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Tim B. Müller | Adam Tooze (Hg.)

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Normalität
und
Fragilität

Demokratie nach
dem Ersten Weltkrieg

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition

© 2015 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

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Tim B. Müller | Adam Tooze

Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg

IKonstellationen, Kontinuitäten und Konvergenzen

Adam Tooze

Ein globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen

Hedwig Richter

Die Konvergenz der Wahltechniken und die Konstruktion des modernen Wählers in Europa und Nordamerika

Benjamin Schröder

Wer ist Freund, wer Feind?

Parteien und Wähler in politischer Unsicherheit

Laura Beers

Frauen für Demokratie

Möglichkeiten und Grenzen des zivilgesellschaftlichen Engagements

Andrea Rehling

Demokratie und Korporatismus – eine Beziehungsgeschichte

Philipp Müller

Neuer Kapitalismus und parlamentarische Demokratie

Wirtschaftliche Interessenvertreter in Deutschland und Frankreich

Moritz Föllmer

Führung und Demokratie in Europa

IINationale Kontexte, Konflikte und Kontingenzen

Helen McCarthy

Das »Making« und »Re-Making« der demokratischen Kultur in Großbritannien

Ben Jackson

Keynes, Keynesianismus und die Debatte um Gleichheit

Jessica Wardhaugh

Demokratische Experimente in der politischen Kultur Frankreichs

Tim B. Müller

Demokratie, Kultur und Wirtschaft in der deutschen Republik

Philipp Nielsen

Verantwortung und Kompromiss

Die Deutschnationalen auf der Suche nach einer konservativen Demokratie

Stefanie Middendorf

Finanzpolitische Fundamente der Demokratie?

Haushaltsordnung, Ministerialbürokratie und Staatsdenken in der Weimarer Republik

Urban Lundberg

»Volksheim« oder »Mitbürgerheim«?

Per Albin Hansson und die schwedische Demokratie

Jeppe Nevers

Demokratiekonzepte in Dänemark nach dem Ersten Weltkrieg

Johanna Rainio-Niemi

Die finnische Demokratie in der Zwischenkriegszeit

Elisabeth Dieterman

Demokratische Perspektiven in den Niederlanden der 1930er Jahre

Andrea Orzoff

Das Personal und das Vokabular der Demokratie

Die Erste Tschechoslowakische Republik

Till Kössler

Demokratie und Gesellschaft in Spanien

Populäre Vorstellungen der Zweiten Republik 1931–1936

Jason Scott Smith

Der New Deal als demokratisches Projekt

Die Weltwirtschaftskrise und die Vereinigten Staaten

Zu den Autorinnen und Autoren

Zu den Herausgebern

Tim B. Müller | Adam Tooze

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Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg

Gibt es eine Geburtsstunde der modernen Demokratie? Die jüngste Forschung bietet Grund, zur Untersuchung dieser Frage in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere auf die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zu blicken. Das ist auch der Ansatz, den dieser Band vorschlägt und verfolgt. Sein Thema ist das making of democracy im Ersten Weltkrieg und vor allem nach 1918. Er begreift die Demokratie dieser Zeit konsequent als etwas im Entstehen Begriffenes. Eine solche Lesart folgt aus einer vergleichenden, nationale Grenzen überschreitenden Betrachtungsweise.

Aber damit wird die Vorgeschichte nicht ausgeblendet. Bereits im späten 19. Jahrhundert baute sich eine globale Demokratisierungswelle auf und machte sich ein weltweites Demokratisierungsverlangen bemerkbar. Erweiterungen des Wahlrechts waren an der Tagesordnung, doch das allgemeine Wahlrecht lag für die meisten Gesellschaften noch fern. Diese ungleichen, aber gleichzeitigen Entwicklungen sind als »Demokratisierungsepisoden« bezeichnet worden. Die Demokratie wurde zur globalen Erwartung.1 Das gilt auch für traditionell als demokratisch geltende Gesellschaften, die jedoch erst in dieser Epoche entscheidende Demokratisierungsschübe erlebten.2

In dieser Perspektive summierte sich im Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach die Vielzahl der Demokratisierungsimpulse, teils unabhängig vom Krieg und teils bedingt oder beschleunigt durch den Krieg, zu einem qualitativen, fundamentalen Wandel. Die Demokratiegeschichte ist eine Geschichte multipler Temporalitäten. Sie ist ohne Vorläufer und Vorbilder, ohne Traditionen, in die sich die Handelnden nach dem Ersten Weltkrieg einschrieben und auf die sie sich zur Legitimationsstiftung beriefen, nicht denkbar. Aber sie ist auch nicht begreifbar, ohne die Neuartigkeit der Globalität, Gleichzeitigkeit und Geschwindigkeitssteigerung zu registrieren, die mit dem Beginn des massendemokratischen Zeitalters einherging, und die zuvor ungekannten Herausforderungen zu berücksichtigen, denen sich all diese neuen Demokratien gegenübersahen und für die sie angemessene Umgangsweisen entwickeln mussten. Die Grundregeln des Politischen änderten sich schlagartig. Neue Unsicherheiten und neue Möglichkeiten strukturierten den politischen Handlungshorizont.

Diese Lesart beruht auch auf theoretischen Einsichten. Ein so vielfältiges und vielschichtiges gesellschaftliches Gefüge wie Demokratie lässt sich nicht auf den Punkt bringen; dieses Gewebe aus Vorstellungen und Handlungen, Institutionen und Ideen, Gewohnheiten und Affekten beschreibt eine politisch-kulturelle Entwicklung und keine definitive, historisch stillgestellte Verfassungsordnung. Das Prozesshafte der Demokratie fasst der französische Denker und Historiker der Demokratie, Pierre Rosanvallon, in das mittlerweile vielzitierte Aperçu, wonach es einer Geschichte der Demokratie »nicht allein darum geht, dass die Demokratie eine Geschichte hat. Es gilt, den radikaleren Gedanken in Betracht zu ziehen, dass die Demokratie eine Geschichte ist3

