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P e t e rZ i m m e r m a n n

S t i l l e

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P e t e rZ i m m e r m a n nR o m a n

S t i l l e

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Es glich einer Explosion, zuerst ein Knall, dann unerträgliche Helligkeit. Es schleuderte Jan auf den Boden. Die Tür stand offen, Sonne drang ein. Dann ein Schatten. Nichts Ungewöhnliches.

»Es wird Regen geben«, sagte der Mann in Pfadfinderuniform, der in der Tür stand und seine weißen Arme kraftlos wie die Tentakel eines angespülten Tintenfisches von den Schultern hängen ließ.

»Guten Morgen«, sagte Jan und stand vom Boden auf. Der Mann sagte nichts mehr. Sein Mund, aufgeklappt, als hätten sich zwischen Zunge und Gaumen ein paar grundsätzliche Fragen gezwängt, offenbarte zusätzlich zu einer rührenden Hilflosigkeit eine Ahnung von Freiheit. So jedenfalls sah Jan es, nachdem er an den Uniformierten herangetreten war: Auf dem feuchten Fleisch seiner Unterlippe spiegelte sich als kleiner, glimmernder Punkt das ferne Zentralgestirn.

»Man könnte glauben, das Wetter meine es gut mit uns«, sagte Jan. Er hielt sich mit einer Hand die Hose fest, mit der anderen rieb er sich ein Auge. Das Licht, das an dem Mann vorbei in die Hütte drang, schmerzte ihn. »Der Tag könnte also schöner nicht sein auf der Türschwelle von Vaters Mühle«, murmelte er, dann begann er zu singen: »Wisch dir den Schlaf aus den Augen und hab es fein im warmen Sonnenschein.« Er wusste, dass der Mann es mochte, wenn er so tat, als freue er sich über den Besuch. Aber er wollte ihm einen Strich durch die Rechnung machen: »Der Rücken tut mir weh. Lauter Ameisen.« Der Uniformierte schaute ihn weiterhin mit offenem Mund an, tat aber nichts. Seit einiger Zeit plagten Jan Geschwüre. Er fühlte eine Reihe entzündeter Hautstellen, wenn er mit den Fingern sein Steißbein abtastete. Er nahm Haltung an, er bestätigte unaufgefordert, was zu bestätigen war: »Gefangener 64979324. Auf seinem Platz.«

Der Mann schwieg weiterhin. Die grundsätzlichen Fragen zwischen Zunge und Gaumen, dachte Jan, was für eine Tragödie! Das Leben, erzählte ihm das Gesicht des Mannes, ist eine verschlüsselte Botschaft, deren Code immer nur die anderen knacken; nur Freddie schaute so, der alternde Cowboy, das zeitlebens staunende Kind einer aus Kuhmist und Spiritusdelirien gewachsenen Familie. Dieser endzeitliche Blick, dachte Jan, wenn dem alten Mann Tag für Tag nach dem Aufwachen klar wurde, dass der Schlaf die Geister nicht vertreibt und er den Brocken in seinem Mund nicht werde herunterschlucken können. Vergeblich, Herr, erweitern wir unseren Blick in die himmlischen Räume und erspähen das Innere der Erde, hörte er den Prediger aus Freddies Küchenradio flöten, und er sah, dass der Cowboy sich verstanden fühlte, wie er da in seinen langen Baumwollunterhosen das Frühstück bereitete für sich, für die leise schnarchend durch den Morgenschlaf segelnde Iris und für ihn, Jan, als er noch einen Namen hatte und eine Zukunft. Ein anderes Leben, dachte Jan, eine andere Zeit. Jetzt ist es eben der Hüter, in dessen Gesicht ein Loch klafft, und ich derjenige, der die frommen Lieder singt für dieses dick gewordene Kind eines lachhaft sich selbst überschätzenden Systems. Wie absurd ist diese ins Gesicht geschriebene Unentschiedenheit, dachte er. Erstickt da gerade jemand? Muss er sich gleich erbrechen? Ein offener Mund lässt unschöne Gedanken in beide Richtungen zu, und wie man die Sache dreht und wendet, die Leute machen einen Bogen um einen. Gern hätte Jan sich seinem Gegenüber anvertraut, und möglicherweise hätte der Mann ihn verstanden, aber er hatte hier nichts zu sagen. Bestenfalls zu wünschen, aber das Wünschen half niemandem, das wusste er, und auch nicht das Hoffen, aber das hatte er sich gar nicht erst angewöhnt, das Hoffen, nachdem man ihn hierhergebracht hatte, direkt aus dem Hotel Krok, zur einstweiligen Verwahrung, wie es hieß. Eines Tages hatte man ihm den Kopf geschoren und ihn in Anstaltskleidung gesteckt, die ihm nicht passte. Aus hygienischen Gründen, hatte man ihm gesagt. Aber man hatte viel gesagt damals und zugleich nichts, und Jan hatte nicht gefragt. Er hatte sich gefügt, oder vielleicht war es ihm auch gleichgültig gewesen. Was immer dazu geführt haben mag, dass er nun ein Gefangener war, es kümmerte ihn nicht mehr. Seit der Verhaftung waren unzählige Tage und Nächte vergangen, irgendwann hatte niemand mehr das Wort an ihn gerichtet, man hatte ihm den Uniformierten in die Hütte geschickt, einmal täglich, vermutlich um anzuzeigen, dass man ihn eines Tages vielleicht doch noch brauchte. Er jedenfalls würde dann erzählen, was sie nicht hören wollten: wie Paul aus dem Boot gefallen und ertrunken war, wie Camilla das Kind verloren hatte, vielleicht sein Kind, vielleicht auch nicht, wie Iris auf ihn gewartet hatte, während Freddie im Zimmer darunter im Sterben lag, wie Katharina neben ihm im Bett gelegen und sich vor ihm geekelt hatte. Das war seine Geschichte. Und sie war vorbei.

