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Thomas Nipperdey

KANN
GESCHICHTE
OBJEKTIV
SEIN?

Historische Essays

Herausgegeben von
Paul Nolte

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Thomas Nipperdey wird mit seltener Einmütigkeit zu den großen Historikern gezählt. Vor allem seine drei Bände zur deutschen Geschichte von 1800 bis 1918 haben diesen Ruhm begründet. Nicht ganz so bekannt wie das Hauptwerk sind seine glanzvollen historischen Essays, auch weil sie oft an nur Fachleuten zugänglicher Stelle publiziert wurden. Paul Nolte hat eine Auswahl aus diesen Essays zusammengestellt, die noch einmal Nipperdeys meisterhafte Fähigkeit demonstrieren, komplexe historische Konstellationen bestechend klar zu analysieren und zugleich literarisch fesselnd darzustellen. Noltes Nachwort stellt uns diesen Ausnahmehistoriker vor, dessen Essays für jeden historisch interessierten Leser vor allem eines sind – ein Lektüregenuss.

Über die Autor

Thomas Nipperdey (1927–1992) gehört zu den namhaftesten deutschen Historikern nach 1945. Für sein Werk erhielt er 1984 den Historikerpreis der Stadt Münster und 1992 posthum den Preis des Historischen Kollegs. Bei C.H.Beck erscheint in diesem Herbst in einer Neuausgabe in drei Bänden sein Werk «Deutsche Geschichte 1800–1918».

Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin und Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin. Bei C.H.Beck sind u.a. seine Bücher «Die Ordnung der deutschen Gesellschaft» (2000), «Generation Reform» (62005) und zuletzt «Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart» (2012) erschienen.

INHALT

1. Eine bürgerliche Jugend
 (1927–1945)

2. Die anthropologische Dimension
der Geschichtswissenschaft

3. Kann Geschichte objektiv sein?

4. Probleme der Modernisierung
in Deutschland

5. Nationalidee und Nationaldenkmal
in Deutschland im 19. Jahrhundert

6. Grundprobleme der deutschen
Parteigeschichte im 19. Jahrhundert

7. Bürgertum und schöne Künste:
Erinnerung an das 19. Jahrhundert

8. Religion und Gesellschaft:
Deutschland um 1900

9. War die wilhelminische Gesellschaft
eine Untertanen-Gesellschaft?

10. 1933 und die Kontinuität der
deutschen Geschichte

11. Einheit und Vielfalt
in der neueren Geschichte

Anmerkungen

Nachwort von Paul Nolte

Zeittafel

Drucknachweise

Personenregister

1.
EINE BÜRGERLICHE JUGEND
 (1927–1945)

Jeder hat seine Biografie. Die ist, wie alles Menschliche, interessant, aber normalerweise bleibt das im Privaten und ohne Wert der Mitteilungswürdigkeit im größeren Kreis. Ein Poet, der das Subjektiv-Individuelle durch die Sprache zu etwas für andere Bewegendem machen kann und gerade darum das Gebot der Diskretion, andere nicht mit seinen Subjektivitäten zu behelligen, überschreiten darf, ein Poet also bin ich nicht, und auch nicht ein guter Schriftsteller wie Kempowski, der die ganze Sprachwelt meiner Generation so ingeniös wieder zu Gehör bringt. Weil ich Historiker bin, versuche ich, ein paar Stücke und Komplexe meiner Jugendgeschichte in das Licht einer allgemeinen Geschichte, einer Geschichte des deutschen Bürgertums und genauer: des Bildungsbürgertums, in finsteren Zeiten gewiss, zu setzen. Historiker unter Ihnen wissen vielleicht, dass dieses Bildungsbürgertum inzwischen ein Hauptgegenstand sozialgeschichtlicher Forschung geworden ist, und seit Jahren beißen wir uns auf Tagungen in Bad Homburg die Zähne daran aus, es näher zu bestimmen. Ich werde Sie nicht mit unserem soziologisch-strukturanalytischen Jargon und seinen angeblich präziseren Begriffen eindecken, sondern bleibe in der Alltagssprache, aber 200 Jahre Geschichte dieser merkwürdigen Menschengruppe gehen in mein Nachdenken und Erinnern ein.

Bis ich Mitte 40 war, wurde ich bei fast jeder geselligen Gelegenheit mit der Frage konfrontiert: Sind Sie eigentlich … Ich ließ die Frager nicht ausreden, sondern sagte: Nein, ich bin nicht mein Vater. Das hing natürlich vor allem mit der Unvermeidlichkeit von Juristen in unserer Welt zusammen und also damit, dass mein Vater Jurist, ein bekannter Professor und später auch Richter war. Ich habe darunter nicht gelitten und nicht nur deshalb, weil ich etwas ganz anderes machte; aber das trägt meine Herkunftswelt. Ich bin also ein Professorensohn und, so kann man beim Blick auf die kleine Zahl der Professoren damals noch sagen, ein Spross des deutschen Bildungsbürgertums. Bildungsbürger, das sind Leute, die auf Grund eines universitären Bildungspatentes ihren Beruf ausüben und ihr Einkommen beziehen und, das ist das eigentümlich Deutsche, darauf gegründet eine spezifische Lebensform und einen spezifischen Stil des Dazugehörens gebildet haben. Das war eine nach unten offene Schicht – mehr als das Besitzbürgertum: 25 bis 30 % der Studenten kamen von unten aus dem kleinen Bürgertum, von den Volksschullehrern, und unmittelbar vor 1914 schon mehr; aber dennoch: nicht Aufsteiger und Neukommer waren typisch, sondern die, die aus dem gleichen Milieu kamen. Insoweit war Herkunft eine wichtige Kategorie.

