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Reiner Hänsch

100.000 Tacken

Die Knippschilds und der Ärger mit dem Reichtum

Eine Mietshaustragödie

FUEGO

- Über dieses Buch -

Die Knippschilds haben geerbt! Hunderttausend Tacken, wie der Sauerländer sagt - also Euros - von Onkel Günter, dem alten Miesepeter. Alex, Steffi und Max sind also plötzlich reich! Naja, wenigstens sieht es erst mal sehr schön aus auf dem bisher immer recht übersichtlichen Konto der Familie.

Doch Geld einfach so bei der Bank liegen lassen? Geld muss doch arbeiten! Da hat das „Finanzgenie“ Alex Knippschild eine großartige Idee: Man kauft ein Mietshaus. Das nennt man gut angelegt … oder?

Und damit beginnt die tragische Mietshauskomödie um die Sauerländer Familie Knippschild und den großen grauen Kasten in Arnsberg. Das Haus steckt voller … sagen wir mal, interessanter Leute und Abenteuer, die das Leben von Alex, Steffi uund Max völlig auf den Kopf stellen. Eine Katastrophe folgt der anderen. Das schöne Haus ist alt, marode und eigentlich unbewohnbar.

„Allet im Arsch!“, wie Herr Prankow, der handwerkende Rockerpräsident es vorsichtig umschreibt.

Dass Alex gleichzeitig noch einem ominösen Geldfälscher auf der Spur ist, dessen Blüten das ganze Sauerland überschwemmen, macht die Geschichte hochkriminalistisch, ganz schön aufregend und auf jeden Fall witzig und sehr amüsant - bis zum furiosen Ende.

 

Nach den beiden Sauerland-Bestsellern „Rotzverdammi“ und „Die Faxen dicke“ hier der dritte Roman von Reiner Hänsch. Die zweite Episode der äußerst humorvollen „Knippschild-Saga“.

 

- Erste Reaktionen -

„Echter Brüller. Bin immer noch am Gibbeln!“

Heinz-Jürgen aus Ramsbeck

„Witzig, spritzig, irre komisch!“

Der Sauerlandbeobachter, Leckede-Hintersten

„Dat gibb´s donnich!“

Silke aus Usseln

 

 

 

 

„Neger sagt man nicht!“

Alex Knippschild

 

„Mann, Alex, das war knapp!“

Steffi Knippschild

 

„… ein kleiner Mann, der soooo einen langen Pimmel hat!“

Max Knippschild

 

„Allet raus! Allet neu, wa?“

Jürgen Prankow

Wer macht alles mit?

Alex Knippschild – Redaktionsleiter des Sauerlandbeobachters, Ehemann und Vater

Steffi Knippschild – seine Frau, Mutter von Max, sieht toll aus

Max – Sohn, ist schon zwölf

Onkel Günter – Alex’ Onkel, alter Miesepeter, schon tot

Herr Prankow – der Mann für alles, Facility Manager

Willi Dunkeloh – der Makler, kommt leicht ins Schwitzen

Heribert Beckebanz – der Sparkassenfuzzi

 

Die Redaktion des Sauerlandbeobachters:

Der Don (Camillo) – Heinz-Josef Camillo-Montebello, Partner

Ulli Müllenbach

Anke Niggeloh

Elke Hagenkordt

Peter Wichmann

Herkules – Dogge

 

Die Hausbewohner:

Ashok Bhattacharya

Herr Horstkötter

Ehepaar Bolschakow

Wukuada

Nguyen

Fadlallah

Panagopoulos

Familie Göktürk

Takis Orakel

 

Helmut Vonderbrake – Klempnerfreund der Familie

Gaetano und Giovanna – Inhaber des Sapori Italiani, lecker

Herr Matzendörfer – Prankow’s rechte Hand, feine Manieren

Herr Kohle – muffiger Buchhändler im Ort

Sybille Haushalter – seine Angestellte, zickig

Herr Dorenkamp – Juwelier

Der olle Kurzhöfer – Inhaber des Edeka-Marktes (merkt nix)

Lord Dumbledore – Notar Dr. Dr. Großjohann

Herr Pollmann – früherer Besitzer des Hauses

Der Götze – Bauunternehmer, Halsabschneider, Raffzahn

Günter Jauch – auch Hausbesitzer

Polizeiobermeister Kersting – Dorfsheriff

Ehepaar Witthüchter – schon älter, etwas wackelig auffe Beine

Alfred und Helga – Steffi’s Eltern, Campingfreunde mit Hümer

Die Gebrüder Stankozi – Elektro-Cowboys

Die Sülke, Prankow’s Freundin, ein Baumarktchinese, eine Baumarktkassiererin, ein McDonalds-Chef, eine aufgebrachte Menge, Götze’s Bautrup, ein paar echte Chinesen, Prankow’s Rocker-Bauteam, Polizei, Feuerwehr, Sanitäter und das Technische Hilfswerk, ein paar Hühner, ein paar Hunde …

Bruce Willis

„Alex, pass auf!“, brüllt Steffi mir panisch durch den tobenden Sturm zu, als ein Dachziegel auch schon direkt neben mir einschlägt und eindrucksvoll auf den rohen Holzbrettern des Dachbodens zerschellt. Mann, das war knapp. Und da wirbelt auch schon der nächste wie ein böses Geschoss an mir vorbei und zerplatzt aufsehenerregend am Kaminschlot, der in das nach oben schon leicht löchrige Dach ragt. Man hat noch nicht mal gehört, wie er förmlich explodiert, weil das Heulen und Brüllen des Sturms alles übertönt.

Steffi, Herr Prankow und ich versuchen verzweifelt, mit aller Kraft und bloßen Händen, die Dachziegel hier oben im Dachstuhl von innen festzuhalten, einzelne, mal hier, mal da. Es ist unmöglich, überall zu sein. Wir rennen umher wie Verirrte, aber wir schaffen es kaum schnell genug, die immer wieder aufbrechenden Lücken im Dach zu schließen. Der Sturm ist einfach zu gewaltig. Und wenn er einmal ein Loch gefressen hat, dann bricht alles auf.

„Da!“, brülle ich jetzt Herrn Prankow zu, der mit Feuereifer und ganzem Körpereinsatz immer wieder flatternde blaue Folie zwischen die Ziegel klemmt und an die Dachsparren tackert, damit der verdammte Sturm und der peitschende Regen nicht das ganze Dach wegpusten. Ein Dachziegel schießt – zum Glück in angemessener Entfernung und recht respektvoll – an Herrn Prankow vorbei.

Wir drei sind inzwischen völlig durchnässt und fast am Ende unserer Kräfte – physisch und psychisch. Herr Prankow hält da vielleicht etwas mehr aus. Der hat schon fast alles gesehen und erlebt, aber viel nützt es ihm auch nicht. Er hat eine kleine, ungefährliche, aber sehr dekorative blutige Schramme rechts im Gesicht und erinnert mich trotz des mächtigen schwarzen, wild wuchernden Bartes gerade ein wenig an Bruce Willis, der auch immer mindestens eine Schramme hat und selbst in den beschissensten Situationen trotzdem einfach verzweifelt weiterkämpft. Am Ende ist dann zwar alles zerstört, ganze Häuserzeilen sind vernichtet und alle Autos explodiert, aber das Böse ist auch besiegt. Der glatzköpfige Bruce kann wieder breit lächeln und bekommt die schönste Frau des ganzen Films, oder so. Glatze hat Herr Prankow auch. Aber mit seiner Frau läuft es im Moment, glaube ich, nicht so gut.

