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Ingrid Frank
Mitgefangen

Ingrid Frank

Mitgefangen

Hilfe für Angehörige von Inhaftierten

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2004)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Lektorat: Christina Kruschwitz, Berlin
Umschlaggestaltung: KahaneDesign Berlin
unter Verwendung eines Fotos von Albert Josef Schmidt, Freiburg
Satz: Ch. Links Verlag, Berlin

ISBN 978-3-86284-224-7

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Zwei Welten
Die drinnen und die draußen

Astrid Borchers, Gefängnispastorin: »Knast bedeutet, seine Verantwortung an der Außenpforte abzugeben.«

Am Anfang war Beziehung. Ein Gruppengespräch

Inhaftierung
Wenn der Boden unter einem zusammenzubrechen droht

Schockerfahrungen

Der Ausnahmezustand Inhaftierung

Erste praktische Hinweise für Angehörige

Kai Mielke, Rechtsanwalt: »Der Strafverteidiger ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Inhaftierten und Angehörigen.«

Untersuchungshaft
Es könnte ja noch alles glimpflich ausgehen

Erfahrungen in der Warteschleife

Was bedeutet Untersuchungshaft?

Inhaftierung drogen- und alkoholabhängiger
Menschen. Exkurs

Abhängigkeit und Kriminalität inner- und außerhalb der Mauern

Serdar Saris, Drogenberater: »Angehörige müssen sich zum Grundsatz machen:
Ich helfe, wenn du dir helfen lässt.«

Urteilsverkündung
Die Wahrheit kann sehr hässlich sein

Eine Urteilsverkündung miterleben

Wie verläuft ein Prozess?

Ausländische Straftäter und Bleiberecht. Exkurs

Erfahrungen mitbetroffener Ehefrauen

Gründe für eine Ausweisung

Kai Weber, Flüchtlingsberater:
»Das Engagement der Angehörigen ist von entscheidender Bedeutung.«

Strafhaft
Wenn Zeit verändert

Erfahrungen nach längerer Haftzeit

Mögliche Schuldenfallen

Außenkontakte und Lockerungen im Vollzug

Kinder als Mitbetroffene. Exkurs

Reaktionen von Kindern Inhaftierter

Kinder brauchen Unterstützung

Jochen Heim, Kinderpsychotherapeut:
»Besuche im Gefängnis mit Kindern sind sinnvoll.«

Vorbereitung auf die Entlassung
Und was kommt jetzt?

»Ich hab’s versucht, mit aller Liebe.« Ein Gruppengespräch

Ehen und Eheseminare im Strafvollzug

Jochen Heim, Ehe- und Familienberater: »Man muss schauen, was es sonst noch gibt außer den enormen Schwierigkeiten.«

Astrid Borchers, Gefängnispastorin:
»Die Bewährungsprobe ist anschließend.«

Wünsche, Forderungen, Perspektiven

Angehörige nicht mitbestrafen

Abschaffung des geschlossenen Vollzugs, wann immer es der Schutz der Allgemeinheit nicht erfordert

Dieter Pabst, Bewährungshelfer: »Beziehung ist das A und O. Aber die zwei Welten bleiben das Problem.«

Schlusswort

Anhang

Anmerkungen

Literaturtipps

Hilfreiche Adressen

Angaben zur Autorin

Danksagung

»Haben sie schon einmal hinter Gefängnisgittern das Gesicht eines Gefangenen gesehen? Ein Gesicht, durch das Gitterkreuz zerschnitten? Dann würden sie begreifen, dass das Fenster, keineswegs die Tür, das Tor zur Freiheit ist. Vor dem Fenster liegt die Welt. Ein Gesicht hinter einem vergitterten Fenster ist schrecklicher als ein Mensch hinter einer verschlossenen Tür. Denn im Fenster liegt alle Hoffnung auf Licht, auf den Sonnenaufgang, auf den Horizont; im Fenster liegen Sehnsüchte und Wünsche. Hinter der Tür befindet sich allein die Wirklichkeit.«

aus: Milena Jesenská: Alles ist Leben, Feuilletons und Reportagen, 1919–1939. 4. Aufl., Frankfurt 1996, S. 62.

Vorwort

Seitdem ich im Gefängnis arbeitete, sammelte ich lose Zettelchen, Zellennummern, Namen, Eindrücke und Gedanken in einer roten Kladde. Die geschriebenen Aufzeichnungen halfen mir, den Knast zu beschreiben, zwischen drinnen und draußen zu vermitteln und auch zwischen meinem »Innen«, meinen Gedanken und Gefühlen, und meinem »Außen«, meiner alltäglichen Lebenswelt.

Im Knast ankommen hieß, mich von der Welt draußen für eine Zeit zu verabschieden und denen drinnen ein Stück daraus mitzubringen. Es gab die immer wiederkehrenden Abläufe: Hineinkommen über den Hof, wo der Gefangenentransporter steht. Routinemäßiges Öffnen des eigenen Schlüsselfachs. Die großen schweren Schlüssel in den Karabiner einhaken, in die dafür vorgesehene Ledertasche stecken und am Gürtel befestigen. Übertriebene Komplimente auf dem langen Gefängnisgang fast jeden Morgen. Manchmal wohltuend, beflügelnd. Manchmal zu dick aufgetragen, plumpe Anmache, die abzuschmettern nicht immer gelang.