Die Fahne aus Schweiß und heißer Luft, die der Uniformierte ausströmte, sorgte für Unruhe in der Hütte. Jan beobachtete, wie Käfer, Spinnen und Asseln Rettung in den Spalten der Wände suchten. Warum bloß alle so an ihrer Existenz hängen, fragte er sich, ohne sich mit möglichen Antworten aufzuhalten, denn er wusste, dass derjenige leicht ins Zweifeln gerät, der zum Namen eine achtstellige Zahl hat, mit der er tägliche Meldung erstatten musste. Nur deshalb gab es ihn noch. Fürs Protokoll. Und er malte sich aus, dass Wärter wie Bewachter auf eine Unterbrechung der Routine hofften. Der eine auf die kurzweilige Jagd nach dem Entfliehenden, der andere auf den geglückten Ausbruch. Oder wenigstens auf die Entlassung. Aber fang jetzt bloß nicht an zu hoffen, sagte er sich und wiederholte den einzigen Satz, der ihm zustand: »Gefangener 64979324 auf seinem Platz.«

Deshalb hängt einer an seiner Existenz, dachte er, weil er sie jeden Tag bestätigen darf. Weil seine Anwesenheit in den Büchern verzeichnet wurde: Gefangener 64979324 existiert. Wie angenehm wäre es gewesen, hätte er in seinem früheren Leben nach dem Aufwachen laut und deutlich seinen Namen gerufen und sein Dasein bestätigt, um danach wieder in Ruhe gelassen zu werden. Sein Leben hätte Sinn gehabt.

Vielleicht.

Der Uniformierte flüsterte, dass es gut sei. Jan glaubte, ihm eine Träne übers Gesicht rinnen zu sehen. Er sagte nichts. Einer achtstelligen Zahl, die nicht den Mut hatte zu fliehen auf die Gefahr hin, sich in einem elektrischen Zaun zu verfangen oder von Stolperdrähten zu Fall gebracht zu werden, würde einer in Pfadfinderuniform ohnehin nur eine Geschichte erzählen, weil ihm danach wäre. Oder weil die achtstellige Zahl sowieso nichts dagegen tun kann. Vielleicht litt er aber auch nur ganz einfach unter der Hitze, seiner Arbeit, unter dem System. Wer konnte das wissen?

»Es wird Regen geben«, sagte der Mann und blickte zu Boden.

Das alte Lied von den geöffneten Himmelsschleusen also, die nur in den Heiligen Büchern etwas in Bewegung setzen, nicht aber hier, wo nichts geschah, was der Routine entgegenliefe. Und doch war irgendetwas anders an diesem Tag. Der Mann war anders. Die Träne. Sie war das andere, das Unerklärbare, der Bruch mit der Gewohnheit.

So let it come down, sagte sich Jan, aber es war eigentlich egal. Der andere hatte eine geladene Waffe im Gürtel stecken, er selbst, er musste die löchrige Hose am Bund festhalten, um sich einen Rest von Würde zu bewahren. So unterschiedlich war die Welt. Und zugleich so eindeutig. Nur die Krähe vor der Hütte nahm jedes Mal bei Sonnenaufgang Anlauf, breitete die Flügel aus, ohne sich einen Zentimeter vom Boden zu lösen. Jan wusste, dass der Wunsch, übers Meer zu entschweben zwischen der Sonne und ihrer Spiegelung auf einer Unterlippe, vergeblich wäre. Wohin sollte er auch entschweben? Da waren keine Gärten mehr zu bestellen, keine Türen zu öffnen, keine Zimmer zu betreten, keine Münder zu küssen, keine Kinder zu umarmen, keine Geschichten zu erzählen. Jan war die Welt abhandengekommen, ohne dass er viel dazu beigetragen hätte. Er hatte sich nie vorstellen können, dass so etwas möglich ist, aber es war ihm passiert.

Und nun ließ sein einziges Gegenüber in diesem Rest von Leben, das ihm geblieben war, nicht ab von diesem Blick, der nichts verriet von seinen Gedanken an Regentagen, der sich kaum änderte an heißen Sommertagen oder im Winter, bei zwanzig Grad unter null, oder an Tagen, die den Nächten glichen, nachdem er geräuschvoll den Schlüssel im Schloss gedreht und den Gefangenen aus unruhigem Schlaf oder aus der Betrachtung eines Spalts in der Wand gerissen hatte; wenn er also die Tür zur Hütte, der Dreyfus-Hütte, der Teufelsinsel-Hütte, der Hütte ohne Wiederkehr und was sonst an Zuschreibungen auf die Wände gekritzelt stand, aufgestoßen und den schweren Schritt in die Mitte des Zimmers gemacht hatte, wo er von Mal zu Mal innehielt, als müsse er sich erst zurechtfinden an einem Ort, an dem sich, seit er existierte, nichts verändert hatte: ein Tisch, ein Sessel, eine Pritsche, eine Lampe, die dann genau über seinem Kopf von der Decke hing. Manchmal stand die Sonne höher, manchmal tiefer, manchmal verdampfte sie hinter den Wolken, das war alles. Da machte eine einzige Träne einen Unterschied.

