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A F R I K A image W U N D E R H O R N

Reihe für zeitgenössische afrikanische Literatur
Herausgegeben von Indra Wussow

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H E L O N H A B I L A
Ö L
A U F W A S S E R

R O M A N

AUS DEM ENGLISCHEN
VON THOMAS BRÜCKNER

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Titel der Originalausgabe:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesamtgestaltung: image sans serif, Berlin

Dem Andenken meines Cousins Gabriel

Inhalt

Dank

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

ZWEITER TEIL

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

GLOSSAR

Dank

Ich möchte mich bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben, dieses Buch Wirklichkeit werden zu lassen. Es sind ihrer zu viele, um sie alle namentlich zu erwähnen. Meinen Agenten bei David Godwin Associates danke ich besonders für ihren Zuspruch und ihre Unterstützung, und meinen Lektorinnen Juliette Mitchell und Donna Poppy für ihre unschätzbaren Anmerkungen und Vorschläge.

Mein Dank gilt meiner Frau Susan und den Kindern, dass sie es mit mir ausgehalten und mich durch jene finsteren und düsteren Augenblicke des Schreibens geleitet haben.

ERSTER TEIL

1.

Ich gehe einen vertrauten Weg. Die Ereignisse links und rechts sind säuberlich gelistet und datiert, doch auf halber Strecke lässt die Erinnerung meine Hand fahren und Nebel steigt auf und verhüllt Orte und Gesichter, und mir bleibt nur, mich verloren durch die Dunkelheit zu tasten und die verschwommenen Augenblicke im Weitergehen neu zusammenzufügen, die Gesichter und Orte, sogar die Gefühle. Manchmal muss ich, wenn ich nicht vom Weg abkommen will, an deutlich erkennbare Markierungen zurückkehren und kann erst dann, mit diesem Sicherheitsnetz unter mir, auf weniger gesichertes Gelände springen.

Ja, es stimmt, es gab einen Unfall, ein Feuer. Eine Explosion im Lager mit den Ölfässern. Der Wind trug das Feuer von Haus zu Haus, und innerhalb weniger Minuten stand die halbe Stadt in Flammen. Viele starben. Auch Johns Vater. Man erzählt sich, dass er starb, als er versuchte, meine Schwester Boma zu retten, und sie umgekommen wäre, wenn er nicht gewesen wäre. Mein Vater kam ins Gefängnis. Seit damals raucht er nicht mehr. Meine Mutter ist in das Dorf ihrer Eltern zurückgegangen. Sie lebt immer noch dort. Und während meine Schwester brannte und meine Familie auseinanderbrach, war ich in Lagos, hörte mir einen Vortrag an, aß in einem chinesischen Restaurant zu Abend, versuchte, das Rätsel vom verrückten Vergewaltiger zu lösen, und erfuhr erst von der Tragödie, als ich mit meinem Abschlusszeugnis als Journalist wieder nach Hause kam.

Nein, es war kein Unfall an der Pipeline, wie ich es dem Weißen erzählt und in meinem Artikel geschrieben habe. Aber es hätte unschwer einer sein können, wie in zahllosen anderen Dörfern auch. Mein Vater ist immer noch im Gefängnis. Boma und ich gehen ihn noch immer besuchen, und jedes Mal, wenn er ihr Gesicht sieht, wendet er sich ab und seine Hände zittern, und sie geht seit kurzem nicht mehr hin. Mutter kommt einmal im Monat aus dem Dorf herüber und besucht ihn. Ab und zu begleite ich sie und beobachte, wie sie miteinander umgehen: Manchmal haben sie eine Menge zu besprechen, und manchmal starren sie sich nur schweigend an. Zuletzt bin ich vor gut einem Monat mit ihr mitgegangen. Ich saß etwas abseits, aber ich konnte hören, was sie beredeten: Sie erzählte ihm vom Leben im Dorf, auf dem Hof, wie gut dieses Jahr die Ernte war. Er hörte ihr zu, nickte und starrte sie die ganze Zeit an, versuchte, ihren Blick einzufangen, doch sie mied seine Augen, solange sie erzählte. Und sie rief mir zu: Rufus, komm her. Warum stehst du so weit weg, dort, am Fenster? Der Wärter tat so, als läse er Zeitung, aber er beobachtete uns die ganze Zeit. Ich erinnere mich, dass der Raum nach den gerösteten Erdnüssen roch, die Mutter Vater mitgebracht hatte. Ich erinnere mich, dass der Wärter einen Kahlschädel hatte. Mutter sah dünner aus, dunkler.

Der Nebel lichtete sich so plötzlich, wie er aufgekommen war, und die Sonne strahlte, und ich bewegte mich wieder auf sicherem Grund, auch wenn ich wusste, dass der Nebel wiederkommen, sich vor das Auge meiner Erinnerung schieben und es einen Augenblick lang blenden konnte.

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Nach einiger Zeit sahen Himmel und Wasser und das dichte Blattwerk an den Ufern völlig gleich aus: blau und grün und blaugrün umschleiert. Die ganze Landschaft kam mir vor wie ein bloßer Taschenspielertrick des Lichts, dampfend und die Gestalt ändernd, hinter dem Nebel aufscheinend und vergehend. Es war noch früh am Morgen, doch wir hockten bereits seit über zwei Stunden in diesem Boot, hatten das offene Meer hinter uns gelassen und fuhren einen Nebenfluss hinauf in Richtung Westen. Seit langer Zeit schon war Irikefe Island, die ihrer einzigartigen, sichelförmigen Küste wegen auch Halbmondinsel genannt wurde, hinter uns versunken, verschluckt von der Entfernung und einer Finsternis, die dieser Dunst, der wie Rauch von den Flussufern aufstieg, über uns warf. In der Flussmitte war das Wasser klar, näher an den Ufern aber stand es brackig, eingeschlossen von den Mangroven, in deren Zweigen der Dunst in Klumpen hing wie Baumwollbällchen. Vor uns wölbte er sich wie eine Brücke über das Wasser. Manchmal, wenn wir in einen besonders schmalen Seitenarm einbogen, wurde unser leichtes Holzkanu derart von diesem dichten, grauen Etwas umfangen, dass wir einander nicht mehr sehen konnten, während wir stumm durch das Wasser glitten. Ich war nass, mir war kalt und ich hatte Hunger, und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob es eine gute Idee gewesen war, mit Zaq auf die Suche nach der entführten Engländerin zu gehen. Heute folgten wir bereits den neunten Tag ihrer Spur. Die anderen Journalisten waren längst nach Port Harcourt zurückgekehrt, und ich war überzeugt, dass dieses Abenteuer – oder vielmehr: dieses andauernde Missgeschick – für sie jetzt nur noch eine Episode war, Anekdotenwährung, mit der man sich an einem faulen Tag im Presseclub einen Drink erkaufen konnte.