Die Schlüssel wiesen mich als eine, die von draußen kommt, aus und gaben mir Macht, die kleine Freiheit drinnen zu verwalten: Ich konnte mit dem Schlüssel Zellen und Durchgangstüren öffnen und schließen, ich konnte raus- und wegschließen. Ich musste das beiläufige Schließen lernen.

Ich teilte Tabak aus und rauchte auch ab und zu Selbstgedrehte, aß die Gefangenen-Billigschokolade. Die Trostlosigkeit machte bedürftig. Auch mich. Wenn ich nach Hause fuhr, nahm ich die Energie von drinnen mit, mein Innen war voll davon: eine explosive Mischung aus Traurigkeit, Leere, Kuriosität, Hoffnung und makabrem Scherz.

Seither mache ich mir Gedanken darüber, inwiefern Gefängnis das Innen und Außen von Menschen verändert und wie die Beziehung zwischen denen drinnen und denen draußen sein kann. Angehörige merken schnell, dass sie diesbezüglich auf besondere Schwierigkeiten stoßen.

Ich war zuerst als aufsuchende Sozialarbeiterin für ausländische Gefangene in der JVA Hannover tätig, später dann als Mitarbeiterin in der Gefängnisseelsorge. In dieser Zeit erfuhr ich vieles über die Probleme, die Angehörige von Gefangenen aufgrund der Haftsituation haben. Yussuf aus der Abteilung für Untersuchungsgefangene zum Beispiel war immer auf der Lauer, gierig danach zu sprechen. Meist erzählte er von seiner Frau Karin, deren Eltern sie wegen der Ehe mit einem Ausländer verurteilten. Er erzählte von den beiden kleinen Söhnen, von Karins Prinzipien und ihrer deutschen Ordnungsliebe. Seine Frau sei mit der Situation überfordert: »Sie sollte eine Gruppe aufmachen für Frauen, deren Männer hier im Knast sitzen, sie könnte das. Aber sie hat zurzeit gar kein Selbstbewusstsein.«

An der Außenpforte der JVA traf ich einmal Frau H.: blaues Kostüm, Perlenkette, dezentes Make-up. Als käme sie von einem Geschäftstermin. Sie sprach mich an: »Arbeiten Sie hier? Kennen Sie meinen Mann?« Ich kannte ihn, er verbüßte eine Strafe wegen hoher Steuerhinterziehung und wurde von den anderen Gefangenen »Bundeskanzler« genannt. »Wie schätzen Sie den Fall ein? Wie soll ich das nur aushalten? Glauben Sie auch, dass er lügt? Unserer Tochter sage ich, er hat im Ausland zu tun. Aber wie lange wird sie das glauben? – Für die da drin wird so viel getan. Und ich steh’ allein da mit meinen Problemen.«

Einmal lud ich Iryna, die Freundin des Geigers, zu einem Treffen in ein Café ein. Sie nahm meine Einladung dankbar an. Im Fall ihres Freundes ging es um undurchsichtige Geschäfte mit Stradivariviolinen. Was genau er getan hatte, wussten weder sie noch ich. Sie hatte sich nach ein paar schwierigen Jahren von dieser Beziehung Ruhe und Beständigkeit für sich und ihre Tochter erhofft und wollte als Pianistin mit ihrem Freund zusammen Konzerte geben. Sie wusste nicht, wie sie sich nun verhalten sollte: »Ich will ihm helfen, so wie er mir geholfen hat. Aber ich bin schon so oft ausgenutzt und bitter enttäuscht worden. Ich weiß nicht, ob ich ihm noch vertrauen kann.« Außerdem war sie neu verliebt, hatte aber Angst, es ihm da drin zu erzählen und fühlte sich schlecht: »Aber ich muss doch auch an mich denken und an meine Tochter. Was meinen Sie?«

Geschichten wie diese, Anrufe von Freundinnen oder Ehefrauen, waren für mich Anlass zu der Überzeugung, dass Angehörige von Inhaftierten Unterstützung brauchen, weil sie sich mit den Schwierigkeiten, die aus der Haft resultieren oder damit in Zusammenhang stehen, alleine gelassen fühlen. Genau wie die Gefangenen, werden auch sie in ihrem psychischen und seelischen Empfinden stark beeinträchtigt und müssen sich in einem neuen Alltag zurechtfinden.

Gleichzeitig drinnen und draußen tätig zu sein, überstieg jedoch meine Kapazitäten als Mitarbeiterin in der Gefängnisseelsorge. Mehr als ab und zu Telefonate mit Angehörigen zuzulassen, damit ihnen und den Inhaftierten ein kleines Stückchen Alltagskommunikation blieb, war mir in diesem Rahmen nicht möglich. Eine doppelte Perspektive wäre auch wenig sinnvoll gewesen, da ich als Gefängnisseelsorgerin im Konfliktfall immer in erster Linie für den Gefangenen da sein musste. Das macht parteiisch. Zudem schränkt Gefängnis ein, auch das Denken und Empfinden. Als Angehöriger dort Unterstützung und Hilfe zu erwarten, liegt eher fern.