Auch der Gefangene wollte sich nicht verwandeln, in Wirklichkeit nicht einmal mehr in den Menschen, der er einmal war. Aber wer sonst hätte er sein sollen? Man wird konservativ, wenn einem Zeit und Name verloren gehen, dachte Jan. Er wollte nicht mehr ausbrechen, das glaubte er hinter sich zu haben, stattdessen hielt er inzwischen seine löchrige Hose auf immer gleiche Weise am Bund fest, indem er die Arme hinter dem Rücken verschränkte und den Zeigefinger einer Hand in die Gürtelschlaufe über dem Steiß steckte und so den Eindruck größter Entspanntheit vermittelte. Das schien den Uniformierten doch zu beruhigen, rechnete er anscheinend noch immer mit einem ungewöhnlichen Ereignis, das seiner Aufgabe, diesen Ort vor allen Zeitläuften zu sichern, widersprochen hätte. In seinem Erstaunen unterschied er sich nicht von der Krähe, die nach jedem gescheiterten Flugversuch die Flügel hängen ließ und mit geöffnetem Schnabel ratlos das Stück Welt bestaunte, in dem der Wille der Kreatur an der Schwerkraft zerschellte. Dann stakste sie vor der Hütte auf und ab und pickte die Insekten vom Boden auf, die sonst Tisch und Bett mit Jan teilten. Manchmal aber kämpfte sie sich in einem Anfall von Übermut oder Verzweiflung das ganze Stück bis zur Lichtung vor und streckte sich, ein schwarzer Fleck im trockengelben Gras, in der Sonne aus. Im Traum fragen wir beide uns, wer sich als Erster von diesem Flecken Erde lebend verabschieden wird, dachte Jan, und gegen alle Vernunft habe ich mich gegen mich entschieden.

Vielleicht glaubte die Krähe, wie der Uniformierte auch, an die Verwandlung in ein Lebewesen höherer Ordnung, vielleicht nahm das Tier auch nur Maß an Jans Existenz, um dieser etwas entgegenzusetzen, und vielleicht liebte der Mann in der Uniform einfach nur den Klang des Wortes Regen. Warum nicht? RegenRegenRegen. Die Krähe hätte ein besseres Vorbild verdient.

Warum aber weinte der Mann?

Die Endlosschleife der Ereignislosigkeit hatte ihn vermutlich melancholisch werden lassen, und Melancholiker, war Jan überzeugt, neigen zur Überbewertung schlechten Wetters. Denn das Wort Regen bedeutete nicht zwangsläufig, dass am Himmel über der Hütte, über den er sich selbst kein Bild machen konnte, weil die Bäume rundherum zu dicht standen, tatsächlich dunkle Wolken aufzogen. Regen bedeutete in der – wie Jan meinte – melancholiefreien Zuchtmeisterei des Gefängnisses zumeist, dass der Ausgang gestrichen wurde. So wie manchmal das Essen gestrichen wurde, die Dusche oder die Entsorgung des Fäkalieneimers. Unsinnige Sanktionen, die zu befolgen dem Melancholiker offensichtlich leichter fielen, wenn er ihnen eine Begründung beifügte, die ihn überzeugte, sofern er sie, auch wenn sie jeglicher Grundlage entbehrte, nur oft genug wiederholte. So kündigte er eben Regen an, wenn er in Wirklichkeit dem Gefangenen Unannehmlichkeiten zu bereiten hatte.

Doch manchmal, wenn er sagte, es würde regnen, regnete es tatsächlich, und Jan musste nicht selten trotzdem den Gang mit ihm durch den Wald hinunter zum See und wieder zurück unternehmen, unter glücklicheren Umständen ein Spaziergang von einer halben Stunde. Doch in der Gefangenschaft wollte sich die Liebe zur Natur, die schon in Freiheit nur wenig ausgeprägt war, nicht recht einstellen, oh zusammenklingende Ruhe von Wiesen, Wasser und blauer Ferne! Erhaben scheint die Landschaft nur dem, der seine Hose fest um die Mitte zu schnüren vermag. Weil er aber nicht die ganze Zeit die Hose am Bund festhalten konnte und der Mann ihm weder Gürtel, Schnur, Draht noch sonstiges würgetaugliches Material aushändigen durfte, hatten sie sich wortlos auf den Gebrauch einer Wäscheklammer geeinigt.

Der Uniformierte drückte Jan ins Freie. Satt hing die heiße Luft vom Himmel, fettige Vorhänge unter einem bleiernen Plafond, gegen die sich beide im Gehen stemmten, die Sonne über den Köpfen ein glühendes Auge, ihr Blick hingegen kalt und teilnahmslos. Die Wäscheklammer im Rücken rieb unangenehm.

Der Mann hatte sie eines Tages hervorgezogen aus der Brusttasche seiner Pfadfinderjacke, eine Geste, die er seitdem vor jedem Ausgang wiederholt, während Jan ihm den Rücken zukehrt, damit er die Handlung vollenden kann. Dann ist Zeit zu gehen.

Es geht, es ging, es ging doch, wie ging das gleich? Es ging doch der Blume, versuchte sich Jan zu erinnern und glaubte zu spüren, wie sich Camilla an seinem Arm festhielt. Ob sie sich noch manchmal an ihn erinnerte? Er konnte es sich nicht vorstellen. Wenn er an sie dachte, sah er ein feingliedriges Insekt vor sich, das zu Staub zerfiel, trat man auf es drauf. Und nicht selten hatte sie den Mund so hübsch offen stehen, als wartete sie auf die passende Gelegenheit, das Männchen aufzuessen. Also, wie war das gleich? Es ging doch der Blume gläubige Seele nimmer verloren, und schon ließ ihn die Erinnerung im Stich, als müsste er sich in ein früheres Jahrhundert zurückversetzen. Wie lange war das her? Er hatte die Zeit verloren, und auch die Sätze von früher kamen nicht wieder, nur die Bilder. Bilder in Pastellfarben, wie nachgemalt, gefälscht. Camilla hatte nie ein Gedicht rezitiert. Sie war nie phantasievoll gewesen. Sie hatte kaum je den Mund aufgemacht.

Der Weg stieg anfangs leicht an, zwischen Gebüsch und Laubbäumen hindurch, deren Kronen sich hoch über ihren Köpfen berührten.

Camilla war unter den Bäumen, neben ihm, jetzt, so wie Iris in der Hütte war, wenn er manchmal nachts nach kurzem Schlaf aufwachte und einen Augenblick lang überzeugt davon war, nicht allein unter der Decke zu liegen. Dann bewegte er sich nicht, um die Illusion nicht zu zerstören und ins Leere zu greifen. Wenn er ganz still war, wie er es als Kind gewesen ist, um zu hören, wie die Träume von der Zimmerdecke auf ihn zu schneien begannen, hörte er ihre gleichmäßigen Atemzüge. Immer aber war Katharina da oder wenigstens in der Nähe, auch wenn er sie fast nie sah, und wenn, dann mit abgewandtem Gesicht.