Zaq tat sie mit einer Handbewegung ab.

»Das ist der Unterschied zwischen großen Reportern und der Masse.«

Er war zweifelsohne einer der besten, die das Land je hervorgebracht hatte, und deshalb respektierte ich seine Meinung, doch in diesem Augenblick wären mir Essen, trockene Sachen und ein Dach über dem Kopf entschieden lieber gewesen als Größe oder Hochachtung. Nur so als Beispiel.

»Rufus, mein Freund, sag mir, was suchen wir eigentlich?«

Es war keine Frage, aber ich antwortete trotzdem.

»Die Frau. Und den Professor.«

»Ich sagte ›was‹ und nicht ›wen‹. Vergiss mal einen Augenblick lang die Frau und ihre Entführer. Wir suchen eigentlich nicht nach ihnen, sondern nach einer höheren Bedeutung. Denk dran, die Geschichte ist nicht das Endziel.«

»Sondern?«

»Der Gehalt der Geschichte, und nur ein paar wenige Glückspilze finden das jemals heraus. Ich glaube, dass du das instinktiv begriffen hast, sonst wärst du nämlich nicht hier. Wird alles gut ausgehen, wirst schon sehen.«

Sein Hemd war unter den Armen und auf dem Rücken durchnässt. Er kämpfte immer noch mit dem Fieber, das ihn plötzlich befallen hatte, nachdem wir Port Harcourt verlassen hatten, und je stärker sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, desto mehr geriet er über alles Mögliche ins Philosophieren: eine Fledermaus, die über unsere Köpfe flog, einen toten Fisch im ölverseuchten Wasser, eine Ballung Regenwolken am klaren Himmel. Ich war trotzdem froh, dass sein Verstand noch zum Philosophieren in der Lage war. Je weiter wir in den Wald vordrangen, desto öfter ertappte ich mich dabei, dass ich ihm Fragen stellte. Ich hatte keine Ahnung, was er mit der Geschichte und ihrem Gehalt meinte, aber vielleicht fand ich das noch heraus, bevor dieser Trip zu Ende war. Im Augenblick hoffte ich nur, dass er durchhielt, bis wir wieder in Port Harcourt waren und festes Land unter den Füßen hatten. Letzten Endes war die ganze Sache nicht so gut gelaufen, wie ich gehofft und er es versprochen hatte, schon gar nicht für ihn, doch redete er vielleicht gar nicht über sich, sondern von mir. Vielleicht fühlte er, dass er im Fluss seines Lebens an einem Punkt angelangt war, hinter dem eine Umkehr unmöglich wurde.

Im Boot lagen ein Beutel Trockenfrüchte und eine Plastikflasche voll Wasser, die uns, wie der alte Mann sagte, Naman, der Priester, mitgegeben hatte. Zaq holte seine letzte Flasche Whisky hervor, seufzte schwer, als er sie öffnete, und nahm einen Schluck.

»Ist es nicht ein bisschen zu früh dafür?«

»Ist nie zu früh. Nimm auch einen Schluck, Rufus. Wird dich warmhalten.«

Ich stieß die Flasche weg, schlug sie ihm fast aus der schwachen Hand.

»Kannst du nicht warten, bis wir ein wenig sicherer sein können, wo wir sind? Wir könnten uns schließlich verfahren haben …«

»Wird alles gut gehen. Der Alte hier wird sich um uns kümmern.«

Der alte Mann lächelte sein breites, ermutigendes Lächeln und nickte eifrig mit dem zwergenhaften Kopf. Neben ihm hockte sein Sohn, eingehüllt in den dichten Rauch, der aus dem Außenbordmotor des Boots quoll; seine Gestalt tauchte im Spiel des Winds aus dem Dunst auf und verschwand wieder darin. Der Junge sah aus, als wäre er höchstens zehn Jahre alt, war aber vielleicht älter, weil sein Wachstum durch Unterernährung gebremst worden war. Sein Haar war rötlich und dünn, die Arme waren so knochig wie die seines Vaters. Beide waren in die gleichen formlosen und verblichenen, schlichten Hemden und Hosen gekleidet, ihre Hände sahen vom Meerwasser rau und schwielig aus, sie rochen nach Fisch und schienen so urwüchsig wie Tang. Das Wasser, das von den Bootsflanken aufspritzte, hatte sie durchnässt. Der Junge bemerkte, dass ich ihn ansah und erwiderte meinen Blick ohne Selbstbewusstsein, mit unschuldsvollen und neugierigen Augen, sodass ich wegsah. Wir tuckerten weiter den enger werdenden Fluss hinauf, nur gefolgt vom Brüllen des dröhnenden Motors.

