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Alle zehn Sekunden stirbt irgendwo auf der Welt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Das sind drei Millionen Kinder im Jahr. Insgesamt knapp neun Millionen Menschen. Jedes Jahr. Wir wissen das, wir kennen die Zahlen. Der Hunger ist, so heißt es, das größte lösbare Problem der Welt. Es sieht aber nicht so aus, als würden wir es in absehbarer Zeit lösen. Und das ist eine Schande.

Fünf Jahre hat Martín Caparrós den ganzen Globus bereist, um diese Schande zu kartografieren: Er war in Niger, wo der Hunger so aussieht, wie wir ihn uns vorstellen; in Indien, wo mehr Menschen hungern als in jedem anderen Land; in den USA, wo jeder Sechste Probleme hat, sich ausreichend zu ernähren, während jeder Dritte unter Fettleibigkeit leidet; in Argentinien, wo Nahrungsmittel für 300 Millionen Menschen produziert werden, obwohl sich viele Bürger kein Fleisch mehr leisten können.

Am Ende dieser Reise steht ein einzigartiges Buch: Großreportage, Geschichtsschreibung und wütendes Manifest. Der Hunger, so Caparrós, ist keine Naturkatastrophe, die schicksalhaft über die Menschen hereinbricht. Der Hunger ist der krasseste Ausdruck der gigantischen sozialen Ungleichheit in einer Welt, in der das reichste Prozent mehr besitzt als alle anderen zusammen.

Martín Caparrós, geboren 1957 in Buenos Aires, ist Schriftsteller, Journalist und einer der bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen der spanischsprachigen Welt. Für seine Essays und Romane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Premio Heralde und den renommierten Journalistenpreis Rey de España.

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Aus dem Spanischen von

Sabine Giersberg und Hanna Grzimek

SUHRKAMP

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4751.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel El hambre bei Planeta de Libros Argentina (Buenos Aires).

Die Übersetzerin Sabine Giersberg dankt dem Freundeskreis der Literaturübersetzer e. V. für ein Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

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© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Martín Caparrós, 2014

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Umschlaggestaltung: ANZINGER | WÜSCHNER | RASP Marion Blomeyer, München

eISBN 978-3-518-74195-5

www.suhrkamp.de

»Try again. Fail again. Fail better.«

Samuel Beckett, Worstward Ho

Die Anfänge

1

Drei Frauen waren um das Krankenlager versammelt: Großmutter, Mutter, Tante. Ich hatte eine Weile zugesehen, wie Mutter und Tante langsam die beiden Plastikteller, die drei Löffel, den rußigen Topf, den grünen Eimer zusammenpackten und alles der Großmutter übergaben. Die beiden nahmen die Decke, legten zwei, drei Hemdchen, ihre übrigen Habseligkeiten hinein und schnürten ein Bündel, das die Tante sich auf den Kopf setzte. Doch als die Tante sich über das Lager beugte, den Kleinen hochhob, ihn befremdet, ungläubig ansah und ihn der Mutter auf den Rücken legte, so wie Kinder in Afrika gewöhnlich auf den Rücken ihrer Mütter gelegt werden – die Beine und Arme gespreizt, die Brust gegen den Rücken gepresst, das Gesicht zur Seite gedreht – und ihn mit einem Tuch festband, brach es mir das Herz. Der Kleine war an seinem angestammten Platz, bereit für den Heimweg, tot.

Es war nicht heißer als sonst auch.

Ich glaube, hier hat dieses Buch seinen Anfang genommen, in einem Dorf in der Nähe, irgendwo in Niger. Ich saß mit Aisha auf einer Sisalmatte vor der Tür ihres Hauses, schweißtreibende Mittagshitze, staubtrockener Boden, der Schatten eines dürren Baumes, das Geschrei der herumtollenden Kinder, und als sie mir von der Kugel Hirsebrei berichtete, die sie jeden Tag aß, und ich fragte, ob sie tatsächlich jeden Tag eine Kugel Hirsebrei esse, prallten unsere Kulturen zum ersten Mal aufeinander:

»An jedem Tag, an dem es dafür reicht.«

Sagte sie und senkte beschämt den Blick; ich fühlte mich wie ein Idiot. Wir sprachen weiter über Nahrung oder besser gesagt, den Mangel an derselben, und ich war in all meiner Naivität zum ersten Mal mit dem Hunger in seiner extremsten Form konfrontiert. Nach zwei überaus aufschlussreichen Stunden fragte ich sie – diese Frage würde ich später noch oft stellen –, was sie sich wünschen würde, wenn ein Zauberer käme, der ihr jeden Wunsch erfüllen könnte, ganz gleich welchen. Aisha überlegte, als hätte sie sich diese Frage noch nie gestellt. Sie war Anfang, Mitte dreißig, hatte eine Adlernase und traurige Augen, der übrige Körper war von fliederfarbenem Stoff bedeckt.