Der Uniformierte atmete schwer. »Und ob es regnen wird«, keuchte er, »und ob.« Sie gingen unter dem Dach der Bäume, über die Lichtung hin zur Schotterstraße, die zum See führte. Auch das ein Ritual ohne Abweichung, wäre da nicht die der Schwerkraft ausgelieferte Krähe gewesen, die ihnen in einigem Abstand ohne erkenntlichen Grund folgte. Da ist noch der Wechsel der Jahreszeiten, dachte Jan, und der nie innehaltende Gedankenfluss. Gehen und Denken ist eins. In der Hütte war das Denken ausgesperrt, da war alles Empfindung, ununterscheidbar, wie für ein Kind. Etwas duftete oder stank, jemand war da, irgendwer sprach immer unverständlich aus den Wänden oder durch die Wände hindurch. Ein Riss in der Wand erstrahlte im Licht, aber nur für einen Augenblick. Dann war der Riss nicht mehr da oder das Licht leuchtete am Horizont noch einmal auf, ehe es hinter der Erdkrümmung verglomm.

»Das Laub verfärbt sich noch nicht«, flüsterte Jan seiner Vorstellung von Katharina zu, »die Nächte sind noch kurz.« Camilla war rasch abgeschüttelt, vielleicht hatte sie selbst von ihm abgelassen, als sie Katharina sah. Der Weg zum See, zu Hause, nicht hier, nur einmal sind wir beide ihn gegangen. »Aber die Hütte, Katharina, ist das Kaninchenloch, tiefer kann einer nicht fallen. Man wächst in die Länge und wird dann klein wie eine Fliege, alles kann mit einem geschehen. Aber allein ist man nie, wenn auch sonst niemand da ist. Und der Himmel, Katharina, trägt noch nicht das frische Blau des frühen Herbstes. Unzählige Male, du weißt, sind wir durch die Weinberge gewandert, und einmal im Herbst vor einem halben Menschenleben haben wir eine verspätete Maus mit Schokolade gefüttert.«

Der Uniformierte an seiner Seite wankte durch die Hitze und beachtete ihn nicht. Er schien mit sich beschäftigt zu sein, mit Gefängniswärtergedanken oder mit der Erwartung des vorausgesagten Regens. Vielleicht aber hörte er Jan zu und meinte, die Worte gälten ihm. Vielleicht konnte er sich vorstellen, dass einer in der Einsamkeit sich gewissermaßen vervielfachte, sich in Gedanken zu lauter körperhaften Vergangenheiten formte, die miteinander ins Gespräch gekommen waren.

»Was sagt man dazu!«, rief Jan. Der Uniformierte zuckte zusammen und legte seine Hand um den Griff seines Revolvers. »Eine verspätete Maus, Herrgottnochmal! Jetzt geht mir das nicht mehr aus dem Kopf! Eine verspätete Maus!«

Der Uniformierte entspannte sich und lächelte.

Jan wollte sich nicht mehr erinnern, weil ihm dann alles, woran er sich erinnerte, zu fehlen begann. Das Füttern einer Maus ebenso wie das Stehen unter einem Vordach, wenn sie vom Regen überrascht worden waren, und Katharinas ständiges Zuspätkommen, wenn sie sich fürs Kino verabredet hatten. Es gab nichts, woran er nicht schon gedacht hätte in all den Monaten oder vielleicht auch Jahren. Er hatte gehofft, dass eines Tages die Bilder gelöscht sein würden. Dass er so zermürbt wäre, dass der Bilderspeicher auch nicht von der größten Einsamkeit angezapft werden könnte. Doch jeder Baum konnte der Auslöser einer Erinnerung sein, und dann war alles wirklich, alles nahm Gestalt an und war da, hier, vor ihm, zum Anfassen nah. Und wenn es dämmerte, war in der Hütte aus den Augenwinkeln die Bewegung eines Schattens zu erhaschen. Ständig drehst du dich um dich selbst und schaust und sperrst die Ohren auf und holst zögernd Luft durch die Nase, dachte Jan, oder du ziehst die Decke über den Kopf und hörst dieses gleichmäßige Atmen an deiner Seite oder du spürst den Griff auf deinem Arm oder du weißt um Katharinas abgewandten Blick. Sie waren immer da, alle gleichzeitig, alle, die er zurückgelassen hatte.

»Entschuldigen Sie«, sagte er zum Uniformierten. Und sie mühten sich weiter durch die Hitze des Tages. Grundlos, wie immer.

Noch bläst der Nordwind keinen Korridor in die heiße Luft, dachte Jan, und die Mückenschwärme sind nicht dem Nachtfrost erlegen. Ich kann ihr Gesicht nicht mehr erkennen, das ist so lange her. Als ob sie mir vom Grund eines Teiches entgegenschaut. Der Tau hängt noch nicht schwer in den Spinnennetzen, man könnte bei Sonnenuntergang im Freien sitzen und das weiche Wachs am Rand der Kerze eindrücken.

Es gab aber keine Kerze, kein Licht, wenn es dunkel wurde. Jan ging nun mit geschlossenen Augen. Er zählte die Schritte. Eins. Zwei. Drei. Es ging noch eine Weile. Fünf. Sechs. Sieben.

