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Hermann Schulz/Hartmut Radebold/Jürgen Reulecke
Söhne ohne Väter

Hermann Schulz/Hartmut Radebold
Jürgen Reulecke

Söhne ohne Väter

Erfahrungen der Kriegsgeneration

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In memoriam Otto Schricker (1934–2003)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86284-228-5

Inhalt

Vorwort zur 3. Auflage

Annäherung an das Thema

Beschädigte Kindheiten – beschädigtes Leben

(Hermann Schulz, gemeinsam mit Hartmut Radebold und Jürgen Reulecke)

Lebensberichte

Letzte Bilder – Verlust ohne Abschied

Lebenslange Suche und Erinnerungen

Bücher und Filme als Orientierung

Leben mit den Müttern

Unsicherheiten und Auffälligkeiten

Unter dem Druck von Versagensängsten

Vorbilder und Kompensationen

Pflichten und Lebensplanungen

Frauen und Ehe

Die eigenen Kinder

Frauen und Kinder der Männer ohne Väter

Abwesende Väter – Fakten und Forschungsergebnisse

(Hartmut Radebold)

Entwicklungspsychologische Aspekte

(Hartmut Radebold)

Die Väter – lebenslange Bedeutung

Die Väter – mögliche Erinnerungen, vermittelte Kenntnisse

Die Mütter – lebenslang zu intensiv an sie gebunden?

Die Folgen: dauerhaft verunsichert und eingeschränkt?

Die Folgen: immer pflichtbewusst und kompetent?

Vaterlose Söhne in einer »vaterlosen Gesellschaft«

(Jürgen Reulecke)

Vom autoritären Vaterbild zu Diagnosen von der »vaterlosen Gesellschaft«

Vaterlosigkeit nach den beiden Weltkriegen

Wie werden sie altern?

(Hartmut Radebold)

Söhne ohne Väter – mögliche transgenerationale Folgen

(Hartmut Radebold)

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Die Gesprächspartner

Danksagung

Die Autoren

Vorwort zur 3. Auflage

Aufgrund unseres erstmals 2004 erschienenen Buches »Söhne ohne Väter« verstanden immer mehr Männer der Jahrgänge 1928/1929 bis 1948/1950, dass und inwieweit ihr Leben als Kinder und Jugendliche entscheidend dadurch geprägt wurde, dass ihre Väter aufgrund des Zweiten Weltkrieges völlig fehlten oder langjährig abwesend waren. Die nach dem Krieg zurückgekehrten Väter lebten häufig innerlich abgekapselt, beschädigt bis traumatisiert weiter. So oder so standen sie für ihre Söhne (und natürlich auch für ihre Töchter) als Väter nicht mehr zur Verfügung. Viele unserer Gespräche mit betroffenen Männern anlässlich von Seminaren, Vorträgen, Tagungen oder Kongressen verdeutlichten uns, wie schmerzlich und kummervoll wir diese damalige Situation erlebt haben. Viel zögernder wurde die Frage gestellt, ob die Erfahrungen mit dem Vater die eigene Entwicklung als Mann lebenslang bis hinein in das eigene Älterwerden bestimmt hat und noch heute bestimmt.

Zunehmend fühlen sich die betroffenen Männer mit der weiteren Frage konfrontiert und auch von ihr beunruhigt, inwieweit sie selbst überhaupt gute Väter sein konnten und was sie von ihren zeitgeschichtlichen Erfahrungen an ihre Söhne (und ebenso an ihre Töchter) weitergegeben haben. Aus diesem Grund wurde die 3. Auflage um das neue Kapitel »Söhne ohne Väter – mögliche transgenerationale Folgen« ergänzt.

Für viele Männer (und auch ihre Kinder) bietet der aufgrund unseres Buches von dem Dokumentarfilmer Andreas Fischer 2007 gedrehte Film »Söhne ohne Väter« (von Moraki Film im Auftrag von ZDF/3 SAT & SWR produziert) Zugang und auch Hilfe zum Verständnis dieses Themas. In ihm berichten acht über 60-jährige Männer – darunter einige Interviewpartner unseres Buches und wir selbst (Hartmut R., Jürgen R.) – über die Bedeutung ihres Vaterverlustes damals, lebenslang und noch heute.

Unser aktueller Forschungsstand über die damaligen zeitgeschichtlichen Erfahrungen und lebenslangen Auswirkungen ist im Vergleich zu 2004 weitaus umfangreicher. Das Anliegen der von uns (Hartmut R., Jürgen R.) gegründeten interdisziplinären Forschungsgruppe w2k (www.weltkrieg2kindheiten.de) stieß zunächst in der Öffentlichkeit auf wenig Verständnis. Diese Situation hat sich inzwischen deutlich verändert. Als besonders hilfreich erwies sich dafür der im April 2005 durchgeführte Internationale Kriegskinderkongress an der Universität in Frankfurt/Main.

Parallel zu den vielfältigen Publikationen der Forschungsgruppe w2k finden Interessierte weitere Informationen in der Reihe »Kinder des Weltkrieges« (verlegt im Juventa-Verlag Weinheim und München). Zur Unterstützung dieser Forschungen wurde inzwischen auch ein Förderverein »Kriegskinder für den Frieden e.V.« (www.kriegskinder-fuer-den-frieden.de) gegründet. Er strebt zur Zeit insbesondere den Aufbau eines repräsentativen Zeitzeugen-Archivs der Jahrgänge 1928/29 bis 1950 an.

