit all ihren asymmetrischen Bedürfnissen, Begehren und Befriedigungen. Zu den fundamentalen Bausteinen in der Entwicklung des Selbst und der Selbstrepräsentanz im Säuglings- und Kleinkindalter gehören das »affect attunement« (Stern, 1984) und das »social referencing« (Klinnert et al., 1983). Die affektive Einstimmung der Bezugspersonen entsteht aus dem Wunsch nach dem Aufbau oder der Erhaltung eines in der Beziehungsinteraktion zwischen Mutter und Säugling gemeinsam erlebten Gefühlszustandes. Sie gibt beiden Protagonisten das Gefühl, durch die andere Person emotional wahrgenommen zu werden (Bürgin, 1989a).

Der Begriff affect attunement wurde in der Säuglingsforschung gebildet, und zwar für das Phänomen, dass die primären Pflegepersonen in einer Art breiter Imitation die Signale des Säuglings (z. B. die an- und abschwellenden Emotionen, die Intensitätsabläufe von Bewegungen und manchmal die Übersetzung von einer in andere Sinnesmodalitäten) aufnehmen und sich dann, wie spiegelnd, fast identisch verhalten. Aber nur fast. Denn die erhaltene »Mitteilung« wird meist in Frequenz, Amplitude etc. oder sogar der Sinnesart moduliert, aber nicht so stark, dass sie für den Säugling nicht mehr erkennbar wäre, und doch so deutlich, dass sie gerade zum Fokus des Interesses für ihn wird. Auch bei guten Beziehungen kommt es nur in einem Drittel der Kontakte zu einer lustvoll verknüpften Interaktion (Tronick, 2007), was jedoch für eine normale Entwicklung genügt. Die Kunst einer durchschnittlich guten Mutter besteht darin, ihrem Kind und sich selbst solche Abweichungen zuzumuten und das Ergebnis intersubjektiv spielerisch zu nutzen, um zu sehen, wohin der gemeinsam erlernte »Interaktionstanz« führt. Im Idealfall gewinnt der Säugling Spaß und Neugierde daran. Er imitiert daraufhin dieses Verhalten und erwirbt sich auf diese Weise ein flexibles Interesse an der Erforschung von Neuem. Die Herausforderung bewegt sich damit innerhalb des Spektrums des Zumutbaren, bewirkt keine Regression, sondern aktiviert den Versuch einer die Autonomie steigernden, progressiven Erforschung der eigenen Möglichkeiten.

Beim »Sich-Rückversichern im sozialen Kontext« (social referencing) entsteht eine affektive Gemeinsamkeit zwischen Säugling und Betreuungsperson. Sieht sich der Säugling oder das Kleinkind z. B. mit einer Situation konfrontiert, in der er bzw. es unter verschiedenen möglichen Verhaltensweisen nicht zu entscheiden vermag, welche er oder es wählen soll, so erforscht er/es den Gesichtsausdruck der primären Bezugsperson und benutzt deren emotionale Informationen (z. B. Aufmunterung oder Warnung, entsprechend der jeweiligen Situation) zur Regulierung seines eigenen Verhaltens.

Der Säugling findet sich in der im Gesichtsausdruck seiner Mutter widergespiegelten »emotionalen Besetzung«, das heißt: Wie ich von dir wahrgenommen werde, so bin ich (Winnicott, 1973a). Die emotionale Selbstregulierung des Säuglings ist also von den affektregulierenden Interaktionen mit der primären Betreuungsperson abhängig. Diese werden einerseits durch die Qualität der entsprechenden Affektzustände und das Kommunikationsverhalten beeinflusst, andererseits durch die emotionalen Rückmeldungen, welche der Säugling bei der sozialen Erkundung und dem affektiven Sich-Rückversichern erhält.