Wenn es dunkel geworden war, wenn er nicht allein in der Hütte war oder glaubte, nicht allein in der Hütte zu sein, dann konnte er in seiner Angst nicht einfach ins Freie flüchten, die Tür war versperrt. Zwölf. Dreizehn. Wenn etwas von außen an der Tür rüttelte, wusste er jedoch nie, ob sie tatsächlich versperrt war, zumindest redete er sich ein, es nicht zu wissen. Und er traute sich nicht nachzuschauen, sondern drückte sich an die Wand, die nachzugeben schien, als wäre sie aus frischem Lehm. Vierundzwanzig. Fünfundzwanzig. Oder etwas drückte dagegen und fraß sich durch. Wenn es doch geschehen würde, dachte er dann und fürchtete sich davor, dass tatsächlich etwas geschehen könnte. Aber es geschah nichts. Seit Jahr und Tag dieselbe Angst, und es geschah nichts. Nur wenn der Mann in der Pfadfinderuniform den Riegel zurückschob, geschah etwas. Siebenunddreißig. Achtunddreißig. Er bekam seine Essensration ausgehändigt und sah sich als den Schulanfänger, der er war, als ein Mann den Mond betrat. Aber das konnte er von der Schulküche aus nicht sehen. Der Schuldiener mit den nackten, vom finnischen Winter gekrümmten Beinen und der Eisenplatte im Kopf nahm die sogenannte Ausspeisung vor. Gelber Brei klatschte in den fleckigen Emaillenapf. Man übte sich noch im Kriegerischen. Zweiundfünfzig. Dreiundfünfzig. Wenn Jan hinter der Hütte den Fäkalieneimer leerte und spülte, hörte er jedes Mal seine Mutter nachts ihre Notdurft in denselben fleckigen Emailletopf verrichten, auf dem sie schon gesessen hatte, als Großvater sonntags stolz das braune Hemd ausführte. »Hier läuft irgendwo ein Wasserhahn«, flüsterte Katharina, als sie seine Mutter besuchten und in seinem alten Zimmer übernachteten. Katharina hatte keine Vorstellung von Mutters unruhigem Nachtlager nebenan, und er lag stumm im Bett und schämte sich. Es war immer noch wie im Krieg, der damals schon eine große Vergangenheit war, zugleich aber eine ständige Gegenwart, ganz anders als bei Katharina zu Hause. Herr und Knecht, das Spiel ging weiter, die Kinder hatten es im Blut. Der Großvater hatte, als die Mutter mit ihrer Pisserei den Graben zwischen ihm und Katharina aufriss, sein braunes Hemd längst mit ins Grab genommen, und der Vater wartete auf der Wohnzimmerbank seit Jahren auf eine neue Niere. »Ich muss mal«, flüsterte ihm Katharina ins Ohr. »Die Toilette ist draußen«, sagte Jan, »unter den Sternen.« Nun war es an Katharina, nichts mehr zu sagen. Sie lagen noch eine Weile im Dunkeln, er hörte, wie die Mutter den Topf unters Bett schob, kurz darauf quietschten die Metallfedern unter dem Gewicht ihres Körpers. Katharina atmete flach, er wusste, dass sie nicht schlief, und stellte sich vor, wie sie ihren entsetzten Blick von ihm abwandte. Achtundsiebzig. Neunundsiebzig. Und die Dusche auf der Rückseite seines Gefängnisses, die er einmal in der Woche benutzen durfte, sah fast genauso aus wie die Dusche auf der Rückseite der Badehütte seiner Eltern, deren rostigen Hahn niemand außer ihm je aufdrehte. »Aber eine Badehütte habt ihr«, sagte Katharina, als er ihr anderntags davon erzählte, »schau an.« »Ja«, sagte Jan, »aus alten Brettern im Schilf zusammengezimmert.« Hier hatte sein Großvater wochenlang gelebt, als nach dem Krieg alte Rechnungen beglichen wurden. Das Wasser dort war eiskalt und der Bretterboden schlierig und durchgefault. Eines Tages, dachte er immer, würde er seinem Gewicht nicht mehr standhalten und er fiele in das tiefe Loch darunter, das erst in Australien ein Ende hatte. Neunundneunzig. Hundert.

Die Eltern nahmen, als Jan noch ein Kind war, am Ende des Tages ihr Bad im See. Olivgrün glänzte das Wasser damals in der Abendsonne. Schräg schnitt das Segelboot den grundlosen Spiegel. Der Wind rollte von Osten heran. Die Erinnerung war olivgrün gefärbt, die Sonne, die durchs Segel schien, das moosige Holz, die Rosshaarmatratzen, die Stahlrohrgestelle der Betten, die Militärdecken, das Milchglasfenster in der Küche, die Frotteehandtücher von der Sparkasse, die Trinkgläser, in denen ursprünglich Senf verkauft worden war. Hundertvierzehn.

Der Wind blähte das Segel, rasch wechselten die zwei Männer an Bord die Positionen, das Wetter schlug um. Das zweite Jahrzehnt nach dem Krieg war ein olivgrünes Jahrzehnt, als hätte der Krieg nie aufgehört. So wie das dritte ein Wirbel war aus braun und orange, das vierte pink und das fünfte schwarz. Camilla und Katharina standen drüben am Ufer, zwei schmale Schemen unter einer bleiernen Wolkenwand, die nicht ahnten, was gleich passieren würde, und ehe Jan es selbst begriff, drückte ihn die Welle zurück ins Boot, wo die Wirklichkeit andere Laute von sich gab, als wenn er seinen Kopf in den Wind hielt. Ein Geräusch, als schlüge Metall auf Metall, rhythmisch, die Glocken einer überfluteten Kirche womöglich.

Hundertsiebzehn? Achtzehn? Neunzehn? Jan war aus dem Tritt geraten, die Zahlen zerfielen in der Hitze wie trockener Lehm. Er öffnete die Augen, sie waren nicht so weit gekommen, wie er angenommen hatte, der See lag noch ein Stück vor ihnen. Große Schritte waren nicht zu machen, es war, als schlügen einem die fetten Luftvorhänge von allen Seiten gegen den Körper, dass es einem den Atem nahm. Doch sie gingen zügig wie zwei Männer, die eine Segelpartie im Sinn hatten, ehe das Wetter umschlug.

Wann geht man das letzte Mal gemeinsam von einem Ort zum anderen?