Juli 2009

Hermann Schulz
Hartmut Radebold
Jürgen Reulecke

Annäherung an das Thema

Um dem bedrohten Vaterland beizustehen, unternahm der Vater 1944 den in seinen Augen konsequenten patriotischen Schritt: Er wurde Mitglied der Waffen-SS. Soviel Begeisterung wurde mit dem aktiven Dienst im Konzentrationslager Auschwitz »belohnt«. Zum Ende lagerte man das KZ nach Neuengamme aus. Dort wurde der Vater mit vielen anderen von den Engländern verhaftet und später den polnischen Behörden übergeben. Der Musterprozess, so berichtet sein Sohn im Jahr 2003, wurde sehr korrekt geführt; der polnische Verteidiger setzte sich sogar mit der Familie im Rheinland in Verbindung.

Was der Sohn weiß, was er gehört hat, was zu vermuten ist, setzt ihn in lebenslange Verwirrung: Gibt es für ihn, so fragte er sich, angesichts der Geschehnisse in Auschwitz und anderswo noch ein Recht zum Überleben? Was hat sein Vater dort konkret getan? Wird ihn, den Sohn, jemals eine Frau als Partner akzeptieren, wenn sie vom Leben seines Vaters erfährt?

Welche Chance hat ein solcher Sohn, das Vaterleben in seiner »Entschiedenheit«, in seinen schrecklichen Widersprüchen zu interpretieren? Wie kommt er selbst darin vor? Als Mitte der fünfziger Jahre der Vater unbeirrt und unbelehrt zurückkehrt, ist das für den Sohn erst recht keine Erlösung; er ergreift aus einem unbestimmten Gefühl heraus, stellvertretend etwas gut machen zu müssen, den Pfarrerberuf.

Rainer John, ein anderer Gesprächspartner dieses Buches, wurde als Kleinkind von russischen Soldaten an der Landstraße zwischen Küstrin und Frankfurt/Oder gefunden. Sie nahmen den Jungen auf ihren Panzer und übergaben ihn, da er offensichtlich von Deutschen abstammte, einem ostpreußischen Flüchtlingswagen. In Kiel kam er in die Obhut des Roten Kreuzes, später zu verschiedenen Pflegefamilien. Nach dem erfolgreichen Studium leitete er eine Schule. Die Straße, auf der ihn die russischen Soldaten aufgelesen haben, hat er wieder gefunden, Namen und Schicksale seiner Eltern und möglicher Geschwister nicht. Die Hoffnung, während stundenlanger Wanderungen auf dieser Straße würde Erinnern einsetzen, hat sich nicht erfüllt. Nur eines glaubt John heute sicher zu wissen: »Als ich meine Familie verlor, war mein Vater schon nicht mehr dabei.« Hier, wie bei fast allen vaterlos aufgewachsenen Söhnen: tief sitzende, heimliche oder offen geäußerte Spekulationen, Hoffnungen oder trotzige Gewissheit: Er, mein Papa, hätte mich, wäre er dabei gewesen, nicht am Straßenrand allein gelassen! Mit ihm wäre alles anders geworden.

Die meisten der im ersten Teil dieses Buches veröffentlichten Schicksale lesen sich weniger dramatisch als die beiden hier vorangestellten. Für ein Kind macht es aber keinen Unterschied, ob der Vater gefallen ist für Volk und Vaterland, vermisst, verhungert, in Gefangenschaft oder irgendwo seinen Verletzungen erlegen ... Der Verlust des Vaters ist ein brutaler Einschnitt, der den Sohn, das Kind, lebenslang begleitet – und beschädigt! Das Nicht-fragen-können bleibt das Drama, die Falle für Selbstquälerei, für Selbsttäuschung, für verwirrende Phantasien. Lebensgefühl und Selbstverständnis stehen, wenn nicht heilende Kräfte helfen, für immer auf wackligem Boden und prägen das Leben der Betroffenen entscheidend.

Kernstück dieses Buches bilden die Aussagen von Männern, die zwischen 1933 und 1945 (bis auf zwei Ausnahmen aus den Jahren 1930 und 1931) geboren wurden und durch Kriegseinwirkung vaterlos aufwuchsen. Es macht Sinn, kriegsbedingte Vaterlosigkeit gesondert zu betrachten; sie ist nicht auf allen Ebenen vergleichbar mit anderen Trennungsumständen. Die Gesprächspartner des Buches erzählen Geschichten – von sich, von vielen Vätern, von Gefühlen und Träumen. Die Vaterbilder und Erinnerungen der zurückgelassenen Söhne unterscheiden sich; jeder Vater, jeder Sohn, jede Familienkonstellation ist anders. Das Gemeinsame aller Erfahrungen aber ist die oft nicht eingestandene lebenslange Trauer, mehr noch die meist erst spät einsetzende Wahrnehmung von Leere, von fehlendem Halt, vom Fehlen ordnender Prinzipien – und des ständigen Zwanges, diese Defizite zu überwinden.

Häufig ist der abwesende Vater allerdings so mächtig sichtbar und bestimmend wie ein anwesender; manchmal sogar noch stärker. Wie lebende Väter stiften sie Verwirrung, fordern Leistungen, werden zum Maßstab – und hinterlassen, weil es für »alle Fragen zu spät« ist (Peter Härtling), bedrückende Hilflosigkeit – aber auch couragierte (stellvertretende, zum Teil erzwungene) Entscheidungsfreude. Der verlorene Vater ist als eine verdrängte Realität im Innersten wirksam; eine unsichtbare Größe, ein Irrlicht, eine Fata Morgana in Uniform oder Werkskittel, Auslöser von Sehnsüchten mit allen Folgen erzwungener Vereinsamung. Er ist da, aber seine Liebe lebt nur in der heimlichen Vorstellung des Sohnes.