Unser schönes Haus geht kaputt!

Gerade bohrt sich wieder eine Sturmböe durch die eben erst angebrachte Plastikfolie, reißt alles wieder weg, tobt quer durch den ganzen Dachboden an uns vorbei, zur anderen Seite des Daches wieder hinaus und nimmt bestimmt zehn oder zwölf der roten Ziegel mit, die diesmal nach draußen fliegen und aus dieser Höhe von bestimmt dreizehn, vierzehn Metern recht elegant auf die Straße segeln. Ich verfolge gebannt und wie hypnotisiert ihren langen Flug nach unten.

Denn durch das eben erst entstandene Loch hat man auf dieser Seite des Daches jetzt einen sehr schönen neuen Blick nach draußen, nach unten auf die Straße. Es ist ein tolles, aufregendes Bild, das sich mir da bietet. Die Ruhrstraße in Arnsberg ist erhellt von den blau flackernden Lichtern eines Polizeiwagens und zweier Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr. Auch der gerade eingetroffene Notarztwagen hat noch eine passable Lücke auf dem Gehsteig vor dem Takis Orakel gefunden, um zwei Männer mit roten Rettungswesten herausspringen zu lassen, die einen leblosen Körper auf einer Bahre in den Notarztwagen hieven. Der Körper winkt mit der rechten Hand nach allen Seiten und macht ein recht überzeugendes Victory-Zeichen.

Meine Güte!

Die Ziegel zerschellen krachend auf dem Gehweg, haben aber außer einer gehörigen Unruhe unter den Rettungskräften anscheinend nichts anrichten können.

Das Baugerüst, das wir erst in der letzten Woche haben aufstellen lassen, um das ganze Haus schön warm zu isolieren, damit es den Menschen im Haus auch richtig gut geht, hat sich teilweise gelöst und baumelt jetzt gefährlich über der gespenstischen Szenerie. Jede neue Sturmböe könnte es ganz abreißen.

Die gesamte Straße ist abgesperrt und die Menge der Gaffer ist inzwischen auf ein respektables Katastrophenmaß angewachsen. Trotz des üblen Wetters und der späten Stunde – immerhin ist die Tagesschau schon längst vorbei und der Film läuft schon – haben es sich viele nicht nehmen lassen, doch mal eben vorbeizuschauen. Ist ja so einiges los hier, und der Film ist vielleicht heute Abend nicht so besonders.

Das Ganze wirkt wie eine Szene aus Die hard sieben, oder acht oder neun, oder wie weit sind wir denn da jetzt?

Sagenhaft!

Ich verharre einen Moment in dieser Stellung mit fast verträumtem und, wie ich erschrocken feststellen muss, auch ein wenig begeistertem Blick nach unten und kann das alles eigentlich gar nicht glauben.

Unser schönes Haus fliegt gerade davon, wir haben Schulden bis über beide Ohren, Steffi wird mich möglicherweise verlassen und ich bin ihr sicher schon ganz gleichgültig geworden, obwohl sie ja eben noch versucht hat, mein armseliges Leben zu retten – vielleicht liegt ihr ja doch noch was an mir –, unser Kind wird vernachlässigt … das ist dann wohl das Ende.

Was ist das bloß alles für ein verdammter Scheiß?

Wie kann man denn in so eine Situation kommen? Was ist da bloß schiefgelaufen? Wo ist der Fehler? Dabei wollte ich doch nur das Allerbeste für meine kleine Familie, ein sorgenfreies Leben und eine sichere Zukunft. Und jetzt habe ich ihr eindeutig mächtig Ärger gemacht.

„Alex, hinter dir!“, brüllt Steffi jetzt wieder, als eine Dachlatte sich löst und in meine Richtung fliegt. Ich ducke mich im letzten Moment, kann aber leider nicht verhindern, dass der Ziegel, den ich krampfhaft festzuhalten versuche, mir aus den Händen gleitet und jetzt ebenfalls zu den Rettungsmannschaften hinuntersegelt.

„Vorsicht!“, rufe ich ihm hinterher.

Als auch er unten auftrifft und großartig zerbirst, schauen alle nach oben zu mir und einer ruft: „Idiot!“ Ja, ich glaube, das habe ich auch verdient.

Was ist nur aus den glücklichen Mietshausbesitzern Alex und Steffi Knippschild geworden?

Und dabei fing doch alles so schön an!

un’ getz isser tot

Onkel Günter ist tot. Na endlich.

Ja, Entschuldigung, das sagt man natürlich nicht, und über die Toten nur Gutes und so weiter, aber über Onkel Günter gibt es nichts Gutes. Oder? Nö, eigentlich nicht. Müsste ich lange drüber nachdenken, aber auch dann fällt mir nichts ein. Und wer ihn nicht gekannt hat, kann gar nicht mitreden. Er war vierundachtzig, im Gesicht und seinen Ansichten völlig zerknittert, provozierend gesund und eben ein ziemliches Ekel – bis zuletzt.

Er hat seine Mitmenschen, besonders uns, die Dreierfamilie Knippschild, weil er auch sonst keine hatte, schon lange genug geärgert. Es wurde einfach Zeit für ihn. Ja, es tut mir leid. Aber Onkel Günter, der Bruder meiner vor einigen Jahren leider ebenfalls verstorbenen Mutter, war ein mürrischer, alter Miesepeter, dem man besser aus dem Weg ging, als er noch lebte. Er war knurrig, bissig, böse und gemein. Er ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um sich über alles und jeden zu beschweren, an allem rumzumeckern und alles schlecht zu machen. Besonders uns. Es war kaum auszuhalten mit ihm.

Und jetzt ist er tot. So. Das hat er davon.

„Wie lange lebt Opa Günter noch?“, fragte deshalb Max, unser zwölfjähriger Sohn, jedesmal, wenn wieder mal ein Pflichtbesuch bei dem alten Knacker anstand. „Boah, müssen wir jetzt echt wieder zu dem ätzenden Scheintoten?“, drohte wieder mal mit totaler Verweigerung und schob schnell andere wichtige Termine mit den Jungs aus seiner Klasse vor.

„Max!“, ermahnte ich ihn dann jedesmal lautstark, „so was sagt man nicht. Er ist immerhin dein Großonkel. Direkte Verwandtschaft! Man kümmert sich eben um seine Angehörigen. Besonders, wenn sie keinen anderen mehr haben. Wir sind praktisch die letzten Menschen auf der Welt …“

„… an denen Onkel Günter seine Gemeinheiten auslassen kann“, beendete meine liebe Frau Steffi den Satz, der eigentlich in eine andere Richtung gehen sollte. Aber gut, sie hatte ja recht. Große Lust hatte ich auch nie auf die sehr seltenen, meist sonntäglichen Fahrten nach Neheim-Hüsten.

„Also, macht euch fertig. Gleich geht’s los und zur Sportschau sind wir wieder zurück“, sagte ich dann immer und meistens klappte das ja auch.