Die Familienerinnerung, soweit sie für einen Jungen präsent war, reichte eigentlich nicht weiter als normalerweise bis zu den Großeltern und in einem Fall bis zu den Urgroßeltern; aber nun war ja Nazizeit, und zu unseren Schulprojekten und neugierig und gern aufgegriffenen Aufgaben gehörte die Ahnenforschung: Stammbäume und Ahnenpass. Ob das nun der Grund war oder nur der Anlass, ich entwickelte jedenfalls in diesem Zusammenhang, ich glaube, seit ich 12 war, stärkere antibürgerliche Affekte. Denn bei dieser Ahnensuche ergaben sich lange Linien von akademischen Bürgern, Pfarrern, Juristen, Beamten und Gelehrten. Das hing mir, grob gesagt, zum Halse heraus, und auf die neugierigen Fragen von Friseuren und ähnlichen Leuten, was denn mein Vater sei, hatte ich mich schließlich auf ‹Beamter› eingelassen, was ja stimmte, wenn auch nicht eigentlich, manchmal wurde daraus dann sogar ein Eisenbahnbeamter. Ich suchte hingegen nach proletarischen Ahnen, Ahnen richtig ‹aus dem Volk›. Mein Stolz war ein Schäfer, dessen Nachkommen dann über drei Generationen Wagenbauer waren. Das was mich heute professionell daran interessiert, der Übergang vom unehrlichen zum ehrlichen Gewerbe, entzog sich damals natürlich meinem Wissen, und das Ende der Geschichte, für mich heute Beispiel sozialer Aufstiegsmobilität, war damals nur eine schöne Arabeske: wie der Sohn des Wagners General in Hessen-Kassel wurde, eine Hugenottin heiratete, für sieben Kinder sieben Pferde hatte, und es genau eine Apfelsine für alle zu Weihnachten gab (und alle vier Wochen eine Kompanie für die große Wäsche kam), und wie er – späte Wissenszutat – 1850 als Verfechter des Verfassungseides zwangspensioniert wurde, wie sein Sohn Oberlehrer und 1892 dann Professor für Geographie in Straßburg wurde. Der heiratete dann in eine alte Gelehrtenfamilie ein, die vom kursächsischen Reformationskanzler Brück über den Hexenprofessor (Verfolger oder Schützer) Carpzov und aufgeklärte protestantische Äbte von Helmstedt bis zum Burschenschaftsphilosophen Fries reichte, einem Antisemiten und Ahnherren einer sozialdemokratischen Intellektuellenbewegung, in dessen Taufjäckchen wir alle noch getauft sind. Gelehrte Berufe also, und seit dem späten 18. Jahrhundert Bildungsbürger. Und nur einer, ein Großonkel von mir, heiratete in die große und reiche bürgerliche Unternehmerschaft ein, Schott, Jenaer Glas, also ins Besitzbürgertum, aber das war in der Familie exotisch. Auch die sichtbare Tatsache der unverheirateten Großtanten gehört dazu. Das war das Töchterproblem der armen akademischen Beamten im späten 19. Jahrhundert, aber das war mir damals natürlich verborgen. Aber dann gab es noch einen, den Namensvorfahren, aus Schwerin, also aus der Provinz; er firmierte als Maler und galt mir als Malermeister, bis Tilmann Buddensieg mir erzählt hat, dass er die Schlosskirche von Schwerin ausgemalt hat, immerhin der Thieme-Becker belehrte mich dann, dass sein Vater – nur – Unteroffizier war. Für den Jungen war das also ein richtiger Handwerker, und dann war es ganz in Ordnung, dass sein Sohn klassischer Philologe (Tacitus-Editor) und Professor in Jena wurde, mein Urgroßvater. Aber hier gab es eine Lücke: Über die Herkunft von dessen Frau ließ sich nichts ermitteln. Aus gutem Grund, den unsere Eltern uns bis zum Kriegsende verborgen hielten; denn Fanny Steinthal, jene Frau, war Jüdin, mit 18 getauft und enterbt; das wird im weiteren Verlauf meiner heutigen Geschichte noch eine Rolle spielen.

Ich lasse die Unendlichkeit solcher Herkunftsgeschichten liegen und versuche, die spezifisch bildungsbürgerlichen Momente meiner Jugend etwas genauer zu fassen. Meine Eltern, 1895 und 1903 geboren, sind noch im Kaiserreich aufgewachsen, aber stärker waren sie dann von den 20er Jahren geprägt, in Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen gerade von den besseren Jahren der Republik, den Aufstiegs- und Glanzjahren ihres eigenen Lebens. Wir wuchsen natürlich keineswegs liberal-permissiv auf, aber eben auch nicht mehr altmodisch autoritär; es war nicht die ‹Welt von gestern›, wie Stefan Zweig sie beschreibt. Insoweit war die bürgerliche Tradition schon gegenüber der Generation von vor 1900 (also den Großmüttern) modern aufgelockert und ein bisschen gebrochen. Das war bildungsbürgerlich, weil diese Schicht dem Norm- und Stilwandel gegenüber offener, den eigenen Verkrustungen gegenüber kritischer war.

Fundamental von den Realitäten her war zunächst unser Wohnort. Wir wohnen in Köln. Meine Eltern waren protestantische Zuwanderer aus Thüringen und dem Südwesten, meine Mutter war im Elsass geboren und aufgewachsen und 1918 mit ihrer Familie von Reichsbeamten ausgewiesen worden. Nicht lange vor meiner Geburt waren sie erst gekommen, im damals noch etwa zu 85 % katholischen und auch in seinem Charakter katholisch geprägten Köln regional und konfessionell Fremde, und natürlich auch sprachlich: Wir sprachen nicht rheinisch wie Adenauer und schon gar nicht ‹kölsch›. Das war also der Teil des beamteten Bildungsbürgertums, der versetzbar oder von sich aus mobil war, gerade außerhalb des deutschen Südens nicht ansässig, nicht verwurzelt, ‹allgemeiner Stand›, wie Hegel es gesagt hat, immer ein wenig fremd am Ort, insoweit in den sozialen Kontakten stark auf seinesgleichen verwiesen. Innerhalb Kölns wohnten wir in dem vornehmen, relativ großbürgerlichen Villenvorort Marienburg, aber dort wiederum in einer von der 1919 gegründeten Universität errichteten Professorenkolonie in keineswegs üppigen Doppelhäusern. Die Scheidung von Besitz und Bildung war, obschon das reiche Marienburger Wirtschaftsbürgertum überproportional protestantisch war und ja auch einmal nach Köln zugezogen, noch sehr ausgeprägt. Nicht vielleicht in den professionellen Beziehungen meines Vaters, aber in den privaten Beziehungen gehörten wir nicht eigentlich dazu, schon die vornehmen und nicht billigen Vergnügen und Sportarten schlossen auch die Jungen und Mädchen eher voneinander ab, auch wenn man sich natürlich kannte und Schule und Hitlerjugend gemeinsam bestand. Das hat sich eigentlich erst nach 1945 in den großen Nöten und den Egalisierungsschüben insoweit geändert, wie man es in einer gegliederten, aber nicht kastenmäßig abgeschotteten Welt erwarten kann.