Was bringt es, davon zu sprechen oder zu schreiben? Jeder Schriftsteller, jeder Seelsorger, jeder Psychotherapeut weiß von der befreienden Wirkung des Wortes und der Begegnung zwischen Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben und im Austausch miteinander die Einsamkeit überwinden. Einige der hier beteiligten Männer berichten von den schmerzhaften, aber letztlich bereichernden Versuchen, die Vaterlosigkeit endlich in Worte zu fassen. Oder Schicksalsgenossen zu begegnen. Solche Begegnungen haben auf Tagungen zum Thema stattgefunden; viele Kontakte zu Betroffenen, die an diesem Buch mitgewirkt haben, gehen auf diese Begegnungen zurück.

Es geht in diesen Texten um vorsichtige Annäherungen an die eigenen Gefühle, durch Erinnern und Erzählen. Und um Fragen, die alle angehen: In welchen Erfahrungsräumen, durch welche Kräfte erhielt der vaterlose Sohn Orientierung? Wer half ihm (stellvertretend) die notwendigen Grenzsetzungen zu erkennen, die Leere zu füllen; wer hat ihn den Ordnungssinn gelehrt, ohne den männlicher Mut zu Übermut wird? Auf diese und andere Fragen antworten vierzig betroffene Männer. Sie versuchen die vorsichtige Annäherung an Kindheitsgefühle, die Auslotung der Kräfte, die schlecht oder recht zum Überleben halfen. Sie schrieben auf der Grundlage eines Fragebogens, der von Hartmut Radebold formuliert und von Jürgen Reulecke und Hermann Schulz ergänzt wurde.

Die Autoren einigten sich auf zehn Fragenkomplexe (mit einigen weiterführenden Fragen), die mehr oder weniger wörtlich den Kapiteln des Buches vorangestellt sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass weder die Fragen noch die Antworten in allen Fällen scharf abgegrenzt formuliert wurden. In zehn Kapiteln haben die Autoren diese Erinnerungsgeschichten geordnet – soweit Erinnerungen vorhanden sind. In allen diesen Schicksalen wurde die Familiennormalität durch den Tod des Vaters im Krieg gewaltsam beendet oder durch Kriegsgefangenschaft für lange Zeit unterbrochen. Die Beschäftigung mit den kindlichen Lebensabschnitten, oft Jahrzehnte lang verdrängt und von der Gesellschaft ausgeklammert als bedeutungslose Altlast, ist eine notwendige Auseinandersetzung mit einem Teil unserer Geschichte: mit der Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit, mit der Persönlichkeit des Vaters, wie sie dem Sohn vermittelt wurde, wie er ihn sich wünschte, wie dieser Mann vielleicht gar nicht gewesen ist. Die Lebensstrategien, dem vaterlosen und damit amputierten Leben endlich deutlichere Konturen zu geben, und vielleicht tiefer liegende Schichten der Existenz zu erkennen, sind zahlreich.

Die Väter, von denen hier die Rede ist, wurden nicht zu solchen Vätern, denen die Söhne im Laufe des Lebens eine Absage erteilen können, an denen sie sich reiben oder denen sie begeistert folgen. Solchen Söhnen hat es das Schicksal verweigert, in der Auseinandersetzung, im Messen der Kräfte und der Charaktere, mit ihrer Persönlichkeit vor den Augen und vor der Seele solch eine Entscheidung zu treffen: Niemals will ich so werden wie er; oder: Ja, so ähnlich möchte ich werden! Oft ist von übrig gebliebenen Fotos die Rede, häufig letzte Aufnahmen in Soldatenuniform. Sie helfen zwar weiter, provozieren aber auch unausgesprochene Grübeleien und hilflose Spekulationen: Nein, so war er nicht! Er war so wie ich! So hat er nicht ausgesehen! So erkenne ich ihn nicht!

Suche auf Bildern, bis sie vor den Augen verschwimmen. Suche nach den eigenen Verankerungen in den Familiengeschichten, aus denen er sich verabschiedet hat; unausgesprochene hilflose Wut auf ihn, die Trauer überdeckend. Warum ist er nicht geblieben? Wie hätte das Leben mit ihm sein können? Dann aber auch Zweifel, ob ein Leben mit ihm wirklich besser gewesen wäre. Die Berichte enthalten ja auch Drohbilder, vermittelt von der Familie oder durch Hochrechnungen aus seinen Funktionen im Naziregime. Aber darum geht es nicht: Sicher ist, dass das Leben anders gewesen wäre. Auf die meisten Fragen gibt es keine schlüssigen Antworten, allenfalls mühsame Versuche, sie doch noch zu finden. Vielleicht fallen sie auch deshalb so schwer (und kommen so spät), weil diese Väter Beteiligte des von Nazi-Deutschland begonnenen Krieges waren. Kann aber ein Kind, das den Verlust tragen musste, das begreifen?

Durch den frühen Tod des Vaters und die mageren Erinnerungen bleiben nicht nur Fragen unbeantwortet, sondern sind auch Möglichkeiten grundlegender Lebenserfahrungen verbaut. Das Bewusstsein davon wird von den Familien in einem Reflex von Selbstschutz oft verweigert.