Die Fahrt von Leckede-Hintersten, wo wir drei Knippschilds wohnen, ganz hinten im Sauerland, nach Neheim-Hüsten wurde meistens schweigend und in böse vor sich hin brummender schlechter Laune verbracht. Aber wat mutt, dat mutt. Er war immerhin mein Onkel.

Wenn ich Leckede-Hintersten als Ort „ganz hinten“ im Sauerland beschreibe, dann könnte ich auch sagen „mittendrin“. Gemeint ist eigentlich „weit weg von allem“. Sauerland eben. Aber wir fühlen uns dort sehr, sehr wohl. Schönes Fleckchen Erde. Das muss man schon sagen.

In Neheim angekommen, ließen wir uns also dann jedesmal mindestens eine Stunde lang auf Sauerländisch beschimpfen und ausmeckern, denn Onkel Günter war eben nicht nur knurrig, sondern auch ein richtiger Ur-Sauerländer und er sprach auch so. So mit dem singenden, zischenden „s“, dem rollenden „r“ und dem „ch“ statt „g“ und dem „g statt „j“ und all den anderen recht schrägen Auswüchsen dieses knorrigen Dialektes.

„Schrreibsse imma noch für dat Käseblatt in Leckede, Alex?“, begann er meistens mit mir. „Kannsse nich ma bei ’ne rrichtige Zeitung anfangen, Käa? Wat verdiensse denn da? Da kommt do’ bestimmt nix bei rrum!“ Und dann ging es meistens mit Steffi weiter. „Un’, Steffi, sach ma’, wat läufsse denn in so abcherrissene Texashosen rrum. Die sin auch chanz versckossen, keine Farbe mehr drrauf, un da sin au Löcher drrin, hasse dat schon chemerkt? Heute is’ Sonntag! Warrum hasse dich nich wenigstens für mich ma ’n bisken skhick chemacht? („sckick“, sagte er immer mit „k“ wie bei allen Wörtern mit „sch“) Außerdem bisse au’ dicker cheworden. Frriss donnich so viel, Steffi, verdorrich nomma! Habbter euch denn nich inne Chewalt?“ Und dann war er bei Max. „Und warrum hat euer Gunge (Junge) denn so sckrrecklich lange, fiese fettige Haare. Ihr dürft ihm sowat nich’ durchchehen lass’n. Ihr seid nich strreng chenuch mit ihm! Der brrauch’ ab und zu ma wat hinter de Löffel, glaubich!“

Wir tranken verbissen den mitgebrachten Kaffee, aßen den mitgebrachten Kuchen und widersprachen dem alten Knacker, so gut es ging. Max stierte glücklicherweise in den alten Blaupunkt-Röhrenfernseher, der Onkel Günters schlecht gelüftetes Wohnzimmer beherrschte, und bekam nicht viel von seinem Geknöter mit, und ich konnte Steffi gerade noch zurückhalten, dem Alten direkt an die Gurgel zu gehen und ihn so schon etwas früher ins Jenseits zu befördern, weil sie nun wirklich kein bisschen dick war. Aber ihre Jeans waren tatsächlich etwas zerissen, doch das hat man ja jetzt so.

Ach, der Alte war einfach unmöglich. Und was ich bei meiner kleinen Zeitung als Redaktionsleiter verdiene, ging Onkel Günter nun wirklich überhaupt nichts an. Außerdem ist es genug und reicht wunderbar für uns alle. Wir kommen gut klar.

Sicher macht man sich in meinem Alter auch schon mal Gedanken um die sogenannte Altersvorsorge.

Phh. Schon das Wort …! Früher habe ich immer laut und rebellisch gelacht, wenn mein Vater mich ermahnt hat, an die Rente und den ganzen Quatsch zu denken. Lebensversicherungen, Bausparverträge, ja, ja, lass mich bloß in Ruhe damit … Aber heute … mit Familie … naja … ach komm, es läuft ja alles.

Wir waren jedenfalls nach etwa zwei Stunden Onkel-Günter-Beleidigungen immer heilfroh, wenn wir dann endlich wieder loskonnten.

„So, Onkel Günter, es reicht mal wieder! Tschüss! Wir müssen“, sagten wir dann, dachten aber: Wir ham die Schnauze mal wieder so richtig voll von dir, du altes Ekelpaket.

Er war eben alt und verknöchert. Wahrscheinlich konnte er nichts dafür, weil man in seiner Generation und in seinem Alter eben alt und verknöchert zu sein hatte. Aber er war trotzdem ein alter Ätzer. Da gab’s nichts dran zu beschönigen. Ein waschechter Kotzbrocken. Bis heute.

 

Vor etwa vier Wochen war er also gestorben, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Oder eben „Hätzinfack“, wie der Sauerländer gerne hinter vorgehaltener Hand und mit betroffenem Gesicht an den Nachbarn weiterklatscht. Nicht, dass man ihn vermisst hätte, aber nach drei Tagen fiel den Nachbarn auf, dass sie gar keinen Streit mehr mit dem alten Knacker hatten, weil er ja gar nicht mehr auftauchte. Und da hat man schließlich doch mal nach ihm gesehen, und es war zu spät. Tot – mit dem letzten, ganz ordentlichen Rentenbescheid in der Hand, saß er in seinem abgescheuerten Sessel vor dem laufenden Fernseher. Die Beerdigung fand sozusagen in aller Stille statt und war auch erwartungsgemäß spärlich besucht.

Und dann kam eines Tages dieser Brief vom Nachlassgericht, in dem man uns als Erben benannte.

Uns? Das kann doch nicht sein. Aber gut, er hatte keine anderen Verwandten mehr. Tante Emmi, seine Frau, war schon vor vielen Jahren gestorben, wahrscheinlich, damit sie endlich ihre Ruhe hatte vor dem alten Knöterich. Kinder hatten die beiden keine – et hat einfach nich geklappt, woll – und die Geschwister waren ja auch schon alle tot. Da bleiben nur noch wir, die kleine und im Großen und Ganzen recht fröhliche Familie Knippschild. Alex, Steffi und Max.

Ja, aber was sollte der olle Muffkopp denn schon zu vererben haben? Das kann ja wohl nichts Dolles sein, dachten wir so. Und heute kam dann die Bestätigung, dass wir tatsächlich auch Erben sind.

Das Schreiben des Gerichts vermeldete, dass sein Vermögen sich auf einige noch recht gut erhaltene Möbel, ein paar Bücher, Bilder, einen Kühlschrank, einen Blaupunkt-Röhrenfernseher … und ein Bankguthaben von 98.456,45 Euro beliefe. Und das alles gehöre jetzt uns!

Achtundneunzigtausend? Boah!

Was war Onkel Günter doch für ein wunderbarer Mensch! Gütig, weise, jesusgleich und ewiggut. Ich hab’s doch immer gewusst.

 

„Das gibt’s doch nicht!“, haucht Steffi leise und andachtsvoll, als sie das Schreiben des Nachlassgerichtes in den zitternden Händen hält.

„Lass mal sehn!“, meine ich nur und nehme ihr vorsichtig das Papier aus der Hand, damit auch ja keins von den schönen Worten, die sie eben noch so würdevoll vorgelesen hat, verrutscht oder herunterfällt. Ja, es scheint zu stimmen. Da steht in der für Menschen ja eigentlich gar nicht verständlichen Sprache der Ämter und Gerichte, dass das alles jetzt uns gehört. Wir sind plötzlich reich. Also, zumindest recht wohlhabend.

