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Meir Shalev

Der Junge und
die Taube

Roman

Aus dem Hebräischen von
Ruth Achlama

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2006 bei

Am Oved Publishers Ltd., Tel Aviv,

erschienenen Originalausgabe:

›Jona we-Na’ar‹

Copyright © 2006 by Meir Shalev

Die deutsche Erstausgabe erschien 2007

im Diogenes Verlag

Covermotiv: Gemälde von Stéphanie de Malherbe,

›Cadaques II‹, November 2011

Öl auf Leinwand 100 x 50 cm

Copyright © Stéphanie Malherbe

 

 

Für Zohar und Michael

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23945 4 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60381 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Erstes Kapitel

1

»Und auf einmal«, sagte der alte Amerikaner im weißen Hemd, »flog über diese Hölle hinweg eine Taube.«

Stille trat ein. Sein unerwartetes Hebräisch, die Taube, die seinem Mund entflogen war, überraschte alle Anwesenden. Auch die, die nicht verstanden, wovon er redete.

»Eine Taube? Was für eine Taube denn?«

Der Mann, großgewachsen und sonnengebräunt, wie nur Amerikaner bräunen und wachsen können, mit Mokassins an den Füßen und einer weißen Löwenmähne auf dem Kopf, deutete auf den Klosterturm. Es sei lange her, aber ein paar Dinge erinnere er noch von dem furchtbaren Gefecht, das hier stattgefunden habe. »Und die werde ich nie mehr vergessen«, verkündete er. Nicht nur die Müdigkeit und das Grauen, nicht nur den Sieg – »ein Sieg, der beide Seiten überraschte«, bemerkte er –, sondern auch die Details, deren Bedeutung erst hinterher zutage trat: Zum Beispiel, daß gelegentlich eine verirrte oder vielleicht auch gezielte Kugel die Klosterglocke traf – »genau diese Glocke da« – und die Glocke dann immer wieder zu läuten begann, mit einem scharfen, merkwürdigen Klang, der verebbte und verwehte, aber im Dunkeln noch lange nachhallte.

[6] »Und die Taube?«

»Ein seltsamer Klang, erst hoch und scharf, als wäre auch die Glocke überrascht, dann immer schwächer, weh, aber nicht tot, bis zum nächsten Einschlag. Und einer unserer Verwundeten sagte: ›Glocken sind gewohnt, die Schläge von innen zu bekommen, nicht von außen.‹«

Und er lächelte vor sich hin, als verstehe er erst jetzt, entblößte die Zähne, die wiederum so weiß waren, wie nur die Zähne alter Amerikaner weiß strahlen können.

»Aber was ist mit der Taube? Was war das für eine?«

»Eine homing pidgeon. Neunundneunzigprozentig. Eine Brieftaube der Palmach. Die ganze Nacht dauerte unser Kampf, und am Morgen, zwei, drei Stunden nach Sonnenaufgang, sahen wir sie plötzlich auf- und davonfliegen.«

Das Hebräisch, das er ohne Vorwarnung verwendete, war gut, trotz des Akzents, aber der englische Begriff homing pidgeon klang schöner und richtiger als der hebräische Ausdruck ›Brieftaube‹, selbst wenn sie zur Palmach gehörte.

»Woran habt ihr das erkannt?«

»Man hatte uns einen Taubenzüchter mitgeschickt. So was gab es ’48 noch beim Militär. Einen Fachmann für Tauben mit einem kleinen Taubenschlag auf dem Rücken. Vielleicht hat er sie gerade noch fliegen lassen können, ehe er sein Leben aushauchte, oder vielleicht ist der Schlag zerbrochen, und sie hat die Flucht ergriffen.«

»Er ist umgekommen? Wie denn?«

»Fehlte es hier etwa an möglichen Todesursachen? Man brauchte es sich bloß auszusuchen: durch eine Kugel, durch Granatsplitter – an den Kopf, in den Bauch, in die große Schlagader am Oberschenkel. Manchmal sofort und [7] manchmal ganz langsam, Stunden, nachdem man was abbekommen hatte.«

Seine honigfarbenen Augen fixierten mich. Er kicherte: »Stellen Sie sich das mal vor, wir sind mit Brieftauben ins Gefecht gezogen, wie im antiken Griechenland.«

2

Und auf einmal, über jener ganzen Hölle, sahen die Kämpfer eine Taube. Aus den Rauchschwaden geboren, den Staubschleiern entflohen, schwang sie sich himmelwärts. Hinweg über Röcheln und Schreie, über das Sirren der Splitter in der kühlen Luft, über die heimlichen Wege der Kugeln, über Granatenknall und Maschinengewehrbellen und Kanonendonner.

Dem Anschein nach eine einfache Taube. Blaugrau mit karmesinroten Beinen, zwei dunkle Tallitstreifen zierten die Schwingen. Eine Taube wie alle anderen, ähnlich wie tausend ihrer Artgenossinnen. Nur das Ohr des Fachmanns hörte den kräftigen Flügelschlag, doppelt so stark wie der einer gewöhnlichen Taube. Nur seine Augen erkannten die breite, tiefe Brust, den Schnabel, der die Stirnschrägung in gerader Linie fortsetzte, die typische helle Wachshaut an der Oberschnabelbasis. Nur das Herz des Liebhabers konnte ermessen und erfassen, welch angestaute Sehnsüchte ihr die Richtung wiesen und Kräfte verliehen. Aber seine Augen waren bereits erloschen, seine Ohren taub geworden, sein Herz entleert und still. Es blieben nur sie, ihr Heimweh, sein letzter Wunsch.

[8] Aufwärts. Hinweg über Blut, Feuer und Rauch. Über die Verwundeten, deren Körper durchlöchert, verstümmelt, versengt, gelähmt waren. Über die, die ihren Leib gerettet hatten, aber deren Seele erlöschen würde. Über die, die tot waren und Jahre später, beim Tod derer, die sich an sie erinnerten, ein zweites Mal sterben würden.

Aufwärts. Hoch und höher. Weit weg von hier. Bis die Schüsse zum schwachen Tackern abflauen und die Schreie verstummen und der Geruch verweht und der Rauch sich legt und die Toten einander gleich werden und die Lebenden von ihnen scheiden und ihrer Wege gehen, rätselnd: Was war ihr Verdienst? Und ihre Kameraden, die vor ihnen lagen, wessen waren sie angeklagt? Und dann – ein rascher Blick ringsum und heimwärts. Geradeaus, wie Brieftauben heimkehren. Nach Hause. Pochenden, aber mutigen Herzens. Die erschrockenen, jedoch weit offenen goldenen Augen übersehen kein hilfreiches Landschaftsdetail. Durchsichtige Zweitlider schützen sie gegen Blendung und Staub. Den kurzen gerundeten Schwanz ziert ein weiterer schmaler Streifen, der auf alten Damaszener Adel verweist. Der kleine, runde Kopf steckt voll Sehnsucht und Erinnerungen: Schlag, Zelle, das Gurren des Partners, warmer Nest- und Brutgeruch. Die Hand einer jungen Frau fährt über die Futterkrippe, das Rasseln ihrer Körnerdose ruft sie, ihr Blick sucht den Himmel ab, erwartet sie, ihre Worte – »komm-komm-komm« – laden ein und geben Landehilfe.

