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Erna Lackner (Hrsg.)

Phantasie in Kultur und Wirtschaft

Band 12 der Reihe „Kultur und Wirtschaft“, herausgegeben von Erhard Busek

Erna Lackner (Hrsg.)

Phantasie in Kultur und Wirtschaft

Gedächtnisstiftung Peter Kaiser (1793–1864), Vaduz

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© 2013 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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ISBN 978-3-7065-5728-3

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Erhard Busek

Vorwort

Ein Plädoyer

Kapitel 1
Zur Lage. Und die Aussichten. Die Eröffnungsrede

Bazon Brock

Phantasie in der Ohnmacht – Wirklichkeitssinn durch Möglichkeitssinn

Kapitel 2
Der zündende Funke

Marianne Gruber

Einleitung: Was aber ist Phantasie?

Felix de Mendelssohn

Die Freud’schen vier Urphantasien

Oliver Handlos

Eine Idee zu haben ist nicht schwer, sie umzusetzen jedoch sehr

Markus Hinterhäuser

Ein Rest Geheimnis bleibt immer

Kapitel 3
Phantasieprodukte in der Wirtschaft

Brigitte Kössner-Skoff

Einleitung: Wie funktioniert Kreativität?

Christian Bartenbach

Phantasieprodukte brauchen Vorgaben und Ausdauer

Hannes Erler

Haben wir genug Phantasie, um eine gute Zukunft zu gestalten?

Heidi Glück

Phantasie und Kreativität in Kommunikation und Politik

Valentine Troi

Peer Gynt, die Triebfedern und der Schweiß

Michael Thurow

Creative Turnaround Now!

Kapitel 4
Die Rolle der Phantasie in der Kunst

Hellmuth Matiasek

Einleitung: Die Kunst, ein Phantasie-Gipfel?

Peter Edelmann

Von den Tönen im Kopf des Sängers zu den Schwingungen im Zuhörer

Maximilian Fliessbach gen. Marsilius

Phantasie und Kreativität als Spiel mit der Inspiration

Olga Flor

Fantasie als eine schöne Kunst betrachtet    (nur in der Print-Version enthalten)

Kapitel 5
Der Reiz des Bösen in der Phantasie

Christoph Mader

Einleitung: Was ist die menschliche Natur?

Rudolf Burger

Zur Ästhetik des Bösen

Dietmar Ecker

Das Böse und das Kurzzeitgedächtnis

Reinhard Haller

Das Böse aus der Sicht der Psychiatrie

Rainer M. Köppl

Austria vampyriosa. Maria Theresia, Dracula und Freud

Kapitel 6
Phantasie in Wissenschaft und Technik – Ergänzung oder Widerspruch?

Rudolf Bretschneider

Einleitung: Was diszipliniert die Phantasie?

Karlheinz Töchterle

Phantasie gehört zum Wesen der Wissenschaft

Peter Zoller

Die Querverbindungen sind entscheidend

Renée Schroeder

Wissensschaffung braucht Vorstellungskraft und kontrollierte Phantasie

Sonja Hammerschmid

Kreative Kombination erzeugt Mehrwert

Kapitel 7
Ergebnisse einer Repräsentativ-Studie der GfK Austria Sozialforschung

Angelika Kofler

Denken, Fühlen und Wollen in Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft

Das österreichische Verständnis von Phantasie

Kapitel 8
Die Abschlussdiskussion

Personenverzeichnis

Danksagung

Erhard Busek

Vorwort

Ein Plädoyer

Wer über Kultur spricht, muss selbstverständlich wissen, welche bedeutende Rolle die Phantasie darin spielt. Wir hätten kein künstlerisches Schaffen und keine Musik, keine Bilder, keine Romane, kein Theater, gäbe es nicht die Begabung zur Phantasie, für Träume oder auch die Wege ins Irreale.