„Tatsächlich“, sage ich erstaunt und reiche ihr ziemlich aufgewühlt das schöne Schreiben zurück. „Da steht’s. Fast hunderttausend Tacken. Boah ey! Ich werd bekloppt!“

Ja, da entgleist einem schon mal das feine, gepflegte Hochdeutsch.

„So viel Geld hatte der alte Knaster noch auf der Kante?“, sagt Steffi und schüttelt noch mal den Kopf und sagt auch noch mal „Das gibt’s doch nicht!“ und auch noch mal „Boah ey!“.

„Was für Geld?“, fragt Max ganz nebenbei und sucht in erster Linie nach seinen neuen Sneakers, die gestern doch noch irgendwo waren.

„Opa Günters Geld!“, sage ich bedeutungsvoll, mit der angemessenen Würde, aber auch immer noch ehrlich erschrocken über die fantastische Höhe dieses überraschenden Nachlasses.

Der hatte Geld?“, scheint auch Max nicht glauben zu wollen, denn angesehen hatte man das weder ihm noch seiner Wohnung. Und besonders freigiebig war er schon gar nicht. Ganz und gar nicht! Er hätte Max ruhig hier und da mal einen Zehner oder auch mal mehr in die Hand drücken können, wie gute Opas oder Großonkels das nun mal so machen. „Hier! Brauch keiner sehn“, sagen diese Opas dann üblicherweise, so wie ich es immer von meiner Oma gehört habe, die mir so oft heimlich was zugesteckt hat, damit die anderen Vettern und Cousinen es nicht bemerkten und möglicherweise neidisch wurden, weil ich nun mal der Lieblingsenkel meiner guten Oma war. Aber nee, für Opa Günter kam so was nicht in Frage.

„Der Gunge brrauch kein Geld. Dat verprrasselt der doch sons bloß für Killefit un Kokoloorres!“

Und jetzt können wir also alles gemeinsam verprasseln. Wirklich? Ja, scheint wohl so zu sein. Für Killefit un Kokolores!

„Wie viel Geld hatte der denn?“, fragt Max noch, aber dann hat er seine Sneakers im Flur entdeckt, da, wo all unsere Schuhe in Reih und Glied stehen und wo seine liebe Mutter sie wahrscheinlich gestern Abend tief seufzend deponiert hat und wo er sie natürlich nicht vermuten konnte. Seine Frage hat er schon wieder vergessen.

 

Steffi und ich verbringen einen ganz besonderen Abend in an- und verdächtiger Stille, und jeder macht wohl so ganz für sich ein paar geheime Pläne, was man mit dem Onkel-Günter-Geld wohl alles so anfangen könne. Ab und zu sehen wir uns an und schütteln fassungslos die Köpfe.

Das gibt’s doch nicht!

Wir fühlen uns wie die Gewinner in einem Fernsehquiz, haben aber noch nicht einmal eine einzige Frage richtig beantwortet. Ob Steffi sich wohl schon mit den Reichen und Schönen auf Sylt exotische Cocktails schlürfen sieht? Ach nein, das glaube ich eigentlich eher nicht. Vielleicht denkt sie an den kurzfristigen Besuch einiger edler Boutiquen, um die sie sonst immer seufzend einen größeren Bogen macht. Eine Super-Hitech-Küche mit Induktionsherd wäre sicher auch nicht schlecht, wer weiß, vielleicht ein neues Schlafzimmer und ein Bett mit Bocksprungmatratzen, oder wie die jetzt heißen, und bei denen ich auch keine Ahnung habe, was man außer Schlafen sonst noch darauf macht. Und ich will auch nicht wissen, warum die so heißen.

Ich selbst denke ganz kurz mal an ein neues Auto mit jeder Menge elektronischem Schickschnack innendrin, tollen Felgen und roten Bremssätteln … und an eine schöne weite Reise. Im letzten Jahr waren wir in Thailand, auf Ko Samui, das war schön und aufregend. Warum also nicht dieses Jahr noch weiter, noch exotischer? Hm, mal sehen. Die Kohle hätten wir ja jetzt. Obwohl dann natürlich schon wieder ein ganzer Batzen von dem schönen Geld abgeknabbert wäre. Hoho. Vorsicht, Dagobert! Bring es lieber in den Geldspeicher!

Vielleicht sollte man es anlegen. Genau. Das ist es. Aber anlegen? Wie geht das? Keine Ahnung. Von so was hatte ich noch nie eine Ahnung, weil es ja auch noch nie was Nennenswertes zum Anlegen gab bisher. Aktien? Aach, nee. Davon verstehe ich gar nichts. Lieber die Finger davon lassen, wenn man keine Ahnung hat. Das hat übrigens Onkel Günter auch immer gesagt.

Aber auf der Bank bringt es ja auch nichts. Zinsen gibt’s nicht mehr zur Zeit und manche der Superreichen müssen jetzt sogar Geld bezahlen, wenn sie ihre Vermögen auf der Bank in Sicherheit wissen wollen. Das weiß ich. Geld muss arbeiten, sagt man ja immer. Aber wie?

Oh, oh, es ist verdammt nicht leicht, plötzlich über einen Haufen Geld zu verfügen, das überhaupt nicht auf dem Plan stand.

Erst kürzlich habe ich noch von einem ganz seltsamen Syndrom gelesen, das Lottogewinner und plötzlich zu Geld gekommene ganz normale Menschen überfällt und sie regelrecht zugrunde richten kann. Es stürzt sie in bodenlose Depressionen bis hin zum Selbstmord, weil sie einfach nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen. So weit sollte es doch wohl nicht kommen. Ich denke auch an glücklose Lottogewinner, die ein paar Monate Ferrari gefahren sind und jetzt in der Fußgängerzone sitzen und uns zittrig ihren leeren Plastikbecher entgegenhalten oder mit gefrorenen Lippen verzweifelt eine schiefe Melodie in eine rostige Mundharmonika blasen. Ich habe auch davon gelesen, dass ganze Familien zerbrochen sind, weil sie mit dem plötzlichen Reichtum nicht klarkamen, weil sie sich zerstritten haben oder weil sie eben nicht wussten, wie sie ihr verdammtes Geld anlegen sollten.

Richtig anlegen. Das kann ein großes Problem sein. Das spüre ich jetzt auch. Ein ganz neues Problem, das ich vorher gar nicht hatte.

Steffi und ich sehen uns noch mal kopfschüttelnd und unsicher lächelnd an, wir können es noch gar nicht so richtig glauben und schon gar nicht locker darüber reden. So verrückt ist es. Fast hunderttausend Tacken – einfach so. Und wir schlafen nicht so besonders in dieser Nacht.

Da fängt es also schon an mit dem enormen Psychodruck, dem Fluch des Geldes.

 

In meinem Traum sitze ich auf einem dicken Kartoffelsack, in dem das ganze Geld steckt. Ich habe es in aller Eile da reingestopft, weil mir ein paar fragwürdige Herren in dunklen Anzügen auf den Fersen waren, die soeben aus der gläsernen Eingangstür der Leckeder Sparkasse gestürmt sind und mein Geld zu gerne hätten. Das sehe ich ihnen an. Es sind Angestellte der Sparkasse. Sie haben alle das rote Sparkassen-S auf der Stirn. Von der roten Schrift laufen ihnen dicke Tropfen wie Blut übers Gesicht.