»Nicht nur ich. Wir alle haben sie gesehen«, sagte der alte Amerikaner, »und anscheinend auch die von der anderen Seite. Denn einen Moment verstummten alle Waffen, unsere wie ihre. Kein Lauf ballerte, keine Granate krachte, alle [9] Münder hörten auf zu schreien, und es war dermaßen still, daß wir ihre Flügel in der Luft schlagen hörten. Und einen Moment begleiteten sie aller Augen und Zeigefinger bei dem, was wir alle gern getan hätten: heimkehren. Nach Hause.«

Jetzt war er schon sehr erregt. Ging auf und ab. Fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die wallende weiße Mähne: »Genau das ist sie doch. Eine homing pidgeon. Das ist alles, was sie will, und alles, was sie kann. Sie startete, verzichtete auf den Bogen, den Brieftauben, laut den einschlägigen Büchern, oft beschreiben, um die richtige Richtung anzupeilen, und flog ohne Zögern los. Pfeilgerade, Richtung Nordwest, wenn ich mich nicht täusche, ja, der Uhr und der Sonne nach, irre ich mich nicht. Geradewegs dorthin, und Sie werden nicht glauben, wie schnell sie verschwunden war.«

In Sekunden, von Sehnsucht zur Höchstgeschwindigkeit angetrieben, auf und davon. Die geöffnete Hand sank nieder, der Blick begleitete, die Glocke vibrierte noch, wollte nicht ersterben. Ihre, der Glocke, letzten Klänge verrannen ins ferne Meer der Stille, und ihr, der Taube, Graublau verschwamm im gleichfarbigen Horizont, und schon war sie weg. Und drunten legten sich die Finger wieder an die Abzüge und die Augen an die Visiere, begannen die Gewehrläufe erneut zu donnern und die Münder zu stöhnen und aufzuklappen und nach Luft zu schnappen, zu schreien und ihre letzten Züge zu tun.

Nun wendete sich der Mann an seine Gefährten. Ging wieder zu amerikanischem Englisch über, schilderte, erklärte, zeigte »ungefähr dort, hinter den Kiefern« und [10] »genau da«. Erzählte von einem irakischen Panzerwagen, der »hier rumkurvte, als wäre er hier der Hausherr, mit Maschinengewehr und Geschütz«. Deutete mit der Geste eines jovialen Gastgebers: »Auf der Dachecke da habe ich mit dem Maschinengewehr gelegen. Aber in dem Haus dort drüben saß ein Scharfschütze, und der hat mir eine Kugel verpaßt.«

Und schon bückte er sich mit für sein Alter beachtlicher Geschmeidigkeit, krempelte ein Hosenbein hoch, zeigte zwei helle Narben zwischen Knie und Knöchel: »Hier, da. Die kleine ist das Eintritts-, die große das Austrittsloch. Und unser Sprengstoffpionier hat mich auf dem Rücken runtergetragen, ist wieder aufs Dach gestiegen, um mich abzulösen, und hat eine Mörsergranate abgekriegt.« Und zum Hebräischen zurückkehrend, das nur ich verstand: »Er war ein noch größerer und robusterer Kerl als ich. Ein wahrer Hüne, der Ärmste. Es hat ihn in zwei Stücke gerissen, und innerhalb einer Sekunde war er tot.«

Er erzählte und erzählte, ließ die Erinnerungen frei, die so lange in seinem Innern festgesessen hatten. Sollten sie ein wenig Luft schöpfen und die Knochen strecken, ihren Entstehungsort erblicken, debattieren und vergleichen: Welche war verwandelt? Welche nie gewesen? Welche lohnte es sich zu bewahren und welche nicht mehr?

»Und der junge Mann, der die Tauben mitgebracht hatte?« beharrte ich. »Der Taubenzüchter, den Sie erwähnten? Sie sagten, er sei umgekommen. Haben Sie gesehen, wo genau?«

Die Augen blickten mich wieder an, gelbe Löwenaugen. Eine große, sonnengebräunte Hand landete auf meiner [11] Schulter, eine weitere große, sonnengebräunte Hand fuhr deutend in die Höhe: Altersflecken auf dem Rücken, manikürte Nägel, eine schmucke silberne Seemannsuhr am Handgelenk, der gebügelte weiße Hemdsärmel aufgekrempelt. Eine Hand, die man sich gut an einem Gewehrkolben, aber auch auf dem Kopf eines Enkels vorstellen kann, eine, die auf den Tisch zu hauen vermag und sich mit Taille und Schenkel auskennt.

»Da.«

Eine gute und wohltuende Kraft durchströmte mich unverhofft, als seien es Vateraugen, die den Sohn anschauen, als sei es eine Vaterhand, die vom Kopf zur Schulter streicht – leitet, Stütze und Kraft verleiht.

»Wo da? Zeigen Sie’s mir genau.«

Er beugte sein weißes Haupt zu mir nieder, wie alle Großen meines Lebens es tun, wenn sie mit Kleinen reden: »Dort. Zwischen dem Rasenrand und den Kindern auf den Schaukeln, sehen Sie? Dort stand ein steinernes Häuschen, zwei mal zwei Meter, nicht mehr, ein Geräteschuppen des Gärtners. Wir hatten uns alle im Innenhof und in den Räumen des Klosters konzentriert, die vom zweiten Bataillon Übriggebliebenen lagen in dem Gebäude da über der Gasse verschanzt, und der Panzerwagen knallte jeden ab, der auch nur die Nasenspitze rausstreckte. Aber dieser Taubenzüchter kam raus, weiß der Teufel, wie und warum, und gelangte irgendwie dorthin, und da fanden wir ihn auch, als alles vorüber war.«

[12] 3

Ich hielt es dort nicht mehr aus, führte sie hastig zurück zu ›Nilpferd‹ – so nennt meine Frau den großen Chevrolet Suburban, den sie mir gekauft hat –, und wir fuhren hinunter zur Deutschen Kolonie.

Jetzt spürte ich meine Müdigkeit. Eine kleine Gruppe kann mehr nerven und fordern als eine ganze Busfuhre Touristen. Unser Tag hatte in Tel Aviv angefangen, war in Kibbuz Hulda mit der Geschichte des nach ihm benannten Konvois weitergegangen, hatte bei einem leichten Sandwich-Imbiß am Wachturm Har’el angehalten und war dann auf und ab über den Jeep-Weg und die Burma-Straße zum ›Kamm‹ und zu den befestigten Stellungen am Scha’ar Hagai fortgeschritten, zu noch mehr Erläuterungen und noch mehr Ausblicken.

Von dort hatte ich sie zum Friedhof in Kirjat Anavim geführt, und weiter ging es hinauf nach Jerusalem, zu dem Kloster und der überraschenden Tatsache, daß der älteste der sechs Amerikaner, die ich fuhr und führte – ein Senator, sein Sekretär, sein Berater und drei Geschäftsleute, allesamt Gäste des Außenministeriums –, einst in der Palmach gedient und an eben dem Gefecht teilgenommen hatte, das ich ihnen zu schildern suchte, und weiter zu der noch größeren Überraschung: zu der Brieftaube, die unversehens den Schlägen seines Gedächtnisses entflogen war.

»Haben Sie ihn gekannt?« fragte ich.