»Wissen Sie, wo die Rebellen stecken?«

»Nein, Sah. Leute sagen, möglich bei Abakiri.«

Es war ein einziges Rätselraten. Die Rebellen hielten ihre Lager geheim, weil ihr Leben davon abhing; davon und von ihrer Fähigkeit, beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten durch die Patrouillen der Bundesarmee, mit denen sie sich im ständigen Kriegszustand befanden, ihre Zelte zusammenzupacken und den Standort zu wechseln. Wenn sie die Presse einluden, Geiseln zu besuchen oder ausführliche Interviews über die Gründe ihres Kampfes gegen die Regierung geben wollten, taten sie das stets in einem Dorf oder auf einer verlassenen Insel weit weg von ihrem Lager. Fest stand jedoch, dass sie sich nie allzu weit von den Pipelines und Bohrinseln und Raffinerien entfernten, die sie fortgesetzt in die Luft zu jagen drohten, womit sie sich ihr Überleben sicherten. Wenn es dem Alten gelang, uns zu ihrem tatsächlichen Lager zu bringen, und wir es schafften, wohlbehalten von dort zurückzukehren, dann gehörten wir zu den wenigen Reportern, die das vollbracht hatten. Mein Bauchgefühl sagte mir, im nächsten Dorf auszusteigen, mich auf den Rückweg nach Port Harcourt zu machen und die Weiße zu vergessen, weil die Rebellen sie letztlich sowieso freilassen würden; die perfekte Story zu vergessen, weil es so etwas wie eine perfekte Story überhaupt nicht gab und ich bereits genügend aufgeschrieben hatte, um von meinem Redakteur mit offenen Armen empfangen zu werden; Irikefe Island zu vergessen, wo wir die letzten fünf Tage festgesessen hatten, bevor der Alte und sein Sohn uns holen kamen, und vor allem Zaq mit seinem verzweifelten, übertriebenen Ehrgeiz hinter mir zu lassen. Sollte doch das Leben so weitergehen wie früher: einfach, vorhersehbar, ausgefüllt mit Myriaden eigener Angelegenheiten. Nur: Welcher Journalist hungert nicht nach der perfekten Story, an der wir hier, wie Zaq erklärte, und dem stimmte ich vorbehaltlos zu, so nahe dran waren, wie ein Reporter nur je herankommen konnte. Der bloße Gedanke daran, umzukehren, ließ mich erkennen, wie armselig und minderwertig das Leben nach der Aufregung der letzten Tage wäre, und während wir immer weiter stromaufwärts fuhren, und uns weiter und weiter vom Meer entfernten, unternahm ich nichts, um aus der Sache auszusteigen. Ich fühlte, wie sich Hoffnung und Zweifel in meiner Brust abwechselten. Ich fühlte, wie sich ein Hunger in mir regte, etwas, das ich noch nie zuvor gespürt hatte, eine Überzeugung fast schon, dass mir bestimmt war, hier zu sein, auf diesem Boot, auf dieser Fährte. Es war, als wehte eine Brise durch einen lang vergessenen Teil meines Gehirns. Ich wusste, dass Zaq diese aufkeimende Hoffnung in meinen Augen lesen konnte; er konnte sie benennen und beschreiben, wie unwiderstehlich ihre Anziehungskraft war.

Weit voraus tauchte, plötzlich wie ein Wunder, eine riesige Klippe aus dem Wasser auf. Stufen waren ungleichmäßig in den Fels gehauen und führten zu einem Baumdickicht, das die Grenze eines Dorfes beschrieb. Wir legten an und kletterten die tückischen Steinstufen hinauf, mussten aber oft innehalten, um wieder zu Atem zu kommen.

»Wer lebt hier?«

Der Alte zuckte die Schultern.

»Niemand.«

»Wo sind die Leute hin?«

»Sind fort wegen zu viel Kampf.«

Das Dorf sah aus, als hätte eine tödliche Epidemie in ihm gewütet. Das Quadrat einer Betonplattform beherrschte das Dorfzentrum. Sie sah aus wie ein Opferaltar. Um die Plattform herum lag zurückgelassenes Bohrgerät verstreut; einiges schien neben dicken Grasbüscheln direkt aus den breiten Rissen im Beton zu sprießen. Hoch oben in der verrosteten Takelage flogen die Wespen aus ihren Nestern oder schlüpften hinein. Neben der Plattform verkündete ein verwittertes Anschlagbrett: OIL WELL NO. 2. 1999, 15,000 METRES. Unweit der herrenlosen Plattform begannen die Häuser. Wir gingen von einem plumpen Ziegelbau zum nächsten, von Gehöft zu Gehöft, aber sie waren alle verlassen. Weit geöffnete Fenster, die schief in geborstenen Angeln hingen, und die Dächer darüber hatten große Löcher, durch die das grelle Sonnenlicht einfiel. Hinter einem Haus entdeckten wir ein Hühnergehege mit vielleicht zehn Hühnern, allesamt tot und verwesend; unter den Federn taten sich die Maden gütlich. Wir hielten uns die Nasen zu und gingen zum nächsten Gehöft hinüber, aber auch dort war es kaum anders: Kochtöpfe standen leer und kalt auf erloschenen Herden; daneben befanden sich volle Wassertöpfe, auf deren Oberfläche dicht an dicht Moskitolarven gediehen. Wir brauchten weniger als eine Stunde, um durch das kleine Dorf zu ziehen, gingen von einem verlassenen Haushalt zum nächsten, machten Fotos, hofften darauf, wenigstens einen zufälligen Nachzügler zu entdecken, einen Überlebenden, eine Stimme, die wir interviewen konnten.

Wir fuhren weiter. Zaq sah aus, als müsste er sich gleich übergeben; sein Gesicht war schweißbedeckt, und er musste mehrmals die Flasche ansetzen, bevor die Wachheit in seine Augen zurückkehrte. Wir machten öfter Pausen und der Fluss wurde jedes Mal enger, wenn wir weiterfuhren. Bald darauf befanden wir uns in einem dichten Mangrovensumpf; das Wasser unter uns stank nach Fäulnis und Schwefel; in Schwärmen stiegen die Insekten von der Wasseroberfläche auf und ballten sich über unseren Köpfen zu schwirrenden Wolken zusammen, stachen uns in Arme und Gesichter und Ohren. Der Junge und der alte Mann schienen die Insekten gar nicht zu bemerken; sie hatten die Augen zu Schlitzen zusammengezogen und konzentrierten sich darauf, das Boot zwischen den knorrigen Luft wurzeln hindurch zu steuern, die wie nach Atem schnappende Rüssel aus dem Wasser wuchsen. Die Luft war vom schwer lastenden Gestank toter Körper erfüllt. Wir folgten einer Flussbiegung und sahen Vogelkadaver vor uns, auf Äste drapiert, die schlaffen Flügel schwarz und glitschig vom Öl; tote Fische schaukelten mit den weißen Bäuchen nach oben zwischen den Baumwurzeln.