Aber was hat Phantasie mit Wirtschaft zu tun? Natürlich sehr viel. Gerade auch die Wirtschaft braucht Phantasie, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Es geht dabei nicht nur um die Phantasie, wie man Märkte erschließen kann, das ist nur ein vordergründiges Beispiel, sondern auch um die Phantasie, wie man neue Produkte und Dienstleistungen erfindet, entwickelt und anbietet. Auch Forschung und Wissenschaften stehen am Anfang dieser Kette, in der sich die Phantasie in vielen Gestalten manifestiert: vom Geistreichtum und Genieblitz über Ideen und Innovationen bis hin zum kaufmännischen Talent.

Der Erfolg der Wirtschaft im Lauf der Menschheitsgeschichte ist nichts anderes als das Ergebnis von umgesetzter, realisierter und materialisierter Phantasie. Phantasie gehört eben nicht nur zu den schönen Künsten, sondern sie gestaltet auch das Wirtschaftsgeschehen und unseren Alltag auf eine beachtliche Weise mit.

Kultur und Wirtschaft als einen Gegensatz zu denken, ist daher unangebracht. Vielmehr brauchen wir die permanente Auseinandersetzung über die Wechselwirkungen zwischen den beiden Bereichen. Dazu trägt die Reihe „Kultur und Wirtschaft“ des Europäischen Forums Alpbach mit Unterstützung der Gedächtnisstiftung Peter Kaiser (1793–1864) seit Jahren bei und vertieft jeweils ein aktuelles, vom Programmkomitee als wichtig erachtetes Thema, um mit dessen speziellen Aspekten die Beziehungen zwischen den beiden Welten auszuleuchten. Diesmal also: Phantasie in Kultur und Wirtschaft.

Denn gerade in Zeiten der vielfach beschriebenen Krise gehört der Phantasie in Wirklichkeit ein noch größerer Raum gegeben! Wer befürchtet, dass mit Phantasie Realitätsverlust verbunden sei, dem muss entgegengehalten werden, dass eben das Phantasievolle oder gar das Phantastische uns neue Wirklichkeiten eröffnet – die wir notwendig brauchen.

Wir sind zwar sehr phantasievoll im Herbeireden von allen nur möglichen Krisenszenarien, weniger jedoch in der Vermittlung von Lösungen oder gar Hoffnungen. Aber genau diese Perspektive ist von entscheidender Bedeutung, denn nur mit irgendeiner Aussicht, mit einem gewissen Optimismus kann man manche Krisensituation oder Schwierigkeit bewältigen, ja: vielleicht auch nutzen, um zu neuen Ergebnissen und Angeboten zu kommen. Die Themenwahl selbst ist also auch schon ein Plädoyer für Phantasie, der in der öffentlichen Diskussion zu wenig Raum gegeben wird.

Mit zielgerichteten Auseinandersetzungen über die per se unermessliche Phantasie sind dem Europäischen Forum Alpbach an der Leopold Franzens-Universität Innsbruck wieder reichhaltige Tage gelungen. Natürlich liegt es, bei diesem Thema vielleicht noch mehr als sonst, in der Natur der Sache, dass nicht alle Facetten ausgeschöpft werden konnten – aber die weiteren Ergänzungen und Gedankenflüge können wir ruhig auch der Phantasie der Tagungsteilnehmer und der Leser überlassen. Wir freuen uns, diesen Band, den 12. der Reihe „Kultur und Wirtschaft“ präsentieren zu können und danken allen, die es uns wieder ermöglicht haben: den Referenten und Autoren, den Programmgestaltern und Sponsoren, aber insgesamt auch allen Menschen, die bereit sind, der Phantasie freien Lauf zu lassen, um daraus Schöpferisches für unsere Welt zu gewinnen.

Dr. Erhard Busek
Europäisches Forum Alpbach

Kapitel 1
Zur Lage. Und die Aussichten.
Die Eröffnungsrede

Bazon Brock

Phantasie in der Ohnmacht –
Wirklichkeitssinn durch
Möglichkeitssinn

„Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.

Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

In Anknüpfung an das Musil-Zitat kann man sich leicht vorstellen, was bei einer Systematisierung dieses Ansatzes herauskäme: nämlich parallel zur Geschichte bzw. anstelle der Geschichte des faktisch Geschehenen eine Geschichte des Nichtgeschehenen zu setzen.

Diese Geschichte des Nichtgeschehenen bezöge sich aber nicht einfach auf das, was nicht stattfand, sondern vielmehr darauf, was durch eine andere Aktionsform bestimmt wäre, zum Beispiel durch die Aktionsform des Unterlassens als eine Art des Handelns. Denken Sie etwa an die Entwicklungen gegen bestimmte faktische Gegebenheiten im Wirtschaftsleben, sagen wir in der Plutoniumwirtschaft, etabliert in den Atomkraftwerken; denken Sie an die Bewegung dagegen, dann verstehen Sie, was mit der Geschichte des Nichtgeschehenen gemeint ist: die Ereignishaftigkeit dessen, was unterlassen wurde. Wie Sie alle wissen, verlangt das zu Unterlassende oft viel mehr Aktionsfähigkeit oder Phantasie, Vorstellungsvermögen und Aktionslust als das tatsächlich Geschehene. Sie brauchen nur an Ihre Leidenschaft als Raucher zu denken: Zu rauchen ist für den Raucher eine großartige Sache, aber nicht zu rauchen, verlangt ihm eine höhere Anstrengung ab als das Rauchen selbst. Und das gilt prinzipiell für alles historische Tun. Das Unterlassen ist inzwischen die entscheidende Form des Handelns geworden. Es ist nicht: nichts tun, sondern nicht tun – wobei wir die ältesten Traditionen, etwa den Buddhismus mit Laotse als Autor rund 500 v. Chr., mit verschiedenen Traditionen anderer Zeiträume ohne Weiteres in Übereinstimmung bringen können.

Das bedeutet nun, dass wir unsere Untersuchung im Hinblick auf den Möglichkeitssinn und auf die Phantasie in einer anderen Weise zu führen haben. Wir können nicht mehr der Naivität folgen, die 1968 forderte: Phantasie an die Macht! Die Herrschaften, die das gefordert haben, sind heute im Pensionsalter und beziehen durchschnittlich 20.000 Euro Monatssalär, etwa als Europaabgeordnete und Pensionäre lokaler Parlamente – so dass man ihnen nur bestätigen kann, Phantasie an die Macht hieß: an die Töpfe zu kommen, an die sie schließlich auch angeschlossen worden sind. Die höchsten Repräsentanten – denken Sie nur an einen Mann wie Joschka Fischer – sind heute Großverdiener unter all denen, die damals gefordert haben, die Alternative als der Möglichkeitssinn, also die Phantasie habe endlich anerkannt zu werden. Und man kann nun nur bestätigen: Wer 18.000 oder 20.000 Euro für einen Vortrag bekommt, der hat wirklich die Phantasie auf seiner Seite! Alles, was er sagen kann, müsste das Publikum ja nur auffordern, sich die Rede selbst zu halten – denn das bisschen Geschnurre, das der Redner vorträgt, ist keine 800 Euro wert.

Mein zweiter Aspekt der alltäglichen Anschauung für die Phantasie in Wirtschaft und Kultur stammt aus jüngster Erfahrung, sagen wir aus den letzten fünf Jahren. Es ist doch wohl so, dass die große Krise – mit all ihren verschiedensten Nachfolgekrisen –, die die gesamte westliche Welt erfasst hat, durch zu viel Phantasie entstanden ist. Die Finanzindustrie hat das Desaster durch eine unglaubliche Phantasie beim Entwerfen strukturierter Produkte entwickelt. Diese Produkte waren so phantasievoll, dass sie schließlich von niemandem mehr beherrscht werden konnten – und dazu den Vorteil hatten, dass niemand für sie verantwortlich gemacht werden konnte, weil sie aus der Hand der Akteure in das Medium der technischen Realisateure, der Hochgeschwindigkeitsrechner in den Börsen, übergegangen waren.