Bevor er mit Paul auf den See hinausgefahren war, damals, war er zu Hause auf dem Sofa eingeschlafen. Katharina hatte ihn geweckt und gesagt, sie müssten gleich aufbrechen, es könnte schlechtes Wetter aufziehen. Sie hatte sich aber noch zu ihm gelegt. Sie hatten ins Leere geschaut und hätten zusammen überallhin gehen können. Es war ihr letztes Beisammensein, sie hatten es nicht gewusst.

Schließlich standen sie am Ufer, Schulter an Schulter, Aufseher und Gefangener, wie zwei Freunde seit Kindheitstagen, die sich an der Kippe zum Alter nichts mehr zu sagen hatten, weil mit den Jahren das vielfach Gesagte abgenutzt und der Glaube daran abhandengekommen war, und sie schauten übers Wasser hinweg auf die andere Seite, wo nichts als weißer Schotter war und dann wieder Wald, so weit das Auge reichte. Die Krähe stand bis zum Bauch im seichten Uferwasser und verdrehte ständig den Kopf, als plagten sie Gewissensqualen. Das war ebenso wenig ihr Element wie die Erde und die Luft. Jan stellte sich Camilla und Katharina auf der anderen Seite des Sees vor. Aneinander Halt suchend, versuchten sie zu begreifen, was da draußen auf dem See vor sich ging. Sie sahen das Segel sich blähen und den Quermast nach Steuerbord erst, dann nach Backbord ausschlagen, als wäre das Boot führerlos gewesen. Sie sahen nicht, dass Paul, statt Leine oder Steuer, ihn an den Haaren gepackt und über die Planken gezogen hatte. Sie sahen nicht seinen Gesichtsausdruck, voller Erwartung der Schläge. Aber der Schmerz kam nicht, und da hatte er dann die Augen geöffnet und Paul hatte sich bereits weit über den Rand des Bootes hinausgelehnt, sodass sein Rücken die Kronen der Wellen pflügte. Camilla und Katharina sahen aus der Ferne ein waghalsiges Manöver. Sie sahen nicht, dass Paul sich an einer Leine hielt und beinahe haltlos den Körper durchstreckte und lachte und vom Kopf bis zur Hüfte im Wasser verschwand, wenn das Boot in ein Wellental stürzte. Und dass er jedes Mal, wenn er wieder auftauchte, unverständliche Sätze in den Wind brüllte, wie der an Moby Dick gefesselte Kapitän Ahab. Dann ließ die Spannung nach, der Körper knickte ein, Paul hob den Kopf, presste das Kinn an die Brust, schaute Jan an, lachend – und ließ die Leine los. Kurz darauf war alles still, wie vor einer Ohnmacht. Das Blut rauschte in den Ohren, der Wind ließ nach. Die Oberfläche des Sees wurde allmählich durchsichtig, kräuselte sich und glitzerte, das weiße Gesicht darunter war ihm zugewandt. Dann löste es sich auf, ein hellgrüner Fleck war noch zu sehen, doch Paul, der gerade noch gelacht und in den Wind gebrüllt hatte, machte keine Anstalten, sich gegen das Versinken zu wehren, als wäre er bereits tot.

Eine an einem Felsvorsprung brechende Welle spülte Camilla und Katharina und Paul zurück in die Erinnerung. Dort liefen die Toten im Kreis und fanden keinen Ausgang.

Die Krähe war verschwunden.

Jan begann das Ufer abzusuchen, doch der Uniformierte stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete mit einer Kopfbewegung auf etwas, das von rechts in ihr Blickfeld schwamm. Was zuerst wie ein verkohltes, bizarr geformtes Stück Holz wirkte, erwies sich als ihr flügellahmer Begleiter, der scheinbar unbekümmert ein Element bezwang, für das er nicht gemacht war, getragen von den schwarzen Schwingen, die er weit von sich streckte. Sie beobachteten ihn bei der Erprobung dieser anderen Existenzweise, bis ihnen klar wurde, dass das Experiment nicht funktionieren konnte.

I have seen the dark universe yawning,

where the black planets roll without aim.

Da der Krähe die Schwimmhäute fehlten, kam sie kaum vorwärts, sie strampelte mit ihren gelben Beinchen gegen die Strömung an, die sie vom rettenden Ufer fernhielt.

Where they roll in their horror unheeded,

without knowledge or luster or name.

Als sie erschöpft innehielt und die beiden Männer von dort, wo sie hinwollte, mit großen Augen und offenem Schnabel anschaute, als baue sich in ihrem kleinen Hirn die Idee von der Ausweglosigkeit allen Tuns zusammen, zog es sie bloß weiter auf den See hinaus. Die Anmaßung des Gefangenen, die Gesetze der Natur zu überwinden, rächt sich, wusste Jan. Flucht war kein metaphysisches Unterfangen. Immer behielt er die Augen offen, und nie hatte er während des Ausgangs eine andere Hütte, einen anderen Gefangenen oder einen anderen Uniformierten gesehen. Für Jan war der Mann ebenso einsam wie er. Wollte er fliehen, er hätte nicht gewusst, in welche Richtung er laufen und auf welche Entfernung er sich einstellen sollte und ob ihn der einzige Freund, den er letztlich hatte, nicht doch ohne zu zögern erschösse. Ihre Beziehung war elementar.

Im nächsten Moment trieb die Krähe tot im Wasser, der Kopf hing nach unten und bewegte sich im Rhythmus der Wellen hin und her. Nur die entfalteten Flügel hielten den Körper an der Oberfläche. Jan dachte an einen Engel, dann wieder an das verkohlte, bizarr geformte Stück Holz. Schließlich sah er nur mehr die sich kräuselnde, olivgrüne Oberfläche des Wassers.