Die Gesprächspartner dieses Buches, ausnahmslos Betroffene, finden für ihr dramatisches Schicksal meist sachliche und undramatische Worte. Ihr Schicksal haben sie mit vielen ihrer Altersgruppe, der »Kriegskindergeneration« des Zweiten Weltkrieges, gemeinsam. Es ist auffallend, wie spät erst sich diese Generation als Betroffene, als Opfer des Dritten Reiches, des Krieges, der deutschen Geschichte, zu Wort meldet. Sie tut dies meist ohne spektakuläre Emotionen oder sentimentale Schwafelei. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob die Sachlichkeit, mit der die meisten ihre Lebensgeschichten in diesem Buch zu Papier bringen (oder in Gesprächen äußerten), nicht täuscht, ob sich dahinter nicht ängstlich das streng gehütete Leid ihrer Kindheit verbirgt. Nicht überall kann es sich lautstark und deutlich zu Wort melden, manche stocken bei dem Versuch, es zu formulieren. Acht von den Angesprochenen haben schriftlich oder mündlich die Teilnahme an diesem Buch mit der Begründung abgelehnt, die Beschäftigung mit ihrer Vaterlosigkeit sei ihnen zu schmerzhaft. Der gleiche Schmerz steht unausgesprochen zwischen den sachlichen und manchmal auch leidenschaftlichen Zeilen der Lebensberichte. Das kann man kaum übersehen. Es sind halbierte Erinnerungen, halbierte Lebenskonzepte. Hinter jedem Bericht verbirgt sich ein eigenes Drama.

Die drei Autoren des vorliegenden Buches haben sich bewusst auf die »Kriegsgeneration« beschränkt, um das schwierige Thema Vaterlosigkeit einzugrenzen und damit besser erkennbar zu machen. Sie trafen diese Entscheidung mit Blick auf ihre eigenen Schicksale und die vieler Männer, die in den ersten zwei Lebensdritteln schwiegen und für deren Vaterlosigkeit sich auch niemand interessierte. Es gab noch weitere Gründe für die Beschränkung: Hier wird trotz einiger neuerer Veröffentlichungen (siehe Literaturverzeichnis) Neuland betreten; die Betroffenen sind häufig heute erst bereit und in der Lage, über ihre Befindlichkeit, ihr Schicksal zu reden oder zu schreiben. Dass die meisten Autoren dieser Lebensberichte aus akademischen Berufen kommen, ist ja nicht zufällig; sie verfügen leichter über das sprachliche und analytische Handwerkszeug, sich dem Thema zu nähern.

Die Autoren haben in den Jahren 2001 bis 2003 drei Tagungen in Iserlohn und Schwerte gemeinsam mit der »Männerarbeit im Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen« zum Thema Kriegskindheit und Vaterlosigkeit initiiert und durchgeführt und wissen daher von den Problemen und Auffälligkeiten, die diese Generation (und sie selbst als Betroffene) umtreibt. Frühe Verlusterfahrung des Vaters verursacht dauerhafte Verhaltensstile, die von den Betroffenen oft nicht wahrgenommen werden – wohl aber von Ehepartnern, Lebensgefährtinnen und Kindern. Einige dieser Angehörigen kommen in diesem Buch im elften Kapitel zu Wort; ihre anonym wiedergegebenen Erfahrungen von »Auffälligkeiten« zeigen, dass die Beziehungen oft extrem belastet gewesen sind durch die frühen Traumatisierungen. Für die Betroffenen ist es vielleicht manchmal bitter, diese Beobachtungen der nächsten Angehörigen zur Kenntnis nehmen zu müssen. Die Aussage von der »inneren Abwesenheit« dieser Väter und Ehemänner überwiegt in einem erschreckenden Maße. Die verblüffend häufig genannte »frühe Selbstständigkeit« der Befragten kann letztlich über die eigentlichen Probleme nicht hinwegtäuschen: die Einsamkeit, den Zweifel an eigener Liebesfähigkeit, das hilflose Retuschieren des Vaterbildes, die unablässige Suche nach der eigenen Identität.

Beansprucht hier eine scheinbar marginale Gruppe (die Statistik nennt 2,5 Millionen deutsche Kriegswaisen) sechzig Jahre nach Ende des Krieges »Opferstatus«? Darum kann es nicht gehen. Die frühen Erfahrungen entfalten ihre Wirksamkeit bis in die Gegenwart und können nicht durch Delegationsprozesse aufgehoben werden, auch wenn das Geschehen und die Folgen rational nicht leicht erfassbar sind. Deshalb ist es gut, dass in diesem Buch erzählt wird; nur so wird die Vielschichtigkeit deutlicher, nur so kann Erleben fruchtbar vermittelt werden. Im Kapitel »Lebenslange Suche und Erinnerungen« finden sich zwei Texte (von Otto Schricker und Lutz Niethammer), die weiter ausgreifen und in Gestalt von Geschichten Vergangenheit und Gegenwart lebendig machen. Im Kapitel »Vorbilder und Kompensationen« haben wir eine Geschichte von Diethart Kerbs aufgenommen, die anrührend und erschreckend zugleich die Folgen soldatisch-deutscher Erziehung in einem Kinderleben zeigt. Wir haben diese Texte aufgenommen, weil auch sie von der »lebenslangen Suche« zeugen und im direkten Kontext zum Thema dieses Buches stehen.

Einige der Gesprächspartner lieferten für das Buch kurze Stichworte, andere lange Lebensberichte. Die Autoren mussten sich für eine Konzeption entscheiden und bieten die rund 250 Textbausteine thematisch geordnet an. Es ist bedauerlich, dass nicht alle Texte in voller Länge aufgenommen werden konnten (allein der Umfang hätte den Rahmen eines Buches gesprengt). Den Autoren schien es für Leserinnen und Leser hilfreicher zu sein, die Kernaussagen nach Themen geordnet lesen zu können, auch wenn dadurch die Lebensgeschichten in ihren Zusammenhängen meist verloren gehen. Jeder Benutzer des Buches hat aber die Möglichkeit, in den einzelnen Kapiteln die Spuren der Betroffenen zu verfolgen. Aus persönlichen Gründen haben sich einige von ihnen entschieden, ihre Aussagen anonym mitzuteilen. Solche Texte sind jeweils am Schluss mit einem Vornamen oder einem Kürzel versehen.