Rosanvallon gehört zu den Stichwort- und Impulsgebern neuer Geschichten der Demokratie, denen nationale Pädagogik, das Verteilen von Zensuren und die normative Überhöhung einer selbst nicht historisierten Gegenwart widerstrebt, ohne dass sie den Zusammenhang ignorieren, der diese Geschichte, die sich selbst Demokratie nennt, in all ihrer Widersprüchlichkeit verbindet. Die Grundlagen für ein solches Vorgehen wurden schon vor Jahren gelegt.4 Es gab seitdem bedeutende und verdienstvolle Unternehmungen, die internationale Forschung über die Demokratie seit 1900 oder in der Zwischenkriegszeit ins Gespräch zu bringen, wobei es zumeist jedoch beim Festhalten am Definitorischen blieb, wenn auch die der gegenseitigen Übersetzbarkeit zwischen den Disziplinen dienenden Definitionen immer offener wurden.5 Bis in maßgebliche historische Darstellungen hinein überwiegt dabei nach wie vor eine pessimistische Perspektive, die eher die extremen Krisen, die Schwäche oder den Untergang der Demokratie erklären als ihre Chancen ausloten oder Erwartungshorizonte erkunden will. Ambivalenzen – etwa die Spannungen zwischen individuellen Rechten und kollektiven Ligaturen, der Ruf nach Führung und Stärkung der Exekutive oder die in Demokratien ubiquitäre Parlamentarismus- und Parteienkritik – treten dabei kaum als konstitutive, »normale«, unvermeidliche, weiterhin theoretisch und praktisch herausfordernde Merkmale von Demokratien auf, sondern häufig als destruktive Vorboten des Zerfalls.6

Einen anderen Weg weisen Interventionen und Untersuchungen, die sich vom Versuch der historischen Fixierung lösen und mit einem nominalistischen Zugriff experimentieren, der jedoch kein antiquarischer Nominalismus ist. Diese Debattenrekonstruktionen setzen bei den Vorstellungen und Erwartungen, Selbst- und Situationswahrnehmungen der Zeitgenossen an, sie analysieren Ereignisse und Entwicklungen in ihren individuellen Kontexten, sie sind kontingenzsensibel. Zugleich leugnen diese Ansätze nicht das Kontinuitätsproblem, das sich auch im Hinblick auf die vielen zu rekonstruierenden Demokratie-Geschichten stellt: Die Handelnden schrieben sich selbst in eine kontinuierliche Geschichte der Demokratie ein, die auch als Akteursvorstellung nur in Überschreitung lokaler Kontexte und unter Zuhilfenahme strukturanalytischer Vorgehensweisen zu erschließen ist. Zuletzt verschließen sich diese Forschungen und Überlegungen nicht der theoretischen Herausforderung, die sich aus dieser Historisierung von Kulturen und Konzeptionen der Demokratie ergibt: Sie zwingt uns, die Fragen nach der Fragilität und Stabilität, nach den Integrationsmöglichkeiten und Ausgrenzungstechniken, nach den Erschöpfungszuständen und der Kreativität, nach den Potenzialen – den eröffneten wie den unausgeschöpften – und Grenzen der Demokratie neu zu stellen. Demokratie lässt sich auf diesem historischen Fundament nur als fragile und fluide politische Ordnung denken, in der keine unüberwindlichen Hürden den Optimismus vom Zusammenbruch, das Selbstverständlichwerden von der Befeindung der Demokratie trennen.7

Aber man muss beides erkennen und erforschen – die optimistische Erwartung und die zerstörerische Mischung aus Ressentiments und Resignation, die enthusiastische Kreativität und die gewaltsame Gegenbewegung bis hin zur Auflösung, die Schattenseiten und die strahlende Hoffnung, die nicht nur eine Nation, sondern viele Gesellschaften beinahe gleichzeitig nach dem Ersten Weltkrieg erfasste. Um das zu leisten, wird kein Weg vorbeiführen an einer erneuten Rekonstruktion zeitgenössischer Perspektiven und Handlungszusammenhänge, die davon Abstand nimmt, Gewissheiten zu wiederholen, die schon zu lange feststehen, ohne immer wieder auf ihre sachliche und theoretische Plausibilität überprüft worden zu sein – ein in der Wissenschaft üblicher, von immer neuen Erkenntnissen und Erfahrungen geleiteter Revisionsprozess. Eine solche Rekonstruktion muss das Gedachte und Geschehene vom Anfang erschließen und nicht vom Ende zurückblicken; es ist eine der Aufgaben der Geschichtswissenschaft, die Geschichte »dem Schein des Soges von Notwendigkeit der Strukturen und Prozesse« zu entziehen, »an individuelle Entscheidungen, an kontingente Ereignisse, an Alternativen und Optionen« zu erinnern, »die Offenheit aller Situationen im Bewusstsein zu halten«, oder wie es eine Neuformulierung dieses historistischen Grundsatzes ausdrückt: »Wer nur nach der Vorgeschichte der Probleme […] der zeitlich je unterschiedlichen Gegenwarten fragt, folgt einer verborgenen Teleologie und blendet jene Entwicklungen aus, die abgebrochen wurden, die scheiterten oder im Sande verliefen.«8 Das gilt nicht nur für den deutschen Fall. Die amerikanische, die britische, die französische oder die schwedische Geschichte der »Zwischenkriegszeit« sind nicht weniger explizit oder implizit teleologischen Interpretationen unterzogen worden, in denen die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg als langfristig irrelevantes Intermezzo der Katastrophen oder als Durchgangsstation einer bruchlosen Demokratiegeschichte erscheinen.9 Erkenntnistheoretisch ist es eine konstante Herausforderung für die Geschichtswissenschaft, aus dem Späteren nicht auf das Frühere zu schließen, nicht in die Falle der »embryogenetischen Obsession« zu tappen, einen dem jeweiligen individuellen Zusammenhang angemessenen Umgang mit den Problemen von Kontinuität und Konsistenz zu finden, der bei den Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen der Zeitgenossen ansetzt.10

An dieser Stelle setzt der vorliegende Band ein, der auf eine Tagung im Hamburger Institut für Sozialforschung im November 2013 zurückgeht. Die Absicht war, Demokratien und Demokratie nicht als etwas Fixiertes zu untersuchen, sondern »Geschichte in the making zu erfassen, während sie ihr volles Potenzial aufweist«, bevor es sich in eine bestimmte Richtung entfaltet. Diese Geschichte der Demokratie ist ebenso sehr von Fragilität wie von Kreativität, von Instabilität wie von Stabilität gekennzeichnet.11