Das nächste Dorf war fast eine Kopie des ersten: die gleichen leeren, gedrungenen Bauten, der gleiche gesättigte und abscheuliche Gestank, die Leere, der Ölschlick und die gleiche unbestimmbare Traurigkeit in der Luft, als ob eine Geisterhorde über den zerlöcherten Zinkdächern schwebte, die nicht fortziehen wollte und doch nicht die Macht besaß, zu bleiben. Im Zentrum entdeckten wir den Dorfbrunnen. Durstig bückte ich mich unter den feuchten, bemoosten Tragbalken und spähte in die Finsternis hinunter, aber ein ranziger Geruch wurde aus seiner heißen Tiefe heraufgetragen und schlug mir ins Gesicht. Benommen wandte ich mich ab; mir war schlecht. Dort unten lag etwas Organisches tot und verwesend herum, vielleicht ein menschliches Wesen, und dieser Gestank mischte sich mit dem unverwechselbaren Ölgeruch. Am anderen Ende des Dorfes sickerte ein winziger Bach dem großen Fluss zu, an dem wir unser Boot zurückgelassen hatten. Die Grasnarbe, die am Ufer wuchs, erstickte unter einem Ölfilm, jeder Halm war mit Flecken übersät, wie Leberflecken auf der Hand eines Rauchers.

Wir fühlten uns ausgelaugt, und deshalb machten wir uns wieder auf den Weg. Wir schoben das Boot in tieferes Wasser und kletterten hinein. Zaq schien inzwischen jede Energie – und sogar den Willen, die Flasche an die Lippen zu setzen, eingebüßt zu haben: Sie lag unbeachtet zu seinen Füßen. Die pissefarbene Flüssigkeit schwappte mit jeder Bewegung des Bootes vor und zurück. Er saß da, hatte die Hände breit neben sich auf dem Sitz abgestützt, als klammerte er sich ans nackte Leben, und ich wartete bei jedem Schaukeln des Bootes darauf, dass sich die Kotze aus seinem Mund ergoss. Aber irgendwie behielt er alles bei sich.

»Möchtest du, dass wir im nächsten Dorf anhalten?«

»Nein, keine Dörfer mehr!«

Ich war müde und schlapp und fragte mich, wann der Alte anhalten, die Hacken in den Boden schlagen und verlangen würde, dass wir umkehrten, aber er sagte nichts, fuhr einfach immer weiter, tiefer und tiefer in das Land hinein. Der Fluss war an manchen Stellen so seicht und der Morast so dick, dass wir den Motor abstellen und das Boot schieben mussten, ungeachtet des kalten, dreckigen Wassers, das uns in Schuhe und Hemden und Hosen sickerte, und des faulen Geruchs, der sich in den Haaren festsetzte, und des Juckens auf unseren verdreckten Gesichtern. Als wir wieder in offenes Wasser kamen, änderte der Alte die Richtung und nahm Geschwindigkeit auf. Ich fragte nicht, wohin wir fuhren. Ich hoffte nur, dass der Ort in der Nähe und bewohnt war.

»Ich hab Freund in Nachbardorf. Is gut Mann. Wir machen kleine Rast dort, vielleicht auch schlafen für Nacht. Is gut Mann.«

»Wie weit ist es bis dahin?«

»Nich sehr weit, bloß bisschen.«

Wir fuhren geräuschlos wie ein Geisterschiff, das Brüllen des Motors von der gesättigten Luft gedämpft. Kein Vogel oder Fisch oder irgendein anderes Lebewesen der See war an der schwarzen, teilnahmslosen Wasseroberfläche zu sehen – wir waren allein. Als wir ankamen, begrüßte uns eine Gruppe Schmuddelkinder mit Rufen und neugierigen Blicken. Wir ließen das Boot in der Obhut des Jungen zurück und machten uns auf den Weg zu den rostroten Dächern, aus denen dieses winzige Uferdorf bestand. Nach wenigen Minuten sprang der Junge aus dem Boot und schloss sich den Kindern an, die einen alten, geflickten Lederball über den Sand kickten. Der Alte führte uns eine breite Straße entlang, die das Dorf in zwei Hälften teilte. Auf jeder Seite standen Häuser, die wie Schachteln aussahen und mit irgendwie spöttischem Grinsen auf die Hauptstraße herunterschauten. Die Häuser glichen eher den Bäumen und dem Wald hinter ihnen als einer menschlichen Siedlung. Frauen und Kinder starrten uns neugierig an, doch sobald wir winkten oder ihnen einen Gruß zuriefen, schlossen sie schnell die Türen oder wandten sich einer Arbeit zu. Wir standen jetzt vor einigen offenen Verschlägen und Hütten und Buden, die durch enge Durchgänge voneinander getrennt wurden. Alle vorstellbaren Waren sah man dort ausgestellt – von Badeseife und Reinigungsmitteln bis zu Ölsardinenbüchsen, die sich neben Milchtüten und Kekspackungen zusammendrängten; in Regalen und unter Tischen standen Kästen mit Coca Cola und Fanta; es gab getragene Kleidung, Radiobatterien, Plastikspielzeug und sogar Dachpappennägel in aufgebrochenen Packungen zu kaufen. Inmitten dieser Verschläge standen Frauen mit speckigen Schürzen um die Hüften, die mit Maßkellen und lauten Stimmen Garri aus Eisenschalen in die Plastiktüten schaufelten, die ihnen die Kunden hinhielten. Dieser Teil des Dorfes war so anders als der, durch den wir gerade gekommen waren, dass ich mich fragte, ob wir noch im selben Dorf waren. Die Frauen riefen uns grüßend zu, als wir vorübergingen und zeigten auf ihre Waren, um uns heran zu locken. Der letzte Stand in der Reihe gehörte einem Grobschmied.

»Is Laden von mein Freund Karibi.«

Der Alte ging hinein. In einem Winkel des Verschlags standen vier Männer beieinander und unterhielten sich leise. In der Mitte hockte ein junger Mann vor einer Feuerstelle voll glühenden Metalls, der kurz zu uns aufblickte und sich sofort wieder seiner Arbeit zuwandte. Die Männer hörten auf zu reden, und einer schüttelte dem Alten die Hand; die anderen nickten ihm grüßend zu und drehten sich dann mit ernsten Gesichtern zu uns um. Der Alte sprach eine Weile mit dem Mann, während die anderen zuhörten und ab und zu eine Bemerkung einwarfen. In ihren Gesichtern und Gesten war tiefste Verblüffung zu lesen. Kurz darauf gesellte sich der Alte mit besorgtem Blick wieder zu uns.

»Ist das Ihr Freund?«

»Ja. Sagt, wir müssen fort. Können nich bleiben.«

»Wir sind aber gerade erst angekommen. Stimmt etwas nicht?«

»Ja. Haben gehört, Soldaten kommen heute her. Wollen ihn holen.«

»Weswegen holen?«

Der Alte zuckte die Achseln und drehte sich zu den Männern im Verschlag um.