Phantasie an die Macht ist also einerseits eine Aufforderung, sich an den Fleischtöpfen der Gesellschaft zu bedienen, und andererseits die Aufforderung zu einer Form legaler Kriminalität. Wir müssen feststellen, dass sich zwischen diesen beiden Großbereichen das Auf-die-Kacke-Hauen – eine deutsche Redewendung, aber hoffähig, also die Sau rauslassen, mal richtig zeigen, was man alles kann – Allmachtsphantasien entwickeln, wie wir sie etwa beim Führer eines unserer großen Verlagshäuser und anderswo sahen. Der Betreffende hat seine Phantasie für dieses Superding, das Höchste aller Vorstellbarkeiten auch in der Erfindung eines Namens entwickelt: In Arcandor knüpfte er das Arkanische und Or, das Gold, zusammen, er wollte also ausdrücken, dass das, was diese Manager des Empire, was diese Herrscher der Welt zustandebringen, wirklich den Ausdruck des Höchsten, Kostbarsten in der europäischen Geschichte darstellt. Arkanisches Wissen von vergoldeter Qualität, also von Angeboten, die man nicht ablehnen kann. Genau das kennzeichnet ja die legale Kriminalität.

Wie Sie wissen, ist die Geschichte nicht bestimmt durch Auseinandersetzungen zwischen Rassen, Klassen, Geschlechtern und Ähnlichem, sondern zwischen legaler und illegaler Kriminalität. Der Staat ist auf der Seite der legalen Kriminalität, denn was er tut, ist per se legal und alle anderen, die dasselbe tun, aber in Gegnerschaft zum Staat, sind damit illegal. Eine alte Weisheit lautet: Zwischen einer kriminellen Bande und einem legalen Staat gibt es keinen Unterschied außer den, dass das eine legal ist und das andere illegal. Das führt, aus der Konsequenz dieses Pathos, die Phantasie an die Macht. Es gibt heute keinen Bereich, in dem die Phantasie so stark an der Macht ist wie in dem der Kriminalität. Und das beweist eigentlich wirklich, dass man mit dieser Forderung sehr leichtfertig umgegangen ist, ja vielleicht sogar in bewusster Absicht provokativ, um zu zeigen, was denn tatsächlich die Wirksamkeit von Phantasien bedeutet – nämlich ein Entkopplungsgeschehen, das auf der anderen Seite natürlich mit dem Kopplungsgeschehen verwandt ist, also zur Anthropologie unserer Fähigkeit gehört, Verbindlichkeiten zu erzeugen.

Das eine ist die menschliche Fähigkeit, zu antizipieren, also im Voraus virtuell und gedanklich abzuschätzen, was wohl die Konsequenzen einer bestimmten Handlung sein könnten. Wenn vor 25.000 Jahren in einer Höhle 18 Männer zwischen 15 und 24 Jahren saßen und eine entsprechende Anzahl von Frauen mit Kindern, dann musste Nahrung herbeigeschafft werden. Die war nur zu beschaffen, wenn sich die fünfzehn- bis vierundzwanzigjährigen Männer zusammensetzten und ununterbrochen antizipierten, sich also vorstellten, was passieren würde, sobald einer von ihnen den Kopf aus der Höhle heraussteckte. Man weiß das heute aus großen Sammlungen in Südafrika, wo es ganze Pyramiden von Scalps, Schädeln und Knochen gibt, an denen man noch die Spuren der Greiftatzen sieht, die dem ersten, der unvorsichtigerweise nicht antizipierend den Kopf aus der Höhle steckte, sofort den Scalp abgezogen haben.