Was das Vorgehen betrifft, könnte man die meisten der versammelten Texte als Beiträge zu einer kulturgeschichtlich informierten Geschichte politischer Begriffe, Praktiken und Vorstellungen charakterisieren, die auch die Konstitution der Ökonomie in den Mittelpunkt der historischen Auseinandersetzungen um die Demokratie rückt. Inspiriert wurden die Autorinnen und Autoren von unterschiedlichen methodischen und theoretischen Ansätzen, wie der Begriffsgeschichte, der intellectual history der Cambridge School, Pierre Rosanvallon und seiner von François Furet, Claude Lefort und Cornelius Castoriadis ausgehenden philosophischen Geschichte des Politischen, diversen Historiografien der political economy, Michael Foucault und der Geschichte der Gouvernementalität, von den Erkenntnissen des linguistic turn und den Einsichten eines reflektierten und selbstkritischen Historismus und der politischen Kulturgeschichte, wofür Thomas Nipperdey, Wolfgang Hardtwig oder auch Thomas Mergel stehen.12 Einige dieser Einflüsse werden deutlich werden, andere sind eher von der Darstellung absorbiert; doch worauf es allen ankommt, ist, dass das historische Material auf neue Weise befragt und neue Interpretationen zur Diskussion gestellt werden. Das hoffen die Beteiligten, vornehmlich jüngere Historikerinnen und Historiker aus mehreren Ländern, Experten für ihre Geschichten der Demokratie, mit diesem Band erreicht zu haben.

Wenn Vorstellungen dabei im Mittelpunkt stehen, lässt sich diese Art der Annäherung an ein unlösbares Problem nicht als »bloße« Ideengeschichte abtun. Nicht nur die Einwände gegen die erkenntnistheoretische Naivität einer Geschichte der harten »Fakten«, die gerade auf ökonomischem Gebiet – wo Philip Mirowski zufolge »physics envy« zur Abkopplung von einer der Mechanik und Modellierung widerstrebenden Geschichte führte13 – so gern und so unermüdlich gegen die Zumutungen des uneindeutigen Politischen ins Feld geführt werden, wiegen zu schwer. Handeln und Vorstellungen sind für die versammelten Beiträge nicht voneinander zu trennen. Es geht ihnen um eine »Gesellschaftsgeschichte handlungssteuernder Ideen«, um Vorstellungen und Ordnungskonzepte, »die im sozialen und politischen Geschehen formende Wirkung entfalten«, um Modi der Realitätskonstruktion und der Realitätserschließung zugleich, um »all jene ›aktiven‹ Vorstellungen […], die das Handeln leiten, das Feld des Möglichen durch das des Denkbaren begrenzen und den Rahmen für Kontroversen und Konflikte abstecken.«14

Demokratie ist dabei kein Ordnungskonzept wie jedes andere, weder für die historisch Handelnden noch für die diese Geschichte erforschenden Historiker. In der bereits erwähnten Literatur und an vielen anderen Stellen lässt sich nachvollziehen, wie die Demokratie im Revolutionszeitalter um 1800 zum universalen Erwartungsbegriff wurde, zur politischen Zukunftsverheißung. Sie war nicht länger ein Stadium im ewigen Verfassungskreislauf und verlor, den Schrecknissen der terreur zum Trotz, den Beiklang der Pöbelherrschaft. Sie wurde neu gedacht, als auf Dauer errichtete oder zu errichtende repräsentative Verfassungsordnung der Bürger. Schon in diesen Jahrzehnten konnte Demokratie vereinzelt bereits mehr bedeuten, das Ziel einer neuen Gesellschaftsform bezeichnen. Doch behielt der Begriff der Demokratie eine oppositionelle Bedeutung in den politischen Auseinandersetzungen bei. Die hier versammelten Beiträge zeigen im Einklang mit der neueren Forschung, dass die Demokratie erst in den Jahren um oder nach dem Ersten Weltkrieg die entscheidende Schwelle überschritt, nicht länger als Ausdruck von Protest- oder Reformverlangen galt und viel mehr bezeichnete als eine mit Hoffnung oder Furcht erwartete Verfassungsordnung: eine alle Lebensbereiche erfassende Regierungsund Lebensform, die den neuen politischen Horizont bildete und deren Ablösung zunehmend undenkbar wurde, die zentrale Kategorie des Politischen.

Die Beiträge machen ein doppeltes Spannungsverhältnis sichtbar: zwischen der beträchtlichen normativen Konstanz dessen, was Demokratie seit mehr als zwei Jahrhunderten in den Augen ihrer Erbauer und Verfechter sein soll,15 und der empirisch variablen »Verwirklichung der Demokratie«16 einerseits; andererseits zwischen den unterschiedlichen, miteinander wetteifernden, konvergierenden und antagonistischen Sprachen, Begriffen und Vorstellungen, Praktiken, Kulturen und Affektlagen der Demokratie in ihren spezifischen Kontexten und Konstellationen. Die Analyse muss darum ständig einen heuristischen Idealtypus, der als Ausgangspunkt unvermeidlich zu konstruieren ist, durch die Rekonstruktion der vielen konkreten Verwendungen des Begriffs, der Funktionen und Realisierungen der Sache in individuellen Kontexten korrigieren. Das leisten die nachfolgenden Beiträge auf ihre jeweils eigene Weise, wenn sie unterschiedliche Zugänge wählen. In einer Geschichte der Demokratie, wie sie dieser Band vorschlägt, verfügt keine Seite in den historischen Konflikten um die Demokratie a priori über die Definitionshoheit, doch können sich Konvergenzen und Koalitionen einstellen, die in einer historischen Konstellation die Bedeutung von Demokratie stabilisieren. Genau das scheint – bei aller Widersprüchlichkeit der Debatten, was diesen Prozess umso erstaunlicher macht – in den Jahren nach 1918 geschehen zu sein. Aber Demokratie blieb eine zukunftsoffene Kollektivhandlung, gerichtet auf Ermöglichungen und Erweiterungen von Freiheit, zugleich durchzogen von Widersprüchen und Pathologien, von Entgleisungen der Mehrheit und der Unterdrückung von Minderheiten. Auch die Demokratie hat »dunkle Seiten«, die zwar mitunter verzerrt und vergrößert dargestellt werden, sich aber nur mit großem argumentativen Aufwand als unwesentlich abtun lassen.17

Die Entstehung der Demokratie als Wert an sich, die Akzeptanz dieser Demokratie, die Vielfalt ihrer Ausdrucksformen im politischen und im Alltagsleben, die Ausbildung eines allgemeinen demokratischen Erwartungshorizonts sind die Kernfragen, denen sich dieser Band widmet und denen sich hoffentlich noch viele weitere Forschungen stellen werden – denn wie die Demokratie selbstverständlich wurde und es auch in existenziellen Krisen blieb, während sie sich weiter wandelte und den Herausforderungen anpasste, darüber wissen wir viel zu wenig.