Angehörigenberatung sollte in einem anderen Umfeld möglich sein, denn (Ehe-)Partner, Geschwister und Freunde brauchen »freien Raum«, um für sich selbst Perspektiven entwickeln zu können. Deshalb bot ich das Projekt »Beratung und Begleitung für Angehörige von Gefangenen« an. Die katholische Familienbildungsstätte in Hannover war offen für eine neue Zielgruppe und stellte Räumlichkeiten zur Verfügung. In einem Faltblatt, das ich in der JVA auslegte, warb ich für Einzelgespräche, ein offenes Gruppenangebot und Hausbesuche bei Bedarf. Hilfe in der notwendigen Neuorientierung, Auseinandersetzung mit dem Grund für die Inhaftierung und mit eigenen Schuldgefühlen sowie praktische Hilfen sollten den Platz bekommen, der in der Gefängnisseelsorge und Gefängnissozialarbeit für Angehörige nicht ausreichend gegeben ist.

Die Anlaufschwierigkeiten waren groß. Sich outen, Hilfe in Anspruch nehmen, eine katholische Familienbildungsstätte aufsuchen, alles das liegt erst einmal fern, wenn man selbst betroffen ist. Es gibt viele Hürden für Angehörige: Zeitmangel, Scham, Unsicherheit, Schuldgefühle, Angst. Viele haben den Hinweis auf dieses Angebot lange mit sich herumgetragen, bis sie es gewagt haben anzurufen oder zu kommen.

Im Buch berichten einige derjenigen von ihren Erfahrungen, die an dem offenen Gruppenangebot teilgenommen haben. Ich halte ihre Geschichten für aussagekräftig und hoffe, dass sie wegweisend für andere sind, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Nicht zuletzt möchte ich Angehörige mit dem Buch ermutigen, zwischen »Innen« und »Außen« zu vermitteln, wenn sie die Beziehung zu dem Inhaftierten aufrechterhalten wollen.

Zusätzlich angereichert mit Experteninterviews, soll dieses Buch zudem professionelle Begleiter und Interessierte für das Thema Angehörige sensibilisieren und dazu anregen, über neue Modelle des Strafvollzugs nachzudenken, die den sozialen Beziehungen der Gefangenen gerechter werden. Schließlich möchte ich hilfreiche Informationen und Adressen anbieten.

Hannover, im April 2004

Ingrid Frank

Einleitung

Am Stichtag 31. 3. 2003 befanden sich 62 594 Personen in Deutschland in Strafhaft, 59 819 Männer und 2775 Frauen. Wegen dieses Zahlenverhältnisses und der im Folgenden geschilderten Erfahrungen von Frauen wird in diesem Buch meist von dem Standardfall eines männlichen Inhaftierten und einer weiblichen Angehörigen ausgegangen. Der umgekehrte Fall ist natürlich ebenso möglich. Inhaftiert sind außerdem Untersuchungshäftlinge und Abschiebehäftlinge – am Stichtag 31. 12. 2002 waren dies noch einmal 16 853 beziehungsweise 1655 Personen.1 Sie stehen mit anderen draußen in Verbindung: mit ihren Partnerinnen und Partnern, Kindern, Eltern und Geschwistern. Diese Menschen und die Beziehungen zu ihnen werden von einer Inhaftierung maßgeblich mitbetroffen, ohne dass dies in angemessener Weise zur Kenntnis genommen wird. Weder von der Justiz – hier verstellt vielleicht gerade die Tatsache, dass das Strafrecht ein Individualrecht ist und »Sippenhaft« dadurch vermieden werden soll, den Blick auf die Realität –, noch von der Sozialarbeit oder Straffälligenhilfe – hier sind Angehörige noch Nebenadressaten in der Beratungsarbeit. Erst in jüngster Zeit wird im Bereich der Straffälligenhilfe die Bedeutung einer expliziten Angehörigenarbeit entdeckt. Die bestehenden Beratungsangebote vernetzen und profilieren sich. Eine eigene Lobbyarbeit entsteht.2

Dem immer noch mangelnden Augenmerk auf Angehörige stehen gravierende Probleme dieser Mitbetroffenen in sozialer, psychischer und ökonomischer Hinsicht gegenüber. Meist verschlechtert sich die finanzielle Situation: der Ernährer fehlt, Anwalts- und Gerichtskosten sind so hoch, dass sie unter Umständen Schulden verursachen oder erhöhen. Darüber hinaus kommt es nicht selten zu Schwierigkeiten mit der Umgebung. Die Betroffenen müssen herausfinden, wie viel Akzeptanz es am Arbeitsplatz und bei den Nachbarn gibt und wann zum eigenen Schutz Geheimhaltung notwendig ist. Viele Frauen sind genötigt, neue Rollen und Funktionen zu erlernen, etwa die der allein erziehenden Mutter oder berufstätigen Frau. Nicht zuletzt bricht mit einer Inhaftierung eine ganze Welt zusammen. Die Art und Weise, wie man sich seine Wirklichkeit konstruiert hat, trägt nicht mehr. Dieser Einbruch ist für manche ein Schock, der lähmt. Er verändert das bisher gewohnte Leben.