»Sagen, er hilft Rebellen.«

»Und warum versteckt er sich nicht?«

»Sagt, is unschuldig, deshalb rennt nich weg. Nirgendwohin. Karibi is wichtig Mann in Dorf. Is sehr stolz Mann.«

Wir standen da und wussten nicht recht, was tun. Ich sah Zaq an. Hier würde sich ganz offensichtlich ein Ereignis mit Nachrichtenwert entfalten, und vielleicht sollte ich lieber, statt zu verschwinden, meinen Fotoapparat bereithalten und den Mann um einige Hintergrundinformationen bitten? Doch bevor sich dieser Gedanke in Taten umsetzen ließ, überschlugen sich die Ereignisse bereits. Lärm wie von stampfenden Füßen, Staub wirbelte hoch und senkte sich auf die engen Durchgänge und Stände und Verschläge, Menschen eilten durch die Durchlässe, rissen in ihrer Hast Tische und ganze Verkaufsstände um. Dann war ein Gewehrschuss zu hören. Einen Augenblick lang stand alles still. Als ich mich umdrehte, um den Alten zu fragen, was los sei, stand plötzlich eine verschreckte Marktfrau vor mir, die Augen blind vor Angst. Im nächsten Augenblick lag ich flach auf dem Rücken, und ihre beträchtliche Masse presste mich auf den staubigen Boden, dann war sie wieder auf den Beinen und lief fort, wendig, fast fliegend. Noch lange danach erinnerte ich mich an ihren Marktgeruch und ihre blicklosen Augen über meinen, und an das Stöhnen, verängstigte Laute, die ständig aus ihrer Kehle drangen, Geräusche, von denen sie gar nicht wusste, dass sie sie erzeugte. »Sie sind da! Die Soldaten sind da!«

Sie tauchten aus Verschlägen und Häusern und Durchgängen auf, schwangen Peitschen und Gewehre und feuerten ab und zu in die Luft, um noch größeres Chaos auszulösen. Ein Mann stürzte aus einer Hütte und sah sich einem Soldaten gegenüber; er riss die Hände in die Höhe, um sich zu ergeben, während der Soldat mit einer einzigen, fließenden Bewegung sein Gewehr umdrehte und den Kolben an den Kopf des Mannes schmetterte. Der Mann fiel in die Türöffnung zurück, und der Soldat zog, auf der Suche nach dem nächsten Ziel, weiter. Ich lag immer noch auf dem Boden und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, was mich vor einem gebrochenen Kiefer oder einem zerschmetterten Schädel bewahrte. Karibi und seine Freunde, denen sich jetzt auch seine Söhne angeschlossen hatten, standen Schulter an Schulter, ohne sich zu rühren, und sahen zu, wie sich das Pandämonium auf sie zu bewegte – wie eine Welle, die weit draußen auf dem Meer ihren Ursprung genommen hatte und nun unaufhaltsam auf die Küste und sie zugerast kam und in dieser Bewegung noch an Kraft und Wut gewann. Mehr als zehn Soldaten umzingelten die Schmiede und umringten die schweigenden, trotzigen Männer. Ein Soldat, ein Sergeant, trat in den Verschlag und richtete sein Gewehr auf Karibi.

»Du kommst mit.«

Seine Leute stürmten vor und griffen sich Karibi, der sich nicht wehrte und nichts erwiderte. Die anderen Männer schauten zu, sahen die Soldaten wütend an, schwiegen aber. Sie fesselten ihm die Hände auf dem Rücken und schleiften ihn die breite Dorfstraße entlang fort. In der Ferne klagte eine Frau mit lauter Stimme. Immer wieder rief sie Gott an: Tamuno! Tamuno!

2.

Wir fuhren weiter bevor sich der Staub gesetzt hatte. Zusammen mit den Dorfbewohnern gingen wir zum Flussufer, um zuzusehen, wie die beiden Schnellboote, mit denen die Soldaten gekommen waren, über das Wasser davonflogen und aus dem Blickfeld verschwanden. Karibi saß, die Hände auf dem Rücken gefesselt, aufrecht zwischen zwei Soldaten und starrte zum fernen Horizont. Sein Sohn sagte, man brächte ihn nach Port Harcourt, wo er der Verbrüderung mit den Rebellen angeklagt und für schuldig befunden werden würde.

»Aber er ist unschuldig. Er ist doch unschuldig?«

Es war sinnlos, Zaq das zu fragen, das war sogar mir klar: Woher sollte er wissen, wer unschuldig war und wer nicht; und hatten wir den Mann nicht gerade eben erst kennengelernt? Doch der Anblick Karibis ließ mich nicht los. Stoisch und trotzig im Angesicht der Bedrohung durch die Soldaten – nur ein Unschuldiger konnte so gelassen, so selbstsicher sein, oder?

Zaq sah mich an und zuckte die Achseln.

»Wessen schuldig, woran unschuldig? Einige Rebellen kommen tatsächlich aus diesen Dörfern; wie willst du also verhindern, dass sie sich mit ihnen verbünden?«

Der Alte beschloss, uns in sein Heimatdorf mitzunehmen. Es läge ein wenig abseits unseres Weges, sagte er, aber es wäre der einzige Ort, bei dem wir sicher sein konnten, etwas zu essen und Unterkunft für die Nacht zu finden. Und Zaq brauchte auf jeden Fall irgendeine medizinische Betreuung, zumindest aber eine längere Ruhepause.

Als wir endlich ankamen, war es längst Nacht. Das Dorf stand auf Pfählen an einem Fluss auf einer riesigen Sumpffläche, die gerade überflutet war, sodass das Dorf zu schwimmen schien; enge Kanäle trennten wie Straßen eine Reihe Hütten von der nächsten. Die Häuser bestanden aus Trauerweidenrohr und Raffia und Zinkblechen und Sperrholz und Tuch und allem, so schien es, was den Erbauern sonst noch in die Hände gefallen war. Dieses Vogelscheuchennest sah aus, als würde es vom nächsten kräftigen Wind davon geweht, von der nächsten starken Welle fortgespült werden. Einbäume ruhten unter den Fußböden der Häuser; mit Juteseilen an den Pfählen befestigt, zerrten sie wie Pferde an den Fesseln. Wir trieben stumm zwischen den Häusern dahin; Gestalten in Türen und Fenstern winkten zu uns herunter; manchmal hörten wir ein Lachen über der Stille und mitunter auch das Geräusch eines Radios, dessen statisches Rauschen in diesem trostlosen Dorf seltsam elementar klang. Schließlich hielten wir vor einem Haus, das größer als die anderen war. Eine Holzleiter, die über dem Wasser hing, führte hinauf zur Eingangstür.