Mein sozialer Umgang war merkwürdig gemischt. Bis 1937 ging ich auf eine evangelische Volksschule, da waren die hochbürgerlichen Kinder aus Marienburg und die proletarischen und subproletarischen aus zwei anderen Stadtteilen vereint, denn Protestanten waren Ober- oder Unterschicht; die Mittelschicht, alt wie neu, war wesentlich katholisch. Im Jungvolk waren dann alle Schichten und Konfessionen zusammen; die Organisation war betont darauf aus, die gutbürgerlichen und die armen Viertel zusammenzufassen. Das war Erziehung zur «Volksgemeinschaft», aber ganz klappte das nicht, denn die Bürgerkinder hatten Uniformen, die anderen oft noch nicht, sie hatten Fahrräder und dann eine eigene Fahrradeinheit, sie wollten Morsen lernen und sie wurden Jungvolk-Führer; freilich, ich brachte es nur zum Oberhordenführer, einer Art Obergefreiten. Dem Übertritt in die wenig ‹feine› Hitlerjugend entkam ich dann, weil ich Cello spielte und die HJ natürlich für solche Menschen ein Orchester hatte. Aber Jungvolk und HJ waren nicht der Ort der Freundschaften. Anders mit dem sozialen Umfeld war es dann noch einmal in der höheren Schule; das war eine alte städtische und eher katholische Bürgerschule, hier fand man individuelle Freunde. Aber dann gab es auch die Clique der Benutzer derselben Straßenbahn, die Linie 2 war es damals wohl: Das waren in meinem Fall nicht vor allem die Marienburger, sondern die noch weiter draußen wohnenden Rodenkirchener, richtige Mittelschicht-Kinder, offener und zugänglicher für mich als die oberen und die unteren. Die Professorenkinder der Straße waren alle viel älter – Juristen wurden jung Professoren. Insofern gab es keine ‹brauchbaren› Kinder in ‹a walking distance›; die Straßenbahn war doch immer außerhalb des Schulbesuchs ein Unternehmen. Aber das war nicht weiter schlimm, denn wir waren fünf, insofern auch autark und uns selbst genug, wie alle Tage Kindergesellschaft, wie ein Einzelbub einmal meinte, und ich noch genau in der Mitte. Auch dieses individuelle Faktum hielt mich in meiner Schicht.

Wie war die materielle, die ökonomische Lage? Da gab es zunächst eine starke Diskrepanz zwischen objektiver Lage und subjektiver Einstellung. Eine solche Familie wie die unsere hatte kein Vermögen, sondern lebte von einem Einkommen, und die Großmütter von ganz schmalen kleinen Pensionen oder Renten. Das Gehalt meines Vaters war nun nicht schlecht, aber auch keineswegs üppig; Köln war sein erster Ruf gewesen. Aber ein juristischer Professor, zumal ein Zivilrechtler, lebt ja nicht alleine vom Gehalt, sondern auch von Nebeneinnahmen, so dass insgesamt die Einkünfte durchaus besser als auskömmlich waren. Aber Aufwand und Moral waren demgegenüber recht spartanisch. Kleidung wurde geflickt, geändert, gewendet, aufgetragen und vererbt; das Essen war bescheiden, und nie ging man in eine Gaststätte; in den Ferien fuhren wir seit 1936 mit Sonderzug und Kinderreichen-Ermäßigung – wir Buben rechneten aus, eigentlich müssten wir noch etwas herauskriegen – in ein altes Bauernhaus in der Ramsau bei Berchtesgaden, 1 Mark pro Bett und Tag, mit einem Brunnen vor dem Haus und Plumpsklo, zum Entsetzen damals schon des Kinderarztes. Ein Auto gab es nicht, trotz einer Garage. Vor allem war die Erziehung an der Norm der Sparsamkeit und Bescheidenheit, der Verachtung der Verschwendung und des Geldprotzens orientiert; wir alle heute wären in dieser Perspektive schlimmste Protze. Wir Kinder bekamen auf der höheren Schule 5 Mark Taschengeld im Monat, davon gingen schon 3,20 Mark für Wochenkarten der Straßenbahn weg und dazu viele kleine Schulausgaben; in die Volksschule lief ich im Sommer oft die halbe Stunde zu Fuß, um 10 Pfennig Busfahrschein für Eis zu sparen. Das war auch im Vergleich zu unseren Klassenkameraden spärlich, und gar zu den reichen Marienbürgern, aber das war kein Grund zur Rebellion, sondern selbstverständlich, ja wir waren, glaube ich, ein bisschen stolz darauf. Es gab natürlich gute reale Gründe für diese Moral, aber ich glaube, es war eher das Erbe der beamteten und dem bürgerlichen Lebensaufwand gegenüber karg besoldeten Bildungsbürger, das Erbe auch einer puritanischen Haltung zu den Gütern der Welt, zu Luxus und Konsum, eine oft als preußisch beschriebene Haltung der Moderatheit, Zurückhaltung, Unauffälligkeit, des ‹Mehr sein als scheinen›. Das waren sozialmoralische Normen, die die Lage, der sie einmal entsprungen waren, lange überdauerten. Es war vor allem meine Mutter, stärker beamtengeprägt als mein Vater, nicht so ins quasi Unternehmerische eines gutachtenden Professors eingewöhnt, puritanischer und nicht so ‹weltlich›, die uns diese Haltung gleichsam unbewusst vermittelte.

Es gab drei große Ausnahmen in diesem puritanischen Lebensstil, die ihn zwar nicht direkt Lügen straften, aber doch eigentlich konterkarierten. Aber das fiel uns als Kindern nicht besonders auf, selbst wenn wir uns mit anderen verglichen. Objektiv aber war das Luxus. Das eine war ein Haus und seit der Geburt der jüngsten Schwester ein großes Haus, mit drei Stockwerken, in dem wir Kinder zwar zu zweit oder zu dritt, die großen Brüder und die drei Kleinen, zusammen schliefen, aber in denen wir doch auch noch ein Kinderzimmer und ein Arbeitszimmer, und ich sogar ein vier Quadratmeter großes Kämmerchen für meine Schularbeiten hatte, und entsprechend war die Raumausstattung für die Erwachsenen. Dazu kam ein großer Garten. Und dann (wie mein Freund Lepsius sagt) die Voraussetzung aller bürgerlichen Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: das Mädchen, das Dienstmädchen, ja genauer in den 30er Jahren, also bis zum Krieg zwei Mädchen, eines für die Küche und eines für die Kinder, lange Zeit wechselnde Schwestern aus einer Familie, patriarchalisch eingebunden, innig geliebt, zumal wenn man mit einer in ihr Dorf durfte. Nur eine kam mit in die Ferien. Da mussten wir im Haushalt arbeiten, Spülen und Abtrocknen vor allem, und sonst manchmal im Garten; erst im Krieg wurde das dann das Üblichere. Keineswegs zog sich meine Mutter in die Rolle der feinen Dame oder in eine gesellschaftliche Existenz zurück, aber ein solcher Haushalt war – vortechnisch – eine große arbeitsteilige Organisation. Und natürlich ein letzter Luxus, der größte gewiss, bei akademisch intelligenten Eltern Ende der 20er Jahre, das waren wir, die fünf Kinder, Wunschkinder; diese Zahl war damals schon nicht mehr so häufig, wie ich genauer weiß, nachdem ich gerade ein Kapitel über den Geburtenrückgang geschrieben habe.