Angesichts solcher Einschnitte in ihr alltägliches Leben und der zusätzlichen Anforderungen, die sie plötzlich zu bewältigen haben, ist es für Angehörige besonders schwierig, sich mit dem Inhaftierten auseinander zu setzen. Sie stehen vor der Aufgabe, ihre oft widerstreitenden und ambivalenten Gefühle ihm gegenüber anzuschauen und zu ordnen, um herauszufinden, ob sie die Beziehung weiterführen können und wollen.

Von solchen Lebensveränderungen durch eine Inhaftierung handelt dieses Buch. Die Erfahrungen Betroffener sind der Ausgangspunkt. Deren Fragen und Belastungen sind zur Zeit der Verhaftung andere als während der Untersuchungs- oder Strafhaft, der Prozess und die Einstellung auf die bevorstehende Entlassung stellen wiederum besondere Herausforderungen für alle Beteiligten dar. Deshalb werden die Erfahrungen der Angehörigen und die Auswirkungen auf die Beziehung zu dem Inhaftierten entlang des strafrechtlichen Verlaufs dargestellt.

Nicht selten kommen spezifische Schwierigkeiten hinzu: Eltern hadern mit ihren Schuldgefühlen, wenn ihr drogenabhängiger Sohn (oder ihre Tochter) im Gefängnis sitzt. Was ist schief gelaufen? Was hätte ich anders machen können? Hätte ich anders reagieren müssen?, so oder so ähnlich lauten ihre Fragen.

Familien ausländischer Gefangener verstehen das Strafverfahren und die Abläufe im Gefängnis oft nur unzureichend oder gar nicht. Sie sind sprachlich auf Hilfe angewiesen, müssen unter Umständen beim überwachten Besuch deutsch sprechen, obwohl sie es nicht ausreichend können. Manche fühlen sich ausländerfeindlichem Verhalten ausgesetzt. Vor allem aber bedroht eine Inhaftierung sehr oft das Bleiberecht des Verhafteten und damit auch das seiner Familie.

»Mein Papa ist im Gefängnis«, wird kaum ein Kind in der Schule sagen. Kinder verstehen schnell, dass es hier darum geht, ein Familiengeheimnis zu hüten, von dem die einen mehr, die anderen weniger Genaues wissen. Kinder können wegen der Inhaftierung eines Elternteils auffällig oder krank werden. Sie brauchen Menschen und Räume, die ihnen Platz für ihre Gedanken und Gefühle bieten und ihnen dabei helfen, mit der Situation umzugehen. Das Buch schildert die besonderen Problemfelder »Inhaftierung Abhängiger«, »Ausländische Straftäter und Bleiberecht« sowie »Kinder als Mitbetroffene« in Exkursen.

In den gesamten Text eingeflochten sind außerdem Gespräche mit verschiedenen professionellen Begleitern, die jeweils aus ihrer Perspektive zum Thema Angehörige von Strafgefangenen sprechen: so die Gefängnisseelsorgerin Astrid Borchers, der Rechtsanwalt Kai Mielke, der Bewährungshelfer Dieter Pabst, Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat, Serdar Saris von der Drogenberatungsstelle DROBS in Hannover und der Eheberater und Kinder- und Jugendlichenpsychoanalytiker Jochen Heim.

Zwei Welten

Die drinnen und die draußen

Gefängnis trennt die Angehörigen draußen von den Inhaftierten drinnen. Beide leben in eigenen Welten, die ineinander spielen, wenn über eine Inhaftierung Beziehungen aus dem Gleichgewicht gebracht und neu austariert werden müssen. Dazu ist es notwendig, erst einmal beide Seiten zu verstehen: den Knast mit seinen besonderen Gesetzmäßigkeiten einerseits und die persönlichen Beziehungen und das, was sie bisher zusammengehalten hat, andererseits.

Die Welt des Gefängnisses wird im Folgenden aus der Perspektive und dem Erleben einer Gefängnispastorin dargestellt. In einem Gruppengespräch erzählen Teilnehmer der Angehörigengruppe daran anschließend von ihren Beziehungen.

»Knast bedeutet, seine Verantwortung an der Außenpforte abzugeben.«

Astrid Borchers, Gefängnispastorin

Astrid Borchers ist Pastorin und arbeitet seit elf Jahren als Gefängnisseelsorgerin in der JVA Hannover. Mit ihr spreche ich oft über den Knast; darüber, was er für die Insassen bedeutet, über seine gesellschaftliche Funktion und seine Auswirkungen auf die familiären Bindungen der Gefangenen.

»Hexenhäuschen« fällt mir ein zu ihrem Haus, wo wir uns treffen. Ein bisschen verwunschen ist es dort, zeitlos. Wir sitzen draußen im Garten, in einem Sommeridyll mit Vogelgezwitscher und leichter Geräuschkulisse eines Sportfestes, das in der Nachbarschaft stattfindet. Wir reden über den Knast.