»Hier kurz warten, ich komm gleich.«

Der Alte ließ uns zurück und kletterte die Leiter zur Tür hinauf. Der Junge blieb bei uns im Boot sitzen, wortlos. Müde sah er aus und schläfrig. Wir mussten nicht lange warten, bis der Alte wieder auftauchte. Ein dicker Mann begleitete ihn, der zu uns herunter winkte und mit lauter, freundlicher Stimme rief:

»Kommt rein, kommt rein.«

Wir kletterten die schwankende Leiter hinauf, setzten vorsichtig jeden Fuß, immer darauf bedacht, nach allem in der Nähe zu greifen, um uns in Sicherheit zu bringen, sollten die Sprossen unter uns nachgeben. Ich stieg als erster hoch und zog Zaq nach. Er war schwer wie ein Sandsack.

Das Wohnzimmer war überraschend geräumig, was aber eher am Fehlen von Möbeln und einem großen, offenen Fenster lag. Der Fußboden war mit alten Strohmatten bedeckt, auf die wir niedersanken als wären es die weichesten Daunenkissen. Der Dicke setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum, einen Lehnstuhl am Fenster, das hinaus auf die Veranda und den Fluss dahinter blickte.

»Willkommen in unserem Dorf.«

Der Alte stand zwischen uns und dem Mann auf dem Stuhl und stellte uns einander vor.

»Mein Bruda, Chief Ibiram, sagt willkommen. Is der Chief von ganze Dorf. Is auch mein Bruda von selbe Mutta. Das meine Freunde, sind Journalisten. Sind gute Leute, deshalb ich bring her.«

»Seid willkommen in unserem Dorf.«

Es war offensichtlich, dass der Chief kein Mann vieler Worte war, aber er schien sich zu freuen, uns aufzunehmen. Ich sah von dem alten Mann zu seinem Bruder, versuchte, Ähnlichkeiten zu entdecken: Es gab keine. Unser Führer war grau, drahtig und kleinwüchsig, sein Bruder aber ein beeindruckendes Mannsbild: Über einen Meter achtzig groß, beherrschte er sogar noch im Sitzen den ganzen Raum und ließ alles andere kleiner erscheinen. Nun, da die Vorstellung vorüber war, setzte sich der Alte neben seinen Bruder. Auf einem Beistelltisch neben Chief Ibiram spielte leise ein Radio, das auf einen Sender eingestellt war, dessen Sprache ich nicht ausmachen konnte.

Eine Tür ging auf und ein Mädchen brachte eine Lampe herein, die sie in der Zimmermitte auf den Fußboden stellte; draußen war es inzwischen völlig dunkel. Sie war vielleicht zehn Jahre alt, und als sie sich bückte, um die Lampe abzusetzen, blickte sie verstohlen zu uns herüber, und in dem flüchtigen, zitternden Licht sah ich, wie erstaunlich fein geschnitten ihre Züge waren, sah ihre glatte, ebenholzfarbene Haut, das Weiß in ihren Augen, die langen, schwarzen Wimpern – und dann war sie wieder verschwunden. Sie kam später noch einmal und brachte ein Tablett voll mit Essen: gekochte Kassava und Fisch mit Palmöl und gemahlenem Pfeffer. Der Chief stieg von seinem Stuhl herab, und gemeinsam aßen wir auf dem Fußboden. Ich war überzeugt, dass es das beste Essen war, das ich je bekommen hatte: Ich starrte auf die Tür, durch die das Mädchen gekommen und gegangen war, und hoffte, dass sie wiederkäme und mehr Essen brächte.

Zaq aß nicht. Er saß abseits, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und ich konnte im Lampenlicht den Schweiß erkennen, der ihm auf der Stirn stand. Aber er klagte nicht. Er saß da, still und mit Whisky abgefüllt, den Rücken an die dünne Strohwand gelehnt, und bald darauf schnarchte er. Später gesellte sich der Alte zum Chief und setzte sich aufmerksam lauschend neben das Radio. Sie hörten die ganze Nacht Radio. Manchmal wachte ich plötzlich auf und sah sie immer noch in derselben Haltung da sitzen und zuhören, als ob die Nachrichten, die da aus dem winzigen Weltempfänger drangen, über Leben und Tod entschieden. Sie unterhielten sich – vielleicht kommentierten sie das, was aus dem Radio kam – in einer Mischung aus Pidgin-Englisch und ihrer Muttersprache. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ich stellte mir vor, dass sie über die schwindenden Fischvorkommen im Fluss sprachen, über die steigende Vergiftung des Wassers und darüber, wie bald sie an einen Ort umsiedeln müssten, an dem das Fischen noch einigermaßen möglich war. Ich hörte zu, schlief ein und wachte wieder auf und schlief wieder ein und träumte von dem kleinen Mädchen mit der matt glänzenden Haut.