Ein paar Scheine flattern einfach so um mich herum, weil sie nicht mehr in den Sack passen. So etwa wie bei Dagobert Duck, den auch immer ein paar lose Geldscheine umschwirren, was ihn regelmäßig wahnsinnig macht. Er will sein Geld eben immer schön zusammenhalten, damit er abends in seinem Geldspeicher auch schön weich darin baden kann, ohne sich die Entenknie am Geldspeicherboden aufzuschürfen. Er hat immer Sorgen um sein vieles Geld. Und ich jetzt auch.

Ich sitze also da, auf diesem prallen Sack und die schwarzen Sparkassen-Männer kommen näher. Sie haben stark gegelte Fri-suren, wie ich jetzt erkennen kann, wirken einigermaßen schmierig und mafiös und tra-gen schwere goldene Ringe an den Handge-lenken und flache schwarze Aktenmappen unter ihren muskulösen Armen, so wie ich Herrn Beckebanz von unserer Sparkasse in Leckede eigentlich noch nie gesehen habe. Aber er ist auch dabei. Ich erkenne ihn deutlich.

Die bösen Männer winken mir zu und lächeln dabei äußerst hinterhältig wie besonders gewiefte Gebrauchtwagenverkäufer. Und sie kommen unaufhaltsam näher. Sie wollen an den Sack. Sie sind jetzt überall.

Ich versuche, den schweren Sack zu schultern und ihnen zu entkommen, aber da platzt er auf, der ganze Geldsegen quillt heraus und lässt sich vom plötzlich aufkommenden Wind in die Luft wirbeln. Ich versuche, alles wieder einzufangen, aber es flattert mir Schein für Schein davon. Eine große Wolke fliegenden Geldes verdunkelt die ganze Szene.

Ich renne hinterher und hüpfe in grotesken Verrenkungen hoch, den Scheinen hinterher, recke mich dem entflatternden Reichtum entgegen, die Männer lachen, aber das Geld lässt sich nicht wieder einfangen. Es ist einfach futsch. Doch Herr Beckebanz hält plötzlich einen riesigen schwarzen Staubsauger in seinen klobigen, schwieligen Händen, die ich auch noch nie an ihm bemerkt habe, wenn ich mal an seinem Schreibtisch saß, saugt die ganze Kohle mit einem gemeinen Lächeln auf und verschwindet mit dem Staubsauger lachend wieder in seiner Sparkasse.

Als ich mich entsetzt und so plötzlich auf diese Weise völlig verarmt umdrehe, sehe ich meine arme kleine Familie in Lumpen und zitternd auf dem Gehweg vor dem Kaufhof sitzen und die vorbeieilenden Passanten an den gebügelten Hosenbeinen zupfen. Steffi und Max sind ausgemergelt und fast verhungert. Ich will zu ihnen hin, ihnen helfen, aber die schwarzen Männer in den Anzügen haben mich nach Mafiaart mit den Füßen in einen Betonkübel gesteckt. Der Beton ist schon hart geworden, hält mich gnadenlos fest und eine goldene Betonmischmaschine dreht langsam ihre letzten Runden.

Ja, Beton ist etwas, auf das man sich hundertprozentig verlassen kann. Die schwarzen Männer lachen und lachen … schweißgebadet werde ich wach und sehe Steffi müde blinzeln.

„Kann auch nicht schlafen“, murmelt sie und irgendwann stehen wir dann einfach auf. Aber ich glaube, jetzt habe ich eine Idee.

Beton! Gold! Hundertprozentig!

 

„Wir kaufen ein Haus!“, beginne ich das Frühstück am Sonntagmorgen vor der ersten Scheibe Brot in unserer kleinen familiären Runde.

„Aber wir haben doch ein Haus!“, meint Max und er hat ja recht. Wir wohnen hier seit einigen Jahren schon in diesem alten, liebevoll restaurierten und renovierten Gehöft in Leckede-Hintersten, ganz hinten, oder eben mitten im Sauerland, wie schon gesagt, und fühlen uns eigentlich sehr wohl darin. Es ist groß, schön und alt. Es passt gut zu uns.

„Nein, ein Haus für andere“, sage ich, „ein Mietshaus!“

„Warum das denn?“, fragt Steffi, weil sie auf diesen Gedanken vielleicht noch gar nicht gekommen ist.

Und ich sage nur verheißungsvoll: „Betongold.“ Zack. Das muss erst mal reichen. Dann schmiere ich mir lässig ein Käsebrot mit Marmelade und denke an meine Zukunft als Immobilientycoon mit einer imposanten Goldkette um den Hals und einer schweren teuren Uhr am Handgelenk. Ich blicke vom Balkon der Prestige Suite des Carlton Hotels in Cannes auf meine sich sanft in der Dünung wiegende stahlblaue Yacht und erlaube Max, mit dem Bentley einmal die Croisette rauf- und runterzufahren.

„Aber nicht so schnell, Max!“

„Was?“, fragt der.

„Ach nichts.“

„Betongeld?“, fragt Max dann, aber Steffi scheint schon so ungefähr zu verstehen, was ich meine.

„BetonGOLD“, verbessere ich Max. „Seht mal“, sage ich und fühle mich jetzt noch mehr wie ein gerissener Jongleur der Hochfinanz, der seinen unwissenden Jüngern etwas Wissenswertes über den komplizierten Umgang mit Geld erklärt. Dabei ist es doch ganz einfach.

„Wir kaufen von dem Onkel-Günter-Geld ein Mietshaus für mehrere Familien und dann kassieren wir die Mieten, solange die Hütte steht. Unser ganzes Leben ist damit praktisch jetzt schon abgesichert. Unser Geld arbeitet!“

Das ist wahrscheinlich übertrieben und das Geld von Onkel Günter wird dafür nicht ganz reichen, wir müssten uns also noch etwas leihen, außerdem ist alles etwas zu rosig gesehen … aber es hört sich doch schön an.

„Naja“, meint Steffi, „wir könnten natürlich auch den Kredit für unser eigenes Haus hier in Leckede damit abbezahlen.“

Ja, da hat sie natürlich recht. Das könnte man machen. Aber es ist eigentlich nicht das, was ich mir als soeben erstandener Großinvestor vorstelle. Und außerdem denke ich auch jetzt, vielleicht erstmalig wieder, an die Worte meines Vaters mit dem erhobenen Zeigefinger. An später denken!, Vorsorgen! und so was. Die Familie absichern! Tja, das könnte ich jetzt machen.

Und darum sage ich: „Aaach, nein, Steffi, der Kredit läuft doch von ganz alleine, und es dauert ja auch nur noch ein paar Jährchen, dann sind wir ihn schon los. Nein. Wir IN-VES-TIE-REN!“, posaune ich in staunende Gesichter und ich finde auch, dass es sich aus meinem Munde noch etwas seltsam anhört. Ungewohnt. Egal. Geld verändert eben Menschen.

Aber das Darlehen für unser schönes Bauernhaus hier in Leckede, das wir vor einigen Jahren aufnehmen mussten, läuft wirklich ganz gut von alleine. Ich verdiene in der Redaktion des Sauerlandbeobachters zwar keine Unsummen, aber immerhin bin ich der Redaktionsleiter dieses kleinen kostenlosen Anzeigenblattes, und wir kommen ganz gut zurecht. Der Kredit bekommt monatlich, was er braucht, und wir müssen nicht sparen. Das Onkel-Günter-Geld könnte also tatsächlich IN-VES-TIERT werden. Zum Beispiel eben in Betongold!