Die kognitive Integration des emotionalen Erlebens innerer und äußerer Realität ist eine anhaltende Aufgabe vom ersten Lebenstag an. Sie ermöglicht schon sehr früh eine Kontinuität im Selbst-Erleben. Je mehr und je komplexere Integrationen stattfinden, desto intensiver und differenziert-strukturierter wird die Wahrnehmung einer Eigenkontinuität erlebt. Je reicher – aufgrund der Internalisierungsvorgänge – die Welt innerer Repräsentanzen und der erworbenen Fertigkeiten beim Säugling und Kleinkind wird, desto größer wird auch seine Autonomie von den Betreuungspersonen, sowohl auf psychischer als auch auf körperlicher Ebene. Die unserer Ansicht nach bereits ganz zu Beginn der Entwicklung schon im Keim vorhandene Fähigkeit, Inneres und Äußeres zu unterscheiden, aber auch zu verbinden, verlangt eine zunehmende Regulation von Impulsen und Affekten und differenziert sich im Verlaufe der individuellen Entwicklung immer weiter. Im dyadischen Spiel erlernt das Kind Kommunikationsabläufe, die es in seiner monadischen Innenwelt allein nicht entwickeln kann. Das bedeutungsvolle Gegenüber bringt im interaktiven Übergangsraum alternative Ideen oder Lösungen ein und vermittelt auch andere Verbindungen zur Realität. Das Kind erlebt so auf spielerische Art und Weise eine sein Selbst immer wieder erweiternde Erfahrung. In der interpersonalen Kommunikation entsteht – durch die erlebte Selbst- und Beziehungserfahrung – somit eine neue (inter-)subjektive Erlebniswelt.

Störungen der affektiven Einstimmung können große Enttäuschungen nach sich ziehen und auf Seiten des Kleinkindes einen Besetzungsabzug bewirken. Die als Rückzug und Entwertung erlebte Beziehungsart wird internalisiert, d. h. intrapsychisch repräsentiert. Beziehungsenttäuschungen können – infolge des entwerteten verinnerlichten Selbstobjekts – somit zu Selbstentwertungen Anlass geben. Ebenso sind Störungen beim »social referencing« mit gemischten Gefühlen (z. B. mit Scham und narzisstischer Verletzung) verknüpft (Bürgin, 1989a).

Die vom Säugling externalisierten Emotionen werden von der ausreichend guten Mutter bzw. Betreuungsperson aufgenommen, bewahrt, umgewandelt und ihm, in Form ihrer differenzierten Reaktionen, wieder zur Verfügung gestellt (»Containment«, Bion, 1992). Die Internalisierung der Containment-Erfahrung ermöglicht den Aufbau eines Systems von inneren Beziehungs-Repräsentanzen. Wenn die Holding- bzw. Containing-Funktion der primären Bezugsperson fehlt, entstehen häufig multiple Ängste sowie Formen narzisstischer Wut, was die Entwicklung der Steuerungsfunktionen für liebevolle und aggressive Impulse stark zu beeinträchtigen vermag.

Die intrapsychische Entwicklung beinhaltet einen anhaltenden Verlust- und Trauerprozess bezüglich des jeweils erreichten intrapsychischen Strukturniveaus. Denn mit jedem Voranschreiten der Entwicklung muss ein Stück des bisher Erreichten aufgegeben bzw. neu integriert werden. Es findet somit eine fortwährende Umgestaltung innerhalb des komplexen Systems der Selbst- und Objektrepräsentanzen sowie der Bedürfnisstrukturen, der Arten des Begehrens und der Modi der Affektsteuerung statt. Beim irreversiblen »Verlust der Kindheit«, der mit dem Eintritt der Adoleszenz verbunden ist, hat der bzw. die Jugendliche notwendigerweise immerfort ein Stück Trauerarbeit zu leisten, um sich den neuen Aufgaben des Erwachsenwerdens stellen zu können.

Die Pubertät ist eine Phase gewaltiger psychischer Umwälzungen. Eine Kombination von gesteigertem Triebdruck und erhöhten Forderungen von Seiten der Umwelt, wie sie sich in der Adoleszenz darbietet, stellt das Ich vor eine außerordentlich schwierige Aufgabe und bewirkt eine gesteigerte Verletzbarkeit. Pubertät und Adoleszenz verlangen vom Individuum – ganz besonders in einer Gesellschaft, die wenig Sicherheit vermittelnde Rituale als Leitlinien für diese Zeit anbietet – völlig neue Problemlösungsstrategien. Dazu müssen viele Ich-Funktionen entautomatisiert werden. Dieser Vorgang ist mit einem Autonomieverlust verbunden. Das Ich ist in seinem Funktionsniveau (temporär, partiell oder total) von Regression bedroht, wenn der Besetzungsabzug von den Primärobjekten und die verstärkte Besetzung des Selbst (narzisstischer Rückzug) durch die adoleszentäre Entwicklung vorangetrieben werden. Die Reaktivierung infantiler Konflikte durch den Triebdruck und die zunehmenden Forderungen der Außenwelt stellen zusätzliche Faktoren dar, welche die lch-Funktionen in ihrer Autonomie einschränken können. In der Adoleszenz definiert sich das Ich neu gegenüber seiner Umwelt, d. h. seinem gesellschaftlichen Bezugssystem. Es ergreift zur Stabilisierung temporär infrage gestellter Ich-Funktionen oft ohne viel Zögern bereitliegende, ritualisierte Verhaltensformen (z. B. die Subkulturnormen in der Gruppe Gleichaltriger). In der Spätadoleszenz wird offensichtlich, welche Modalitäten das Ich in seiner hierarchischen Ordnung als wichtigste herauskristallisiert hat, um sich eine möglichst große Autonomie seiner Funktionen gegenüber der Umwelt zu bewahren. In diesem Zeitabschnitt wird ebenso erprobt, ob das Ich sich die Fähigkeit bewahrt hat, inneres Wachstum mit aktivem Einwirken auf die Umwelt zu verbinden.