***

Es ist dunkel. Wir sind am Strand und fangen Krebse, die wir am Morgen an die Marktfrauen verkaufen wollen. Das haben wir jede Nacht gemacht, sie und ich, aber heute geht die See schwer, spuckt und schäumt, und der Himmel über unseren Köpfen öffnet sich, als wollte er seine Anteilnahme beweisen. Wir rennen los. Boma ist fünf Jahre älter als ich und deshalb schneller und sicherer auf den Beinen, und jetzt rutsche ich aus und, um mich zu retten, springt sie in die Wellen und stößt mich auf den Strand und in Sicherheit. Ich bin ganz allein am Strand in diesem wundersam wütenden Sturm, und meine Schwester treibt mit wedelnden Armen im dunklen, finsteren Wasser, und ich kann nur das Weiß ihres groben, einfachen Kleides sehen, wie es steigt und sinkt, und dann ist sie verschwunden, und ich werde sie nie wiedersehen, und jetzt bin ich im Fluss und versuche, seinem wilden Steigen und Sinken zu entkommen und zu ihr zu gelangen, um sie zu retten und ihr zu sagen, dass es mir Leid tut, dass sie meinetwegen ins Wasser gefallen ist. Ich lasse den umgestürzten Kübel liegen und die Krebse verteilen sich über das ganze Gelände, suchen unter dem immer weiter steigenden Wasser nach ihren Höhlen. Die Wellen, die Wellen, grausam und unerbittlich, und sie haben meine Schwester mit sich genommen. Und aus irgendeinem Grund ist sie weder traurig noch wütend; sie ist einfach ganz ruhig und wiederholt immer wieder dasselbe, du hast wirklich Glück, Junge, du hast wirklich Glück. Glück, seit du auf die Welt gekommen bist. Nichts wird dir je etwas anhaben können. Beruhige dich, sag Vater und Mutter, dass wir nicht ein einziges Wort dessen verstehen können, was du sagst. Ich wiederhole ihren Namen ein ums andere Mal: Boma, Boma. Sie ist fort. Die Wellen haben sie genommen. Das ganze Dorf kommt mit Laternen herbei, und als der Sturm sich legt, fahren die Männer mit Booten hinaus. Auf einer Felsnase mitten im Meer, im inzwischen ruhigen und zurückhaltenden Meer, das keiner Fliege etwas zuleide tun würde, finden wir sie am nächsten Tag. Auf diesem Flecken trockenen Lands mitten im Meer ist sie gestrandet, und sie schläft oder ist bewusstlos, und die Männer laden sie ins Boot und bringen sie nach Hause, und eine ganze Woche lang spuckt sie Meerwasser und schläft.

***

Ich erwachte, und noch im Halbschlaf sah ich Zaq über mir aufragen. Er sah ausgeruht aus: Die Augen waren klar, und er hatte ein Lächeln auf den Lippen.

»Du hast schlecht geträumt.«

»Brechen wir auf? Wo sind der alte Mann und der Junge?«

»Die sind fischen oder Krebse fangen oder was immer sie in dieser Gegend treiben.«

Er setzte sich auf Chief Ibirams Stuhl und fummelte an den Radioknöpfen herum, sah dann zu mir herüber und lächelte.

»Hättest du je gedacht, mal an so einem Ort zu landen, als du Reporter geworden bist?«

Heiterkeit lag in seiner Stimme, und sein Lächeln leuchtete, und er sah beinahe glücklich aus. Plötzlich fiel mir unsere erste Begegnung vor fast fünf Jahren wieder ein, als er an die Ikeja School of Journalism in Lagos gekommen war, um die jährliche Abschlussvorlesung zu halten. Weil ich in meiner Klasse als Bester abgeschlossen hatte, war ich zusammen mit zwei anderen ausgewählt worden, hinterher mit Zaq essen zu gehen. Die beiden anderen, das waren Linda, das hübscheste Mädchen in meinem Jahrgang, und Tolu, das gescheiteste. Tolu war wie ich ein großer Fan des namhaften Journalisten, und ich war davon überzeugt, dass sie irgendwo in ihrer Tasche ein Aufnahmegerät und ein kleines Notizbuch mit einer langen Liste der Fragen hatte, die sie ihm stellen wollte: Fragen über das Leben nach der Journalistenschule, darüber, was einen in der Nachrichtenredaktion erwartete, welches die besten Zeitungen waren, bei denen man sich bewerben sollte und zu guter Letzt noch, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie ihn als Referenz angab oder er vielleicht sogar bereit wäre, ihr ein Empfehlungsschreiben an einen der Chefredakteure zu schreiben … Tolu war nicht nur die gescheiteste Studentin in meiner Klasse, sondern gleichzeitig die aggressivste, die nervigste und die hässlichste, mit krankhaft gelblichen Augen, die einen ohne zu zwinkern auf unangenehme Art anstarrten.

Wir saßen im Hinterzimmer eines chinesischen Restaurants in Ikeja; die Mädchen saßen rechts und links von Zaq. Linda kicherte, während sie Rotwein in sein Glas nachgoss und dabei versuchte, ihm ihren bemerkenswerten Vorbau ins Gesicht zu drücken. Ich saß auf der anderen Seite des Tisches, und links von mir saßen zwei unserer Lehrer: Ms. Ronke und Mr. Malik. Ihre Hände fummelten, das konnte ich genau sehen, unterm Tisch im Schritt des anderen herum. Und der Abend war noch jung. Links von uns hing eine Kerze in einem roten Lampion über dem Mittelgang und tauchte unseren Tisch in eine düstere Glut. Alle versuchten wir verzweifelt, Zaq in ein Gespräch zu verwickeln, aber er schien im Augenblick mehr darauf aus, sich zu betrinken. Wir waren noch nicht einmal eine Stunde dort, und während wir auf unsere Bestellung warteten, hatte er allein bereits eine Flasche Shiraz geleert; eine zweite, die er zum Essen geöffnet hatte, stand halbleer vor ihm. Sein Kung-Pao-Huhn lag noch unberührt auf dem Teller neben der Weinflasche. Tolu, die die flirtende Linda die ganze Zeit wütend angestarrt hatte, räusperte sich.

»Schmeckt Ihnen das Essen nicht, Mr. Zaq?«

»Zaq ist eigentlich mein Vorname.«

»Oh, Entschuldigung, Mr …«

»Und gleichzeitig mein Familienname. Seit ich Journalist bin, und das bin ich schon ziemlich lange, trage ich nur noch einen Namen.«

Tolu war sprachlos. Je weiter der Abend voranschritt und sich ihre Enttäuschung steigerte, desto größer wurde mein Mitleid mit ihr. Zaq hob sein volles Glas und schwenkte es, während er sich vorbeugte und zu Ms. Ronke umdrehte und Tolu dadurch den Rücken zukehrte.

»Passt auf, ein Rätsel. Ein Irrer haut aus dem Irrenhaus ab. Er überquert einen Fluss und begegnet einigen Wäscherinnen, er vergewaltigt sie, naja, nicht alle, weil das wirklich nicht möglich wäre …«

Ms. Ronke zwinkerte ihm zu und wischte eine Strähne ihrer Perücke zur Seite.

»Das hängt wohl eher davon ab, wie … talentiert er ist?«

Vor langer Zeit hatte Ms. Ronke gemeinsam mit Zaq bei einer Lagoser Zeitung gearbeitet. Sie war über zehn Jahre Journalistin, bevor sie als Dozentin anfing, und konnte es mit jedem Mann in allem aufnehmen, auch bei zotigen Witzen. Linda kicherte. Tolu warf ihr einen wütenden Blick zu und räusperte sich.