Es macht eigentlich doch auch richtig Spaß, über so etwas überhaupt mal nachdenken zu können. Endlich mal zu denen zu gehören, die unbedingt ihr Geld unterbringen müssen. Wohin damit, Onkel Dagobert? Vorsicht, die Panzerknacker graben schon wieder einen Tunnel!

Max ist das alles egal, er verzieht sich nach oben in sein Zimmer und hört wahrscheinlich wieder eine dieser schrecklichen Metall-Musikgruppen, und ich sitze mit Steffi allein in der Küche, um das Wort „Betongold“ noch mal gründlich von allen Seiten zu beleuchten.

„Naja“, meint sie dann nachdenklich und zieht einen Mundwinkel nach oben, was ihr außerordentlich gut steht. Sieht irgendwie frech aus. Sie ist die frechste … nein, nein, natürlich die schönste Frau der Welt, besonders mit hochgezogenem Mundwinkel. „Schlecht hört sich das ja nicht an.“

„Genau. Sieh mal, Steffi, wir kaufen ein schönes Haus und vermieten es an nette Menschen, die uns gerne und sogar monatlich dafür Geld bezahlen, in so einem schönen Haus wohnen zu dürfen. Wir sind nett zu ihnen, sie sind nett zu uns. Das ist doch toll. Und solange das Haus steht, bekommen wir Miete. Geld, ein Leben lang. Kohle ohne Ende. Die Familie ist abgesichert für alle Zeiten! Wer weiß denn, was später mal kommt?“

Sie sieht mich strinrunzelnd an und vielleicht überlegt sie, ob sie nicht versehentlich doch einen ganz anderen Mann geheiratet hat, denn so was hat sie eigentlich noch nie von mir gehört. Ich ja selbst auch nicht. Aber ich bin trotzdem sehr stolz, diesen ganzen Sachverhalt auf so eine hübsche, plausible und einfache Formel gebracht zu haben, weil ich auch wirklich meine, dass es eine ziemlich gute Idee ist, so ein Mietshaus zu kaufen.

„Tjaaa …“, sagt Steffi nur, „vielleicht hast du ja recht.“

Natürlich habe ich recht. Warum machen es denn viele andere auch so, die es nun wirklich wissen müssen? Donald Trump … oder Günther Jauch zum Beispiel. Der hat eine ganze Menge Mietshäuser, wie man liest, und scheint doch trotzdem, oder gerade deswegen, ziemlich gut drauf zu sein. Immobilien! Das ist doch das Zauberwort der Wohlhabenden, das man sich hinter vorgehaltener Hand und auf Dinnerpartys und Vernissagen zuflüstert. Beton bleibt!

Natürlich hatte es uns noch nie jemand zugeraunt, denn bisher gab es keinerlei überflüssiges Geld unterzubringen. Wir waren immer froh, dass es für alles gereicht hat. Aber jetzt, wo wir doch reich sind, sieht die Sache ja schon ganz anders aus.

Hunderttausend Tacken! Boah ey!

Der graue Kasten

In den folgenden aufregenden Tagen studieren wir eifrig und wann immer sich die Gelegenheit bietet, die Immobilienangebote in der Gegend. Auch im Redaktionsbüro kann ich es mir, trotz einer ganzen Menge Arbeit, nicht verkneifen, ab und zu mal den Immoscout aufzumachen und nachzusehen, ob unser Haus denn schon dabei wäre. Große Häuser gibt es da, kleine, langweilige, auch ganz schreckliche Betonklötze sind darunter. Nein, nein, so soll unser Haus niemals aussehen.

Schön soll es sein. Ganz einfach.

„Solide Kapitalanlage“, „gute Rendite“, „Entwicklungspotenzial“, „voll vermietet“ und „provisionsfrei“ sind Worte aus dem neuen geheimnisvollen Vokabularium, mit dem ich mich in diesen Tagen beschäftige. Oh, ist das ein aufregender, alles verschlingender Dschungel unbekannter Begriffe und Abkürzungen, durch den man sich da pflügen muss, um endlich wieder das Tageslicht des willigen Anlegers zu sehen.

„Sollten wir nicht erst mal zu Herrn Beckebanz gehen und fragen, ob wir von der Sparkasse auch noch Geld bekommen?“, fragt Steffi und da hat sie natürlich recht. Für unsere hunderttausend Tacken bekommt man nur ganz, ganz kleine Mietshäuser … oder eben gar keine. Auf jeden Fall nicht solche, die wir uns vorgestellt haben.

„Ach, das klappt schon“, sage ich, obwohl ich es nicht genau weiß. Die Häuser, die wir uns da jetzt nur mal so ansehen, kosten alle über zweihunderttausend Tacken, also sogar mehr als das Doppelte. „Herr Beckebanz macht das bestimmt.“

Und obwohl Steffi dann Bedenken anmeldet, ob es denn auch wirklich richtig sei, sich noch weiter in Schulden zu stürzen, tue ich das leicht überheblich als pure Schwarzmalerei ab und schaue sie nur tadelnd an. So, als wolle sie mir den Spaß verderben.

„Steffi, du tust ja gerade so, als ob es noch Schuldentürme mit Ratten, Kälte, Dunkelheit und Gestank gäbe, in die man uns wirft, bis wir verhungern, wenn wir das Geld nicht auftreiben können. Also wirklich!“

Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Bild ihre Sorgen tatsächlich zerstreuen kann. Vielleicht eher nicht.

Trotz Steffis Bedenken haben wir uns dann doch einige Häuser tatsächlich auch mal in echt angesehen. Nur von außen erst mal. Aber da war leider nichts dabei. So wie auch meine Oma früher immer sagte, wenn sie enttäuscht das Fernsehen ausschaltete, weil ihr keine der Sendungen gefiel oder sie einfach nichts verstanden hat. Nüscht dabei!, sagte sie dann immer, legte kopfschüttelnd die neumodische Fernbedienung auf das kleine Tischchen neben ihrem Fernsehsessel und schlief meistens ein, oder wir spielten zusammen Mau-Mau.

Die Häuser, die wir uns angesehen hatten, lagen entweder in Gegenden, wo wir uns fast selbst nicht hintrauten, weil sie so dunkel und trostlos waren, dass wir uns auch nicht vorstellen konnten, dass da jemand wohnen will. Naja, dann macht’s ja keinen Sinn mit einem Wohn-Haus. Wir waren ziemlich enttäuscht vom Angebot, suchten aber trotzdem munter weiter.

Dann, nach ein paar Wochen hatten wir es plötzlich gefunden, unser Haus. Wir fanden es eigentlich fast gleichzeitig. Ich im Büro am Computer und Steffi beim Zahnarzt im Sauerlandbeobachter, also der Zeitung, für die ich jeden Tag schreibe. Ich selbst habe es da gar nicht gesehen, denn für die Anzeigen ist bei uns in der Redaktion Anke Niggeloh, meine liebe Kollegin, zuständig.