»Wen?«

»Diesen Taubenzüchter, von dem Sie vorhin erzählten.«

Sein Gesicht füllte ›Nilpferds‹ Innenspiegel. »Nicht [13] wirklich, er gehörte nicht zu den kämpfenden Kameraden. Er war zu uns gestoßen, um den Taubenschlag der Brigade einzurichten. Es hieß, er sei ein erstklassiger Fachmann, habe sich von Kind auf mit Tauben beschäftigt.«

Seine Augen ließen nicht locker, krallten sich an mir fest wie Kapernwurzeln. »Auch seinen Namen habe ich nicht in Erinnerung. Es sind damals noch mehr Kameraden gefallen, und es ist viele Jahre her.«

An der Ampel am Friedhof der Deutschen Kolonie bog ich links ab, und da die Straße von Autos und Menschen wimmelte, nutzte ich die langsame Kriechtour dazu, unterwegs meine Waren auszubreiten: Gespenster, Philister, Engländer, Deutsche – »meine Herren, beachten Sie bitte die Bibelverse, die auf den Türstürzen eingemeißelt stehen. Und dort ist der alte Bahnhof von Jerusalem, jetzt ist er stillgelegt, aber als Kind bin ich mit meiner Mutter von hier nach Tel Aviv gefahren, mit einer Dampflok, kaum zu glauben, nicht wahr?«

Die Bahn ratterte langsam dahin, quietschte in den Schienenkurven des trockenen Bachbetts. Ich erinnere mich noch an die gepflegten kleinen Beete der Araber jenseits der Grenze, an den Seifenschaum, der sich in den Abwässern türmte. Der Luftzug wehte Staubkörner von der Lokomotive herein, und du schütteltest ihn aus deinem Haar und freutest dich: Wir fahren nach Hause, nach Tel Aviv…

Der Duft von Brot, hartem Ei und Tomate, die du immer als Proviant mitnahmst, steigt mir wieder in die Nase. Meine Stirn zuckte damals ängstlich – wie jetzt, da ich die Dinge niederschreibe – vor deinem Standardspiel, das harte Ei daran aufzuklopfen und lachend »patsch!« zu sagen. Ich [14] war jedesmal verblüfft, und du hast gelacht. Und dann deine Finger, die mit dem Papier raschelten, eine Prise Salz nahmen und verstreuten, und dein kleines Lied: »Die Lokomotive pfeift schon laut, wer nicht sitzt, der kommt nicht mit…« So hast du gesungen, und je weiter Jerusalem zurückblieb, desto breiter wurde dein Lächeln. Ein Lächeln der Freude und Zufriedenheit: nach Hause. Nach Tel Aviv.

Ja, sie glaubten mir. Warum auch nicht? Die bestens organisierte Tour, die belegten Brötchen, die samt Kaffee und Saft pünktlich an den vereinbarten Orten warteten, verliehen auch den Erinnerungen und Erklärungen des Fremdenführers Nachdruck und Glaubwürdigkeit. Auf der Terrasse der Cinemathek war der reservierte Tisch ebenso zur Stelle wie der versprochene Sonnenuntergang und das Panorama. Das ist der Zionsberg, dort befindet sich das Davidgrab, falls jemand Interesse an derlei Stätten und Geschichten hat, und an der Kreuzung unterhalb liegt der Sultansteich mit einem Trinkbrunnen zum Wohl aller Müden und Durstigen.

Und da drüben glühen die Bergzüge von Moab im letzten Abendschein. »Ja, so nah, zum Greifen nah. Dort stand Moses auf dem Berg Nebo und blickte hierher. Er dachte auch, es sei sehr nah, aber von der anderen Seite.«

»Vielleicht ist das euer wahres Problem«, bemerkte einer der Geschäftsleute in unserer Gruppe – er trug eine lächerliche Safari-Weste mit vielen Taschen, wie sie ausländische Touristen und Journalisten gern auf Nahostreisen anziehen –, »hier ist alles so klein und nah und vollgestopft, und von überall sieht man noch und noch Orte.«

Und der Fremdenführer – das bin ich, Mutter, [15] wohlgemerkt – erwiderte »sicher« und lobte »sehr richtig«. Wirklich sehr klein und vollgestopft mit Menschen und Ereignissen und Erinnerungen, »typisch jüdisch, würde ich sagen«, und mixte nun Geschichte und Etymologie, Dichtung und Wahrheit, zeigte das Ben-Hinnom-Tal und erzählte vom Filmfestival und von den Gräbern der Karäer und vom furchtbaren Baalskult – wer hat kalten Kaffee bestellt? – »Die kleinen Opfer schreien auf den Altären.«

Bei Einbruch der Dunkelheit kutschierte ich meine hochkarätige kleine Gesellschaft zum King-David-Hotel. Dort sollte ein wichtiger Knessetabgeordneter mit ihnen speisen– »gerade einer von der Opposition«, wie der Programmchef vom Außenministerium betont hatte – und danach würde er eine Ansprache halten und Fragen zum Tagesgeschehen beantworten, »denn der Minister ist nicht nur einverstanden, der Minister besteht sogar darauf, daß sie auch abweichende Meinungen zu hören bekommen«.

Ich ging in das für mich reservierte Zimmer hinauf – nicht alle Gruppen sind so spendabel wie diese –, duschte und rief zu Hause an. Sechs Klingelzeichen und große Erleichterung: keine Antwort. Liora ist nicht zu Hause. Oder sie ist doch da, weiß aber, daß ich es bin, und hebt lieber nicht ab. Oder vielleicht hat der Telefonapparat auch diesmal den Anrufer erkannt und es auch diesmal vorgezogen, ihn schweigend zu ignorieren.

»Hallo…«, sagte ich, »hallo…«, und dann: »Liora? Ich bin’s. Wenn du da bist, sei bitte so gut und antworte.«

Aber meine eigene Stimme antwortete mir in höflichem und sachlichem Ton: »Hier sind Liora und Jair Mendelsohn, wir können im Moment nicht antworten«, und nach meiner [16] Stimme – ihre Stimme. Ungeduldig und fesselnd mit ihrem heiseren Englisch: »Nachrichten nach dem Signal.«

Ich legte auf und rief Tirzas Handy an. Tirza meldet sich nicht mit »Hallo«. Mal sagt sie »Ja«, mal »Moment, bitte«, und dann kann ich hören, wie sie ihren Leuten sagt, sie sollten zuhören und ihren Spaß haben.

»Ich bin ganz Ohr«, sagte sie.

»Vielleicht kommst du rauf nach Jerusalem, Tirale. Sie haben mir hier ein zu großes Bett gegeben und dazu Vollmond und ein Fenster zur Stadtmauer.«

»Bist du’s, mein Lihieber? Ich dachte, es wäre der nervende Ingenieur von Straßenbau Süd.«

Tirza benutzt meinen Namen nicht. Manchmal nennt sie mich »Irale«, wie ihr Vater es tat, als wir Kinder waren, damit er »Da sind ja Irale und Tirale« ausrufen konnte, wenn er uns zusammen sah, und manchmal nennt sie mich zärtlich »mein Lihieber«, mit einem extra »hi«.

»Ich bin’s. Ein anderer Störenfried.«

Sie lachte. Jetzt ist sie endgültig überzeugt: Es ist nicht jener Störenfried, sondern dieser. Und wenn Tirza lacht, bin ich froh: Das schallende Lachen kommt meinetwegen, ich darf es als Kompliment verbuchen.