Was gehört nun, auf der Innenseite, zu den bildungsbürgerlichen Beständen? Es gab einen Restbestand von Religion, kulturprotestantischer Religion. Mein Vater war Atheist, ein ordinärer Atheist, wie mein Doktorvater Liebrucks über unseren gemeinsamen Lehrer Nicolai Hartmann sagte, aber er trat vor 1933 aus konventionellen Gründen und nachher aus politischen nicht aus der Kirche aus. Als freilich meine Schwester Dorothee Sölle nach dem Krieg Theologie studierte und gar die rational maskierte und darum besonders ‹üble› liberale Theologie, war mein Vater entsetzt, und nur ihr entstehender Fernsehruhm bot eine emotionale Kompensation. Meine Mutter lebte mit der bürgerlich üblichen, etwas dünnen Kirchenbindung, Heiligabend und Karfreitag, und der Selbstverständlichkeit, dass Kinder in den Kindergottesdienst und zur Konfirmation gingen. Der etwas rabiate, so typisch kulturprotestantische Antikatholizismus meiner Großmutter hatte sich im milden Klima des rheinischen Katholizismus und der Situation der Hitlerzeit aufgelöst.

Im Nachhinein sehe ich natürlich: Die Restbestände von Religion waren sehr viel mehr im Unbewussten und Selbstverständlichen, in der privaten Moral, in den Überzeugungen von Gut und Böse, Schuld und Versagen, Askese, Disziplin, gezügelter Emotion gegenwärtig, – Kultur- und Moralprotestantismus also, und durch die Intellektualität der 20er Jahre vermittelt, ein Stück Pluralismus im Normativen. Immerhin, Religion war auch für 15/16jährige nicht gänzlich abgelebt, sondern noch interessant, freilich wie selbstverständlich von einem Punkt nach der Aufklärung, auf der Basis der Rationalität.

Bildung war nicht nur die Basis von Beruf und Einkommen, sondern spielte eine bedeutende Rolle im Lebenshaushalt, prägte die Lebensführung. Wie sah das aus? Was Bildung war, entzog sich schon damals der Definition, aber deren bedurfte es auch nicht; das Selbstverständliche musste nicht in der Reflexion oder einem Kanon festgemacht werden. Es war keineswegs so, dass es bei uns schrecklich und permanent gebildet, esoterisch oder ästhetisch zuging, dergleichen Durchsetzung des Alltags mit Bildungsstücken konnten wir bei anderen Leuten nicht ausstehen, wir fanden das hochgradig «albern», und ein berühmter Philologe und Nachbar hieß darum bei uns der «Alberfürst».

Wenn ich versuche, die Dinge zu konkretisieren, tritt zunächst die ästhetische Kultur hervor, und zwar in unserem Fall Literatur und Musik. Literatur und Lesen zuerst. Da gab es die Routinisierung kanonisierter Bildung, das abgelagerte Bildungsgut in Gestalt der Klassiker, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts reichten, natürlich einschließlich des Bürgerklassikers Gustav Freytag. Sie standen bei meiner Mutter, und wir älteren Kinder bekamen sie über Geburtstage und Konfirmation, Paten- und Großmütter allmählich zu eigen: dass solche Geschenke nicht Gegenwartsinteressen befriedigten, war so selbstverständlich wie irgend etwas. Was uns fehlte, erwarben wir über Reclam; einer meiner Brüder und ich übernahmen von daher auch ein Stück Vollständigkeits- oder Vervollständigungswahn. Das las man zwar jenseits der realistischen Erzähler nicht eigentlich, insoweit war es wirklich Renommiergut, aber wenn etwas gebraucht wurde, von der Schule oder den ersten Theatererlebnissen angestoßen, dann war es da und führte zu manchen Verbreiterungseskapaden des Lesens. Ich habe so Schillers Dreißigjährigen Krieg und die Befreiung der Niederlande während einer Krankheit gelesen, ein andermal alle Hebbelschen Dramen hintereinander. Und dann gab es, für mich wenigstens, eine ausgesprochene Pflicht, der Langeweile nicht nachzugeben, und also wurden auch die Freytagschen ‹Ahnen› ganz durchgelesen. Dann gab es natürlich das Neue – Thomas Mann und die Zwanziger Jahre –, was man zuhause fand, und die etwas blässlichen oder gar schrecklich betulichen, aber damals heiß geliebten Erzeugnisse der später so genannten Inneren Emigration, wie Carossa oder Wiechert. Und schließlich unser eigenes Reich, wie es 150 Jahre lang typisch gewesen ist, bürgerlich und pubertär, die Lyrik, die lyrische Prosa: Rilke etwa und viele Neugiereroberungen, Wichtiges und Kunstgewerbliches in jenem Geist, und dazu gehörte die eigene handschriftliche Anthologie und auch, ich muss es voller Befangenheit gestehen, das eigene Gedichteschreiben. Dabei war sicher das pubertäre Identitätsverlangen, das Verlangen nach Führung und Geleit, die Stilisierung unverstandener eigener oder die Vermittlung fremder Gefühle stärker als der Sinn fürs Sprachwerk. Dominierend waren wie seit den Pubertäten der Jahrhundertwende die Stimmung des Elegisch-Spätzeitlichen, Herbstlichen, der unbestimmten Trauer, die Weisen von Liebe und Tod, die Sonntagnachmittagsgefühle, tristesse oblige – wie es jetzt zur Ortsbestimmung der Gegenwart gehört – freilich sehr fern von Wirklichkeitserfahrungen, introvertiert, mit anempfundenen Gefühlen. Auch die expressionistische Revolte, die wir durchaus zur Kenntnis nahmen, blieb noch in diesen Hintergrund integriert.

Dann die Musik. Innerlichkeitsreich fast aller gebildeten Deutschen, merkwürdig aus Routine, Spontaneität und Können gemischt. Mein Vater war unmusikalisch, meine Mutter machte selbst keine Musik, und ihr Verständnis war das eines Laien. Aber natürlich, ein ‹Flügel› gehörte zur bildungsbürgerlichen Wohnungseinrichtung, wie bei der wirklich armen Richterswitwe, meiner Großmutter. Mein Bruder bekam über zehn Jahre hinweg Klavierauszüge geschenkt, man wurde auch ins Konzert geschleppt, und Gründonnerstag und Matthäus-Passion waren fest verbunden, und natürlich lernten wir auch, freilich zu spät, nämlich erst mit zehn Jahren, Klavierspielen. Das waren die routinisierten Weisen, wie Musik «dazugehörte». Der geographische Urgroßvater hatte komponiert (er war mit Conrad Fiedler befreundet), der Richter-Großvater, Pfarrerssohn, hatte auf Musik als Beruf verzichtet. Aber das war natürlich auch Angebot und Provokation, und für mich wurde es wichtig. Beim Klavierspielen, einen ganzen Nachmittag kam die Lehrerin ins Haus, habe ich auch Harmonie- und Kompositionslehre und gar die Anfangsgründe des Kontrapunkts gelernt, später fing ich auch noch mit dem Cello an, und weil ich mit Theodor Schieder, dem großen Historiker, ein wenig Quartett spielte, konnte ich, nach meiner philosophischen Promotion ratlos, ihn fragen, was ich tun sollte, und er verwies mich darauf, doch Historiker zu werden. Insoweit hängen bürgerliche Musikkultur und das, was ich geworden bin, noch immer zusammen. Als ich 14/15 war, wollte ich unbedingt Dirigent oder Komponist werden und übte zur nicht ungetrübten Freude der noch vorhandenen Familie fünf Stunden am Tag (ehe die Flakhelferzeit das alles abbrach). Und da die Musikhochschule neben unserer Schule lag, habe ich in diesen Jahren die Menge der Werke, die man heute mit Radio, Platte und Band sich erwirbt, in Übungs- und Vorspielabenden mir angeeignet, und eine merkwürdig theoretische Kenntnis der Musiker der 20er Jahre. Vielleicht ein bisschen viel Innerlichkeitstraining, Anti-Opernkultur und Anti-Pathos und – was beim Militär dann eine Rolle spielte – leider auch Anti-Jazz, trotz formaler Schulung, aber doch eine ernsthafte Sache, eine Welt neben der Wirklichkeit und gegen sie.