Wenn die Demokratie nach 1918 das Feld wurde, auf dem um das Ganze gestritten wurde, und wenn die Erforschung dieser Geschichte in ihren zeitgenössischen Handlungsrahmen und Erwartungshorizonten darum nahelegt, »dem Verlauf der Experimente und Annäherungen, der Konflikte und Kontroversen zu folgen, mittels deren das Gemeinwesen eine legitime Form anzunehmen versuchte«,18 dann stellt diese methodische Entscheidung eine normative und theoretische Zumutung dar. Normativ, weil sich diese Geschichte weder von ihrer Erforschung noch von ihrer fortgesetzten Entwicklung trennen lässt, solange wir in demokratischen Gesellschaften und Gemeinwesen leben. Auch der Versuch der Historisierung und Entnormativierung entkommt diesem Problem nicht, wie etwa das Werk Rosanvallons deutlich macht, in dem sich Historisierung, Theoriearbeit und Initiativen zur Aktualisierung einer unabgeschlossenen Geschichte verbinden. Theoretisch, weil sich in den Vorstellungen von Demokratie – unter den Zeitgenossen nach 1918, aber auch in vielen Redeweisen der Gegenwart – ein umfassendes, beinahe totales Verständnis des Politischen artikuliert. Politik mag, je nach Lesart und theoretischer Festlegung, durch selbstreferenzielle Bezüge, durch Kommunikation, Habitualisierungen und Routinisierungen des Handelns konstituiert und perpetuiert werden können – Demokratie nicht. Demokratie erhebt – oder wenigstens erhob sie über lange Phasen ihrer Geschichte hinweg – nicht nur einen normativen Anspruch, sie will oder wollte auch der Kern des Sozialen sein. Insofern ist Demokratie auch eine Zumutung für viele Vertreter anderer Sozialwissenschaften. Die systemtheoretische Soziologie kennt das Politische nur als Teilsystem der Gesellschaft, ein Zentrum existiert nicht, autonome Handlungsfelder regulieren sich selbst. Geschichte taucht dabei in Gestalt von sehr allgemeinen, oft problematischen und überholten Annahmen über die Entwicklung der Moderne auf.19 Die Politikwissenschaft hat sich in vielen Fällen für eine historisch eher desinteressierte, kontextunabhängige Klassifizierung von Demokratiemerkmalen entschieden.20 Beide Ansätze könnten einer Geschichte der Demokratie wie der skizzierten nicht fremder sein. Aber vielleicht ließen sich dennoch interdisziplinäre Gesprächsangebote unterbreiten, wenn es der Geschichtswissenschaft gelingt, durch historische Annäherungen zu einer schärferen empirischen Erfassung und theoretischen Bestimmung von Demokratie beizutragen und so ihre Sache stärker zu machen.

Handelt es sich bei dieser Geschichte, deren Protagonisten doch schon im 19. Jahrhundert mit einem universalen Erwartungsbegriff den Anspruch erhoben, für die ganze Welt zu sprechen, um eine rein europäische oder westliche Geschichte? Auch wenn der Begriff der »westlichen Demokratie(n)« im Ersten Weltkrieg erfunden wurde21 – Träume von einer weltweiten Ausbreitung der Demokratie sind nichts Neues. Um nur ein literarisches Beispiel von 1851 zu zitieren: »[…] und wenn es der Raum erlaubte, ließe sich klar und deutlich zeigen, wie diese Walfänger schließlich und endlich den Anstoß zur Befreiung Perus, Chiles und Boliviens vom Joche des Alten Spaniens und zur Errichtung der ewigen Demokratie in diesen Breiten gaben.«22 Seit den demokratischen Revolutionen im späten 18. und im 19. Jahrhundert tauchten diese Vorstellungen immer wieder auf. In den Jahren seit dem Ersten Weltkrieg verstärkten sie sich, eine weltweite Demokratisierung rückte in den Erwartungshorizont der Zeit. Auch in Russland, Indien, China oder Japan wurde um Demokratie, um das Wahlrecht und die Gewaltenteilung öffentlich gestritten; die größten Wahlen, die die Welt bisher gesehen hatte, wurden organisiert, Hunderte Millionen von Menschen wählten zum ersten Mal in ihrem Leben. Es gab keinen Teil der Welt, der nicht von dieser Erwartung erfasst wurde.23 Aber die Jahre nach 1918 erinnern zugleich daran, dass Wahlen und einigermaßen friedliche Regierungswechsel in den Augen der Zeitgenossen nicht das einzige Kriterium für die Entstehung, das Selbstverständnis und den Fortbestand von Demokratien waren. Die Globalität der Erwartung bedeutete nicht die Gleichzeitigkeit der Entwicklung. Auch in Europa wurde die Demokratie nicht überall zur Normalität. Das trifft nicht nur im Hinblick auf die politischen Ereignisse und Institutionen zu. Ungeachtet der wechselseitigen Verflochtenheit und Beobachtung war etwa in Osteuropa die Wahrnehmung, in Demokratien zu leben, oder die Thematisierung der Demokratie in den politischen Debatten als selbstverständliche Regierungs- und Lebensform sehr viel weniger ausgeprägt als in den Teilen des Kontinents, mit denen sich die Beiträge dieses Bandes befassen.24

In der Gegenwart sind ähnliche Erfahrungen gemacht worden. Die jüngste Welle globaler Demokratisierung ebbte schnell wieder ab. Der Sturz oder Austausch von Machthabern und die Durchführung einigermaßen freier und gleicher Wahlen führen nicht zwangsläufig zum Selbstverständlichwerden der Demokratie. Auch diese Einsicht tauchte in den Diskussionen nach 1918 auf, in denen die Vorstellungen von Demokratie umfassend waren und weit über politische Institutionen hinausgingen. Nach dem Ersten Weltkrieg vertraten minimalistische, allein den Wahlakt oder die Artikulation des Volkswillens in den Mittelpunkt stellende Kriterien von Demokratie eher die Anhänger plebiszitärer, parademokratischer Diktaturvorstellungen.25 Rekonstruktionen vergangener Debatten schützen vor einer Verengung und Ausdünnung von Demokratiekonzepten, sie können Handlungshorizonte öffnen und zur Selbstreflexion anhalten, das Fragilitäts- wie das Kreativitätsbewusstsein schärfen.