»Wo bist du?«

»Im King-David-Hotel. Also kommst du?«

Sie lachte wieder. Es sei wirklich ein schönes Angebot, eindeutig, sie und ich und das Bett und das Fenster mit Mond und Mauern, ein sehr verlockendes Angebot, aber am nächsten Morgen stehe ihr ein großer Betonguß in der Haifaer Bucht bevor, und sie habe zwei Termine mit den Leuten vom Verteidigungsministerium, dem Blödmann vom [17] Bauressort und dem netten Typen vom Finanzbereich. »Und ich hoffe, wir finden auch Zeit, uns in unserem Haus zu treffen, denn dort stehen ein paar Entscheidungen an.«

Ich ignorierte das ›unser‹, fragte nur, welche Entscheidungen.

»Das Übliche. Farben, Fliesen, Fensterrahmen. Mach dir keine Sorgen. Ich entscheide. Du sollst nur dabeisein.«

»Morgen. Dann bin ich mit diesen Amerikanern durch und komme.«

»Wie sind sie?«

»Du wirst es nicht glauben. Einer von ihnen war bei der Palmach.«

»Lihiebst du mich?«

»Ja und ja«, beantwortete ich auch gleich ihre nächste Standardfrage: »Sehnst du dich nach mir?«

»Möchtest du hören, wie wir mit der Renovierung sonst noch vorangekommen sind?«

»Ich muß dir erzählen, was dieser Mann plötzlich erzählt hat.«

»Geschichten nur im Bett. Vorm Einschlafen.«

»Ich liege im Bett.«

»Wir beide. Nicht nur du. Morgen nacht. Wir weihen den Vollmond ein, und du erzählst mir alles. Und hol mir ein Omelette-Sanwisch von Glicks Imbiß. Sie sollen mir viel Salz drauftun und den scharfen Paprika etwas ansengen, und sag ihnen, daß es für mich ist. Vergiß es nicht. Für die Tochter von Meschullam Fried!«

Ich zog mich an, warf einen Blick in den Spiegel und beschloß, das Abendessen, den wichtigen Knessetabgeordneten von der Opposition und seine abweichenden [18] Meinungen sausen zu lassen. Zog mich aus, kehrte in das übergroße Bett zurück, döste gereizt und flach angesichts des Mondes und der Mauern, erwachte müder als zuvor, zog mich an und ging hinunter zur Bar.

4

Der alte Löwe lauerte angespannt und wohlduftend auf einem Sessel in der Ecke, Augen und Uhr funkelten im Halbdunkel, die frisch gewaschene weiße Mähne krönte tiefe Runzeln und buschige weiße Augenbrauen.

»Ich habe auf Sie gewartet.« Er stand auf, sei es aus Höflichkeit, sei es zur Betonung seiner Überlegenheit – an Jahren, Körpergröße, Wissen. Seine Augen hatten gesehen und meine Augen nicht. Seine Ohren hatten gehört und meine Ohren mutmaßten. Sein Gehirn barg Regale voller Erinnerungen, mein Gehirn haufenweise Vermutungen.

»Man hatte mir eine wichtige Delegation aus Amerika angekündigt«, sagte ich. »Es war nicht die Rede davon, daß auch ein Mann von der Palmach dabeisein würde.«

»Ich möchte Ihnen danken«, sagte er, »ich hatte die meisten dieser Orte seit damals nicht wiedergesehen und fürchtete, es würde schwer für mich werden.«

»Gewiß nicht so schwer wie seinerzeit, im Krieg.«

»Sie werden sich wundern, aber in mancher Hinsicht war es damals leichter. Ich war ein junger Hengst, kriegsfreudig, wie man so sagt: Zu allem bereit – schnell verheilt. So wie der Krieg seine Soldaten gern hat: ohne Bauch und ohne Verstand und ohne Kinder und ohne Erinnerungen.«

[19] »Und wo war es heute schwerer? Auf dem Friedhof oder im Kloster?«

»Im Kloster. Auf dem Friedhof gibt es auch was Gutes: Ich lebe, und sie sind tot. Früher fühlte ich mich schuldig, jetzt nicht mehr.«

»Er liegt auch dort begraben«, sagte ich.

»Wer?«

»Der Junge, von dem Sie heute erzählt haben, der Taubenzüchter, der getötet wurde.«

»Das Baby!« rief der Mann. »Seinetwegen warte ich hier auf Sie. Um Ihnen zu sagen, daß es mir wieder eingefallen ist. Alle nannten ihn ›das Baby‹.«

»Und kommt Ihnen mit dem Namen auch sein Gesicht wieder?«

»Seine Gesichtszüge kaum, aber seine Gestalt. Ein wenig verschwommen, nicht in allen Einzelheiten, doch er ist es. Er hieß ›das Baby‹, weil er klein und dicklich war und einer aus der Jordansenke gesagt hatte, so habe man ihn auch in der gemeinsamen Schule und in seinem Kibbuz genannt. Er war dauernd mit den Tauben beschäftigt und ließ niemand in die Nähe des Schlags. Damit die Tauben nicht verschreckt würden, sagte er und erklärte uns auch: Tauben müssen ihr Zuhause lieben. Sonst wollen sie nicht heimfliegen. Jetzt sehen Sie sich das mal an, während ich mit Ihnen rede, kommen mir Erinnerungen noch und noch, aber sein richtiger Name will mir partout nicht einfallen.«

Er beugte sich zu mir nieder, wie er es dort, im Kloster, getan hatte, und trotz seiner achtzig Jahre hing der Geruch eines Draufgängers in der Luft: ein Hauch Pfefferminzschokolade, leichte Alkoholfahne, Nichtraucher, dezentes [20] Rasierwasser, halbgar gebratenes Fleisch – innen blutig, außen gebräunt. Sein Hemd war, so meldete mir meine Nase, mit Ivory gewaschen wie die Baumwollunterwäsche meiner Frau, und über alldem schwebte noch Gefechtsrauch, Straßenstaub, die glühende Asche der Lagerfeuer.

»Und schauen Sie sich das an, so alt und schwer und massig ich auch bin, jetzt dämmert mir alles wieder auf. Wir hatten keine einzige Nacht ohne Einsatz, und es herrschte Arbeitsteilung: Wer nicht ausrückte, schaufelte das Grab für den, der nicht wiederkam. Und den Klang dieser Hacken im Wadi, Eisen auf Fels, höre ich bis heute, mehr noch als die Schüsse. Man grub und grub und wagte nicht zu raten, für wen es diesmal sein würde. Er gehörte übrigens zu den ständigen Totengräbern.«

»Wer?«

»Das Baby. Bis zu dem Kampf ums Kloster ging er ja nicht mit uns auf Einsatz. Deshalb schaufelte er Gräber für die Ausrückenden. Morgens, wenn die Kameraden mit den Getöteten zurückkehrten, sollten die Gräber bereit sein. Tote warten nicht gern.«

Eigenartig, dachte ich mir, der Mann wirkte nicht redselig, wollte jetzt aber wohl alles loswerden, was sich seither bei ihm aufgestaut hatte. Mir fiel plötzlich eine Geschichte ein, die du mir in meiner Jugend erzählt hast. Du sagtest mir damals, Wörter bildeten und vermehrten sich ganz unterschiedlich: Manche teilten sich wie Amöben, andere bildeten Wurzelstränge und Ableger aus. Bei diesem Mann paarten sich Buchstaben mit Erinnerungen.