»Ich wünsche mir eine Kuh, die viel Milch gibt. Die würde ich dann verkaufen, von dem Geld könnte ich Krapfen machen und sie auf dem Markt anbieten. So kämen wir halbwegs über die Runden.«

»Nein, so meinte ich das nicht. Der Zauberer könnte dir jeden Wunsch erfüllen, egal welchen. Also, um was würdest du ihn bitten?«

»Wirklich jeden?«

»Aber ja.«

»Zwei Kühe vielleicht?«

Sagte sie leise und fügte hinzu:

»Dann müsste ich nie mehr Hunger leiden.«

So wenig, dachte ich im ersten Moment.

Und doch so viel.

2

Wir kennen den Hunger, verspüren ihn zwei- bis dreimal am Tag. Hunger ist das Normalste von der Welt, und doch ist den meisten von uns nichts fremder als echter Hunger.

Wir kennen den Hunger, verspüren ihn zwei- bis dreimal am Tag. Doch zwischen diesem alltäglichen Hunger, der jeden Tag aufs Neue befriedigt wird, und dem verzweifelten Hunger derjenigen, die ihm ohnmächtig ausgeliefert sind, liegen Welten. Der Hunger war seit je die Triebfeder für gesellschaftlichen Wandel, technischen Fortschritt, Revolutionen, Konterrevolutionen. Nichts hat die Geschichte der Menschheit stärker beeinflusst. Keine Krankheit, kein Krieg hat mehr Opfer gefordert. Keine Seuche ist so tödlich und dabei so vermeidbar wie der Hunger.

Ich hatte ja keine Ahnung gehabt.

In meiner frühesten Erinnerung ist der Hunger ein Kind mit aufgeblähtem Bauch und dürren Beinchen an einem unbekannten Ort namens Biafra; damals, Ende der Sechziger, hörte ich zum ersten Mal von seiner grausamsten Form: der Hungersnot. Biafra war ein kurzlebiges Land: Kurz nachdem der Landesteil seine Unabhängigkeit von Nigeria erklärt hatte, erfolgte der erste Angriff nigerianischer Truppen. Im anschließenden Krieg starb eine Million Menschen an Hunger. Der Hunger: Auf den Schwarz-Weiß-Bildern waren das surrende Fliegen und Kinder, denen der Tod ins Gesicht geschrieben stand.

In den folgenden Jahrzehnten wurde das Bild zur Gewohnheit; hartnäckig kehrte es immer wieder. Und so ging ich davon aus, dass ich dieses Buch mit einem schonungslosen Bericht über eine Hungersnot beginnen würde. Ich würde ein Notfallteam an einen finsteren Ort begleiten, wahrscheinlich in Afrika, wo Tausende Menschen verhungern. Ich würde den Horror bis ins grauenhafteste Detail schildern und warnen, man solle sich nicht täuschen – oder täuschen lassen: Situationen wie diese seien nur die Spitze der Spitze des Eisbergs, die Wirklichkeit sähe noch einmal ganz anders aus.

Ich hatte mir das alles perfekt ausgemalt, doch während der Arbeit an diesem Buch gab es keine unkontrollierten Hungersnöte – nur die üblichen Berichte über die tödliche Knappheit in der Sahelzone, somalische oder sudanesische Flüchtlinge, Überschwemmungen in Bengalen. Was ja einerseits eine großartige Nachricht ist. Doch auf der anderen Seite ist genau das ein Problem: Die Hekatomben waren die einzige Chance für den Hunger, zumindest als Bild auf dem heimischen Fernseher auch für diejenigen sichtbar zu werden, die nicht darunter leiden. Hunger als punktuelle, erbarmungslose Katastrophe gibt es nur im Zusammenhang mit Kriegen oder Naturkatastrophen. Doch es bleibt all das, was sich nicht so leicht zeigen lässt: die Abermillionen Menschen, die nicht ausreichend essen – und die darunter leiden und dabei draufgehen. Der Eisberg, über den dieses Buch berichten und nachdenken will.

Wir alle wissen, dass es Hunger auf der Welt gibt. Wir alle wissen, dass achthundert, neunhundert – die Zahlen variieren – Millionen Menschen tagtäglich hungern. Wir alle haben von diesen Schätzungen gelesen oder gehört und können oder wollen keine Schlüsse daraus ziehen. Vielleicht war es mal anders, aber heutzutage bewirkt das Zeugnis – der schonungsloseste Bericht – nichts mehr.

Was bleibt dann noch? Schweigen?

Aisha, die davon sprach, dass zwei Kühe ihr Leben grundlegend verändern würden. Bedarf es da noch einer Erklärung? Die einschneidendste Erfahrung war die Erkenntnis, dass die extremste, grausamste Art von Armut jene ist, die einem die Möglichkeit nimmt, sich ein anderes Leben auch nur vorzustellen. Die einem keinerlei Perspektive, nicht einmal Wünsche lässt: Man ist zum Immergleichen, Unausweichlichen verurteilt.