Die beiden Männer ließen einander nicht aus den Augen. Sie umkreisten sich. Der Uniformierte leckte sich die Lippen und versuchte zu lächeln. Es blieb bei einem Zittern der Mundwinkel. Er bückte sich, nahm eine Handvoll Sand auf, ließ diesen durch die Finger gleiten und blies einen Rest dem Gefangenen ins Gesicht. Der schloss die Augen und sank in die Knie. Als er wieder sehen konnte, war der Uniformierte verschwunden. Ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte er hinter sich ein Klicken, das er sofort zuordnen konnte, ohne es jemals zuvor gehört zu haben. Dann spürte er das kalte Metall auf seinem Hinterkopf.

Ungefähr zur selben Zeit lief Katharina nach der Arbeit über die Straße ins Café, nickte dem Kellner kurz zu, nahm an einem freien Tisch gleich am Fenster Platz, schüttelte den Regen aus ihrem Haar, bestellte Espresso und rauchte Zigarette. So läutete sie stets ihr Wochenende ein, eine Viertelstunde Ruhe, um die innere Nervosität abklingen zu lassen. Keine zwei Stunden später, die nassen Kleider noch auf der Haut, saß sie an ihrem Küchentisch. Sie sah vor ihrem inneren Auge die Abflughalle, sah das Rollfeld, die Maschinen dort, ein Tagtraum, der sie oft heimsuchte. Camilla, neben ihr, war bleich im Gesicht, sie zitterte, unkontrolliert, am ganzen Körper. Zuvor im Café war sie vor Bildern wie diesen sicher gewesen, da hatte sie unbeteiligt Menschen auf der Straße beobachtet. Die meisten waren vom Wetterumschwung überrascht worden, waren mit verzerrten Gesichtern übers glänzende Pflaster geeilt, hatten sich in Hauseingänge gedrückt oder unter die sich gefährlich aufblähenden Sonnenschirme gedrängt, während ihr in den Sinn gekommen war, dass sie fürs Wochenende noch würde einkaufen müssen.

Jetzt hätte sie gern Kaffee getrunken, aber die Blechdose war leer, und auch sonst war in diesem Haushalt nichts aufzutreiben, was die Nerven ein wenig beruhigen konnte. Kein Alkohol wie früher, nicht einmal ein Aspirin. »Sie müssen sich den Bildern stellen«, hatte der Therapeut gesagt, »die Bilder, das sind Sie und nichts und niemand sonst.«

Zuvor hatte sie ihm erzählt, wie sie damals am Flughafen gehofft hatte, ihn noch einmal zu sehen. »Ich bin ihm hinterhergefahren, habe die Abflugschalter nach ihm abgesucht, nach ihm und Camilla, um mit eigenen Augen zu sehen, was ich kurz zuvor noch nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe mich durch die Reihen wartender Menschen gedrängt und mir vorgestellt, dass ich im nächsten Augenblick zu sehen bekommen würde, was ich nicht sehen wollte, ein Paar auf Reisen, die Vorfreude in die Gesichter gezeichnet, als wäre seit Monaten von nichts anderem die Rede gewesen. Ich habe vergeblich gesucht, und das hat mich noch unruhiger gemacht. Dieses Gefühl hat sich mir am stärksten in die Erinnerung eingeschrieben, diese plötzliche Empfindung einer bedrückenden Einsamkeit unter all den Leuten, die mich nicht wahrzunehmen schienen. Dieses Alleingelassensein aus heiterem Himmel, die Erkenntnis, betrogen zu sein, nicht nur in diesem Augenblick, sondern bereits all die Jahre zuvor. Diese Hülle, die sich da über mich gelegt und mich von allem ausgeschlossen hat, ist seither zu einer zweiten Haut geworden.«

»Die Beklemmung«, hatte der Therapeut gesagt, »ist später einer gewissen Behaglichkeit gewichen, wenngleich Sie diese mit niemandem teilen können.«

»Ja, so kann man es sehen.«

Katharina empfand es als Glück, an jedem Freitagnachmittag den Espresso in einem Zug zu trinken, zwei, drei Zigaretten zu rauchen, das Leben im Café und auf der Straße, das sie nichts anging, zu beobachten, mit niemandem ein Wort zu wechseln, zu zahlen, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Sogar der Regen machte sie glücklich, weil er die Welt in einen nassen und einen trockenen Teil trennte. Die meisten Menschen suchten das Trockene. Wer es jedoch eine Zeit lang im Regen aushielt, der hatte bald so viel Raum für sich, dass er sich ein paar unvernünftige Momente leisten konnte. Man sprach mit sich selbst, sang laut, tanzte mit einem Laternenmast, machte sich auf dem Gehsteig breit, spielte die Schwachsinnige, stieß herrenlose Fahrräder um, alles mit der einzigen Konsequenz: nass zu werden bis auf die Haut. Zuerst hielt man sich vielleicht die Tasche über den Kopf, um sich zu schützen, nach wenigen Schritten aber entschied man sich für den zivilisatorischen Rückschritt. Früh genug wäre die Ordnung wiederhergestellt: die kalte Wohnung so still, dass man dem Leben hinter den Wänden lauschte, der Briefkasten ein verbeultes Lager für Werbeprospekte und Kundenzeitschriften, der Kühlschrank leer, die Glühbirne im Vorzimmer kaputt. Es bereitete ihr Vergnügen, sich unbeirrbar wie eine Idiotin durchnässen zu lassen, mit der Zunge das Wasser von den Lippen zu lecken und durch die dampfenden und menschenleeren Straßen ihres Bezirks zu flanieren.

An den Anrufbeantworter hatte sie überhaupt nicht gedacht, als sie nach Hause gekommen war. Sie beachtete ihn selten, denn es war wenig von ihm zu erwarten, außer die Stiefmutter, das Büro oder ein Marktforschungsinstitut. Diesmal hatte die Leuchtanzeige eine Zwei gezeigt. Sie hatte die Taste gedrückt. Anruf eins: aufgelegt. Anruf zwei: eine Stimme aus der Vergangenheit. Die Stimme, die sie zuletzt gehört hatte, nachdem sie in den ersten Stock der Abflughalle gelaufen war, um das Flugfeld nach den beiden abzusuchen.