Man musste also lernen zu antizipieren, das heißt, alles zu erwarten, was als Konsequenz des Herausgehens aus der Höhle möglich wäre, um durch die Erwartung des Schlimmsten – im späteren Johanneischen Sinne heißt das dann: apokalyptisches Denken – die Fähigkeit zu gewinnen, dem Schrecken zu widerstehen. Denn nur wer mit dem Schlimmsten rechnet, kann überhaupt irgendeinen Optimismus begründen, dem schlimmsten drohenden Möglichen, dem größten Unfall begegnen zu können, indem er damit auf eine sinnvolle Weise umzugehen lernt. Mit anderen Worten: Wir sind prinzipiell von der Fähigkeit abhängig, zu antizipieren, was die Konsequenzen einer koordinierten, also im Sozialverband entwickelten wie auch von den Individuen getragenen Handlungsabsicht darstellt. Die Menschen verknüpften immer schon das Tun mit den Konsequenzen des Tuns unter bestimmten Bedingungen, bei einem Erdrutsch, einem reißenden Bach, wilden Tieren, Schlangen, bei giftigem Kraut, mit dem man zu rechnen hatte, wenn man auf die Jagd ging. Und nur wenn man mit dem Schlimmsten rechnete, hatte man die Chance, tatsächlich zurückzukommen. Dieses Verhalten wird heute noch von jedem Trainer für Rennfahrer, Hochgeschwindigkeitsleister oder auch Tennisspieler gelehrt und angewendet. Bei Tennisspielern geht die Antizipationskraft so weit – aber das funktioniert erst nach tausenden Trainingsstunden –, dass sie einen Schlag des Gegners bereits antizipieren können, bevor er ausgeführt wird. Damit beginnt das Profi-Tennis. Bei den Rennfahrern ist dieses Verhalten ebenfalls einsehbar; denn wer sich in einen Wagen setzte, um loszufahren und Rennfahrer zu werden, hätte keine Chance – er wäre tot, bevor er irgendetwas gelernt hätte. Er muss also vorweg antizipieren, was es eigentlich bedeutet, sich mit einem solchen Gefährt unter bestimmten Bedingungen auf einer Strecke zu bewegen. Wenn er das tausende Male virtuell im Kopf getan hat, bis hinein in die letzten zehn Zentimeter des Straßenbelags, in alle Kurvenführungen und sonstigen Bedingungen, lässt man ihn zum ersten Mal in einen Rennwagen einsteigen, um dann tatsächlich mit der kalkulierbaren Chance rechnen zu können, dass der Mann am Ende der Strecke, wenn auch nicht nach optimalen Leistungen, aber immerhin lebend aus dem Wagen herausgehoben werden kann.

Bei der Antizipation verkoppelt sich also das beabsichtigte Tun mit den erwartbaren Konsequenzen des Handelns. Beim Gegenmodell, das wir normalerweise Traumgeschehen nennen und das auch eine bestimmte Ausformung der Phantasie ist, wird hingegen entkoppelt; die eingeschliffenen Konsequenzen, die Folgen eines Handelns werden aufgehoben, damit eine Abkopplung bestimmter Vorstellungen oder erwartbarer, interpsychischer Vorgänge (wie etwa die Bewertung virtuell angenommener Folgen) ermöglicht wird – so dass der Mensch nicht mehr auf ein starres Reaktionsschema fixiert ist. Durch dieses Entkoppeln lässt sich eine Freiheit gewinnen, die allerdings durch erneute Vermittlung und Verknüpfung von Handlungen und Folgen wieder zu einer Art von Verkopplung von Erfahrung führen muss. Dadurch lässt sich ein Wechselspiel zwischen Antizipation und Phantasie entwickeln, das Anthropologen sehr gut beschrieben haben.