»Ehrlich Zaq … Sir, das Thema Vergewaltigung ist sehr heikel, die meisten Frauen würden den Witz dabei nicht unbedingt verstehen … ich meine …«

Zaq nickte.

»Sie haben völlig Recht, aber denken Sie daran, dass Sie als Reporterin da draußen Schlimmeres erleben. Nun, wie ich gerade gesagt habe, dieser gut ausgestattete und talentierte Irre vergewaltigt alle Wäscherinnen und haut ab. Hier also die Frage: Nehmen wir an, Sie wären Journalist und sollten über die Vergewaltigungen berichten; Sie haben Ihre Geschichte geschrieben und brauchen jetzt noch eine Überschrift. Ein Redakteur, der Ihnen aushelfen könnte, ist nicht greifbar. Die Schlagzeile muss witzig sein, wahrhaftig, faszinierend, unwiderstehlich und mit ein wenig literarischem Anspruch daherkommen. Wie könnte sie lauten?«

Tolu stocherte mit der Gabel in ihrem Essen herum und blickte nicht auf. Ich nippte an meinem Glas und machte den Anfang.

»Achtung: Gefährlicher Irrer unterwegs.«

Zaq neigte den Kopf.

»Zu schaurig, nicht witzig genug. Der Nächste. Los, Ronke, versuch’s mal.«

»Wie wär’s mit: Irrer Vergewaltiger kreuzt Ihre Wege?«

Malik hob die Hand, gab sich geschlagen und lachte.

»Ich geb auf, Zaq, warum sagst du’s uns nicht?«

Aber Linda sprang bereitwillig ein, legte die Hand auf Zaqs Arm und zwinkerte ihm zu.

»Halt. Ich bin dran, ich bin dran. Ich versuch’s: Gefährlicher Irrer und Vergewaltiger ausgebrochen. Läuft frei herum. Vorsicht.«

»Zu lang. Zu gebetsmühlenartig. Wo bleibt die Ästhetik, und wo der Witz? Übrigens, Folu, das ist eine wahre Geschichte. Die ist tatsächlich geschehen.«

»Tolu.«

»In Ordnung. Tolu. Auch mal versuchen?«

Tolu nippte an ihrem Glas und weigerte sich zu reden. Linda kicherte und ließ sich schwer gegen Zaq sinken. Sie hatte nur ein einziges Glas Wein getrunken, aber ihre Augen waren bereits trüb und die Wörter kamen undeutlich aus ihrem Mund. Zaq stützte beide Ellbogen auf den Tisch, umklammerte sein Glas mit einer Hand, und seine Stimme wurde leise, wie die eines Trainers, der ein paar ermutigende Worte spricht.

»Erstens, ihr konntet die Antwort nicht finden, weil man sich die perfekte Überschrift nicht ausdenken kann; sie muss einem einfallen. Sie ist eine Eingebung. Eine Offenbarung. Man kann sich eine großartige Überschrift ausdenken, niemals aber eine perfekte. Die perfekte Überschrift fällt dir immer erst ein, nachdem deine Story veröffentlicht ist. Immer zu spät. Also, der Typ hatte Glück: Sie fiel ihm ein, als er sie brauchte.«

»Mach schon, Zaq. Sag sie uns.«

»›Rad ab, Waschweiber genagelt, getürmt‹! Haha! Na, wie ist die?«

***

Als wir jetzt in Chief Ibirams Empfangszimmer saßen, weit weg von Ikeja und chinesischen Restaurants, fragte ich mich plötzlich, wo Tolu stecken mochte. Unsere Mitschüler waren allesamt davon überzeugt gewesen, dass sie die besten Aussichten hatte, berühmt zu werden, und ich war mir sicher, eines Tages den Fernseher einzuschalten und zu sehen, wie sie eine Hauptnachricht kommentierte, oder sie irgendwann auf der Titelseite einer in Lagos erscheinenden Tageszeitung zu entdecken, die über die interessanteste Story des Jahres berichtete. Fünf Jahre waren vergangen, und in diesen fünf Jahren hatte ich Zaqs Fortkommen in den Zeitungen verfolgt, doch getroffen hatte ich ihn nicht wieder, bis jetzt nicht, nicht bis zu diesem Auftrag.

***

Ich sah die Bilder jenes Abends deutlich vor mir, als würden sie aus den überfluteten und unfruchtbaren Schlammschichten da draußen herausspringen. Ich sah das wuchtige Plastikarmband an Ms. Ronkes geädertem Handgelenk, das kitschige Spielkartenmuster auf Mr. Maliks Krawatte, das behaarte Muttermal auf der blassen Wange des chinesischen Restaurantbesitzers, der sich über unseren Tisch beugte und besorgt flüsterte: Hats desmeckt? Mäa Wein, ja? Mitten im Hauptgang kippte Zaq plötzlich nach vorn, sein Gesicht verfehlte den Teller nur um Zentimeter, doch dafür stieß er das leere Weinglas um und verlor das Bewusstsein. Mr. Malik und ich packten ihn unter den Achseln und hoben ihn auf, und während die Mädchen ihre Sachen zusammensuchten, brachten wir ihn nach draußen, setzten ihn auf eine Bank am Straßenrand und hofften, dass ihn die frische Luft ins Leben zurückbringen würde, doch fühlte sich die Luft draußen nach der Klimaanlage im Restaurant schwer und feucht an und pflasterte uns eine dünne Schicht Schweiß auf die Haut. Mr. Malik zog sein Sakko aus und wedelte es über Zaqs schnarchendem Gesicht auf und ab, und bei jeder Bewegung schwang die knallbunte Krawatte an seinem Hals mit.

»Und wie kriegen wir ihn jetzt in sein Hotelzimmer?«

Keiner von uns besaß ein Auto.

Ein Molue hielt am Bordstein. Die Passagiere stiegen aus wie Schlafwandler, die Schritte bleiern, die Köpfe gebeugt, die Gesichter dumpf und ausdruckslos. Während sie eine Weile verwirrt durcheinander stolperten und einander anrempelten, verschwanden sie nach und nach in den dunklen Seitenstraßen, wo die Glut vom Feuer einer Akara