Die drei Autoren haben sich über ihre im Jahr 2000 erschienenen, sehr unterschiedlichen Bücher zu Vätern und Vaterlosigkeit kennen gelernt (siehe Literaturverzeichnis). Das vorliegende Buch entstand mit dem gemeinsamen Ziel, das Thema in möglichst vielen Aspekten und durch Informationen über den Stand der Forschung für ein breites Publikum, für direkt Betroffene und sensibilisierte Zeitgenossen ein Stück sichtbarer zu machen.

Dezember 2003

Hermann Schulz
Hartmut Radebold
Jürgen Reulecke

Beschädigte Kindheiten –
beschädigtes Leben

Hermann Schulz

Gemeinsam mit Hartmut Radebold und Jürgen Reulecke

Der türkische Autor Orhan Pamuk überschrieb einen Essay über seinen Vater mit der provozierenden Zeile: »Der Tod jedes Mannes beginnt mit dem Tode seines Erzeugers.«1 Er hängt in seinem Text Träumen und Enttäuschungen nach. So heftig er seinen Vater auch kritisiert (bis zur Verächtlichmachung, mühsam die Scham verbergend), so deutlich sieht er in ihm zugleich die Quelle für seine eigene Sicherheit, mit der er (zum Beispiel) Schriftsteller wurde.

In einer ganz anderen Weise erkennt der 1944 geborene Schriftsteller Michael Zeller die (unsichtbare) Rolle, die sein abwesender Vater für seine berufliche Entscheidung spielte. Der Vater war der letzte Regierungspräsident in Niederschlesien. Erst am 7. Mai 1945 verließ er seinen Arbeitsplatz und versuchte, sich nach Westen zu seiner Familie durchzuschlagen. Er kam bei dieser Flucht ums Leben; sein Sohn vermisste ihn in der Kindheit nicht: »Das war ja für viele die Normalität: arm und vaterlos!«, sagte Zeller in einem Gespräch. Trotzdem verpflichtete ihn sein Vaterbild, ein Studium zu absolvieren und zu promovieren, bevor er sich »frei« fühlte, Schriftsteller zu werden. Da er der jüngste von drei Brüdern war und das Leben mit dem Vater nicht kannte (im Gegensatz zu den älteren Brüdern auch nicht den Wohlstand der Familie in Schlesien), verinnerlichte er stärker als sie, was die Familie (seine Mutter) verloren hatte. Nie, so sagte er, habe er Kinder, eine Familie, ein Haus haben wollen! Seine Dissertation trug den Titel Väter und Söhne bei Thomas Mann; seine Romane sind ausnahmslos – bis zu dem zuletzt erschienenen Die Reise nach Samosch2 – geprägt von der Suche nach Heimat, der Auseinandersetzung mit der Unsicherheit der Herkunft und seiner Rolle als »Ersatzmann« anstelle des Vaters. »Die schwerste Behinderung einer persönlichen Entwicklung durch den ausgefallenen Vater«, so schrieb er nach dem Gespräch zusammenfassend, »sehe ich darin, dass ich nie den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen gelernt habe – was ein Vater, als Repräsentant der Gesellschaft in einer Familie, zu vermitteln gehabt hätte. Ich kann, bis heute, immer nur persönlich auf Menschen zugehen (oder nicht), wie ich das von der mütterlichen Emotionalität abgeschaut habe (...) Das direkte Zugehen auf Menschen hat natürlich auch Vorteile, nicht zuletzt im Umgang mit Frauen.«

Aus den vielen Beispielen der Belletristik und der Erinnerungsliteratur, die sich mit vaterlosen Söhnen befassen, sollen hier drei Beispiele angeführt werden. Exemplarisch beschreibt der französische Nobelpreisträger Albert Camus (geb. 1913) in seinem nicht abgeschlossenen Roman Der erste Mensch den Besuch des Grabes seines Vaters, der 1914 im Krieg gefallen war und an den er keine eigene Erinnerung hatte. Das Buch wurde nach dem Tode des Autors veröffentlicht.

»›Welchen Namen suchen Sie?‹ – ›Henri Cormery‹, antwortete der Reisende. Der Wärter klappte ein in Packpapier eingeschlagenes großes Buch auf und fuhr mit seinem erdigen Finger eine Namensliste entlang. Sein Finger hielt inne. ›Cormery, Henri‹, sagte er, ›lebensgefährlich verwundet in der Marneschlacht, gestorben in Saint-Brieuc am 11. Oktober 1914.‹ – ›Das ist er‹, sagte der Reisende. Der Wärter schlug das Buch zu. ›Kommen Sie‹, sagte er. Und er ging vor ihm her zu den ersten Reihen von Gräbern, die einen bescheiden, die anderen eitel und hässlich, alle mit diesem Schnickschnack aus Marmor und Perlen bedeckt, der jeden beliebigen Ort der Welt verschandeln würde. ›Ein Verwandter?‹ fragte der Wärter zerstreut. ›Mein Vater.‹ – ›Das ist hart‹, sagte der andere. – ›Ach nein, ich war noch kein Jahr alt, als er gestorben ist. Sie verstehen also.‹ – ›Ja‹, sagte der Wärter, ›trotzdem. Es hat zu viele Tote gegeben.‹ Jacques Cormery erwiderte nichts. Gewiss hatte es zu viele Tote gegeben, aber was seinen Vater betraf, so konnte er sich keine Pietät aus den Fingern saugen, die er nicht empfand. Seit vielen Jahren, seitdem er in Frankreich lebte, nahm er sich vor zu tun, worum seine in Algerien gebliebene Mutter (…) ihn schon so lange bat: sich das Grab seines Vaters anzusehen, das sie selbst nie gesehen hatte. Er fand, dass dieser Besuch überhaupt keinen Sinn hatte, einmal für ihn nicht, der seinen Vater nie gekannt hatte, fast nichts von ihm wusste und der konventionelle Gesten und Handlungen verabscheute, und andererseits für seine Mutter nicht, die nie von dem Verstorbenen sprach und sich von dem, was er sehen würde, nichts vorstellen konnte (…) ›Hier ist es‹, sagte der Wärter. Sie waren vor einem Karree angekommen, das umgeben war von kleinen, durch eine dicke, schwarz lackierte Kette miteinander verbundenen grauen Steinpflöcken (…) ›Sehen Sie, da ist er.‹ Er zeigte auf einen Stein in der ersten Reihe. Jacques Cormery blieb in einiger Entfernung von dem Stein stehen (…) Ja, das war wirklich sein Name. Er blickte nach oben. An dem blasseren Himmel zogen langsam weiße und graue Wölkchen (…) Um ihn herum auf dem weitläufigen Totenacker herrschte Stille. Nur von der Stadt her drang ein dumpfes Tosen über die hohen Mauern. Manchmal ging eine schwarze Gestalt zwischen den fernen Gräbern entlang (…) In dem Augenblick las er auf dem Grab das Geburtsjahr seines Vaters, und er merkte, dass er es nicht kannte. Dann las er beide Jahreszahlen, ›1885 – 1914‹, und rechnete mechanisch: neunundzwanzig Jahre. Plötzlich überfiel ihn ein Gedanke, der ihn bis ins Mark erschütterte. Er war vierzig Jahre alt. Der unter dieser Steinplatte begrabene Mann, der sein Vater gewesen war, war jünger als er.