Demokratie, im Gegensatz zu den Theorien der Demokratie, lässt sich nicht historisch fixieren. Dafür könnte man auf Nietzsches berühmten Satz aus der »Genealogie der Moral« über die Unmöglichkeit, Begriffe wie Demokratie zu definieren, verweisen. Mit Jacques Derrida, der die normativen Zumutungen der Demokratie anders als Nietzsche annahm, lässt sich die Demokratie als ein unendlicher Prozess der Demokratisierung vorstellen, als eine »democratie à venir« – zugleich als ein permanentes Versprechen, eine unabschließbare politische Kritik im Hier und Jetzt und als eine regulative Idee im Hinblick auf die Zukunft.26 Die historische Perspektive muss allerdings auch in Betracht ziehen, dass die größten Augenblicke der Demokratie, der Verwirklichung ihrer Versprechen, bereits hinter uns liegen könnten.

In den Diskussionen, die zu diesem Band führten, haben sich sieben Grundverständigungen über die Geschichte der Demokratie nach 1918 eingestellt, die sich in unterschiedlichem Maße in den einzelnen Beiträgen widerspiegeln. Dabei handelt es sich um heuristische und interpretative Vorschläge, um materialerschließende Thesen und Deutungsangebote, nicht um den Versuch, eine neue Orthodoxie zu etablieren.

1. Die Zeit seit Beginn des Ersten Weltkriegs kann als konstitutive Phase der modernen Demokratie aufgefasst werden – wobei die Wellenbewegungen und Episoden der Demokratisierung seit dem späten 19. Jahrhundert und auch die multiple Temporalität der Demokratie, ihr permanentes Einschreiben in oder Umschreiben von demokratischen Traditionen, als Fundamente dieser Dynamik zu berücksichtigen sind. Die Demokratie befand sich im Prozess der Entstehung. Dieser Band stellt sich linearen nationalen Kontinuitätsdeutungen entgegen und nimmt stattdessen das internationale demokratische Projekt und die Erwartungen der 1920er und 1930er Jahre ernst. Kontexte sind dabei für die Erklärung relevanter als Kontinuitäten. Wenn auch demokratische Traditionen in unterschiedlichem Maße die Entwicklung beeinflussten, wenn auch einige Demokratien in diesen Jahren einen stabileren Zustand erreichten als andere, handelte es sich dennoch überall zugleich um einen Neuanfang, um einen Augenblick, wenn nicht eine Epoche der radikalen Diskontinuität.

2. Zur Korrektur vorherrschender Deutungsmuster wird eine verhalten optimistische Lesart vorgeschlagen. Schlagwörter wie »dunkler Kontinent«, »Zeitalter der Extreme« und »Katastrophenzeitalter«, »Nachkriegs-Gewaltgesellschaften« verdecken den demokratischen Prozess, den dieser Band als das zentrale politische Ereignis dieser Epoche in den Blick nimmt. Darum wird auch nicht wie in so vielen Deutungen unproblematisch vom Scheitern von Demokratien oder gar der Demokratie gesprochen, sondern vielmehr die Frage aufgeworfen: Wie funktionierte die Demokratie? Wie stellte man sie sich vor, welche Experimente lagen im Möglichkeitshorizont der Zeitgenossen? Wie konnte sich die Demokratie unter schwierigen Umständen herausbilden und in immer neuen Krisen bestehen? Was überhaupt kann Scheitern oder Erfolg in diesen historischen Kontexten heißen? Individuellem Handeln und Kontingenz wird besondere Aufmerksamkeit zugewandt, die Offenheit jeder Krise, die durch sie gebotenen Chancen der kreativen Erneuerung oder Konsolidierung, die Vielfalt und Uneindeutigkeit der möglichen Ergebnisse werden betont.

3. Ein weiteres Spannungsverhältnis der Zeit war das zwischen dem exzessiven Nationalismus einerseits, der durch die Entstehung der modernen Demokratie mit ihrer auf Massenöffentlichkeit und Massenkommunikation basierenden Politik noch gesteigert werden konnte, und andererseits den nicht weniger entschlossenen Anstrengungen, nationale Grenzen und Machtpolitik zu überwinden und auf staatliche Souveränität in Teilen zu verzichten, wofür – als sichtbare Zeichen neben vielen anderen – Völkerbund, Washingtoner Flottenabkommen und Locarno standen. Hier ließe sich viel mehr sagen, als es diesem Band möglich ist, in dem etwa die Versuche der supranationalen ökonomischen und finanziellen Integration und militärischen Abrüstung oder die kooperationsbefördernde erste globale amerikanische Hegemonie nur in wenigen Beiträgen angesprochen werden. Deutlich wird jedoch, dass es sich um miteinander verflochtene, »transnationale« Geschichten der Demokratie handelt.

4. Die Lern- und Gewöhnungsprozesse, die Praktiken und das Projekt der Demokratie wurden von den Zeitgenossen als ein langwieriges, komplexes, mehrdimensionales Unternehmen verstanden. Der Übergang zur Volkssouveränität war gerade in den Monarchien mit parlamentarischer Tradition fließender und unvollständiger als in alten und neuen Republiken; das Wahlrecht, dessen Universalität zur Norm geworden war, wurde in der Praxis schrittweise zur gleichen und freien Wahl für Bürgerinnen und Bürger ausgeweitet; Parlament und Regierung waren die politischen Kerninstitutionen, zugleich sollten ergänzende korporative Vertretungen die Konsensbildung erleichtern; der demokratischen Kultur und Bildung wurden große Aufmerksamkeit geschenkt; die Demokratie führte auch zur Reform der Wirtschaftsordnung, zu einem demokratischen Kapitalismus; Pluralismus und Gemeinschaft, individuelle Bürgerrechte und gesellschaftliche Integration gehörten gleichermaßen zu den handlungsleitenden Vorstellungen der Demokratie; Staatsbau, Verwaltung, gutes oder verantwortungsvolles Regieren waren Teil des demokratischen Projekts; partizipationsermöglichende Sozialpolitik und ein auf individuelle Rechte gegründeter Wohlfahrtsstaat rückten ins Zentrum der demokratischen Debatten; transnationale Institutionen und gesellschaftliche Akteure spielten eine große Rolle in der Ausbuchstabierung der demokratischen Erwartungen. Selbst wenn von »westlicher Demokratie« zunehmend die Rede war, handelte es sich noch nicht um das im Kalten Krieg definierte Standardmodell der westlichen Demokratie. Der Demokratiebegriff und die Bandbreite demokratischer Praktiken waren weit umfassender und Gegenstand demokratischer Auseinandersetzungen.