Kinder und Jugendliche befinden sich in einer genetisch vorgegebenen, besonders starken körperlichen und seelischen Entwicklung. Diese kann einerseits dann als große Hilfe für die psychotherapeutische Arbeit angesehen werden, wenn die den therapeutischen Prozess unterstützenden Faktoren (z. B. das Wachstum oder die Triebdynamik) durch die Entwicklungsprozesse gefördert werden. Andererseits kann die Entwicklung eine vorbestehende Störung aber auch intensivieren; zusätzliche entwicklungsbedingte Störungen können sich dann auf die bereits bestehenden »aufpfropfen« und vorhandene Ressourcen verschütten.

Spricht man von Kindern oder Jugendlichen, so handelt es sich dabei um körperlich und seelisch sehr unterschiedliche Individuen, vor allem wenn man den Faktor Alter mit einbezieht. Es ist evident, dass zwischen z. B. einem vierjährigen, einem siebenjährigen, einem elfjährigen und einem siebzehnjährigen Patienten auf allen psychischen Ebenen wie auch im Körperlichen, also in der gesamten Ich- und Persönlichkeitsentwicklung, enorme Unterschiede bestehen. Diese verlangen entsprechend vom Psychotherapeuten ein jeweils völlig anderes Anpassungsvermögen, allein, was die Art der Sprache, des Denkens und Fühlens und damit der Interventionen angeht, geschweige denn, was die selektiven und umschriebenen Regressionen betrifft, die nötig sind, um die empathische Einfühlungs- und Orientierungsarbeit leisten zu können.

Ist die Indikation einmal gestellt, so sollte versucht werden, den Eltern – im Einverständnis und mit der Erlaubnis des Kindes – zugänglich zu machen, aufgrund welcher Überlegungen und Befunde eine Therapie stattfinden soll, ihnen also etwas vom Spezifischen des diagnostisch-psychotherapeutischen Prozesses zu vermitteln.

2.3 Frühestes postnatales Leben

Im frühesten postnatalen Leben wird der Säugling mit unzähligen unerwarteten, völlig neuen und zum Teil störenden Erfahrungen konfrontiert. Unvermeidbar hat er dabei frustrierende Erlebnisse, insbesondere wenn die Real-Erfahrungen, und zwar über die Toleranzgrenze hinweg, stark mit den hereditären Prä-Konzepten kontrastieren. Das menschliche Baby gehört biologisch zur Kategorie der Säugetiere. So kann z. B. eine Absenz, ein Nicht-Vorhanden- oder Anders-Sein der »Brust« in deutlicher Diskrepanz zu den biologisch fundierten und auch mit Begehren besetzten Erwartungen eines Säuglings stehen.