Ich will damit sagen, ja, wie soll ich es ausdrücken, mein freundlicher, wohlwollender, ein wenig zerstreuter Leser: Können Sie sich vorstellen, was es heißt, nicht zu wissen, was man am nächsten Tag essen soll? Können Sie sich ein Leben vorstellen, in dem Sie sich jeden Tag aufs Neue fragen, was Sie morgen essen werden? Ein Leben, das primär aus dieser Ungewissheit besteht, aus der damit verbundenen Angst, der Frage, wie man ihr Herr werden soll, daraus, an kaum etwas anderes denken zu können, weil jeder Gedanke von diesem Mangel beherrscht ist? Können Sie sich ein so eingeschränktes, kurzes, oft äußerst schmerzliches, hart erkämpftes Leben vorstellen?

Das Schweigen hat viele Formen.

Dieses Buch wirft jede Menge Probleme auf. Wie soll man das ferne Andere erzählen? Sehr wahrscheinlich kennen Sie, werter Leser, werte Leserin, jemanden, der an Krebs gestorben ist, der Opfer eines gewaltsamen Überfalls wurde, der eine Liebe, einen Job, seinen Stolz verloren hat; doch höchstwahrscheinlich kennen Sie niemanden, der mit dem Hunger lebt, mit der Gefahr zu verhungern. So viele Millionen Menschen, die uns so unsagbar fern sind: die etwas durchmachen, was wir uns nicht vorstellen können oder wollen.

Wie soll man von all dem Elend erzählen, ohne in Miserabilismus zu verfallen, in die sentimentale Ausbeutung fremden Schmerzes? Vielleicht sollte man vorher ansetzen: Warum überhaupt von all dem Elend berichten? Vom Elend zu berichten ist oft schon eine Form, es auszunutzen. Das fremde Unglück interessiert viele unglückliche Menschen, die sich davon überzeugen wollen, dass es gar nicht so schlecht um sie bestellt ist, oder die einfach nur dieses Kribbeln spüren wollen. Fremdes Unglück – Elend – ist nützlich, um zu verkaufen, zu verbergen, um Dinge durcheinanderzuwerfen: So lässt sich beispielsweise suggerieren, das individuelle Schicksal sei ein individuelles Problem.

Vor allem aber: Wie soll man gegen den Bedeutungsverlust der Worte ankämpfen? Die Worte »Millionen Menschen hungern« sollten etwas bedeuten, etwas bewegen, bestimmte Reaktionen auslösen. Doch die Worte tun das längst nicht mehr. Vielleicht würde ja etwas passieren, wenn es uns gelänge, den Worten wieder einen Sinn zu geben.

Dieses Buch ist ein Fehlschlag. Das gilt letztlich für jedes Buch. Aber in diesem Fall vor allem, weil eine Untersuchung des größten Versagens der Menschheit selbst nur scheitern kann. Wozu natürlich auch meine Begrenztheit, meine Zweifel, meine Unfähigkeit beigetragen haben. Ich schäme mich dieses Scheiterns nicht: Ich hätte mehr Geschichten finden, mehr Punkte bedenken, mehr verstanden haben sollen. Aber manchmal lohnt sich das Scheitern.

Um erneut zu scheitern, besser zu scheitern.

»Der jährliche Hungertod von mehreren zehn Millionen Männern, Frauen und Kindern ist der Skandal unseres Jahrhunderts. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Und das auf einem Planeten, der grenzenlosen Überfluss produziert … In ihrem augenblicklichen Zustand könnte die Weltlandwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren, was gegenwärtig fast der doppelten Weltbevölkerung entspricht. Insofern ist die Situation alles andere als unabwendbar. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet«, schreibt Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, in seinem Buch Wir lassen sie verhungern.

Scheitern, abertausendmal. Jeden Tag sterben auf der Welt – dieser Welt – 25 000 Menschen an Ursachen, die mit dem Hunger zusammenhängen. Wenn Sie, werte Leserin, werter Leser, sich die Mühe machen, dieses Buch zu lesen, wenn Sie es womöglich gar nicht mehr zur Seite legen können und es in, sagen wir, acht Stunden lesen, werden in der Zeit 8000 Menschen verhungern: 8000, das ist sehr viel. Wenn Sie sich nicht die Mühe machen, werden die Menschen trotzdem sterben, aber Sie haben glücklicherweise nichts davon mitbekommen. Also legen Sie es wahrscheinlich beiseite. Das würde ich auch tun. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

(Aber jetzt haben Sie immerhin diesen kleinen Abschnitt in einer halben Minute gelesen; in dieser Zeit sind nur zwischen acht und zehn Menschen auf der Welt verhungert – und nun können Sie erleichtert aufatmen.)

Aber falls Sie sich entscheiden, das Buch nicht zu lesen, geht Ihnen vielleicht eine Frage nicht mehr aus dem Kopf. Unter all den Fragen, die ich mir stelle, die dieses Buch stellt, lässt mich eine nicht mehr los:

Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?

NIGER

Strukturen des Hungers