5. Die globale Vision der Demokratie, die in der politischen Rhetorik und in den internationalen Vertragswerken der Zeit verbreitet wurde, war dennoch keine völlig universale Vorstellung. Sie wies eine deutlich erkennbare temporale und geografische Hierarchie auf. In einem Kern von Nationen, einem europäisch-atlantisch-pazifischen Demokratiebogen, wurden die demokratischen Visionen in der Gegenwart verwirklicht. Die angrenzenden peripheren Nationen konnten danach streben, mittelfristig zu solchen Demokratien zu werden. Die kolonialen Untertanen und Nationen, in denen ein Kampf für die Selbstregierung geführt wurde, erhielten vage Verheißungen einer fernen demokratischen Zukunft; doch ließ sich die demokratische Dynamik nicht auf Dauer durch solche hierarchischen Verfügungen stillstellen.

6. Ein aus heutiger Sicht schwieriges, aber in den Debatten seit dem Ersten Weltkrieg zentrales Problem war das Verhältnis von politischer Führung zur Demokratie. Wie die Beiträge in Übereinstimmung mit anderen Erzeugnissen der neueren Forschung zeigen, kann die Erwartung politischer Führung, das Nutzen von Notstandsinstrumenten oder charismatisches politisches Handeln nicht als mit der Demokratie unvereinbar und auch nicht grundsätzlich als eine Schwächung von Demokratien betrachtet werden. Zwischen äußerlich scheinbar ähnlichen Führungsfiguren und politischen Methoden können sich enorme Abgründe auftun, wenn die Handlungskontexte berücksichtigt, die begleitenden Debatten rekonstruiert sowie die Folgen für den Zusammenhalt und die Erhaltung demokratischer Gesellschaften erwogen werden. Thesen wie die von der »entfernten Verwandtschaft« und allzu verengte »republikanische« Lesarten demokratischer Politik werden als für die historische Arbeit unbrauchbar verworfen.

7. Im Laufe der Diskussionen um diesen Band drängte sich das Interpretament einer zweiten Welle derselben Demokratisierungsbewegung auf, die im und nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte: Die Krise von 1929/31 und der politische Umgang mit dieser Krise sorgte demnach entweder für eine Vertiefung, Verfestigung und Ausweitung des demokratischen Projekts oder für dessen fundamentale Erschütterung. Zwischen der Krisenreaktion und den demokratischen Vorstellungen der Jahre 1918 bestand demnach eine unmittelbare Kontinuität; die Demokratien, die »durchhielten«, knüpften an ihr eigenes Programm an, sie setzten den nach dem Krieg eingeschlagenen Weg fort, sie handelten im Rahmen des bereits konstituierten demokratischen Erwartungshorizonts. Ihre Politik in den 1930er Jahren lediglich als reaktiv im Hinblick auf die neue totalitäre Herausforderung zu deuten, würde diesen zeitgenössischen Handlungs- und Erwartungshorizont verkennen und den historischen Akteuren die Würde des eigenständigen, selbstbestimmten Handelns nehmen. Natürlich wurden die neuen Gegner und Todfeinde beobachtet; natürlich wuchs ein erhöhtes Gefährdungsbewusstsein. Aber von den Vereinigten Staaten bis nach Schweden ist offenkundig, dass die Demokratien und Demokraten selbst in der Existenzkrise nicht nur ihre Fragilität reflektierten, sondern aus ihrer Selbstreflexion auch die Überzeugung bezogen, dass sie als Regierungs- und vor allem als Lebensform überlegen waren und überleben würden. Der demokratische Handlungshorizont und nicht ein ökonomischer Imperativ trieb die politischen und gesellschaftlichen Reformen der 1930er Jahre an.

Im ersten Teil werden Themen erörtert, die die nationalen Demokratiegeschichten überschreiten, vor allem Kontinuitäten und Konvergenzen, die in der demokratischen Konstellation im und nach dem Ersten Weltkrieg auf ökonomischem Gebiet sowie in Bezug auf politische Institutionen und Wahlverfahren sichtbar wurden. Auch die transnationalen Ausgangsbedingungen der Geschichte der Demokratie in der Zwischenkriegszeit werden beleuchtet. Adam Tooze beschreibt die weltweite, aber uneinheitliche Demokratisierungswelle des ausgehenden 19. Jahrhunderts und untersucht die Dynamisierung der Demokratiegeschichte seit 1914. Der Erste Weltkrieg erscheint als Schlüsselphase für die Ausbildung von Konzepten und Praktiken der modernen Demokratie, als globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen. Der Zusammenhang von Massenmobilisierung und Demokratie, die Bedeutung der demokratischen Revolution in Russland für die Entstehung der Vorstellung einer »westlichen Demokratie« und die Macht der Demokratie, mitten im Krieg den Krieg selbst infrage zu stellen, werden diskutiert. Die Offenheit und Intensität der Debatten um die Demokratie werden dabei deutlich. Am Ende steht die Möglichkeit im Raum, dass wir – die modernen Gesellschaften – vielleicht nie demokratischer waren als im und nach dem Ersten Weltkrieg. Die Vorgeschichte der Demokratisierung mit der Geschichte der Demokratie nach 1918 verbindet ebenfalls der Beitrag von Hedwig Richter. Die Massendemokratie, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Norm und Praxis wurde, kam nicht aus dem Nichts. Wählen musste geübt, Wahlverfahren mussten entwickelt werden. Ohne die Schaffung des modernen Wählers, der bereits um 1900 Gestalt annahm, hätte die moderne Massendemokratie in den 1920er und 1930er Jahren ihre Arbeit nicht aufnehmen können. Neben der transnationalen Synchronität dieser Entwicklung arbeitet die Autorin auch die transatlantische Konvergenz der Wahlverfahren und der Demokratieakzeptanz unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg heraus. Die Grundlegung des modernen Wählens als des konstitutiven Akts der politischen Willensbekundung der Massendemokratien nach 1918 fand unter wechselseitiger Beobachtung statt; »Modernität« lässt sich in dieser verflochtenen Geschichte nicht auf der anderen Seite des Kanals oder des Atlantiks verorten. Auf der Grundlage dieser Kontinuität konnte die Diskontinuität der Massendemokratie einsetzen; alt und neu waren miteinander verschränkt.