Gefängnisseelsorge, darin steckt »Seele«. Was macht der Knast mit dem »Innen«, mit der Seele von Gefangenen?

Ich glaube im Prinzip, dass die Seele nicht angreifbar ist, dass die Seele immer vollständig bleibt, egal, was einem Menschen passiert. Aber das ist mein Glaube. Die Auswirkungen von Haft sind allerdings ganz enorm. Die U-Häftlinge, aber auch die Strafhäftlinge, sind ja ihrer Umgebung entzogen, sie können nichts mehr selbstständig regeln. Es ist ein Gefühl von totaler Machtlosigkeit. Es geschehen Dinge mit ihnen, die sie nicht durchblicken und die für sie auch überhaupt nicht logisch sind. Aus der Sicht eines Gefangenen behandelt man ihn mit totaler Willkür. Und ich glaube, gerade das macht Knast aus. Sicher, das Innen bleibt letztlich unantastbar, aber es wird anzutasten versucht. Der ganze Mensch verändert sich da drin unheimlich. Wir sind alle ungeübt, mit uns selbst umzugehen. Das macht es doppelt schlimm.

Was genau verändert sich, was bewirkt der Knast?

Die Freiheitsstrafe ist gut und schön, aber was da drin passiert, ist unglaublich. Ich habe lange Zeit versucht, in verschiedenen Veranstaltungen zu vermitteln, was dort geschieht, aber das ist eigentlich nicht möglich. Zumindest macht Haft einen zum kleinen Kind. Noch schlimmer. Ein Kind darf schon mal etwas alleine machen, ein Gefangener aber überhaupt nichts. Der muss für jeden klitzekleinen Kram einen Antrag stellen und begründen, weshalb er etwas beantragt, egal, was es ist: eine neue Jacke oder ein neues Paar Turnschuhe oder das Radio von der Kammer oder was auch immer. Andere entscheiden darüber, ob er es dann haben darf. Er sitzt in seiner Zelle, 24 Stunden mehr oder weniger, und es wird über ihn entschieden. Knast bedeutet, seine Verantwortung, seine Eigenverantwortung, an der Außenpforte mit abzugeben. Wann man essen will, wann man Wäsche tauschen will: Dafür ist man nicht mehr verantwortlich. Das wird vorgegeben. Sämtliche Termine.

Gibt man auch seine Beziehungen an der Pforte mit ab?

Ja, unter anderem gibt man auch die Beziehungen und die eigene Lebenswelt mit ab. Und seine Beziehungen an der Pforte abzugeben, heißt Isolation, heißt die Dinge draußen nicht mehr im Blick zu haben. Der Familie geht es ja in der Regel nicht gut, wenn der Inhaftierte im Gefängnis sitzt. Aber von drinnen aus scheinen die Leute draußen unendlich frei zu sein und in der Lage, alles für ihn zu machen: neue Bettwäsche besorgen, Bücher kaufen, Ämtergänge, was auch immer. Sie sind ja frei. Im Knast idealisiert man die Außenwelt.

Der Inhaftierte merkt im Laufe der Zeit, dass er manches nicht mehr versteht. Wenn ich dann zum ersten Mal mit Gefangenen rausgehe, wundern sie sich zum Beispiel darüber, dass plötzlich jeder ein Handy hat. Diese Dinge, die für uns selbstverständlich sind, sind es für sie nicht mehr. Nichts ist mehr selbstverständlich.

Wie ist das, wenn sich dann Leute wieder sehen und wieder erleben, bei Ausgängen etwa?

Wenn ich mit Inhaftierten nach Hause gehe, bei einer Ausführung1 zum Beispiel, kommt es darauf an, wie stabil die Beziehung vorher gewesen ist. Auch darauf, welchen Bewusstseinsgrad Gefangener und Angehörige haben. Es hängt davon ab, wie alle Beteiligten mit der Gesamtsituation umgehen. Wenn die Chance dazu genutzt wird, kann es nach dem Einbruch, den die Inhaftierung verursacht hat, eine Weiterentwicklung geben. Aber das ist sehr schwierig. Außerdem kommen die meisten Gefangenen ja nicht aus begüterten intellektuellen Familien, sondern aus unteren Gesellschaftsschichten – da hat man die beste Voraussetzung, in Haft zu geraten –, und da gibt es, glaube ich, immer eine Entfremdung. Wie weit die geht, das weiß ich nicht im Einzelfall, aber im Spiel ist sie immer.

Werden die abgeschnittenen Beziehungen draußen im Knast durch Beziehungen untereinander ersetzt?