Auf mein jugendliches Interesse für Geschichte, durch historische Romane gespeist, will ich heute nicht eingehen, das führt zu sehr ins Fach und ist nicht typisch.

Wichtig ist das intellektuelle Element, das über die ästhetische Kultur hinausreichte (an die Ränder der Wissenschaft). Das Leben war von Fragen und Reden und Reflektieren geprägt, war mit historischem und literarischem Wissen gekoppelt: war immerzu kommentiertes Leben, der nicht so autoritäre Familienstil – dieses Spätprodukt des Bildungsbürgertums – ließ dafür genügend Raum. Und durch zwei ältere Brüder wurde ich natürlich weiter fortgezogen, als es meinem Alter entsprach. Wichtig für die Ausbildung dieses Stils waren zwei Dinge. Das eine war die Professorengesellschaft und -nachbarschaft einer jungen Universitätsstadt. Meine Eltern lebten in einem heute vergangenen Geflecht von Kollegialbeziehungen, zwischen hochgebildeten rheinischen Juristen, Volks- und Betriebswirten, Mathematikern und endlich Philologen und Historikern, organisiert sogar in einem ‹Kränzchen›. Obwohl wir Kinder unsere Reserven gegen alle diese ‹Kerle› hatten, und manchmal mehr noch gegen ihre Frauen, reichte das doch auch in unser Leben: der genialische Herbert Schöffler etwa oder der Germanist Ernst Bertram, Georgianer, Dichter, Thomas Manns Ex-Freund und glühender Nationalist, ein Bildungsbürger katexochen, der Samstag nachmittags offenes Haus hatte, voller Musik. Das andere, was für den Stil wichtig war, war meine Mutter, und, da ich hier nicht privat reden will, der sozialkulturelle Typ, den sie verkörperte: Sie hatte mit 19 geheiratet und fünf Kinder bekommen, hatte nicht studiert und hatte keinen Beruf und war insoweit den Lebensbedingungen nach eine altmodische Existenz. Aber sie war ein Produkt der 20er Jahre, sie hatte nach dem Krieg noch Abitur gemacht (und wollte eigentlich Medizin studieren), sie hatte an der Kultur und auch an der Frauenbewegung der 20er Jahre intensiv teilgenommen, war ganz und gar in der Bildungswelt zuhause, nicht auf die Hausfrauen- und Mutterrolle beschränkt, Gesprächspartner wilder Diskussionen, und prägend für die Atmosphäre. (Als ein Lehrer gut patriarchalisch die fehlende Unterschrift des Vaters auf dem Zeugnis monierte, soll ich unwillig gesagt haben: das macht bei uns die Mutter.)

Wenn ich im Nachhinein diese ‹Bildung›, meine Geschichte mit ihr bedenke, so lebten wir angesichts der zwei Kulturen, von denen die europäische Welt der letzten 200 Jahre erfüllt ist, ganz klar in der einen Provinz. Naturwissenschaft und Technik waren uns trotz mancher zaghafter Annäherungsversuche fremd. Auch die Welt von Recht und Wirtschaft lag uns Kindern – trotz des Vaterberufs und der juristischen Verwandtschaft – fern. Von uns fünf Kindern haben die vier älteren alle an der philosophischen Fakultät studiert – der Vater und sein Beruf waren zu ‹weltlich›, zu praktisch, zu geldbezogen (so erklärte ich es mir hinterher). Endlich fehlte uns – eine Folge der entlasteten ökonomischen Existenz – auch der Sinn fürs Praktische und Handwerkliche (auf die Aufforderung, mich für die Reparatur einer Installation zu interessieren, soll ich schon als Kind erklärt haben, dafür holt man dann einen Mann – sicher eine gute Vorbereitung für das heutige Alltagsleben). Diese Einseitigkeit der Bildungswelt und ihre Realitätsdistanz, die im Grunde auch durch die Schule gestützt wurde, war gewiss eine ihrer Schattenseiten und produzierte, noch einmal, ein Übermaß an jugendlichem Innerlichkeitstraining. Bei mir und mehreren meiner Geschwister kam noch hinzu, aber das war nicht mehr schichtentypisch, die Distanz zum Sport; gut in Sport und sonst bei mäßigem Verstand, das wurde hochmütig korreliert, vielleicht lag das auch an der wohnbedingten Distanz zum Raufen und Balgen und also zu den Kampfspielen. Die für den Flachländer vornehme Sommerleidenschaft des Bergsteigens war da kein Ersatz.

Zu dieser Jugendkonstellation gehört auch die emphatische pubertäre Freundschaft – die meine hat bis heute gehalten – und gehört die große Zurückhaltung in unserem Verhältnis zum anderen Geschlecht. Nicht mehr Verbote oder Repressionen prägten das, aber doch selbstverständliche Tabuisierungen und die Trennung des Idealisch-Seelischen vom Sinnlichen, und das galt, obwohl wir mit zwei Schwestern und deren Freundinnen natürlich vergleichsweise unbefangen aufgewachsen sind. Meine erste Liebe, mit 16/17, ein unbürgerliches und abenteuerliches Mädchen, habe ich bedichtet, ich habe mit ihr Volkslieder und dergleichen gesungen, am Wiesenrand oder vor einer Scheune, sie spielte wunderbar Laute, wir haben uns an der Hand gehalten und angestrahlt, aber geküsst haben wir uns nicht. Dazu gehörte auch die Diskretion, die Bürgermoral, dass man alleine mit seinen Sachen fertig werde, mit Schmerzen und Freuden, und dass das – anders als heute üblich – die Mitwelt nichts anging. Eduard Spranger hat in seiner ‹Psychologie des Jugendalters› all das beschrieben, das hat uns damals bestätigt, und darum weiß ich heute, wie viel an meinen Erfahrungen über-individuell, allgemein war; freilich, der Historiker sieht heute leicht, dass Spranger nicht, wie er meint, Lebensformen beschreibt, sondern eine schichten- und zeitspezifische Mentalität.