»Und Sie? Hatten Sie sich von den Vereinigten Staaten aus freiwillig für den Krieg gemeldet?«

[21] »Wieso das denn? Sie beleidigen mein Hebräisch. Ich stamme aus Petach Tikwa. Habe dort heute noch Angehörige. Melabes, Mikwe, Hachschara, Reserve, und dann das vierte Bataillon der Palmach. Nach unserer heutigen Tour zu urteilen, wissen Sie darüber nicht weniger als ich. Haporzim – der Kastel, Kolonia, Bab el-Wad, Katamon. Und dann war der Krieg zu Ende, am Technion wollten sie mich nicht aufnehmen, also fuhr ich zum Studieren nach Amerika, lernte ein Mädchen kennen, bekam Arbeit bei ihrem Vater…«

»Man hat ihn tatsächlich das Baby genannt«, unterbrach ich seinen Wortstrom. »Und die Taube, von der Sie heute nachmittag erzählten, kam wirklich von ihm.«

»Ich sehe, Sie interessieren sich sehr für unseren Taubenzüchter«, sagte der alte Palmachnik aus den USA. »Haben Sie ihn gekannt?«

»Wie das? Damals war ich noch gar nicht geboren.«

»Was verbindet Sie dann mit ihm?«

»Die Tauben interessieren mich«, sagte ich, »die Brieftauben, die homing pidgeons, wie Sie sie nannten. Vielleicht weil ich meist Vogelkundler führe, die wegen der Zugvögel herkommen.«

Das Gold seiner Augen changierte zu blau. Die Runzeln weiteten sich. Sein Blick wurde freundlicher, er wollte noch mehr erzählen – und unwillkürlich auch trösten, erklären und die Seele heilen.

»Um Haaresbreite haben wir dort gesiegt«, sagte er, »und mit vielen Verwundeten und Toten. Auch ein paar Nonnen sind draufgegangen, die Ärmsten, und unter denen, die mit dem Leben davongekommen waren, kursierte eine Art [22] Witz: Auch sie sind, wie wir, wegen Jerusalem gestorben, und auch sie, wie wir, jungfräulich. Die ganze Nacht haben wir gekämpft, und als dann die Sonne aufging, brachte sie uns nicht etwa Trost, sondern Verzweiflung. Im Hellen sahen wir, daß die andern noch und noch Leute hatten, dazu den Panzerwagen mit Maschinengewehr und Geschütz, und vor allem sahen wir die wahre Farbe unserer Verwundeten und erkannten, wer vielleicht überleben und wer mit Sicherheit sterben würde. Wir hatten so viele Verwundete, daß wir schon überlegten, was tun, wenn der Rückzug beschlossen würde. Wen wir mitnehmen könnten und was mit den anderen geschehen sollte. Und da trat, wie durch ein himmlisches Wunder, das Funkgerät wieder in Funktion und meldete, daß die Arabers in der ganzen Gegend Anstalten zur Flucht machten, mit ihrem Befehlshaber an der Spitze, wir sollten nur noch ein klein wenig durchhalten. Und was soll ich Ihnen sagen, zum Schluß haben wir gesiegt, aber es war einer dieser Siege, bei denen der Sieger überraschter ist als der Besiegte.«

»Sicher wart ihr wenigstens froh.«

»Wir hatten weder die Zeit noch die Kraft, uns zu freuen. Wir standen auf, machten uns zum Abzug bereit, und auf einmal ging ein Türchen auf, und drei Nonnen kamen heraus. Zwei schleppten die Leichen ihrer Mitschwestern ins Haus, und die dritte, eine kleine, fast zwergenhafte alte Frau im bodenlangen schwarzen Ordensgewand, machte mit einer Flasche Wasser und ein paar Gläsern die Runde. Was für ein Bild… Wir mit all den Verwundeten und Toten und diese Nonne, die wie auf einer Cocktailparty herumging und uns kaltes Wasser zu trinken anbot. Und die ganze Zeit [23] sagte sie ›nero… nero…‹. Was dieses Nero bedeutete, begriffen wir nicht, aber wir kapierten, daß wir gesiegt hatten, denn sie war herausgekommen, um den Siegern Wasser zu geben. Verstehen Sie den Dreh? Wenn wir verloren hätten, hätte sie dasselbe Wasser den Arabern angeboten.«

»Nero heißt Wasser«, sagte ich. »Es ist das griechische Wort für Wasser.«

»Na gut«, kicherte der Mann. »Ein Fremdenführer muß wissen, wie Wasser in allen möglichen Sprachen heißt. Vielleicht kommen eines Tages Vogelkundler aus Griechenland zu Ihnen und kriegen Durst?«

»Es kommen keine Vogelkundler aus Griechenland«, sagte ich. »Vogelkundler kommen nur aus England, aus Deutschland, aus Skandinavien und aus Holland und ganz selten mal aus den Vereinigten Staaten.«

Doch der Mann blickte mich vorwurfsvoll an und holte mich an den Ort und in die Zeit zurück, die ich anstrebte und gleichzeitig zu fliehen suchte: »Wir verließen das Kloster und suchten die Umgebung ab, vielleicht lag ja doch noch einer von uns unter all den Leichen der andern draußen. Erst fanden wir einen toten Zugführer, dessen Eingeweide sich auf die Erde ergossen hatten, und dann fanden wir ihn. Jemand rief: ›Kommt her und seht euch das an, auch das Baby ist tot.‹ God, bloß davon, daß ich ›das Baby ist tot‹ sage, zittere ich schon am ganzen Leib.«

»Und haben Sie ihn auch gesehen?«

»Hab ich, ich sagte Ihnen ja gerade, daß ich ihn gesehen habe, und das habe ich auch vorhin schon gesagt, aber entweder wollen Sie es gar nicht hören oder immer wieder. Ich sah ihn in dem Schuppen, der damals dort beim Kloster [24] stand, zwischen dem Rasenrand und den Schaukeln von heute.«

»In dem Schuppen oder draußen vor?«

»Halb drinnen und halb draußen.«

Er hatte wohl das Entsetzen in meinen Augen erkannt und ergänzte schnell: »Das heißt, verstehen Sie mich nicht falsch. Er war völlig unversehrt, um Himmels willen nicht so, wie es sich anhören könnte. Die Schuppenwand war zur Hälfte eingerissen, und er lag mit den Beinen drinnen und von der Taille aufwärts draußen. Und neben sich eine Maschinenpistole, eine echte Tommygun, und allerlei Gartengerät, und sein Gesicht, falls Sie das interessieren sollte, war heil und friedlich, und die offenen Augen blickten nach oben, das war das Schlimmste. Voller Leben spähten sie. Und wissen Sie, was ich damals gedacht habe? Nicht so wie heute. Ich dachte – woher zum Teufel hat dieses Baby eine Tommygun? Wir kämpfen mit beschissenen Stens, die ständig blockieren, und er hat eine Tommygun gekriegt! Point five! Egal, wo dich die Kugel trifft, du fällst tot um. Verstehen Sie jetzt, warum es mir damals leichter gefallen ist als heute? So ist das, wenn man jung ist. Ich konnte mir nicht erklären, wieso ausgerechnet er eine Tommy bekommen hatte und wir nicht.«

Jetzt wußte ich nicht mehr, wer ihn befruchtete und wer wem Geburtshilfe leistete: die Worte oder das Bargetränk oder ich oder die Bilder, und was dort wirklich geschehen war und was in seinem Gedächtnis aufflackerte.

