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Frank Göhre

Endstation Reinbek

Copyright der eBook-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe ©2001 by Hamburger Abendblatt in der Reihe »Schwarze Hefte«, herausgegeben von Volker Albers

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © privat

ISBN: 978-3-942822-69-5

Endstation Reinbek ist der dritte Teil der Krimireihe hey! shorties. Jede Folge ist inhaltlich in sich abgeschlossen. Eine Auflistung der bereits erschienenen Titel befindet sich am Ende dieses eBooks.

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Endstation Reinbek

Auf dem Hauptbahnhof erwischt Bettina Breuer eine junge Ägypterin beim Klauen. Melena kam als Au-pair-Mädchen nach Deutschland und hält sich mittlerweile als Taschendiebin über Wasser. Nur zögerlich berichtet das verängstigte Mädchen von den Umständen, die es in diese Situation gebracht haben. Anfangs scheint der Fall klar, doch nach und nach kommen der Kriminalbeamtin Zweifel an Melenas Geschichte. Ihre Nachforschungen ergeben, dass ihre eigene Vergangenheit mit dem Schicksal des Mädchens verbunden ist. Von nun an nimmt Bettina Breuer den Fall persönlich. Sehr persönlich …

Vor längerer Zeit

Es schneite. Seit den frühen Morgenstunden fielen dicke Flocken, und der Mann, der am späten Vormittag an der Tür des weit vor der Ortschaft gelegenen Hauses klingelte, streifte sorgfältig seine Schuhe an dem Gitterrost ab. Auf der Haustür klebte ein »I love you«-Herz. Es war an den Rändern ausgefranst und sah aus, als blute es. Eine junge Frau öffnete. Sie trug eine mit Fell gefütterte, hellbraune Wildlederjacke mit aufgestelltem Kragen und einen sehr kurzen, eng anliegenden Rock. Ihre kniehohen Stiefel waren ebenfalls hellbraun und aus weichem Leder. Der Mann gab sich ein wenig unsicher, doch die Frau begrüßte ihn wie einen alten Bekannten und ließ ihn eintreten. Er nickte dankbar und klopfte die Schneeflocken von seinem Mantel. In dem schmalen Flur aber musste er dann hören, dass sie leider nicht zur Verfügung stehe. Eine Jenny werde sich seiner annehmen. Doch das wollte er nicht. Vom ersten Augenblick an war sie genau die Frau, nach der er sich in seinen immer wiederkehrenden Träumen gesehnt hatte. Sie war schlank und groß gewachsen, hatte schmale, lange Beine, und ihre Brüste schienen perfekt zu sein. Ihr Gesicht war leicht gebräunt, und ihr dunkles, volles Haar fiel glatt und weit über die Schultern. Sie lächelte entschuldigend und sagte irgendetwas von einer dringenden Besorgung, von einer oder auch zwei Stunden, die sie dafür benötigen werde. Er sah sie unentwegt an und wiederholte lediglich, was er bereits gesagt hatte. Er war bereit, ihr jeden Preis zu zahlen, so viel es auch sein mochte, sah sie schon in strahlend weißen Dessous vor ihm in die Knie gehen, spürte ihre Hände und ihre Lippen, ihre ihn liebkosende Zunge. Er fühlte sich groß und mächtig wie lange nicht mehr. Aus einem der hinteren Räume aber stöckelte eine dieser sich geil gebenden billigen Schlampen heran, von denen er aus leidvoller Erfahrung wusste, dass sie nur darauf aus waren, eine schnelle und ihn letztlich unbefriedigende Nummer abzuziehen. Ekel überkam ihn, ein kaum noch zu unterdrückender Brechreiz, gepaart mit einem unsäglichen Hass. Er brachte nur noch heraus, dass er warten würde, auf sie, diese ungemein schöne Dunkelhaarige, deren Augen eine solche Wärme und ein Verständnis ausstrahlten, das er seit Jahren schon und erst recht heute, an diesem ihn erdrückenden Familienfesttag, diesem Heiligabend auf dem Land, brauchte. Doch die nur mit einem grellgrünen Tangafetzen und hochhackigen Sandaletten bekleidete Hure schlängelte sich schon zwischen sie und sagte, dass Tina ja später noch zu ihnen stoßen könne, lachte ein schrilles, obszönes Lachen und nannte ihn Schatz – Schatzi! – komm, Schatzi, komm, ich heiz dich schon mal auf. Tina. Der Mann sah seine Tina bittend an und versuchte mit aller Kraft seines Willens, sie zu halten. Es war vergeblich. Tina schenkte ihm noch ein letztes Lächeln, knöpfte ihre Jacke zu und ging hinaus in den nach wie vor dicht fallenden Schnee.