Am Rande spielte die Jugendbewegung auch in unser Jungenleben herein. Meine Eltern waren, anders als viele ihrer Generationsgenossen, davon nicht geprägt, aber es gab eben diese anderen, die halbjüdische Mutter eines Schulkameraden vor allem oder die etwas indianische Frau des Strafrechtlers, die drei Kinder in unserem Alter hatte und aufs Land in ein Bauernhaus zog und Schafe hielt und Obst anbaute. Das brachte uns zum Wandern und zum Land, und wir selber eroberten uns dann die Quasi-Abenteuer der Jugendbewegung und mit ihren Liedern, mit und ohne Schule und Hitlerjugend, die ja ein Stück dieses Erbes auch weitergaben, natürlich auch einen, freilich artifiziellen, Erfahrungsraum. Da kam in ein Leben, das gar nicht bewusst abgeschirmt war und keineswegs ‹overprotected› sein sollte, aber es doch de facto ein Stück weit war, zwischen der Hauptprovinz Schule und der Nebenprovinz Jungvolk etwas Unabgeschirmtes und Abenteuerliches, was uns vielleicht fehlte, herein.

Aber die nachträgliche Sorge vor zu viel wohlgeordneter Wirklichkeitsferne dieser jungen Jahre hatte sich längst von selbst erledigt, und zwar durch den Krieg. Das fing früh an, schon als meine Brüder zum Arbeitsdienst und dann zu den Soldaten kamen, als die ersten Bomben in Köln fielen. Mit 15 Jahren und 3 Monaten kam ich als Luftwaffenhelfer zur Flak, ein empfindsamer Individualist, in die Kaserne und das Barackenleben, den rauen Ton der pausenlosen und von dem Lauten beherrschten Gemeinschaft; freilich, das war auch ein Ausgleich mit praktischer Lebensbewältigung und durchschnittlichem mitmenschlichen Leben.

Von der Politik zu reden habe ich bis zuletzt aufgeschoben, es ist wichtig genug, Nazizeit und gebildetes Bürgertum sind ja einschlägige Reizworte. Meine Eltern freilich passten in diese Tradition nicht hinein – machtgeschützte Innerlichkeit, gebildete Apolitie. Die Familien waren bürgerlich-national, die mütterliche schon süddeutsch-skeptisch gegen das Zuviel an Wilhelminismus und Kriegsbegeisterung; freilich, die Ausweisung aus Straßburg band meine Großmutter ins Deutschnationale und später Volkskonservative. Meine Mutter aber war davon nicht berührt. Mein Vater hatte radikalnationale Anwandlungen nach dem Krieg schnell hinter sich gelassen. Kennen gelernt hatten sich die Eltern bei einem Onkel der Mutter in Jena, Rechtsprofessor und Demokrat und einige Jahre sogar Reichstagsabgeordneter. Sie waren dann seit Mitte der 20er Jahre durch die Atmosphäre der jungen Universität in Köln geprägt worden, in der es, im Vergleich zu älteren Universitäten, außer Berlin und Heidelberg vielleicht, relativ viele liberale Demokraten – für meine Fachgenossen erwähne ich Johannes Ziekursch oder Bruno Kuske – und durchaus überproportional viele Juden gab. Und meine Eltern hatten viele jüdische Freunde. Ob mein Vater auch in Rostock Republikaner gewesen oder geworden wäre, weiß ich nicht, in Köln war er es. Meine Mutter wählte wohl demokratisch, mein Vater Stresemanns DVP, und für die kandidierte er dann auch zuletzt: «Aus Not und Elend macht Euch frei allein die Deutsche Volkspartei, mit Nipperdey und Dingeldey» (der war damals Parteivorsitzender), wie der demokratische Rechtshistoriker und Nachbar Hans Planitz spottete. Von dem Jenaer Onkel stand im Bücherschrank ein Exemplar von Hitlers ‹Mein Kampf› von 1931 oder 1932, mit der später hochgefährlichen Eintragung: «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.»

Man hat natürlich 1933 und danach viele Gesinnungswandlungen erlebt, aus prinzipiellen, aus taktischen, aus opportunistischen Gründen, gerade bei den Bürgern, den Wirtschafts- und Bildungsbürgern, und gerade bei denen, die als Beamte an den Staat gebunden waren. Und der Anpassungsdruck auf einen Beamten, und auch einen Professor mit einem nicht gerade esoterischen, sondern doch halbpolitischen Fach war gewiss stark, und so gab es manche Anpassungsrhetorik. Aber da war nun – abgesehen von liberalrechtsstaatlicher Bürgerlichkeit – die jüdische Großmutter. Sie machte ein Mitlaufen eh unmöglich, zwecklos. Zwar wurde die Herkunft der Großmutter verschwiegen, aber das war kein wirklicher Schutz, intern wusste jeder in der Zunft davon.

Für uns Kinder war zweierlei wichtig. Wir erfuhren nichts über die Großmutter und die Gefahren, Politik war kein Redethema. Aber die Distanz zum System war ungreifbar deutlich. Der Anschluss Österreichs war etwas Positives, aber der des Sudentenlandes war in erster Linie Erhaltung des Friedens. Aber da wir zum Jungvolk gehörten, wussten wir auch, wie man nicht auffällt. (Mit allerlei Tricks entzog uns unsere Mutter z.B. allen Ferienlagern der Hitlerjungen, manchmal mit einer Art indirekter Bestechung, das war nicht immer zu unserem Wohlgefallen, da wir von solchen Dingen uns auch Abenteuer oder Spaß erwarteten.) Im Krieg war die Sache dann deutlicher, nicht nur, weil wir die ‹Frankfurter Zeitung› und nicht den ‹Westdeutschen Beobachter› lasen, sondern weil wir eben Beromünster und dann den englischen Sender hörten. Nun folgen ja Kinder keineswegs den Eltern, aber in diesem Fall übertrug sich jedenfalls das, was wir wahrnahmen: schweigsame Distanz. Es blieb mir zwar etwas dunkel, warum ich nicht mehr wie meine Brüder aufs Gymnasium kam, sondern auf die Schule meiner Brüder, obwohl die 1937 ‹Deutsche Oberschule› wurde; der Grund war, dass die beiden humanistischen Gymnasien, die in Köln bestehen blieben, alte preußische Beamtenschulen, stramme NS-Schulen geworden waren, während die unsere eine städtische katholischliberale Tradition hielt, aber das wusste ich nicht.