Zu Beginn der Entwicklung stehen die somatosensorischen und emotionalen Erfahrungen im Vordergrund. Sie gestalten die ersten Beziehungserfahrungen. Diejenige reale Person, die dem Säugling regelmäßig Befriedigung somatischer Bedürfnisse und psychischen Begehrens vermittelt, sorgt für die erste Realisierung des libidinösen Triebzieles. Aufgrund einer Überzahl an positiven Erfahrungen entsteht der Wunsch nach Wiederholung des lustvoll Erlebten. Hieraus bilden sich erste Summenrepräsentanzen der Erfahrung von »Selbst mit dem Objekt«. Diese Objektrepräsentanzen werden in der Innenwelt des Säuglings zunehmend stabiler. Solange das Realobjekt vorhanden ist, wird die Repräsentanz nicht »besetzt«, die Besetzung der Wahrnehmung (d. h. des Realobjekts) überwiegt. Bei Absenz des Realobjekts hingegen erfährt die Objektrepräsentanz eine von der Begehrensspannung abhängige libidinöse »Besetzung«. In diesem Sinne, könnte man also sagen, kreiert die Absenz das intrapsychische Objekt, denn die hohe Besetzung erzeugt eine halluzinatorische Präsenz, mit welcher für eine gewisse Zeit Bedürfnisse und Begehren abgesättigt werden können. Eine solche halluzinatorische Präsenz basiert auf einem Grundvermögen, Wahrnehmungen intrapsychisch in Form von Imaginationen und Vorstellungen zu vergegenwärtigen. Die Bindung eines Begehrens bzw. Bedürfnisses an eine solche Vorstellung könnte man als die Grundform eines ersten gerichteten Gedankens bezeichnen. Das Vorhandensein solcher »Gedanken« erfordert nun den Aufbau einer entsprechenden Struktur, um solche Gedanken zu entwickeln und weiterzudenken.

Ist ein Säugling – aus welchen Gründen auch immer – nicht imstande, die aus Spannungen und Frustration entstehenden unlustvollen Empfindungen zu ertragen, so wird das, was ein Gedanke hätte werden können, entweder zu einer Handlung (z. B. Schreien), die Spannung und Schmerz eliminiert oder evakuiert, zu exzessiver Projektion oder zu einer Denkvermeidung bzw. -hemmung (z. B. in Form gesteigerten omnipotenten, rein wunscherfüllenden Denkens). Was sich zu einer Struktur zum Denken von Gedanken (Bion, 1992) hätte entwickeln können, kann sich im ungünstigen Falle zu einer hypertrophierten Fähigkeit ausgestalten, mittels projektiver Identifikationen Störendes loszuwerden oder mittels Gedanken die Fähigkeit, zu denken, zu zerstören. Unerwünschte oder belastende Gedanken brauchen ein Gegenüber, um in eine Form gebracht zu werden, in der sie vom Individuum gedacht werden können.

Säuglinge sprechen noch nicht. Ihr aufkeimendes phantasmatisches Leben offenbart sich (angesichts dessen, was die Eltern tun und sagen) anhand ihres Verhaltens. Der interaktive Austausch lässt erkennen, wie sich das innere Leben des Kindes zu organisieren beginnt.

Um die beobachtbaren Interaktionen zwischen Hauptbetreuungspersonen und Säuglingen zu erklären, bedürfen das Konzept der reinen Sach-, Ding-, Wort-, Selbst- oder Objekt-Repräsentanzen sowie das Phänomen der Symbolisierung einer Ergänzung durch den Mechanismus eines intrapsychischen, auf der Phantasieebene erfolgenden interaktiven Austauschs zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen. Mit diesem Mechanismus wird die innerseelische Dynamik zwischen der beinahe unendlichen Vielzahl von Repräsentanzen beschrieben.

2.4 Zur psychosexuellen Entwicklung aus psychoanalytischer Sicht

Wenn wir einen neugeborenen Säugling betrachten, so sehen wir, dass er ein auf die Außenwelt gerichtetes Austausch-Verhalten zeigt. Er ist dieser Außenwelt für sein Überleben auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er atmet, saugt und trinkt, scheidet aus und meldet sich vokal. Diese im Inneren entstehende, nach außen gerichtete Kraft gehört zur genetischen Ausstattung. Freud (1905) nannte sie »Trieb« und beschrieb mit dem »Ludeln« (»Wonnesaugen«; S. 80) das Phänomen einer Suche nach Lust, die auf das Ziel der Nahrungsaufnahme verzichtet und später den Weg zur Masturbation zu bereiten vermag. Die amerikanische Psychologie sprach statt von »Trieb« mehr von Motivationssystemen; in der Neurophysiologie würde man von neuronalen Netzwerken als Teilen eines gerichteten Funktionssystems sprechen.

Auf die Manifestationen dieses vitalen Triebes erfolgt eine Antwort von Seiten der Außenwelt, d. h. der primären Pflegepersonen. Dieser sich immer wieder verändernde, intersubjektive Zweiklang bestimmt die Modalität, in welcher die Differenzierung, Veränderung und Modifizierung der Triebimpulse des Säuglings und des Kleinkindes ablaufen.