Und die Welle von Zärtlichkeit und Mitleid, die auf einmal sein Herz überflutete, war nicht die Gemütserregung, die den Sohn bei der Erinnerung an den verstorbenen Vater überkommt, sondern das verstörte Mitgefühl, das ein erwachsener Mann für das ungerecht hingemordete Kind empfindet – etwas entsprach hier nicht der natürlichen Ordnung, und eigentlich herrschte hier, wo der Sohn älter war als der Vater, nicht Ordnung, sondern nur Irrsinn und Chaos. Die Abfolge der Zeit selbst zerbrach rings um ihn, den bewegungslos zwischen den Gräbern Stehenden, die er nicht mehr wahrnahm, und die Jahre hörten auf, sich jenem großen Strom folgend anzuordnen, der seinem Ende entgegenfließt. Sie waren nur mehr tosendes Hin- und Herbranden, in dem Jacques Cormery jetzt von Angst und Mitleid gepackt zappelte. Er sah sich die anderen Steinplatten des Karrees an und erkannte an den Lebensdaten, dass dieser Boden angefüllt war mit Kindern, die die Väter von ergrauenden Männern gewesen waren, welche in diesem Augenblick zu leben vermeinten. Denn er selbst vermeinte zu leben, er hatte sich allein aufgebaut, er kannte seine Kraft, seine Energie, er bot die Stirn und hatte sich in der Hand. Doch in dem seltsamen Taumel, in dem er sich augenblicklich befand, wurde jenes Standbild, das jeder Mensch errichtet und im Feuer der Jahre härtet, um sich ihm anzuverwandeln und in ihm das letzte Zerbröckeln abzuwarten, schnell rissig, brach schon jetzt zusammen. Er war nur mehr dieses lebensgierige, gegen die tödliche Ordnung der Welt aufbegehrende verängstigte Herz, das ihn vierzig Jahre lang begleitet hatte und noch immer mit derselben Kraft gegen die Mauer schlug, die es vom Geheimnis allen Lebens trennte, die es überwinden, über die es hinausgehen und wissen wollte, wissen, bevor er starb, endlich wissen, um zu sein, ein einziges Mal, eine einzige Sekunde, aber für immer. Er sah wieder sein verrücktes, mutiges, feiges, hartnäckiges, immer auf jenes Ziel, von dem er nichts wusste, gerichtete Leben vor sich, und in Wirklichkeit war es die ganze Zeit über verlaufen, ohne dass er versucht hätte, sich vorzustellen, was für ein Mensch es gewesen sein mochte, der ihm eben dieses Leben geschenkt hatte, um alsbald fortzugehen.«3

Zeitlich näher am Thema, das uns hier beschäftigt, ist Peter Härtling mit seinem Buch Nachgetragene Liebe – eine schmerzliche, schonungslose und erschütternde Erinnerung und Annäherung: »Mein Vater hinterließ mir eine Nickelbrille, eine goldene Taschenuhr und ein Notizbuch, das er aus grauem Papier gefaltet und in das er nichts eingetragen hatte als ein Gedicht Eichendorffs, ein paar bissige Bemerkungen Nestroys und die Adressen von zwei mir Unbekannten. Er hinterließ mich mit einer Geschichte, die ich seit dreißig Jahren nicht zu Ende schreiben kann. Ich habe über ihn geschrieben, doch nie von ihm sprechen können.«4

Härtlings Buch endet mit den Sätzen: »Ich muss die Spuren lesen, die du mir hinterlassen hast. Ich fange an, dich zu lieben. Ich bin älter als du. Ich rede mit meinen Kindern, wie du nicht mit mir geredet hast, nicht reden konntest. Nun, da ich die Zeit verbrauche, die dir genommen wurde, lerne ich, dich zu verstehen. Kehrtest du zurück, Vater, wie der Mann aus dem Bergwerk von Falun, könntest du mein jüngerer Bruder sein.«5