Schön sieht es aus, und das soll es ja auch. Es muss sich irgendwie hinter all den anderen Häuseranzeigen versteckt haben, aber das brauchte dieses schöne Haus nun wirklich nicht. Steffi und ich hatten uns sofort und unabhängig voneinander in genau dieses Haus verliebt. Es ist ein Jugendstilhaus mit Stuckornamenten, kleinen Erkern und Friesen und einem Türmchen in der Mitte. Ganz toll. Ein Eckhaus mit Restaurationsbetrieb im Erdgeschoss, solider Rendite und voll vermietet. Ja, genau das wollten wir doch.

Für Nichtverliebte ist es vielleicht nur ein grauer, alter Kasten an der Ecke einer etwas betagten Häuserzeile in einem der hinteren Viertel von Arnsberg.

Das mussten wir sehen! Sofort. Und der Preis war sogar als Schnäppchen ausgewiesen. Runtergesetzt! Trotzdem würde leider unser Onkel-Günter-Geld nicht ganz ausreichen, um es zu bezahlen, es kostete sogar mehr als doppelt so viel. Aber wir wollten es erst mal ansehen. Unverbindlich. Kucken kost’ ja nix!

Herr Dunkeloh von der ortsansässigen Immobilienfirma Dunkeloh und Wöbkemeier vereinbarte sehr bereitwillig und umgehend einen Termin und heute fahren wir mit roten Wangen und schwitzigen Händen nach Arnsberg – zu unserem Haus.

 

Die Vorfreude auf das Haus ist fast größer als die auf das in vier Wochen anstehende Weihnachstfest, als wir dann endlich in der Ruhrstraße in Arnsberg parken können. Mit leichter Verspätung, direkt vor unserem Haus.

Herr Dunkeloh wartet schon und eilt uns mit einem verheißungsvollen Lächeln und in einem grauen, etwas zu engen Anzug entgegen. Er verbeugt sich galant vor Steffi, schleimt ein wenig herum und drückt mir dann gütig seine Karte in die Hand. Ja, danke. Er scheint auch etwas nervös zu sein. Warum nur?

Unter dem Arm trägt er eine Aktenmappe wie die schwarzen Sparkassenmänner aus meinem Traum. Auch sein Lächeln erinnert stark an Gebrauchtwagenverkäufer oder auch Drogendealer.

„Komm Se rein, sehn Se sich ärss ma alles ganz unverbindlich an, woll! So’n Schritt will ja gut überleecht sein!“, singsangt er, lächelt versuchsweise und geht forsch voran. „Leider könn’ we nich inne Wohnungen rein, woll, weil vonne Mieters … äh … einklich keiner zuhause is’, woll. Sorry. Abba Se könn’ mir vertraun. Die Wohnung’n sin alle sehr schön und großzügich, ja? Alle sehr gut geschnitt’n. Wunderbar zu vermiet’n. Dat is’ reinstes Betongold, glaum Se mir.“

Großzügig. Gut zu vermieten. Gut geschnitten. Betongold. Na siehste, blinzle ich Steffi zu. Sag ich’s doch!

Steffi und ich starren das graue Gebäude erst mal noch eine Weile von außen an, bevor wir dem gesprächigen Herrn Makler folgen.

Es ist wirklich sehr schön, das kann man nicht anders sagen. Ein Jugendstil-Eckhaus aus dem Jahr 1896, wie Herr Dunkeloh nach einem Blick in seine Aktenmappe aufgeregt zu berichten weiß. Es gefällt uns. Wir mögen alte Häuser. Sie haben Geschichte, sie sind stolz und erfahren und haben eben eine Menge mitgemacht. Denen kann so schnell nichts mehr passieren. Steffi sieht das genauso.

Sie nickt mir zu und das heißt eigentlich: haben wollen. Das hieß es auch vor einigen Jahren, als wir unser Haus in Leckede zum ersten Mal gesehen haben. Wir sahen uns an und hatten dasselbe gute Gefühl. Jawoll, das ist es! Wir wollen es beide.

„Unser“ Haus hier in Arnsberg ist grau und groß. Ziemlich groß sogar, wenn man so direkt davor steht. Zu groß? Wir wissen es noch nicht. Aber wir haben keine Angst vor ihm.

Nun ja, es ist auch ziemlich grau, aber nicht mehr überall so ganz grau, wenn man genauer hinsieht. An manchen Stellen blättert das edle Grau schon ein wenig ab und müsste mal erneuert werden. Und die Dachrinnen … naja, und auch der Stuck ist an einigen Stellen nicht mehr ganz vollständig …

Herr Dunkeloh bemerkt unsere leicht irritierten Blicke und geht sofort auf Makler-Verteidigungskurs.

„Dat sin nur Kleinichkeit’n, woll, verährtes Ehepaar Knippschild.“ Wieso er uns jetzt verährt, wo er uns doch gar nicht kennt? Aber egal. „Dat hat Ihn’ ’n guter Handwärksbetrieb in paar Tage gemacht, woll. Ich kann Ihn’n da einige ämpfehl’n. Dat is’ nur äußerlich, woll. De Substanz is’ gut!“

Diesen Satz werden wir noch des Öfteren zu hören bekommen, es scheint also wichtig zu sein, dat de Substanz ehm gut is’. Das wissen wir dann schon mal. Na, schauen wir uns doch mal alles an.

Wir bemerken noch anerkennend die schönen alten Fenster mit echten Holzsprossen, die sehr gut zum Haus passen. Holz. Kein Plastik, kein Alu. Man müsste sie halt auch mal streichen. Na gut. Kann man alles machen.

Ein kunstvoller, weißer Stuckengel ziert den Bereich an der Ecke des Hauses über dem Eingang des griechischen Grillrestaurants, das hier seine … naja, zugegeben, etwas fettige Heimat hat. Vom Engel sieht man nur den halben Kopf, weil das Schild des Restaurants, also eher des Imbisses Takis Orakel den schönen Engel leider verdeckt. Schade.

Dieses Takis Orakel verbreitet ansonsten einen recht intensiven, aber eigentlich ganz leckeren Frittenöldunst über den gesamten Eingangsbereich. Und als ich nachdenklich die dicken Schwaden so betrachte, die aus dem Inneren dieser mediterranen Imbisshöhle wabern, stelle ich mir nur ganz kurz und etwas erschrocken vor, wie das ganze Stadtviertel mit einem leichten Fettfilm überzogen wird, Autos nicht mehr glänzen, Brillen beschlagen und alte Leute auf dem Bürgersteig vor dieser Spezialitätenrestauration auf dem schmierigen Bürgersteig ausrutschen, sich das Genick oder den Oberschenkelhals brechen … ach, man soll nicht immer alles so schwarz sehen.

Der Geruch des Etablissements jedenfalls verbreitet sich über die ganze Straße, wahrscheinlich, um hungrige Kunden anzulocken, sodass Herr Dunkeloh uns auch jetzt eifrig zum Hauseingang treibt, als er bemerkt, dass wir nur noch ganz vorsichtig und flach die Atemluft durch die Nase einziehen, um unsere Lungen nicht übermäßig mit den Rückständen der Pommes-Frites und Gyros-Herstellung des Hauses Takis zu belasten. Wir lächeln ihm dennoch mutig und voller Zuversicht zu.

Der Eingang zu den Wohnungen befindet sich an der Seite. Na, dann gehen wir doch endlich mal rein.