Der erste historische Höhepunkt dieser Beschreibung ist das Johannesevangelium. Im Bericht des Johannes auf Patmos wird beschrieben, was dieses Vorgehen anthropologisch bedeutet – nämlich das Einüben von apokalyptischem Denken. Apokalypse heißt auf Griechisch nichts anderes als der Vorschein des Endes, also der Konsequenzen der Handlungen. Apo kalypsein heißt nichts anderes, als: Ich beginne mit dem Ende. Das wird von Johannes ganz einfach beschrieben. Wer einen Tisch bauen will, kann nicht Holz herumschmeißen und einfach drauflossägen und -nageln. Das führt zu nichts. Er muss mit dem Ende der Operation, einen Tisch herzustellen, beginnen, also mit der Vorstellung des Tisches. Das Modell des Tisches ist der Anfang der vernünftigen Arbeit eines Tischlers. Apokalypse meint hier die Fähigkeit, vom Endpunkt – den Konsequenzen des Handelns – auszugehen und damit den Beginn zu begründen. Das ist in diesem Sinne mit dem lateinischen Wort initium oder Initialkraft, wie Augustinus das genannt hat, verbunden. Man kann erst wirklich wirksam werden wollen, wenn man diese Zusammenhänge beherrscht, nämlich seine Annahme des erfahrungsgemäßen Risikos jedes Handelns unter bestimmten Bedingungen, weil man nicht Herr der Welt ist, sondern immer abhängig ist von einer Reihe von Bedingungen. Man kann sich selbst den Mut oder den Humor, wie es damals schon hieß, oder eben die Positivität der Einstellung nur zutrauen oder aneignen, wenn man mit dem Schlimmsten gerechnet hat, das heißt mit dem Ende, das jeden Handelnden am meisten schreckt: dass er nämlich seine Intention, seinen Willen nicht durchsetzen kann, dass er scheitert. Mit anderen Worten, die normale Voraussetzung für die Initiativkraft des Handelns ist die Möglichkeit des Scheiterns.

Wer nicht mit der Möglichkeit des Scheiterns rechnet, ist ein Idiot, ein Kölner, heißt es auf Deutsch. „Es hätt noch immer jot jejange“, sagen die Kölner. Es ist immer gut gegangen – bis dann eben das Stadtarchiv eingestürzt ist und damit das Gedächtnis ausgelöscht wurde. Und das finden die Kölner auch noch gut, das ist auch „jot jejange“. Jetzt weiß keiner mehr Bescheid über die Machenschaften des Klüngels in Köln – Gottseidank hat die Erde alles verschlungen, ist alles der Hölle anheimgefallen.

Es gibt also eine Restriktion für unser Generalthema „Phantasie an die Macht“. Das ist nicht die freie Phantasiefeier dieser kindlichen Vorstellung der Achtundsechziger, es ist auch nicht die Aufforderung, sich wie die Banker besonders phantasievolle Produkte auszudenken, um die Kunden auf legale Weise kriminell übers Ohr zu hauen. Sondern es geht um eine bestimmte Art der Vermittlung zwischen der Initiativkraft im Sinne der Entwicklung neuer Handlungsstrategien und der Möglichkeit, Verantwortung für dieses Handeln zu übernehmen – weil man den Bereich der Möglichkeiten, der sich aus dem Handeln ergibt, auch in Rechnung stellt. Es ist nämlich gar nicht klar, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Handlungsfolgen zu gewärtigen sind. Das nehmen wir natürlich alle in Anspruch, wenn wir zum Beispiel sagen: „Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte etwas ganz anderes, aber leider ist das dabei herausgekommen“. Nach 1945 ist das in Deutschland ein bekannter Entlastungstopos gewesen.

Es kommt also darauf an zu kapieren, dass es um ein Spektrum von möglichen Handlungsfolgen geht, die man antizipieren muss – und auf die man sich aber nicht im Sinne einer Mechanik des Abkoppelns von Handlungsfolgen verlassen kann, so dass es wie von selbst zu einer traumhaften Entlastung käme. Im Traum finden Sie natürlich die Fähigkeit, sich von jeder Art von Bedingtheit der Verhältnisse zu entfernen. Das Traumerlebnis ist ja gerade die Erfahrung der Entkopplung zwischen Handlung und Konsequenzen oder verschiedenen anderen Determinanten, so dass man dann eine neue Ebene der Bewältigung entwickelt kann, die hier in Österreich – wie Herr Busek schon gesagt hat – am intensivsten von Robert Musil in die Debatte eingebracht wurde. Nicht, dass das nicht vorher diskutiert worden wäre, in den Sprachwissenschaften gerade in Österreich wurde es das schon sehr lange, von Freud und vielen anderen, aber derartig prägnant, wie es Musil im Hinblick auf den Möglichkeitssinn gemacht hat, war es davor jedoch noch nicht geschehen.