»Sie haben gefürchtet oder gehofft, etwas zu sehen«, hatte der Therapeut gesagt, »aber was haben Sie wirklich gesehen?«

»Ich habe nichts als die behäbige Routine im Umgang mit einer eingeführten Technologie gesehen«, hatte Katharina geantwortet, »halb schlafende Männer in viel zu großen schimmelfarbenen Overalls haben wurmartige Gepäcktransportfahrzeuge in alle Himmelsrichtungen gelenkt. Ein grauer Kleinbus mit einem Trupp kleiner grauer Frauen ist nach langer Fahrt im Schritttempo vor dem Gebäude angekommen. Jede der Frauen hatte einen Eimer oder einen Staubsauger getragen, als hätten diese Gegenstände ein unvorstellbares Gewicht gehabt. In großer Entfernung sind kleine schattige Figuren aus den Bussen gestiegen, oder eher gefallen, so kraftlos haben sie gewirkt, und als sie mit hängenden Stecknadelköpfchen die Gangway hinaufgeklettert sind, ist es mir vorgekommen, Gefangene würden da verladen, um als Sklaven in fernen Weltgegenden ein kümmerliches Dasein zu fristen.«

»Aber Sie erzählen mir doch lauter Nebensächlichkeiten, Katharina!«

Damit hatte er recht gehabt. Aus der Hauptsache nämlich hatte sich der Tagtraum geformt, über den sie nicht so ohne Weiteres Auskunft geben konnte. »Sie müssen wissen«, hatte sie in einer späteren Sitzung zum Therapeuten gesagt, »plötzlich hat sich in der Abflughalle jemand an mich gedrückt, meinen Arm genommen und den Kopf an meine Schulter gelegt, Camilla, bleich im Gesicht und am ganzen Körper unkontrolliert zitternd, und ich habe nicht gewusst, ob ich erleichtert sein sollte oder zornig oder einfach nur gleichgültig, weil mir die Logik der Ereignisse abhandengekommen war. Kein Wort ist zunächst gefallen, nicht einmal in die Augen haben wir uns gesehen. Wir haben dagestanden, aneinander gedrängt wie an einem offenen Grab, um ihm ein letztes Mal nachzuschauen, obgleich er sich vermutlich schon längst aus dem Staub gemacht hatte.«

»Katharina«, hatte die Stimme auf dem Anrufbeantworter gesagt, »sei bitte nicht erschrocken, hier ist Camilla«, aber das wäre nicht nötig gewesen, schon das Zögern nach dem Signalton, das Rauschen in der Leitung, das Knistern eines Hörers, der von einer Hand in die andere wandert, und das tiefe Atemholen am anderen Ende der Leitung, noch ehe das erste Wort gefallen war, hatte Katharina sofort an Camilla denken lassen, auch wenn sie seit der Begegnung am Flughafen nie mehr voneinander gehört hatten. Camilla war eine Erinnerung, wie Paul, den das Wasser geschluckt hatte, und Jan, der auf und davon war, irgendwohin mit irgendeinem Flugzeug.

Ihre Abbilder traten von Zeit zu Zeit in Träumen auf, verzerrt oder konturlos und doch nicht sie selbst, nur Jans Traumbild erinnerte manchmal an den richtigen Jan, sprach und bewegte sich wie er und wuchs an manchen Tagen aus dem Unterbewusstsein heraus, um an der Oberfläche der Gefühle zu zerfließen wie schimmerndes, klebriges, alles erstickendes Öl.

»Jetzt sind wir beide allein«, hatte Camilla damals in der Abflughalle gesagt und sich an Katharinas Seite gedrückt. Das war der letzte Satz, der zwischen den beiden Frauen gefallen war. »Jetzt sind wir beide allein«, die Stimme ein heiseres Tremolieren, unentschieden zwischen Heulkrampf und Lachanfall, als verlöre sie gleich die Fassung.

»Diesem Satz«, hatte Katharina zum Therapeuten gesagt, »habe ich nichts entgegenhalten können. Dieser Satz war eine Niederlage.«

»Wie war das mit der Hauptsache«, hatte der Therapeut gefragt, »als Sie erkannt haben, dass Camilla offensichtlich nicht der Grund war für Jan, Sie zu verlassen?«

»Nach einem Augenblick der Erleichterung und der Hoffnung, mich geirrt und Gespenster gesehen zu haben«, hatte Katharina gesagt, »hat der Schmerz begonnen, im Bauch die Trommel zu schlagen, dass es mich beinahe zerrissen hätte. Der Schmerz des Zorns über diese Anmaßung, die Verlorenheit der einen auf die andere zu übertragen. Jetzt sind wir beide allein! Als ob nichts gerechter gewesen wäre als dieses bei genauerer Betrachtung lächerliche Verschwinden Jans, dieses unsinnige Melodram, bei dem selbst die trauernden Hinterbliebenen nicht gefehlt haben.«

»Sie waren wütend auf Camilla, nicht auf Jan?«

»Ich war wütend auf mich.«

Vor Wut hätte Katharina auch jetzt noch heulen können, in ihren nassen Kleidern in der Küche auf dem Stuhl bei leerem Kühlschrank. Vor Wut über diese Stimme, die jetzt vom Anrufbeantworter her wie aus dem Tagtraum heraus in die Wirklichkeit diesen einen Satz von damals, den letzten seit Jahren, scheinbar zu Ende hatte führen wollen: »Sei bitte nicht erschrocken, hier ist Camilla, ich habe Nachricht von Jan.«

Der zweite Teil der Botschaft war nun wirklich eine Überraschung gewesen, oder mehr noch eine nachgereichte Demütigung, als wären die Toten wiedergekehrt, um sich einen Witz aus dem Schmerz der Lebenden zu machen. Eine Telefonnummer hatte Camilla noch hinterlassen. Sollte sich am Ende doch alles als Komödie herausstellen?

Ich habe Nachricht von Jan.

Jetzt sind wir beide allein.