Es gibt den Versuch, diese fehlenden, abgeschnittenen Beziehungen im Knast zu ersetzen. Bis auf wenige total Hartgesottene sucht sich jeder zumindest einen Menschen, zu dem er eine Verbindung eingeht, in der das Wort Vertrauen ganz groß geschrieben wird. »Spannmann«, so nennt man das, von zusammenspannen: »Die spannen zusammen!«, das heißt, sie ziehen an einem Karren. Aber das Vertrauen geht nie so weit, wie man allgemein Vertrauen fassen würde. Es gibt immer eine gewisse Distanz. Schon allein, weil die Gefangenen immer wieder verlegt oder verschubt [in eine andere Haftanstalt verlegt, I. F.] werden und nicht lange zusammen auf einer Zelle oder einem Flur leben. Ich habe eine Gefangenen-Gesprächsgruppe, in der gilt: Was hier gesprochen wird, wird nicht nach außen getragen. Ich bin immer wieder geneigt zu glauben, dass zwischen den Gefangenen, die längere Zeit zusammen in einer Gruppe sind, ein großes Vertrauen herrscht. Bis ich wieder darauf gestoßen werde, dass dem nicht so ist – auch sie sind sich fremd und kennen noch nicht mal gegenseitig ihre Namen. »Du da, wie heißt du noch mal?«, fragen sie zum Beispiel auch noch, nachdem sie ein halbes Jahr gemeinsam in der Gruppe verbracht haben. Das ist bezeichnend für die Intensität von Kontakten. »Intensiv« bezieht sich im Knast nämlich meist auf die »Geschäftsebene«: »Hast du Tabak, hast du Kaffee, hast du dies, hast du das?« Es geht fast immer nur ums Haben. Sich zu erzählen, ob man eine Frau hat, ist schon sehr vertraulich. Wahrscheinlich liegt das daran, dass Angst und Argwohn im Knast so eine große Rolle spielen. Es kann ja alles auf irgendwelchen Wegen in die Akten gelangen. Da ist ein gesundes Misstrauen schon vonnöten. Das finde ich auch. Im Gefängnis gibt es also eine doppelte Isolation – nach drinnen und nach draußen –, die Einsamkeit ist unglaublich groß.

Wie kann man es schaffen, mit der doppelten Isoliertheit zurechtzukommen? Welche Voraussetzungen braucht man dafür?

Es ist so: Entweder kommen die Gefangenen in dieser Zeit der Einsamkeit auf ihren Grund und lernen, mit sich selbst umzugehen und sich mit bestimmten Fragen ihres Lebens wirklich auseinander zu setzen, oder sie gehen zugrunde. Tatsächlich gehen die meisten von ihnen zugrunde und sehen die Haft nur als vertane Zeit – das ist sie ja auch wirklich –, als eine Art Wartestand fürs Leben.

Die Voraussetzung, mit dieser Einsamkeit klarzukommen, ist nicht Bildung. Es ist auch nicht die Unbildung oder die geringe Bildung, die das Nichtklarkommen bedingt. Es ist die Unfähigkeit, mit Konflikten umzugehen, sich Hilfe an Land zu ziehen. Hilfe hätten diese Menschen auch schon vor der Haft gebraucht. Es ist ja meistens eine Notlage, auch materielle Not, die zu Raubüberfällen und ähnlichen Delikten führt. Ich will das nicht gutheißen, aber eine Straftat wird nicht begangen, weil ein Mensch böse ist, in den seltensten Fällen, sondern weil irgendeinem Missstand abgeholfen werden soll.

Gäbe es wünschenswerte andere Voraussetzungen draußen?

Ja, es wäre wünschenswert, wenn wir nicht nur im Knast, sondern allgemein in der Gesellschaft andere Voraussetzungen hätten, auf Schwierigkeiten zu reagieren. Die Unfähigkeit, mit ihnen umzugehen, spiegelt sich ja nur im Knast. In der Schule zum Beispiel müsste mehr auf Sozialintegration gesetzt werden, anstatt durch Aufforderungen wie »Lasst euren Nachbarn nicht abschreiben!« das Konkurrenzdenken zu fördern. Ich denke, wir müssen lernen, ganz anders miteinander umzugehen, diese gesamte Gesellschaft. Wir werden alle zu Einzelkämpfern herangezogen, aber Menschen sind in Wirklichkeit keine Einzelkämpfer.

Und die Angehörigen?

Deshalb ist es so wichtig, dass der Kontakt nach außen, zu Angehörigen, erleichtert wird. Es wäre zum Beispiel grundsätzlich mehr Besuch für alle Beteiligten sinnvoll. Auch Langzeitbesuche.2 Im Übrigen steht sogar in der Strafvollzugsordnung, dass die familiären Bindungen zu unterstützen sind. Dennoch erlebe ich immer wieder, dass der Knast dagegenarbeitet. Da werden Frauen gefragt: »Und Sie wollen wirklich so lange auf Ihren Mann warten? Überlegen Sie sich das gut.« Damit wird ihnen implizit gesagt: »Sieh zu, dass du von ihm loskommst.« Dabei bräuchten die Frauen mehr Unterstützung, jemanden, der ihnen sagt: »Halt zu ihm.«, oder: »Das ist durchzustehen, wenn du es wirklich willst!« Damit würde man ihnen zeigen, dass ihre Situation nicht ganz so dunkel und hoffnungslos ist, wie sie denken.