Unsere Lehrer waren gemischt: alte katholische Liberale, wie der Vater meines mediävistischen Kollegen Klingenberg, der, als einer auf die Frage, was denn Freiheit sei, am Montagmorgen die Antwort des gerade gesungenen Fahnenliedes gab: «Freiheit ist das Feuer», schlicht und zu unserem Erstarren sagte: «Das ist Quatsch», und der mit Vergnügen mir eine Geschichte der 48er Revolution vom Sozialdemokraten Blos aus der Bücherei auslieh; daneben diejenigen, die die halbjüdischen Mitschüler schützten; auch überzeugte Deutschnationale, die freilich keine politischen Treuebekenntnisse verlangten: Als ich im Februar 1943 in einem Besinnungsaufsatz, vor meinem Einsatz als Flakhelfer, die Frage über Grund und Sinn des Kriegseinsatzes mit der hilflos-leeren Formel «es wird nicht umsonst sein» übersprang, schrieb ein solcher dazu: Darüber wäre wohl mehr zu sagen, gab mir aber trotzdem eine 1. Dann kamen ein deutschgläubiger Religionslehrer mit abgebrochener Pfarrerkarriere oder ein direkt aus der Jugendbewegung in die Hitlerjugend aufgestiegener Musiklehrer, aber beim Singen und Spielen war das ja nicht so wichtig. Selbst bei den Assessoren gab es solche und solche: Ein Geschichtslehrer, der die merkwürdig komplexe Aufgabe für 15jährige gestellt hatte, den ständigen Verfall des Deutschen Reichs zwischen 1250 und 1648 zu erklären, meinte zu der Antwort, das liege an Inzucht und rassischer Degeneration der Habsburger – so stand es auch im Buch –, das sei, noch einmal, Quatsch.

Manche der katholischen Mitschüler waren auch durch den Kirchenkampf tangiert und ließen das merken. Ich bin während des Krieges ein halbes Jahr in Darmstadt auf einer Schule gewesen und zuletzt dann in Jena: In Köln war die NS-Durchprägung des Alltags deutlich geringer, man sagte z.B. einfach nicht dauernd ‹Heil Hitler›, wie in den beiden anderen protestantischen Städten. Kurz, die Schule war nicht total gleichgeschaltet und so ließ sich das Stück bildungsbürgerlichen Lebens jenseits politischer Totalansprüche auch ohne Konflikt zwischen Schule und Zuhause halten.

In unserer eigentlichen Kinderzeit gab es noch jüdische Spielgefährten, Kinder von Kollegen, einer blieb gar bis 1939, und ähnlich war es auf der Oberschule. Am 9. November 1938, nach der Reichskristallnacht, befahl unser eben ernannter Nazi-Direktor dem Hausmeister, seine SA-Uniform anzuziehen und die jüdischen Schüler nach Hause zu bringen. Als die großbürgerlichen Jungvolkführer uns sagten, dass der Führer von alledem nichts wisse, gaben unsere Eltern ein seltenes Mal eine klare politische Meinung zu erkennen, das sei nämlich die Ansicht jener großbürgerlichen Eltern, etwa des Verlegers Neven DuMont, nicht aber die Wahrheit. 1937/38 freundeten mein Freund Hans Eggers und ich uns mit einem halbjüdischen Mitschüler an, aber das wussten wir vor dem November 1938 nicht: das war eine Reaktion kindlichen Gerechtigkeitsgefühls, underdog-Sympathie. Mein Vater hat den Jungen und seine jüdische Mutter im Herbst 1944 gar, angstschlotternd und etwas überrumpelt, für ein paar Wochen versteckt, nach dem Krieg zerging die Freundschaft ganz unmittelbar, wir hatten uns nichts zu sagen. Sie war ein Produkt der Situation gewesen. Immerhin, die Tatsache der jüdischen und dann vor allem der halbjüdischen Mitschüler hielt eine gewisse Distanz wach.

Natürlich, wir machten beim Jungvolk mit ohne Dauerprotest, nicht wider Willen, lernten und sangen alle die schmissigen Lieder, ohne den Unsinn der meisten Texte zu durchschauen – manche sind mir noch heute gegenwärtig – und hatten bei den Nationalchorälen des Ersten Weltkriegs – R.A. Schröders ‹Heilig Vaterland› oder des Sozialdemokraten K. Bröger «Nichts kann uns rauben …» – erhabene Gefühle. Natürlich litten wir mit den Staufern und ritten mit Konradin und begeisterten uns für altisländische Helden und Sprüche der Edda, und Meister Ekkehard, das Straßburger Münster, Matthias Grünewald waren Inkarnationen der deutschen Seele, die «Allerdeutschesten»; die Burenbegeisterung und Ohm Krüger waren emotionale Fixpunkte (während freilich in den Bismarckfilmen mit E. Jannings die Antihelden Virchow und Mommsen als die ‹Feineren› und weniger Groben Sympathien auf sich zogen) … Und die nationale Größe und auch ihre Wunden waren uns selbstverständlich, Demokratiekritik hatte als Plutokratiekritik Resonanz. Also unanfällig für manches waren wir nicht. Der bildungsbürgerlich versetzte Nationalismus der Generation des Ersten Weltkriegs war durchaus eine Macht (und wäre es ohne die Sonderlage der Eltern noch mehr gewesen), und ebenso die ältere Abwertung des Politischen, die Haltung eines Unpolitischen. Und für mich und meine Freunde konnte die Verachtung des Banausischen leicht in Bewunderung des Heroischen umschlagen, jenseits der Frage nach humanem Leben und Gerechtigkeit, nach Gut und Böse.

Die letzten Kriegsjahre, die Jahre bei der Flak waren auf seltsame Weise doppelbödig. Politisch waren wir freier dran, mit dem Mitleidseffekt, 15- und 16jährig schon halb Militär zu sein, und wir nutzten das. Wir legten unsere HJ-Armbinden immer ab und hörten nachts, wenn wir in Bereitschaft waren, manchmal auch mit unseren Unteroffizieren, den englischen Sender. Ich erinnere mich noch genau an den Übergang Italiens ins alliierte Lager, an Badoglio im Sommer 1943; wir kannten das Lied von den Edelweißpiraten (ohne recht zu wissen, was das war), hörten mit den jüngeren Unteroffizieren auch die eigentlich verbotene Jazzmusik, kurz, es gab leicht anarchistische Tendenzen. Ideologiepolitisch steckte in unserer Haltung auch und noch einmal ein Rest bildungsbürgerlicher nationaler Traditionen – das gute Militär und die schlechte Partei. Feldgrau werde sich gegen braun durchsetzen – so suchte der nationale Guru Ernst Bertram die Bedenken eines 16jährigen über die Zukunft zu zerstreuen. Und natürlich lebten wir – pubertierend, idealisch, ästhetisch, naturselig – auch in den Nischen von Krieg und Politik, unwirklich intensivierte Lebensstücke, gerade z.B. im schönen Sommer 1944, das ist ja von anderen oft beschrieben worden. Ich bin noch im August 1944, in einem Urlaub durch Mecklenburg – leider nicht mehr durch Masuren – gewandert. Erst im Herbst 1944 war dann die Frage nach dem baldigen Ende und dem Überleben allein auf- und vordringlich – für mich vom Februar bis April 1945 noch einmal vor der Folie einer groß- und bildungsbürgerlichen Lebenswelt meiner Tante in Jena aus der Schott-Familie, was uns nun in dieser Katastrophe schrecklich auf die Nerven ging.