Wie Demokratien nach 1918 funktionierten, arbeiten exemplarisch die beiden folgenden Beiträge in vergleichender oder transnationaler Perspektive heraus. Benjamin Schröder stellt die neue Ungewissheit in den Mittelpunkt, mit der politische Parteien und Politiker durch die Ankunft der Massendemokratie im Zeitalter vor der Meinungsumfrage konfrontiert waren, und weist darauf hin, dass in Großbritannien diesem Problem mit geschickteren, lagerübergreifende Kooperation erleichternden Methoden begegnet werden konnte, auch weil Wahlkämpfe professionalisiert wurden. Laura Beers untersucht die Handlungsmöglichkeiten eines transnationalen Netzwerks von Demokratieunterstützerinnen in den von nationalstaatlicher Politik bestimmten Krisen der 1930er Jahre. Sie skizziert ein neues Forschungsfeld und betont, dass den zivilgesellschaftlichen Akteurinnen, die sie erforscht, nicht die demokratische Initiative abgesprochen werden darf. Ihr Antifaschismus war nicht moskauhörig, selbst wenn situativ bedingte Koalitionen mit dem als kleineres Übel betrachteten Kommunismus gegen den Nationalsozialismus eingegangen wurden. Im Mittelpunkt ihres Engagements stand der zukunftsweisende Einsatz für eine demokratische Weltpolitik und für Bürger- und Menschenrechte.

Daran schließen sich Untersuchungen zu grundlegenden Fragen der ökonomischen Organisation an, die den engen Bezug von Demokratie- und Kapitalismuskonzepten in jener Zeit herausarbeiten. Andrea Rehling zeigt im Gegensatz zur konventionellen zeithistorischen Interpretation, dass korporative Institutionen und Erwartungen nicht grundsätzlich mit der Demokratie im Konflikt stehen, sondern auch ein Ausdruck demokratischer Repräsentation sein können; auch hier ist die präzise Rekonstruktion der Kontexte nach 1918 unabdingbar. Philipp Müller verfolgt diese Spur in den Forderungen nach einer deutsch-französischen ökonomischen Kooperation, die von wirtschaftlichen Interessenvertretern beider Länder erhoben wurden. Einig war man sich in der Notwendigkeit einer Reform des Kapitalismus, und Kritik an den parlamentarischen Verfahren bedeutete nicht immer Ablehnung der Demokratie.

Mit einer zentralen, transnational diskutierten Frage der zeitgenössischen politischen Vorstellungswelt setzt sich schließlich Moritz Föllmer auseinander. Er untersucht die Debatten um demokratische Führung in der Zwischenkriegszeit, vor allem in den Krisen der 1930er Jahre, und stellt die oft flexiblen und kreativen Führungspraktiken von krisengeschüttelten Demokratien heraus. Sein Beitrag ist von fundamentaler Bedeutung für die Debatten um das Spannungsverhältnis von politischer Führung und Demokratie.

Im zweiten Teil des Bandes stehen ausgewählte nationale Kontexte im Vordergrund. Dabei wird die Absicht verfolgt, dass eine parallele Lektüre dieser Beiträge die internationalen Intertextualitäten der Demokratiegeschichte sichtbar macht und sich so deutliche Vergleichsperspektiven ergeben. Einer fundierten Diskussion nationaler Fälle, die einem gemeinsamen Fragenkatalog folgt, wie er in dieser Einleitung und besonders in den voranstehend ausgeführten sieben Thesen entworfen wurde, geben die Autorinnen und Autoren des Bandes den Vorrang vor einer Behandlung transnationaler Motive, die nicht selten die konventionellen Deutungen nationaler Historiografien in ihrer Zusammenschau übernehmen muss. Stattdessen setzen die Beiträge auf Neuinterpretationen nationaler Fälle, die auf eigenen Forschungen basieren, aber durch das gemeinsame Gespräch informiert und somit transnational sensibilisiert sind. Die Hoffnung aller Beiträger zu diesem Band ist es, dass auf diese Art und Weise die internationalen Resonanzen und Interferenzen der Demokratiegeschichte nicht überhört werden, obwohl nationale Demokratiegeschichten der privilegierte Gegenstand von Untersuchung und Diskussion sind. Die Geschichte der Demokratie interessiert uns, nicht die nationalen Geschichten als solche, aber die Geschichte der Demokratie fand vor allem – aber, wie der erste Teil dieses Bandes deutlich macht, nicht allein – in nationalen Geschichten statt. Bei allen Überlagerungen und Synchronisierungen von demokratischen Vorstellungen und Erwartungen fallen dabei Dissonanzen ins Gewicht, die transnationalen Kontexte schalten die nationalen Kontexte nicht aus, Unterschiede der Entwicklung und Kontingenzen treten hervor. Leider konnten nicht alle relevanten Fälle berücksichtigt und nicht für alle Fachleute gewonnen werden, trotz intensiver Suche; es gibt in vieler Hinsicht Grenzen dessen, was ein solcher Band leisten kann. Auch wenn unser Maßstab war, nach Gesellschaften Ausschau zu halten, in denen die Demokratie in den zeitgenössischen Selbstverständigungen zur fragilen Normalität geworden war, bleiben zahlreiche Länder unberücksichtigt, die in der vergleichenden Forschung Beachtung finden müssten, in Europa, angefangen mit Belgien, Norwegen, Österreich und der Schweiz, ebenso wie in anderen Teilen der Welt, wo Kanada, Australien oder Neuseeland herausragen, aber auch Japan und andere Nationen interessante Fälle darstellen.