In diesen Tagen

Eins

Mein Name ist Bettina Breuer. Ich bin einunddreißig Jahre alt und eins achtundsiebzig groß. Meine Augenfarbe ist braun, und mein kurz geschnittenes Haar ist dunkel. Ich denke allerdings daran, es bei meinem nächsten Friseurbesuch etwas aufhellen zu lassen. Mit meiner Figur bin ich nach wie vor zufrieden. Ich bin schlank und durchtrainiert. Wenn eben möglich, beginne ich meinen Tag mit fünfzig Bauchaufzügen, Kniebeugen und Liegestützen. Mein Gewicht pendelt zwischen sechzig und einundsechzig Kilo. Geboren bin ich im Allgäu, in Kempten, aber seit drei Jahren lebe ich in Hamburg. Ich bin ledig und arbeite als Zivilfahnderin der Wache St. Georg, trage also keine Uniform. Mehr muss man nicht von mir wissen.

Aber das sagt sich nur so leicht.

Es war einer der letzten schönen Sommerabende. Die Stadt lebte noch einmal auf. Ich hatte ein wenig früher Schluss gemacht und ging zum Hauptbahnhof rüber. Unsere Kunden – abgewrackte Alkis, Fixer und jugendliche Stricher – hatten ihr alltägliches Endlos-Date. Ihre Hunde liefen frei und ohne Maulkorb herum und schüttelten sich die Flöhe aus dem Fell.

Auf der Fressmeile herrschte Hochbetrieb.

Ich sah das Mädchen, als ich mich gerade für eine Portion Sushi entschieden hatte. Die Kleine trug eine dieser HipHop-Hosen und ein olivfarbenes Muskelshirt. Sie war ein eher schmächtiges Ding mit dunkelbrauner Hautfarbe. Äußerst professionell angelte sie einer beleibten Dame das Portemonnaie aus der Handtasche.

Ich war blitzschnell bei ihr und griff sie mir. Ihr Opfer bekam davon so gut wie nichts mit. Ich hatte ihr die Geldbörse gleich wieder zurück in die Tasche gesteckt.

Die Kleine versuchte, sich zu entwinden. Ich zischte ihr das Wort zu, das von Leuten ihres Schlages überall auf der Welt verstanden wird: »Polizei!« Sie reagierte mit einem Kauderwelsch aus Englisch und verquerem Deutsch.

Ich zog sie kommentarlos mit. Erst als ich mit ihr draußen auf dem Vorplatz war, dachte ich an die zeitaufwendige Schreibarbeit, die mir bevorstand, wenn ich das Mädchen zu uns auf die Wache schleppen würde.

»Deine Papiere«, sagte ich. »Pass, Passport.«

»Ich nix getan!«

»Das hab ich gesehen. Nun komm, mach schon.«

Die Kleine maulte weiter herum. Sie drückte sich jetzt auch ein paar Tränen ab.

Sie hatte ein hübsches Gesicht. Große, mandelförmige Augen und volle Lippen. Ihr Haar war tiefschwarz und dicht gelockt.

»Ich Melena. Ich Au-pair.«

Ich winkte ab und checkte sie kurz durch. Sie hatte absolut nichts bei sich. Kein Geld, keine Papiere, nicht einen Fitzel. »Wie alt bist du?«, fragte ich. Ich musste es noch einige Mal wiederholen, bevor sie sich für sechzehn entschied. Ich schätzte, sie lag mindestens ein Jahr darunter.

Was sollte ich jetzt mit ihr machen?

Sich nicht ausweisen zu können hieß zwangsläufig Haft, Überprüfung der Nationalität und in der Regel schnelle Abschiebung. Vermutlich war die Kleine – Melena, korrigierte ich mich – von einer dieser üblen Schlepperorganisationen eingeschleust worden und den Typen hier entkommen, bevor sie in einen der unzähligen illegalen Puffs gesteckt werden konnte – zugeritten wurde.