»Wir hatten grüne amerikanische Windjacken, Weltkriegsüberschüsse. Wo früher Schilder und Rangabzeichen gesessen hatten, war das Grün dunkler geblieben. Da sehen [25] Sie mal, was für Unsinn ich noch in Erinnerung habe und welche wichtigen Dinge nicht mehr. Und er lag in so einer Jacke da, wohl von einem amerikanischen Sergeanten, der zweimal so groß wie er gewesen sein muß, und als wir ihn aufhoben, sackten die Arme zur Seite und die Jacke ging auf, und wir sahen, daß seine Hose – verzeihen Sie, daß ich Ihnen das erzähle – vom Bund bis fast zu den Knien runter aufgeschnitten war, aufgeschlitzt und aufgeklappt und alles voll Blut und wund und draußen vor.«

Unversehens streckte der Mann die Hand aus und sagte: »Hier.« Und seine Hand griff mir an die rechte Hüfte, glitt zu meinem Steißbein hinunter und hielt dort an: »Hier hat er die Kugel abbekommen, und hier ist sie wieder ausgetreten…« Und die Hand fuhr nach vorn und drückte ein wenig, und ich wußte nicht wohin vor Grauen und Wohlgefühl.

»Und vielleicht mehr als eine Kugel, denn seine Lende klaffte völlig offen – seine oder sein? Ich hab schon ganz vergessen, wie man auf hebräisch sagt –, und jede Menge Blut und der Oberschenkel zerschmettert mit all den Knochensplittern draußen. Ich denke, er hat es noch geschafft, die Hose aufzuschneiden, aber nicht mehr fertiggebracht, sich zu versorgen, und so lag er da, bis er starb.«

»Und die Tauben?« fragte ich.

Er ließ mich los. Bedauern und Erleichterung mischten sich. »Sein kleiner Schlag war zerbrochen. Zwei Tauben lagen tot auf der Erde, und die dritte fehlte, das war vermutlich die Taube, von der ich Ihnen dort erzählt habe.« Zu meinem Entsetzen summte er nun ein Lied, das ich auch meine Mutter öfter singen gehört hatte: »Der [26] Kanonendonner schweigt, das Schlagfeld liegt verwaist…«, und sagte: »Es war ein schöner, festlicher Frühlingstag, erst später ist uns eingefallen, daß es auch der 1. Mai war, und da fliegt eine Taube aus diesem ganzen Jammertal auf… Sie hatte Glück, daß der Schlag zerbrochen war. So konnte sie abhauen.«

»Sie ist nicht abgehauen«, sagte ich, »er hat sie aufgelassen. Er hat doch noch was zuwege gebracht, ehe er starb.«

Der Mann war verblüfft: »Wer hat Ihnen so was erzählt?«

»Es kann nicht anders sein. Nur so passen die Tatsachen zusammen.«

»Was heißt, er hat sie fliegen lassen? Mit einem Brief? Zum Hauptquartier?«

»Er hat sie nicht fliegen lassen, sondern aufgelassen«, berichtigte ich. »Bei Tauben sagt man ›auflassen‹ und ›ließ auf‹, wie bei Noah in der Bibel: ›Danach ließ er eine Taube auf… Die Taube fand keinen Halt für ihre Füße und kehrte zu ihm in die Arche zurück.‹«

»Und diese Taube? Was ist mit der passiert?«

»Er hat sie zu seiner Freundin aufgelassen, nach Tel Aviv.«

Und sogleich empfand ich das altvertraute Gefühl: die Flügel, die mir wahrlich im Körper aufflattern. Vom Beben der Knie zur Leere der Lenden zum Schmerzen des Zwerchfells zum Würgen der Kehle. Nach Hause, du ›Odysseus der Vögel‹, pfeilgerade. Die großen Magneten der Welt lenken ihren Flug, das Heimweh gibt ihr Rückenwind, die Liebe signalisiert ihr, entzündet ihr Landelichter: Komm-komm-komm, kehre heim aus der Ferne. Dazu hatte das Baby sie mitgenommen. Dazu die Zähmung, das Training, [27] die Erbanlagen: »starke Muskeln, leichte Hohlknochen, Sportlerlunge und -herz, Richtungssinn und Orientierungsvermögen.«

Und die drei Begierden, die sich vereinigten: Die Begierde des ›Babys‹, das in diesen Minuten schon tot war. Die Begierde seiner Geliebten, die in diesen Minuten das Kommende schon ahnte. Und die Begierde der Taube – heimwärts. Nach Hause. Heim nach Tel Aviv. Zum Gold des Sandes, zum Blau des Wassers, zu den hellroten Ziegeldächern.

Nach Hause. Zu den freudig erhobenen Augen, die sie erwarteten. Zu dem Herzen, das ihr entgegenpochte. Zu der Hand, die sie mit Hanfsamen willkommen hieß – der traditionellen Gabe, die Taubenzüchter ihren von fern heimkehrenden Reisetauben darbieten. Zur anderen Hand, die ihr die Meldehülse vom Bein löste. Und dann der furchtbare Aufschrei des Verstehens – sein Name wird vom Mund in den Himmel geschossen, die Schlagtür knallt, Schritte entfernen sich im Laufschritt.

»God«, sagte der alte amerikanische Palmachnik aus Petach Tikwa, »wollen Sie mir etwa sagen, daß er das in seinen letzten Momenten noch fertiggebracht hat? Seiner Freundin eine Taube nach Tel Aviv zu schicken?«

Ich schwieg, und er rief erregt: »Und was hat er ihr da geschrieben? Schalom, ich bin tot?«

[28] Zweites Kapitel

1

Ich machte mich auf die Suche nach einem Haus. Andere Menschen schießen, auf sich oder ihren Nächsten. Ich ging mir ein Haus suchen. Ein Haus, das heilen, lindern, mich bei seiner Erbauung erbauen würde, auf daß wir einander dankbar wären.

Ich ging. Ausgestattet mit dem überraschenden Geschenk, das meine Mutter mir gemacht hatte, bemüht, sie zufriedenzustellen, getreu ihrer Anweisung, in der ein reuiger Unterton mitschwang: »Nimm, Jair. Geh dir ein Haus suchen. Einen Halt für deine Füße. Damit du einen Platz für dich hast.«

»Ein Haus, in dem vor dir schon jemand gewohnt hat«, bestimmte sie, »ein kleines, altes, renovier’s ein bißchen…« Und sie verstummte einen Moment, schnappte nach Luft und hustete: »Und paß auf – ein Haus in einer alten Ortschaft. Damit die Bäume davor schon groß sind – am besten Zypressen, auch ein alter Johannisbrotbaum ist gut – und aus den Gehsteigritzen sollen Gräser sprießen.«

Und sie erklärte: In einer alten Ortschaft seien die Rachetaten schon ausgefochten, die alten Feindschaften eingespielt, die wahrhaft großen Lieben, nicht die kleinen [29] nervenden, zur Ruhe gekommen, und man könne sich das Rätselraten und die Kraft für Experimente sparen.