In diesem zweiten Teil, der sich nationalen Kontexten und Kontingenzen widmet, setzt Helen McCarthy ihre bahnbrechenden Überlegungen zur britischen Demokratie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg fort, die sie als ein Zeitalter des making und re-making einer vielfältigen demokratischen Kultur darstellt. Politische Führung und Alltagshandeln der Bürger, Wahlrecht und wohlfahrtsstaatliche Initiativen waren Teil dieser demokratischen Kulturpflege. Ben Jackson erweitert diese Lesart der britischen Demokratie um den Hinweis auf die Debatten um Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, die die britischen Liberalen und die Linke dominierten und zu einer beide politische Strömungen verbindenden sozialen Vorstellung der Demokratie führten. Jessica Wardhaugh nimmt die Ausbildung einer neuen demokratischen Kultur und die politischen Experimente in Frankreich in den 1930er Jahren in den Blick und unterstreicht dabei die Krisenhaftigkeit und Instabilität der französischen Demokratie; Narrativen der demokratischen Kontinuität entzieht sie den Boden, die Demokratisierung der Politik fand im Zuge von Kämpfen um die massenpartizipatorische Ordnung in der Krise statt. Tim B. Müller plädiert dafür, die Weimarer Republik als Demokratie in ihrem zeitgenössischen Kontext zu untersuchen und weniger in nationale Kontinuitäten zu stellen, und verweist auf die Anstrengungen um eine demokratische Kultur und auf die demokratische Reflexion, die in der Wirtschaftspolitik zum Ausdruck kam. Die Demokratie wurde den Deutschen selbstverständlich, eine Ablösung der Demokratie zunehmend undenkbar. Philipp Nielsen stellt die Frage nach der Akzeptanz der deutschen Demokratie im rechten Lager und arbeitet heraus, dass die Parteiführung der Deutschnationalen in Anerkennung der als unabänderlich aufgefassten Demokratisierung bis in die späten 1920er Jahre nicht nur zu einem immer konstruktiveren politischen Verhalten bereit war, sondern auch an einem konservativen Demokratieverständnis arbeitete und über sekundäre Begriffe und Affekte wie Verantwortungsgefühl die Akzeptanz der Demokratie stärken wollte. Stefanie Middendorf zeigt, wie sich im Rahmen des Staatsbegriffs der deutschen Finanzbürokratie auch Loyalität zur Demokratie ausbilden konnte, wie dann in der Krise seit 1930 demokratische Impulse jedoch in den Hintergrund traten und nur noch der Staat an sich gerettet werden sollte sowie die Skepsis gegenüber Parlament und Parteien zunahm.

Urban Lundberg gibt den Diskussionen um das schwedische Volksheim eine neue Grundlage. Das Volksheim war ein Mitbürgerheim, das von selbstbestimmten Bürgern im gemeinsamen Gespräch errichtet und erweitert wurde. Ihre antidemokratischen Affekte würden sie durch die Einübung von Selbstbeherrschung und demokratischer Kultur in Schach halten. Lundbergs genaue Rekonstruktion dieser Vorstellungen, die bislang noch nicht geleistet wurde, kann belegen, dass der schwedische Ministerpräsident Per Albin Hansson damit keine kollektivistische Vision, sondern eine Bürgergemeinschaft der individuellen Rechte, eine demokratische Lebensform zur handlungsleitenden Idee machte. Jeppe Nevers führt die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der dänischen Demokratiebegriffe in den 1920er und 1930er Jahren vor Augen und stellt dar, wie Demokratie umfassendere Bedeutungen annahm, den politischen Horizont bis hin zur extremen Rechten konstituierte und schließlich zum eigenständigen Wert wurde, der bei den Sozialdemokraten den Sozialismus ersetzte: In der Demokratie der Gegenwart trafen sich demnach die liberale Demokratie der Vergangenheit und die soziale Demokratie der Zukunft. Johanna Rainio-Niemi stellt den finnischen Fall vor, die instabilste der nordischen und zugleich die stabilste der neuen, aus dem Zerfall von Imperien hervorgegangenen Demokratien. Für die vergleichende Diskussion ist von besonderer Relevanz, dass sie das entschlossene, vor Notstandsmaßnahmen und Grundrechtseinschränkungen nicht zurückschreckende Agieren des Staatspräsidenten als Schlüsselfaktor in der Abwehr von Demokratiezerstörung und antidemokratischen Putschversuchen beschreibt. Elisabeth Dieterman kann zeigen, dass in den Niederlanden ein demokratischer Erwartungshorizont relativ spät Einzug hielt und der autoritär auftretende Premierminister Hendrik Colijn lange Zeit die Hoffnungen auf politische Führung erfüllte, dass aber gerade in der ökonomischen Krise mit einem von Sozialdemokraten und Katholiken unterstützen Reformprogramm im Namen der nationalen Einheit ein umfassender Demokratiebegriff, die Verteidigung der parlamentarischen Demokratie und ein neuer demokratischer Optimismus die Debatten zu bestimmen begannen. Andrea Orzoff stellt in ähnlicher Weise dar, dass die Jahre nach 1918, mit ihrer extremen Personalisierung der Demokratie, ihren widersprüchlichen Demokratiebegriffen und ihren autoritären Zügen, zur dauerhaften Grundlegung einer demokratischen Kultur und eines demokratischen Erwartungshorizonts in der Tschechoslowakischen Republik führten. Till Kössler beschreibt die Schwierigkeiten, die extreme Polarisierung in der Geschichschreibung der spanischen Demokratie zu überwinden, und eröffnet anhand der illustrierten Presse Einblicke in die Formierung einer pluralistischen Gesellschaft, in das moderne Alltagsleben und in die wachsende Akzeptanz der Demokratie sowohl der radikalen Republikaner als auch der katholischen Antidemokraten in den frühen 1930er Jahren. Lange haben Antagonismen, die erst im keinesfalls unvermeidlichen Bürgerkrieg entstanden, die historiografische Deutung der Demokratie zuvor überlagert. Jason Scott Smith schließlich skizziert die Transformation der Vereinigten Staaten durch den »New Deal«. Weder aktivistische Wirtschaftspolitik noch die Übernahme autoritärer Handlungsmuster charakterisierten den Kern von Roosevelts Politik. Ihm ging es in doppelter Hinsicht um die Demokratie – um den Ausbau Amerikas zur modernen, wohlfahrtsstaatlichen, stabilen Demokratie und zugleich um die Etablierung einer dauerhaften Hegemonie seiner Demokratischen Partei in dieser amerikanischen Demokratie. Aus beiden Gründen fand mitten in der ökonomischen Krise, die die Nation an den Rand des Zusammenbruchs führte, der Umbau der Vereinigten Staaten zum demokratischen Wohlfahrtsstaat statt. Nicht ökonomische Effizienz, sondern politische Effektivität war das Ziel dieser Demokratieneugründung auf amerikanischem Boden.

Dieser Band will eine Diskussion eröffnen