Die Erinnerungen des 1940 geborenen Wirtschaftsmanagers Hans Olaf Henkel Die Macht der Freiheit beginnen mit einem ungewöhnlichen Bekenntnis: »Der Mann, der mein Leben am stärksten prägte, hat in meiner Erinnerung kaum Spuren hinterlassen. Dennoch war er mir immer gegenwärtig, und vielleicht gerade, weil er mir so gefehlt hat. Wie oft denke ich an ihn, stelle mir vor, wie er heute aussähe. Dann sehe ich mich neben ihm, der ich heute 20 Jahre älter bin, als er bei seinem Tod war. Und ich bin immer noch sein kleiner Hans geblieben und er mein großer Papi (…) Auf den letzten Fronturlaub erfolgt die endlose Qual des Wartens. Irgendwann kommen keine Briefe mehr, monatelang hören wir nichts von ihm, keine Post trifft ein und keine Nachricht …« Erst viele Jahre später entdeckt Hans Olaf Henkel unter den Namen eines Massengrabes auf dem Budapester Zentralfriedhof den seines Vaters. »Drei Bronzetafeln (…) tragen 9 000 Namen. Ich folge dem Alphabet, und mein Herz scheint einen Schlag auszusetzen. Ich lese seinen Namen, meinen Namen. Hans Henkel steht hier, geboren am 25. Mai 1905 (…) Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet. Ich sage ›Papi‹ zum ersten Mal seit vierzig Jahren.«6

Nicht selten machten die vaterlosen Söhne in Gehorsam zum (fehlenden) Vater oder zur (überforderten, tapferen) Mutter ihre Karriere, engagierten sich sozial oder politisch und unterdrückten ihre (unausgesprochene und unbewusste) Suche nach der eigenen Identität zu Gunsten eines Idealbildes von »Tapferkeit« und zu Lasten der eigenen Selbstfindung. In Kindheit und Jugend fanden sie selten angemessene Gesprächspartner, die sie auffingen, Dialogfähigkeit herstellten, ihnen wirklich weiterhalfen. Intime Dialoge sind in der Männerwelt ja sowieso weithin unüblich! Zudem erschwerten die besonderen geschichtlichen Umstände der Nachkriegszeit jedes Gespräch darüber. Diese Männer machten durchweg bürgerliche Karrieren, reisten um die Welt (als Triebkraft eine ungestillte und unbestimmte Sehnsucht), engagierten sich, wurden gute Haushälter, bemühten sich vielleicht, gute Väter zu sein, blieben aber nicht selten schwach in persönlichen Begegnungen und Beziehungen. Ebenso wie sie leise (oder allzu laute) Kinder waren, die oft nur betreut, aber selten richtig geliebt wurden, wurden sie stille (oder allzu laute) Erwachsene, allein gelassen mit dem »inneren Bild« eines nur imaginierten Vaters. Darüber herrschte das allmächtige Bild der Mutter, und niemand half, sie davon zu befreien. Auch die Mütter waren zu einem heilenden Dialog kaum in der Lage – oder willens. Wenn es hieß: »Genau wie dein Vater …!«, so war für den Sohn oft ungesichert, ob das kritisch oder freundlich gemeint war. Denn auch die Mütter steckten in der Enttäuschung, verlassen worden zu sein. Das elterliche System der Identitätspole war zerstört, eine wirkliche Solidarität, die lebensrettend gewesen sein könnte, war kaum möglich. Einem idealisierten Vater zu folgen, war problematisch, einem Vater, von dem abwertend erzählt wurde, ebenso. Also wurde die Beschäftigung mit ihm verdrängt. Solche Konditionen pflanzten sich fort und beeinträchtigten später ein »heilendes« Umgehen mit den eigenen Kindern und den folgenden Generationen.

Erst in den letzten Jahren melden sich diese Männer zögerlich zu Psychotherapien, um auszuleuchten, wie und warum sie so geworden sind, woher ihre Unsicherheiten, ihre Melancholien kommen. Oft fühlen sie sich im Innersten unsicher (so hört man von Psychotherapeuten), schieben andere Motivationen vor – und wissen selbst nicht, woher der Leidensdruck stammt, warum ihre emotionalen Kontakte so mager (und formal) geblieben sind. Sie sind untrainiert! Das Patriarchat gibt den Männern keine wärmende Heimat – und hat ihnen auch das Eingestehen der Sehnsucht nach dem verlorenen Vater erschwert. Wer kein Ziel hat, kann sich nicht verirren; kein Wunder, dass diese vaterlosen Söhne insgesamt unauffällig und leistungsstark die Lasten der Nachkriegsjahre getragen haben. Vielleicht sind sie unbewusst den »soldatischen« Bildern gefolgt, die hinter der tapferen Haltung ihrer Mütter standen bzw. die diese ihnen von den Vätern vermittelten? Sie hatten nur geringe Chancen, (wie »richtige« Männer) etwas nicht zu tun! Denn der Vater konnte sie nicht mehr unterstützen, »er wäre der Führer in einem freien Gelände gewesen! Führer in eine Welt, die nicht von vornherein programmiert ist, in der Erfindungen möglich sind, die nicht zugeschüttet ist von anzustrebenden Erfolgsbildern, Reklamemodellen und Karrieren, sondern in der man das Neue immer wieder neu auf die eigene Kappe nehmen kann« (Martin Goldstein, Arzt und Psychotherapeut, in einem Gespräch).

Es ist auffällig, dass diese »Söhne ohne Väter« eine Generation der Auflehnung darstellen. In der Politik (Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine u. a.), in der Wirtschaft (Hans Olaf Henkel u. a.), in der Dritte-Welt-Bewegung, bei den 68ern wie auch bei der Stasi und in den fundamentalistischen Sekten spielen sie eine auffallende, wenn auch sehr unterschiedliche Rolle: Männer auf der Suche nach der Identitätsgewinnung, nach Heimat im Hierarchiegeflecht. Die Fundamente wurden in den Mannwerdungsangeboten der fünfziger Jahre gelegt. Sie waren immer noch geprägt von heldischen Jungmännerbildern – von Bündischer Jugend (als typisches Element deutscher Mentalitätsgeschichte) über den CVJM bis hin zu literarischen Vorbildern von Karl May und den bekannten Cowboyhelden in Groschenheften der fünfziger Jahre.