»Ruh dich ein bißchen aus, Mutter«, sagte ich, »viel Reden und Anstrengung sind nicht gut für dich.«

Du lagst, kurz an Atem und Geduld, auf deinem Krankenbett, ein paar Gladiolen in einem Krug auf dem Nachtschrank, ein blaues Kopftuch über deiner Glatze: »Große Bäume, Jair, vergiß es nicht. Der Wind geht durch einen großen Baum anders als durch junge. Hier, nimm… Und bau dir auch eine kleine Außendusche. Es tut gut, im Wind und im Freien zu duschen.«

Mein Leib bebte, meine Hand griff zu und nahm, meine Augen sahen und erfaßten. »Woher all dies Geld?« fragte mein Mund.

»Von Mutter.«

Du hast gehustet. Krampfhaft nach Luft geschnappt. »Nimm. Mit warmer Hand. Und erzähl niemand davon. Nicht deinem Bruder und nicht eurem Vater und nicht deiner Frau.«

Genau so: »Geh« und »such« und »einen Platz für dich«. Und von einem Husten zum anderen klang wieder der Platz an, der nichts für mich ist – die Wohnung, die Liora uns in der Spinoza-Straße in Tel Aviv gekauft hatte. Das Haus und seine Herrin. Sie und ihr Haus. Das mit den großen hellen Räumen und den richtigen Himmelsrichtungen gleich ihren, den Wänden so weiß wie ihr Körper, dem herrlichen Abstand zwischen den Fenstern ihrer Augen, ihrem Reichtum.

[30] 2

Bis zu ihrer Erkrankung hatte meine Mutter helle Locken, eine ranke Gestalt und ein Grübchen. Als sie krank wurde, fielen ihr die Locken aus, ihre Gestalt beugte sich, und das Grübchen verschwand. Bei der Gedenkfeier, die wir, mein Bruder Benjamin und ich, an ihrem ersten Todestag abhielten, begann noch am Grab die Debatte zwischen uns: Auf welcher Wange hatte das Grübchen gesessen? Benjamin sagte, auf der rechten, und ich beharrte – auf der linken. Anfangs scherzten wir, tauschten gutmütige Klapse und Sticheleien. Dann wurden meine Schläge härter und seine Worte bissig.

Nachdem wir eine Wette abgeschlossen hatten – früher stritten wir oft, später wetteten wir lieber, und immer um das gleiche Mittagessen im selben rumänischen Restaurant–, fingen wir an, alle erdenklichen Menschen nach der Position des Grübchens zu befragen. Prompt entstanden weitere Meinungsverschiedenheiten, runzelten sich weitere Stirnen und folgten weitere Wetten. Und als wir alte Fotos zu Rate zogen – welch kindliche Aufregung, gepaart mit dem süßen Schmerz erwachsener Waisen –, entdeckten wir voll Enttäuschung und in dem unvermeidlichen leisen Gefühl, betrogen worden zu sein, daß ihr Grübchen darauf überhaupt nicht zu erkennen war. Weder auf der linken Wange noch auf der rechten.

Konnte es angehen, daß wir uns an ein nie dagewesenes Grübchen erinnerten? Oder hatten wir uns eine Mutter ausgedacht, mitsamt ihrem Lächeln, ihrer Gestalt, ihrem Grübchen und ihren Locken? Nein! Wir hatten eine [31] Mutter gehabt, aber ausgerechnet für die Fotos hatte sie, wie wir erst nach ihrem Tod feststellten, nie gelächelt. Deshalb sah man darauf weder ihre großen, regelmäßigen Zähne noch die spöttisch hochgezogene Oberlippe, nicht das Grübchen und nicht den Blick, der sich während ihres ersten Ehejahrs mit ›Euervater‹ in ihren Augen angesiedelt hatte.

Wenn sie mit uns von ihm sprach, sagte sie nicht ›Vater‹ oder ›Papa‹, sondern ›euer Vater‹: Euer Vater wartet auf euch. Euer Vater ist sicher neugierig, was wir heute auf der Straße gesehen haben. Ihr wollt einen Hund halten? Wenn euer Vater das erlaubt, aber vergeßt nicht zu erwähnen, daß ich dagegen bin. Und da wir klein waren und sie immer wieder »euer Vater« sagte, dachten wir, so hieße er. Wir nannten ihn so, wenn wir von oder mit ihm redeten, und dieser Name hängt ihm bis heute an. Er protestierte nicht, verlangte aber, daß wir ihn in Anwesenheit fremder Menschen nicht so nannten.

»Richtet Euervater aus, er soll zum Mittagessen raufkommen«, beorderte uns meine Mutter mit jeckischer Pünktlichkeit jeden Mittag um Punkt halb zwei, und schon sausten wir die Treppen runter zu seiner Kinderarztpraxis im Erdgeschoß – der dreijährige Benjamin watschelte schon, und ich mit meinen fünf Jahren kugelte noch –, knufften und schubsten einander und riefen: »Euervater… Euervater… Mutter sagt, du sollst zum Essen kommen…«

Beide lächelten, sie lauthals in der Küche, er, während er schweigend seinen Kittel aufhängte. Manchmal rügte er uns: »Rennt nicht so auf den Treppen, Kinder, ihr stört die Nachbarn«, und sein Blondkopf schwebte hoch droben auf seiner langen Gestalt. Und manchmal beugte er sich zu uns [32] nieder und zündete uns seine ›Lampe mit den Farben‹ an, eine große, glitzernde Taschenlampe, die rot und gelb und grün aufleuchtete und die Herzen der kleinen Patienten beruhigte, die zu ihm in die Praxis kamen.

Jetzt ist meine Mutter schon tot, und Euervater hat sich zur Ruhe gesetzt und die kleine Praxis zu seiner Wohnung gemacht. Aber damals war er Kinderarzt, vier Jahre älter als meine Mutter und um zwanzig Jahre gesetzter. Zuweilen behandelte er auch sie noch wie ein Kind. Manchmal enthielt sein Blick leichten Tadel, und im Lauf der Zeit erließ er – typisch für Ehemänner, deren Frauen nicht mit ihnen erwachsen werden – allerlei unnötige Gesetze, machte ihr Vorschriften, was sie anziehen sollte, weil es kalt war, oder was sie essen sollte, weil es heiß war, und bemerkte vorwurfsvoll: »Du hast es schon wieder vergessen!« wenn ihr etwas entfallen war.