Diese neue Lösung der Vermittlung zwischen den Ebenen lässt sich auch auf das Verhältnis von Kunst und Wissenschaften übertragen – wobei ich darauf aufmerksam mache, dass in dem Generalthema gar nicht vorkommt, was wir hier ausnehmend behaupten: dass Kunst und Wissenschaft die Phantasie, die Kreativität besonders fördernde Disziplinen seien. Kunst und Wissenschaft zeichnen sich doch dadurch aus, dass sie aus dem kulturellen Kontext ausgegliedert wurden; seit 1400 erst gibt es Kunst und Wissenschaft, die nicht mehr kulturell bestimmt werden. Wer Chemie betreibt, kann sich nicht auf seine kulturelle Identität berufen. Ob er Jude, Schwarzer, Grüner oder Blauer ist, spielt für die Tatsache, dass er Chemie betreibt, keine Rolle. Wer Chemie als Wissenschaft betreibt, ist prinzipiell aus jeder Art von kultureller Legitimation entlassen. Das Gleiche galt für die Künstler. Beide sind sozial koevolutioniert. Die beiden – Kunst und Wissenschaft – haben sich als parallele Strategien entwickelt, zur Entlastung von kulturellem Druck. Hier, auf diesem Podium, gibt es nur Kultur und Wirtschaft. Aber die passen tatsächlich zusammen, denn, wie Sie wissen, haben ja alle Wirtschaftler nebenbei eine Corporate Culture, bekennen sich also zum Suprematie-Schema der kulturellen Distinktion, auch im wirtschaftlichen Handeln; insofern ist die Kopplung richtig.

Wieso behandeln wir jetzt Kunst und Wissenschaft wieder als die exklusiven Fächer, die uns vermeintlich all die alternativen Strategien eröffnen? Das geht nicht einfach, indem immer nur behauptet wird, die Künste seien ja so wahnsinnig kreativ. Das ist alles Schmockes! Die Wissenschaftler sind genauso kreativ, auch die Wirtschaftler sind genauso kreativ, mitsamt der Fähigkeit, sich am Abkopplungs- und Entkopplungsgeschehen beziehungsweise an der Verbindlichkeitsstiftung von Handeln und Konsequenzen zu beteiligen. Alle Disziplinen sind an das prinzipielle Vermögen der Menschen gekoppelt und diesbezüglich nicht nach Sparten unterscheidbar. Man kann sogar behaupten, dass es sehr kreative Straßenfeger gibt. Es kommt nicht nur darauf an, in welchem Spektrum sich diese Fähigkeit äußern können, sondern darauf – das ist das Neue an der Entwicklung dieser Strategie –, dass man zwischen dem Wirklichkeitssinn und dem Möglichkeitssinn nicht mehr im Sinne der bloßen Kontingenz unterscheidet, „es könnte auch alles anders sein, ist aber leider nicht zu ändern“. Alles ist auf irgendeine Weise historisch zufällig entstanden – kann sich aber doch ändern lassen, wie unsere Sitten, unsere Moral etcetera. Das möchte ich in Ihrer Alltagsphantasie wieder verankern.