Seit Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches erlebten die Autoren auf Tagungen und durch Leserpost bemerkenswerte Rückmeldungen von Männern (ohne Väter) und ihren Angehörigen. Nicht selten wurden sie zu Lesungen eingeladen mit dem ausdrücklichen Wunsch, auf dem Hintergrund des vorliegenden Buches über Söhne-Väter-Problematik zu referieren – denn der abwesende Vater ist gegenwärtig wie der anwesende. In Schulen bei Jugendlichen ab 15 Jahren konzentrierten sich die Diskussionen sehr schnell auf zwei Punkte: Welche Rolle spielen Väter grundsätzlich für Söhne und Töchter heute?

Viele Betroffene berichten, dass ihre Mütter (die Kriegerwitwen) mehr als andere Wert darauf legten, im Erziehungsprozess Jugendgruppen und Vereine heranzuziehen und zu nutzen. Dahinter steht die (eingestandene) Erkenntnis, als alleinige Erzieherin den Aufgaben nicht wirklich gewachsen zu sein. Die Söhne wurden, soweit es die Familie mit Großvätern oder Onkeln nicht anbot, dadurch erstmals mit (kontrollierten, als glaubwürdig geltenden) »Ersatzvätern« konfrontiert. Deshalb hinterließen die Erfahrungen in den Jugendverbänden und -gruppen lebenslange Spuren in der Entwicklung der Männer, allerdings mit sehr unterschiedlichen späteren Beurteilungen. Auf jeden Fall wurden ihnen hier erstmals »männliche« Entscheidungen abverlangt - ein erster Schritt zum Erwachsenwerden also.

Auffallend war zudem, wie die Mitglieder dieser Söhnegeneration später über »echte Kost« und »Surrogate« urteilten: Die Jugendgruppen legten (unabhängig von konfessioneller oder sonstiger Ausrichtung) zumeist eher konservative Grundlagen. Aus dieser Generation entstanden deshalb bis auf wenige Ausnahmen keine »Revolutionäre«, denn die dauerhaften Verunsicherungen, das Gefühl von Unvollständigkeit, zugespitzt ausgedrückt: ein Minderwertigkeitsgefühl, beschäftigten viele ihrer Mitglieder so sehr, dass der Wunsch, die Welt auf den Kopf zu stellen, gar nicht erwachen konnte. Das war dann die Sache der darauffolgenden Jahrgänge (siehe dazu unten Seite 144 ff).

Hartmut Radebold hat in diesem Buch über das Älterwerden so Betroffener geschrieben (siehe Seite 160 ff). Seine Überlegungen werden durch inzwischen publizierte Ergebnisse einer 2003 durchgeführten repräsentativen Querschnittsstudie7 gestützt: testpsychologisch zeigten vaterlos aufgewachsene Personen deutlich stärkere depressive, dysthyme und sozialphobische Symptome wie auch »Misstrauen gegenüber anderen Menschen« und die Frauen zusätzlich mehr vegetative Symptome. Bezüglich der gesundheitlichen Belastung zeigten vaterlos Aufgewachsene in den Bereichen »somatische Symptome«, »Depressivität« und »Stress« deutlich höhere Werte insbesondere die Frauen. Die damalige dauerhafte väterliche Abwesenheit erweist sich somit als lebenslang hochwirksam und als Risikofaktor für die psychosoziale Entwicklung. Man vergesse dabei nicht, dass viele vaterlos Aufgewachsene zusätzliche beschädigende bis traumatisierende Erfahrungen (von Gewalt in vielfältiger Form, Verluste von anderen Angehörigen sowie von Heimat / Sicherheit) erlitten. So beschreiben viele Betroffene im Gespräch nicht so sehr ihre damals erlittenen Traumatisierungen, sondern eine lebenslang bestehende noch in ihrer Alternssituation hineinreichende »Falle«. Sie war gegeben durch die wirtschaftliche Armut (der Familie), das Alleinsein der Mutter und ihrer Forderung (nach Gehorsam, nach Tapferkeit, nach Anpassung, Loyalität und Hilfe) und das Gefühl, somit in der Gesellschaft ein unvollständiges Mitglied zu sein.

So differiert das Spektrum der weiteren Entwicklung im jüngeren und mittleren Lebensalter von so Betroffenen erheblich: es reicht von beeindruckenden Karrieren8 über sich allmählich sich entwickelnde psychische Schwierigkeiten bis hin zu lebenslang bestehenden Identitäts-Brüchen, Beziehungsschwierigkeiten und sozialen Einschränkungen9. Als besonders schmerzlich wurden die Schwierigkeiten erlebt, den eigenen Kindern »seelisch erreichbare und lebendige« Väter zu sein10 mit der nachfolgenden weiteren Schwierigkeit »richtige« Großväter zu werden. Bei weitem nicht alle erhielten oder erhalten oder suchten oder suchen die Chance einer Psychotherapie; wichtig ist auf jeden Fall die innere Akzeptanz dieses Teiles der eigenen Biografie, das heute noch mögliche Trauern über die damaligen Verluste und das Gespräch mit anderen Betroffenen.

Es gibt zwei immer wiederkehrende Reaktionen auf das vorliegende Buch; zum einen die Frage: »Wo bleiben die vaterlos aufgewachsenen Töchter?«

Die Entwicklung der damaligen Töchter wurde ebenfalls untersucht11