Meine Geschichte ist zu Ende, und sie hat keinen Schluss. Meine Frau meint, zu einer Jugendgeschichte gehörten doch auch die Studienjahre, die Nachkriegszeit. Aber in meiner Perspektive der Bürgerlichkeit gehört sie nicht mehr eigentlich dahin – denn die ungeheure Egalisierung, die die Lebenslage nach 1945 schuf, machte uns als Studenten alle gleich (und mich ein bisschen älter, weil ich mit den Kriegsjahrgängen zusammen studierte). Die Frage nach dem Bildungsbürgertum wäre für unsere Stimmungslage und unsere Erfahrungen ganz inadäquat – was uns an Resten davon bei den Professoren begegnete, war von gestern und vorgestern. Das was ich viel später lieben gelernt habe, das bürgerliche 19. Jahrhundert, hasste ich damals, falsche Sekurität wie Anfang unserer Katastrophe, und wer dagegen die Größe dieses Jahrhunderts hielt, wie der Philosoph Heimsoeth, erregte meinen ersten existenzialistischen Zorn. Beides, das positive wie das kritische Verhältnis zur bürgerlichen Tradition, wie es sich in meiner so individuellen wie typischen Jugendgeschichte und ihrer historisch belehrten Reflexion spiegelt, hat mich wohl geprägt und ist in mein wissenschaftliches Bemühen eingegangen, und meine Kritiker, die mich für den Großmogul des Neohistorismus halten, werden mit Lust diese subjektiven Wurzeln des von ihnen bekämpften Objektivitätspostulats zur Kenntnis nehmen. Aber recht hätten sie dennoch nicht.

Ich kenne die Sünden und Gefahren der deutschen Bürger, und der Bildungsbürger zumal. Aber die Perspektive, die sie auf dem Weg in die Katastrophe sieht, teile ich nicht, und das mit Gründen. Sie gehören nicht auf den Schutthaufen der Geschichte.

2.
DIE ANTHROPOLOGISCHE DIMENSION
DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT

I.

Der Titel der nachfolgenden Überlegungen[1] mag verwunderlich erscheinen. Es mag schwierig sein, Übereinstimmung darüber zu erzielen, wie denn exakt der Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu bestimmen sei. Unstrittig aber ist, dass die Geschichtswissenschaft sich mit vergangenen Ereignissen und Prozessen, Institutionen und Zuständen, Werken und Sozialgebilden beschäftigt, in deren Mittelpunkt der Mensch als handelndes und leidendes (von Ereignissen und Handlungen betroffenes) Wesen steht. Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist die Vergangenheit des Menschen, sofern sie anderes und mehr ist als eine biologische Vergangenheit. Die Geschichtswissenschaft ist insofern eine Wissenschaft vom Menschen, wobei zunächst die Kategorien der Zeitlichkeit, genauer der Vergangenheit, und die Kategorien des «Mehr-als-Biologischen» sie von anderen Wissenschaften vom Menschen unterscheiden. Ist darum unser Titel nicht eine Trivialität?

Es kommt hier zunächst auf eine Begriffsklärung an. Der Begriff Anthropologie wird gegenwärtig unterschiedlich gebraucht. Innerhalb der empirischen Wissenschaften meint er die biologische Wissenschaft vom Menschen einschließlich der biologischen Verhaltensforschung – das bleibt in unserem Zusammenhang weitgehend außer Betracht. Im Sprachgebrauch der deutschen Geistesgeschichte, der Theologie oder Philosophie wird damit auch die Vorstellung, die Lehre vom «Wesen» des Menschen, die einer Philosophie oder Kirchenlehre oder «Weltanschauung» explizit oder implizit zugrunde liegt, bezeichnet, in diesem Sinne kann man die «Anthropologie» von Hobbes, Rousseau oder Hegel, von Johannes oder Luther oder die Anthropologie des Katholizismus oder des Marxismus analysieren. Auch diese Verwendung des Begriffs soll hier außer Betracht bleiben. Wichtig für unseren Zusammenhang sind zwei andere Versionen von «Anthropologie». Das ist einmal die im angelsächsischen Bereich wohl etablierte cultural anthropology[2]; diese beschäftigt sich primär mit dem Sachbereich, den im deutschen Sprachgebrauch die Fächer Völkerkunde (Ethnologie) und Volkskunde behandeln, und versucht mit Hilfe spezifischer Methoden und Modelle eine «Kultur» nach allen Richtungen und Dimensionen zu erforschen und in ihrem inneren Zusammenhang zu begreifen; dabei geht sie aber mit ihrem Ansatz des Fragens über die einfachen Kulturen hinaus, d.h. sie tendiert dahin, auch komplizierte und differenzierte Kulturen oder Gesellschaften zu ihrem Objekt zu machen – eine Ausweitung der Forschungsgegenstände, für die die Abfolge der Untersuchungen von M. Mead z.B. charakteristisch ist. Zum andern ist zu nennen der im deutschen Sprachraum üblich gewordene moderne Begriff einer philosophischen Anthropologie. Arnold Gehlen etwa, der hier nur als Beispiel steht, hat versucht, eine solche philosophische Anthropologie als eine empirisch gesicherte Theorie des Menschen als handelnden Wesens zu entwerfen und durchzuführen. Die philosophische Anthropologie nun steht in enger Beziehung zur Kulturanthropologie, auch wenn beide von verschiedenen Ausgangspunkten und -interessen ausgehen, sich von unterschiedlichen Methoden leiten lassen und zu verschiedenen Ergebnissen kommen mögen. Von daher bestimmen wir den hier zugrunde gelegten Begriff der Anthropologie.

Anthropologie fragt aufgrund empirischer Analysen nach Grundstrukturen und -kategorien des menschlichen Daseins, nach menschlichen Verhaltens-, Handlungs-, Denk- und Antriebsformen, nach ihrer Prägung durch soziale Institutionen und nach dem wechselseitigen Geflecht und dem Entstehungszusammenhang von Institutionen, Kultur und Person oder kurz: ihr Gegenstand sind die Strukturen menschlichen Handelns und Sichverhaltens. Eine systematische Anthropologie zielt dabei im Gegensatz zu den konkreten und abgegrenzten Untersuchungsobjekten der ethnologischen Kulturanthropologie auf invariable Gefüge und Gesetze ab, die für alle Gesellschaften gelten, das mag z.B. gerade die Plastizität aller menschlichen Strukturen sein; oder sie stellt wie die systematische Kulturanthropologie, die jene Einzeluntersuchungen zusammenfasst, ein Gefüge von Strukturvariationen, eine Typologie von Grundmöglichkeiten und Grundformen des menschlichen Daseins auf.