Gelegentlich erwachte auch ihr Drang, Regeln und Anordnungen zu erlassen, aber die lauteten ganz anders als seine. »Was braucht der Mensch?« deklamierte sie eines Tages nach dem ersten Teelöffel Nachspeise. »Nicht viel: Was Süßes zum Essen, und eine Geschichte zum Erzählen, und Zeit und einen Platz, und Gladiolen in der Vase, und zwei Freunde, und zwei Berggipfel, einen zum Draufstehen und einen zum Draufgucken. Und zwei Augen, um damit wartend den Himmel abzusuchen. Verstehst du, wovon ich rede, Jair?«

Und ein andermal, als wir schon in Jerusalem wohnten, klapptest du plötzlich das Buch zu, das du gerade aufmerksam gelesen hattest – ein kleines, dickes Buch mit blauem Einband, den mein Bruder Benjamin allerdings für grau [33] hielt –, klapptest es zu und sprachst einen weiteren Merksatz: »Ich kann nicht mehr.«

»Ich kann nicht mehr«, hörte ich dich damals, wie ich dich heute noch höre. »Ich kann nicht mehr«, und du verstummtest, damit alle Zuhörer ob deines Ausspruchs gehörig erschauern konnten, und schlugst das kleine, dicke Buch wieder auf, und obwohl ich im letzten Februar schon neunundvierzig Jahre alt geworden bin – ich alternder und schwerfälliger Stier –, werde ich traurig, wann immer ich an jenen fernen Augenblick denke, denn die Farben des Einbands und des Schnitts und des seidenen Lesebändchens – das scharfe Blau, das zarte Rosa, das tiefe Gold – habe ich noch gut in Erinnerung. Deine Augen, deine Haut, dein Haar hatten genau dieselben Farben. Aber seinen Titel habe ich vergessen. Ich kann es nicht mehr lesen, um zu suchen und zu finden und zu wissen, welcher Satz dich damals derart erregt hat, daß du jene Worte sagtest. Kann mir nicht klar werden: Keimte seinerzeit der Gedanke auf, an dessen Ende du weggegangen bist?

Meine Mutter ist bei uns so ausgezogen, wie sie auch sonst vorging: aufgrund einer Entscheidung, die langsam anschwoll und reifte, und – einmal ausgereift – unumstößlich wurde. In solchen Fällen setzte sie sich an den Küchentisch, nahm ein Blatt Papier und unterteilte es in zwei Rubriken. Über die eine Rubrik schrieb sie »Dafür« und über die andere »Dagegen«. Für und wider einen weißen Anstrich des Treppenhauses, für und wider Chemotherapie und Bestrahlungen, für und wider Selbstmord, für und wider Schnitzel mit Salzkartoffeln, die mit fein geschnittenem Schnittlauch bestreut und in Butter geschwenkt wurden, oder Braten mit [34] Knödeln und Lorbeerblättern für Schabbat mittag. Sie notierte, zählte an den Fingern ab und entschied erst nach reiflicher Überlegung. Manchmal versuche ich zu erraten, was du niedergeschrieben hast, ehe du gingst – und bekomme es mit der Angst zu tun.

So sagte sie auch uns, meinem Bruder Benjamin und mir: »Ich bin dafür, ans Meer zu fahren, aber euer Vater ist dagegen!« Und so plante sie ihre Einkäufe und verbannte ungeliebte Bücher aus dem Haus – »die, die der Schriftsteller mit zuviel Lust oder Leid geschrieben hat«. Und mit derselben Entschiedenheit verfaßte sie die ›Familienordnung‹, über die wir, Benjamin und ich, keine Wetten mehr abschließen können, denn anders als das blau gebundene Buch befindet es sich wohlbehalten in meinen Händen, so daß man es aufschlagen und darin nachlesen kann.

Gelegentlich entwickle ich eine überraschende und entschlossene Wendigkeit, die meinem Wesen und Äußeren zuwiderläuft. Und so war es auch an dem Tag, an dem sie starb. Während die Nachricht noch umlief, gewisser wurde, keine Anzeichen von Reue oder Änderung zeigte, die Türklingel und das Telefon immer öfter läuteten, Euervater umherirrte und an die Wände stieß und Benjamin wieder mal zu spät kam oder beschäftigt war, hatte ich längst die bewußte ›Familienordnung‹ an mich genommen und in einem von ›Nilpferds‹ Werkzeugfächern verborgen. Seither habe ich sie in Besitz. Hier ist sie: verfaßt auf dünnem, hellblauem Briefpapier, mit deinem bauchigen d und dem koketten b. Hier sind deine f, so langbeinig wie Kraniche, das o so winzig wie ein Punkt.

Hier – sage ich mir bei dem kleinen Schatz, wann immer [35] ich ihn aus seinem Versteck hervorhole – hier, über dies Himmelblau ist deine Hand geschwebt, ist darübergeflogen und hat geschrieben:

»Die Kinder räumen ihre Zimmer auf, trocknen Geschirr ab und bringen den Müll hinunter.«

»Die Kinder erzählen ihrer Mutter Geschichten und am Schabbat morgen putzen sie die Schuhe der ganzen Familie.«

»Die Kinder gießen regelmäßig Mutters Petersilie in der Küche.«

»Die Eltern kleiden, füttern, lehren, pflegen, streicheln und umarmen und bringen keine weiteren Kinder zur Welt.«

Und so weiter und so fort, hier. Auf diesem Papier. Deine Hand. Sie schwebt, landet fast, lebendig und warm.

3

Sie war eine umgängliche und gelassene Mutter, deren Ärger selten entflammte: wenn Euervater sie mit Mutter und nicht mit ihrem Namen, Raaja, anredete, wenn ihre Söhne sie statt Mutter sagten, wenn man sie beim Tünchen der Wohnung störte oder wir einen Satz von ihr mit »stimmt nicht« quittierten.

Aber einmal tat sie etwas, das ich erst Jahre später verstand. Es geschah am Versöhnungstag, fünf Jahre nach unserem Umzug von Tel Aviv nach Jerusalem. Benjamin war damals elf Jahre alt und ich dreizehn, Bar-Mizwa. Am Vorabend des Feiertags zogen wir weiße Hemden und Turnschuhe an und gingen in die Synagoge des Viertels. Meist [36] untersagte uns Euervater das Tragen von Stoffschuhen, aus Sorge um die Entwicklung der Füße im besonderen und des Knochengerüsts im allgemeinen. Aber die Gebräuche des Versöhnungstags lagen ihm irgendwie am Herzen. Er fastete sogar, obwohl er sonst kein einziges der religiösen Gebote einhielt.

»Zum Andenken an meinen Vater«, erklärte er und setzte eine feierlich fromme Miene auf, die wir an den übrigen Tagen des Jahres nicht zu sehen bekamen.

Meine Mutter, mein Bruder und ich fasteten nicht, frühstückten auf sein Geheiß jedoch nichts, dessen Duft durchs offene Fenster nach draußen dringen konnte. »Wir sind hier in Jerusalem«, sagte er, »nicht in Tel Aviv. Man muß auf die Nachbarn Rücksicht nehmen.«

Nach dem Frühstück wollte meine Mutter auf unserem Plattenspieler Musik hören, aber Euervater wiederholte sein Argument.

»Wir stellen ihn leise«, sagte meine Mutter, »und man braucht mich nicht dauernd daran zu erinnern, daß wir hier in Jerusalem sind und nicht in Tel Aviv, das weiß ich sehr wohl.«

»Ich bitte dich sehr, hier am Jom Kippur keine Musik abzuspielen, Ra-a-já«, sagte Euervater, mit lehrerhaft feierlicher Betonung auf der letzten Silbe und in säuberlich getrennten Silben. Nicht einfach Raja, wie alle sagten und auch er – an den nicht hochfeierlichen Tagen des Jahres.

Meine Mutter schnallte ihre Sandalen zu und setzte den großen Strohhut auf, dessen gelbe Flechten mit ihrem Haar verschmolzen und dessen blaues Band das Wutrot ihrer Wangen krönte.

[37] »Kommt«, sagte sie, »wir gehen draußen ein bißchen frische Luft schnappen, denn hier ist uns plötzlich ein Papst erwachsen. Man erstickt ja schier vor Selbstgerechtigkeit und Weihrauch.«