Wenn Sie achtzehn- bis zwanzigjährig Ihre sozialen Erfahrungen dahingehend gemacht haben, dass Sie vielleicht zehn junge gegengeschlechtliche Menschen kennengelernt haben, von denen Sie sagen würden, mit denen könnte ich mich auf längere Zeit zusammentun, eine Ehe schließen, eine Sozialpartnerschaft entwickeln, dann werden Sie sich schließlich für eine unter diesen zehn Möglichkeiten entscheiden. Das Entscheidende bei einer funktionierenden Partnerschaft, einer Ehe, ist dann, dass in dieser faktischen, wirklich gegebenen Beziehung alle anderen Möglichkeiten, die jemand vor seiner Entscheidung hatte, erhalten bleiben. Und zwar als Möglichkeiten, die wir als eine Art von phantasievoller Orientierung akzeptieren. Sexualphantasien sind das bekannteste, aus Wien stammende Beispiel für diese Art der Orientierung. Und wehe der Ehe, bei der die Partner sich wechselseitig nicht erlauben, sich auf alle Zeiten auch potentiell auf alle anderen Formen der Beziehung einzulassen! Aber als Möglichkeiten! Nicht so wie Liz Taylor, die nach dem ersten Mann den zweiten heiratet, dann den dritten, vierten, fünften, sechsten, siebten, achten und am Ende dasteht und sagt: „Wo ist die Alternative? Ich habe keine gefunden. Alle sind ja völlig gleich.“

Welche Wahl auch immer, die entscheidende Fähigkeit sollte darin bestehen, das, was wirklich ist, als solches zu erkennen und zu akzeptieren und dadurch fähig zu sein, sich auf den Möglichkeitshorizont zu orientieren und ihn in Hinblick auf das Mögliche zu aktivieren, damit das Wirkliche seine Bestimmungen erhält: nämlich, uns von beliebigen Wahnhaftigkeiten zu unterscheiden. Denn wenn alles wirklich wäre, was wir für möglich halten, im Sinne einer bloßen Durchsetzung einer Strategie, wären wir alle psychiatriereif.

Davor schützt uns Gott sei Dank die Bürokratie. Das ist eine von den römischen Institutionen geschaffene Fähigkeit, den Mutwillen der Durchsetzung von etwas für möglich und wünschbar Gehaltenem unter Kontrolle zu bringen. Das heißt, es wäre furchtbar, wenn es uns gelänge, auf ein Fingerschnipsen hin zu realisieren, was wir uns wünschen können. Dann wäre die Welt innerhalb von vierzehn Tagen ruiniert. Das wussten die Römer und haben deswegen dem individuellen Mutwillen und der Übersetzung von Möglichkeiten in Wirklichkeiten die Bürokratie entgegengesetzt, die strikt nach Regeln kontrolliert, welche Art von Übertragung aus dem Möglichkeits- in den Wirklichkeitsbereich denkbar ist und wie dann, sobald eine Möglichkeit realisiert wird, das Wirkliche nicht gleich gelöscht wird, sondern man dafür sorgen muss, dass etwas übrig bleibt. Damit erfand man auch die grandiose Institution des Museums.

Im Museum landet nämlich alles, was in diesem Sinne als Abfall oder strahlender Müll im großen atomaren Bereich übrig bleibt. Der strahlende Müll als das eigentliche Problem der atomaren Wirtschaft, der Energiewirtschaft, muss unter Containment gestellt werden. Das heißt, der Gedanke des Museums zeigt uns, wie ungeheuer intelligent es ist, die nicht mehr in der bloßen Konfrontation mit den Möglichkeiten wahrgenommenen, sondern durch die Realisierung von Möglichkeiten abgelöschten Wirklichkeiten unter Verwahrung zu stellen, damit sie sozusagen im Containment gebannt werden und nicht als Gespenster wiederkehren können – wie heute der Feudalismus, der als Gespenst in die nicht mehr demokratische Verfasstheit westlicher Gesellschaften zurückkehrt. Amerikanische Sozialwissenschaftler haben übereinstimmend festgestellt, dass Amerika keine Demokratie ist, sondern eine Oligokratie. Das wäre also ein wiedergekehrtes Gespenst, in diesem Falle zurückführend auf Aristoteles, der die Definitionen dieser Verhältnisse gegeben hat.