Bei der Kontaktaufnahme kommt es systembedingt und teils auch aus Willkür zu enorm vielen Schwierigkeiten und Hindernissen: Die Frauen kommen während der Telefonzeit am Nachmittag nicht durch, weil sehr viele von ihnen anrufen und die Leitung immer besetzt ist, oder weil der Beamte, der die Telefonate entgegennimmt, nicht anwesend ist. Ein Mann ruft auf der Frauenstation an und bittet den Beamten, seiner Frau in U-Haft etwas mitzuteilen, der aber richtet es ihr nicht aus.3 Eine Frau verspätet sich beim Besuchstermin und wird nicht mehr reingelassen, so dass der Besuch nicht stattfindet. Und wenn sie dann am Telefon durchkommt, wird ihr womöglich gesagt: »Der ist jetzt gerade nicht da«, obwohl er danebensteht und auf den Anruf wartet. Irgendwann glauben die Frauen nicht mehr, dass das System an diesen Dingen schuld ist und verdächtigen ihre Männer. Deshalb wäre eine Art Beistand von Leuten wichtig, die das System kennen.

Was bedeutet das alles, bezogen auf die drinnen und die draußen?

Die Trennung ist letztlich eine Illusion: Im Knast ist nur das versammelt, was draußen auch ist, nur eben ganz sichtbar und knallhart. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass da drin das versammelte Böse ist und wir deshalb draußen sicherer sind. Nein, das Böse ist unter uns. Unsere falschen Vorstellungen über den Knast machen es uns nur leicht, daran zu glauben, dass wir selbst zu den Guten gehören. Auf den Einzelnen bezogen heißt das, jeder ist nicht weit vom Verbrechen entfernt. Jeder hat schon mal gedacht: »Den könnt’ ich jetzt umbringen«, und manchmal ist der Schritt von dem Gedanken zur Tat nicht so weit.

Am Anfang war Beziehung. Ein Gruppengespräch

Kernstück meines Beratungs- und Begleitungsangebotes für Angehörige von Gefangenen in Hannover war ein regelmäßig stattfindendes, offenes Gruppenangebot. Unter den Teilnehmern waren Partnerinnen und Ehefrauen, aber auch Eltern und eine Schwester. Einige von ihnen werden in diesem Buch immer wieder zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen berichten.* Ich erinnere mich an die Anfangszeit der Gruppe:

Es ist Freitagabend. Vor der Eingangstür der Familienbildungsstätte stehen drei Frauen. Eingezogene Schultern, den Mantel möglichst eng am Körper. Es ist kalt draußen. Eine Zigarette, bevor es losgeht, zum Anwärmen. Etwas abseits ein Mann, er tritt von einem Bein auf das andere. Ich gehe zu ihm und frage: »Haben Sie heute Morgen bei mir angerufen? Schön, dass Sie gekommen sind.«

Ehepaar Marcs parkt mit dem Auto direkt vor der kleinen Versammlung. Fred geht auf mich zu, begrüßt mich: »Sie sind schlank geworden und Ihre Haare haben Sie geschnitten, oder?« Seine Frau, Grazyna, gibt mir die Hand und sagt: »Ich war krank, alles furchtbar. Aber es wird schon besser«, sie seufzt. Rita begleitet die beiden ins obere Stockwerk. Sie hat den Schichtdienst im Krankenhaus getauscht, um zu kommen. Als alle sitzen, klingelt es. »Ich darf doch noch kommen? Das letzte Mal habe ich keinen Babysitter bekommen. Aber heute klappt’s.« Noch außer Atem, beginnt Anita intensiv mit Iris zu reden. Sie ist die Schwester, Iris die Freundin von Bernd.

Die Gruppe der Angehörigen trifft sich einmal im Monat in den Räumen der Katholischen Familienbildungsstätte, kostenfrei. Jeder kann kommen. Die Teilnahme verpflichtet zu nichts, keiner muss sich outen, Verschwiegenheit ist oberstes Gebot: eine so genannte niedrigschwellige offene Gruppe. Die Schwelle ist für viele trotzdem hoch: Vom Wahrnehmen des Werbeplakates im Besuchsraum der JVA bis zu einem Telefonat oder dem Entschluss, einfach zu kommen, können Wochen vergehen. Manchmal ist das dann, wenn sich in der Situation irgendetwas zuspitzt. Vor oder während der Verhandlung zum Beispiel. Andere kommen »mitgebracht« oder im Anschluss an Einzelgespräche.