Aus dem übergroßen Schlüsselbund, den Herr Dunkeloh jetzt aus seiner Mappe zieht, gleich den richtigen herauszufinden, erweist sich schon mal als nicht ganz einfach. Wer weiß, wann er überhaupt das letzte Mal hier war, um den Kasten gutgläubigen Interessenten aufzuschließen.

Kurz flammt in mir wieder ein kleiner, schneller und böser Gedanke auf, dass wir möglicherweise seit langer Zeit die einzigen sind, die sich überhaupt für diese Hütte interessieren … Ach, was. Schnell wische ich diesen unsinnigen Gedanken wieder weg. Das kann ja gar nicht sein. Bei so einem prachtvollen Objekt werden die Interessenten Schlange stehen. Wir sollten also nicht zu lange überlegen.

Nach einer Weile des Suchens und Ausprobierens hat Herr Dunkeloh den richtigen Schlüssel dann gefunden und schließt mit einem ermunternden Nicken erwartungsvoll auf. Ein klebrig glänzender Schweißfilm überzieht bereits seine blasse Stirn.

Wir folgen ihm gespannt und voller Erwartung durch die leicht quietschende Haustür in das Dunkel des Flurs und ich stoße mir das Schienbein an einem sportlichen Kinderwagen, der da vor sich hin wartet, weil Herr Dunkeloh nicht gleich den Schalter für das Flurlicht findet.

„Ah, verdammt, wer hat denn hier …!“, will ich gerade losfluchen, schon so, wie ein richtig böser, grantiger Tyrann von Hausbesitzer, als Herr Dunkeloh mich mit dem so dahingemurmelten Wort „Bewegungsmälder“ beruhigen will. Was? Ach so. Ich weiß schon, er meint, man könnte so einen Sensor einbauen, der dann direkt das Flurlicht anschaltet, wenn einer zur Haustür reinkommt. Ja, das wäre sehr vernünftig. Gute Idee.

Ich sehe mich ganz kurz in einem grellenGedankenblitz schon als neuer Master of Grauer Kasten Gesetze entwerfen und gebieterisch Pamphlete über Kinderwagenstellverbote an die Treppenhauswände nageln, wie einst Martin Luther, der sicher nichts gegen Kinderwagen hatte, aber ja auch Missstände beseitigen und die Welt ein wenig verbessern wollte. Will ich auch. Wenigstens in unserem Treppenhaus.

Ach, es ist ja nur ein Kinderwagen. Leute, wir haben Kinder im Haus! Das ist doch wunderbar!

Das Flurlicht brennt endlich, aber nicht auf allen Etagen, was Herrn Dunkeloh jetzt schon fast einen Punktabzug einbringen könnte. Aber wir wollen uns unser Haus ja nicht durch solche Kleinigkeiten vermiesen lassen.

Es ist schön, und das soll es auch bleiben. Basta! Wir wollen es haben! Oder, Steffi? Ja, du willst es doch auch! Das sehe ich doch.

„Ach, dat müsste dann au ma gemacht wärd’n“, sagt Dunkeloh entschuldigend und wir winken nur generös ab. Ist ja weiter nichts.

 

Interessiert, voller keimender Vorfreude und auch schon mit so etwas wie Besitzerstolz schauen wir uns in unserem Haus um, und da geht das Flurlicht nach einer geschätzten halben Minute auch schon wieder aus. Als ich das Licht wieder einschalten will, verwechsle ich den Lichtschalter mit einer Klingel und ich höre nur von drinnen eine weibliche Stimme: „Haust du ab, du Arsch. Stinks du wieder Ouzo un Takis! Komms du ssuruck, wenn nüschtern!“

„Oh, ich dachte, hier ist niemand zuhause“, drehe ich mich verwundert zu Herrn Dunkeloh um. „Aber wenn man die Dame richtig versteht, dann erwartet sie wohl auch noch kurzfristig ihren Gatten zurück.“

„Ja, ich … äh … dachte au, datte Frau Göktürk nich zuhause is’“, stammelt Herr Dunkeloh fast so, als hätte er gehofft, sie wäre nicht zuhause. Etwas unsicher lächelt er uns zittrig an. „Na, dann könn’n we ja vielleicht doch ma kurz inne … äh … Wohnung kuck’n.“

„Hallo, Frau Göktürk, hier Härr Dunkeloh von Dunkeloh und Wöbkemeier, ja?“, ruft Herr Dunkeloh gegen die immer noch geschlossene Tür, die sich aber dann plötzlich einen kleinen Spalt öffnet. „Ich hier … mit neue Besitzer von Haus!“

„Wat willssu, Dünkelöh?“, fragt eine tiefe rauhe Stimme, die bedrohlich durch den kleinen Spalt knurrt. Türken haben eben überall Ös und Üs in ihrer Sprache, jetzt also auch Herr Dünkelöh. Hinter der Tür scheint alles böse und dunkel. Nein, dünkel.

„Wir vielleicht ma schnell kuck’n könn’n … in Wohnung, Frau Göktürk?! Besichtigung?! Neue Besitzer?! Haus verkaufen?!“ Er spricht nicht nur wie ein Idiot, er spricht auch ganz laut.

„Was spreschst du wie mit Ausländer, Dünkelöh, binnisch dreissehn Jahre Deutschland. Versteh isch gutt. Kommstu rein mit deine Leute.“

Und dann öffnet sich die Tür ganz und wir dürfen Frau Göktürk in voller Gänze bestaunen. Sie sieht aus wie … naja, eigentlich wie Winnetous Mutter, wenn ich sagen soll, was mir als Erstes durch den Kopf geht, als sie da so vor uns steht und böse lächelt. Dichtes, struppiges, schwarzes Haar, zu Zöpfen geflochten, umrahmt ihr kantiges, fast männliches und übertrieben gebräuntes Antlitz. Sie sieht aus, als wollte sie gleich zu einem Kostümfest aufbrechen – mit Indianerperücke und Kriegsbemalung. Nur den Tomahawk müsste sie noch eben aus der Küche holen, man weiß ja nie, und dann kann’s schon losgehen.

„Wass loss? Komme rein!“, befiehlt Frau Winnetou und wir gehorchen artig, um nicht direkt am Marterpfahl zu landen.

Und so tauchen wir ein in eine olfaktorische Wunderwelt aus Knoblauchküche, Aschenbecher, Fischresten und Kinderwindeln. Stark verbrannt riecht es auch.

Mir fällt der Kinderwagen unten im Flur ein. Ein kleiner, hoffnungslos rotzverschmierter Junge sieht uns ängstlich an und beginnt dann fürchterlich zu brüllen. Ärgerlich ruft Frau Göktürk nach hinten in eins der Zimmer: „Gönül, kommsstu? Deine kleine Bruder muss Schnauze halten. Sons weckt de Adnan. Habbisch Besuch.“

Ein etwa vierzehnjähriges weibliches Schlurfgespenst erscheint lustlos und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft kaugummikauend in einer der Türen, schenkt uns einen angeödeten Blick und zerrt dann das kleine brüllende Ungetüm in das Zimmer. Hinter der Tür hört man einen deutlichen Klatsch und das Brüllen verstummt augenblicklich, um sich dann aber wieder mindestens mit doppelter Lautstärke sirenenartig fortzusetzen. Man hat nur Luft geholt und neuen Anlauf genommen.

Dünkelöh