Im Gruppenraum sind die Tische an die Seite gerückt, darauf ausgelegt ein paar Informationen: die neueste Knastzeitung, ein paar Bücher und Artikel zum Thema. Tee, Kaffee und Kekse. »Bin ich eigentlich blöd, dass ich die ganze Zeit dahin fahre, über hunderte von Kilometern? Und jetzt das. Ein feiger Kerl, weiter nichts. Rennt vor seinen Gefühlen davon«, Iris weint, »oder hab’ ich mir nur eingebildet, dass er mich liebt?« Die 45-Jährige hat Bernd über eine Kontaktanzeige kennen gelernt. Die Tatsache, dass beruflich alles lief, sie im Einzelhandel gut im Geschäft war, konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie einsam war. Bernd war für sie der Mann, der ihr das gab, was sie so lange vermisst hatte: Wärme, Zuneigung, Akzeptanz, Spaß, Sex. Iris sagt: »Ich bin eine andere Frau geworden; 20 Kilo hab’ ich abgenommen, ich brauchte keine Chips mehr. Albern waren wir und haben nächtelang durchgeredet. Der wollte sich damals nur mit mir treffen. Die anderen Zuschriften hat er gleich weggeworfen. Ich kenne das anders. Ich stand auch schon allein gelassen da. Bei ihm war das alles anders.« Als Bernd inhaftiert wird, bricht diese Welt zusammen. Iris überlegt lange, ob sie zu ihm stehen will, wer er eigentlich für sie ist. Sie möchte die Kraft haben, ihm zu helfen, mit »der Sache« klarzukommen. Sie möchte die Intensität der Beziehung retten, schreibt fast täglich Briefe. Darin gießt sie ihre Gefühle aus; sie schickt Geld, sie kauft Zigaretten, befasst sich mit ihm, mit seiner Familie. Sie tut das alles, weil sie nicht anders kann. Weil sie ihn liebt? »Der Kerl schreibt mir einfach, dass ich ihn in Ruhe lassen soll. Er korrigiert meine Briefe mit Rotstift. Vor allem die Sätze, in denen ich ihn bitte, eine Therapie wegen seiner Sucht anzustreben. Das will er nicht hören. Die Wahrheit hält er nicht aus. Mein Geld und die Briefmarken, die ich ihm geschickt habe, hat er versetzt. Der ist wieder drauf, und ich kann ihm nicht helfen«, erzählt Iris.

Bernds Straftat steht in Zusammenhang mit Alkohol, Tabletten und Drogen. Ein versuchter Totschlag. Im Suff. Iris hatte vor der Inhaftierung nicht wahrhaben wollen, dass Bernd professionelle Hilfe brauchte. Wenn sie ihn betrunken vorfand, ging sie. Als er im Schwimmbad einmal fast kollabierte, rettete sie ihn und bagatellisierte den Vorfall. Sie glaubte an die Überwindung seiner Sucht durch »Liebe«, versuchte, ihre Gefühle auszudrücken und wollte ihm helfen, sich ebenfalls zu öffnen. Auch nach den Ursachen seiner Abhängigkeit suchte sie, setzte sich mit seiner Familie auseinander und bot ihm andere Beziehungsmuster an.

Bernds Schwester Anita nickt, als Iris sagt, dass sie sich betrogen und benutzt fühle: »Das war schon immer so bei ihm. Aber er ist auch ein prima Kerl, mein Bruder. Der hat von vornherein viel Mist gebaut, aber ich halte zu ihm. Das ist es ja, was uns alle hier zusammenbringt. Wir lieben die da drin und eigentlich haben sie es gar nicht verdient. Aber wir lieben sie und verstehen das selbst nicht. Sonst würde man das ganze Theater doch gar nicht mitmachen.« Anita ist jung, Anfang 20. Dass ihr Bruder inhaftiert wurde, ist für sie nicht weiter verwunderlich: »Er war von Anfang an das schwarze Schaf in der Familie. Er war trotzdem mein Idol, immer schon.« Anitas Familie kommt aus der Ukraine. Was zählt, ist der Familienzusammenhalt und das Geld. Der Vater sagt, wo’s langgeht. Dass er trinkt und früher manchmal auch gewalttätig war, wird verschwiegen. Auch dass die Kinder sehr oft alleine waren, weil Vater und Mutter arbeiteten, manchmal jeder in zwei Jobs. Ein Häuschen an der deutsch-polnischen Grenze ist das Lebensziel der Familie. Der Bruder aber ging eigene Wege, und seine Schwester bewundert ihn nach wie vor.

Der Mann, der vormittags anonym angerufen hatte, beobachtet zunächst das Geschehen. Mitte 50 schätze ich ihn, verschränkte Arme, getriebener Blick, schwarze Kleidung, Dreitagebart. Plötzlich drängt es ihn zu reden: »Ich kann gar nicht erklären, wie unsere Beziehung ist. Sie ist einfach nur besonders. So etwas hatte ich noch nie erlebt.« Und weiter: »Ich schreibe ihr täglich Briefe. Liebesbriefe. Mehrere Seiten, und ich weiß immer, was ich schreiben will. Sie auch. Die Leute lachen über mich. Man sagt, ich könne doch ihr Vater sein, aber das ist es nicht, was mich an ihr reizt. Meine Steffi ist wunderbar, eine wunderbare Frau. Warum sie das getan hat, weiß ich nicht. Sie weiß es auch nicht, ich habe sie gefragt. Aber sie ist keine Mörderin. Wenn ich sie wieder bei mir habe, bin ich ein alter Mann. Ich liebe sie.«

Werners Geschichte ging zwei Tage vorher durch die Presse: die Verurteilung einer jungen Frau als Kindesmörderin. In der Verhandlung gab sie an, sie habe die Beziehung zu ihrem Lebensgefährten, einem 59-jährigen Manager, nicht gefährden wollen. Deshalb habe sie zwei Schwangerschaften vertuscht und die Babys getötet. Die Berücksichtigung »seelischer Motivlagen scheiterte an der strengen Sachbezogenheit des Richters«, so die Presse. Betroffenes Schweigen in der Gruppe.