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Michael Wildt

Generation des
Unbedingten

Das Führungskorps des
Reichssicherheitshauptamtes

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© E-Book-Ausgabe 2013 by Hamburger Edition

© der durchgesehenen und aktualisierten Printausgabe 2003 by Hamburger Edition

Für Leni Yahil

Inhalt

Einleitung

Täterbilder

Generation, Institution, Krieg

Quellen und Forschung

I. Weltanschauung

1. Kriegserfahrungen

Frontgeneration

»Heimatfront«

Krieg als Spiel

Freikorps und Jugendbünde

Separatisten und Nationalisten

Gewinner und Verlierer

Die jungen Radikalen

2. Studentische Lehrjahre

Bildungschancen in der Weimarer Republik

Rechter Radikalismus

Revolutionäre Militanz. Der Fall Tübingen

Die »Schwarze Hand« in Leipzig

»Voller Einsatz, höchste Intensität«. Die Miltenberger Tagung

Auseinandersetzung mit dem NSDStB

»Unbedingter Wille zur Tat«

Weltanschauungselite

3. Das Jahr 1933

Annäherungen. Heinz Gräfe und das NS-Regime

Karrieren. Wege zum SD und zur Gestapo

»Kompromisslos und vorwärtsdrängend« – Erich Ehrlinger

»Scharfe Logik und zu allem zu gebrauchen« – Martin Sandberger

Der Germanist als Zensor – Wilhelm Spengler

Der Rassereferent – Hans Ehlich

Europaweit einzusetzen – Walter Blume

Der Hoffnungsträger – Hans Nockemann

Die Ehefrauen

Heydrichs »kämpfende Verwaltung«

II. Institution

4. Planung und Konzeption des Reichssicherheitshauptamtes

Staat und Volk

Politische Polizei

Vom »Staatsfeind« zum »Volksfeind«

Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD)

Verschmelzung von SS und Polizei

»Erhalt kämpferischer Linie«. Konzeptionelle Auseinandersetzungen

Bildung des Reichssicherheitshauptamtes

5. Struktur und Akteure

Verwaltung (Ämter I und II)

Kriminalpolizei (Amt V)

Der Fall Arthur Nebe

Soziogramm einer Kriminalelite

Rassenbiologische Verbrechensbekämpfung

Labor der Vernichtung: Das Kriminaltechnische Institut

Gestapo (Amt IV) 335

Verfolgung der politischen Gegner (IV A)

Schutzhaft und Abwehr (IV C und IV E)

Besetzte Gebiete (IV D)

Verfolgung der Kirchen und Juden (IV B)

Weltanschauliche Gegnerforschung (Amt VII)

SD-Inland (Amt III)

SD-Ausland (Amt VI)

Eine Institution neuen Typs 410

III. Krieg

6. Polen 1939. Die Erfahrung rassistischen Massenmords

Kriegsvorbereitungen

Der Überfall

»Bromberger Blutsonntag«

»Sonderauftrag Himmler«

Vertreibung von Polen und Juden

»Germanisierung« der westpolnischen Gebiete

Die Entstehung des RSHA aus der Praxis rassistischen Massenmords

7. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung 1940/41

Deportationen ins Generalgouvernement

Madagaskar-Plan

Einsatz in Westeuropa 1940

Norwegen

Niederlande

Frankreich

Belgien

Elsaß-Lothringen

Neue Horizonte

Einsatzgruppen in der Sowjetunion

Führungspersonal

Auftrag

Erwin Schulz und das Einsatzkommando 5

Martin Sandberger, KdS Estland

Erich Ehrlinger, BdS Kiew

Entgrenzung

8. Zenit und Zerfall

Ermächtigung zur »Endlösung«

Tschechien

Frankreich

Wannsee-Konferenz

Grenzen

Auseinandersetzung um die »Mischlinge«

Zwangsarbeiter

Konflikte mit dem Auswärtigen Amt

Ostpolitik

Nationalistische Unabhängigkeitsbestrebungen

Generalplan Ost

»Unternehmen Zeppelin«

Heydrichs Nachfolger

Das RSHA unter Himmler

Entscheidung für Kaltenbrunner

Das RSHA im letzten Kriegsjahr

Fragmentierung

Übernahme des OKW-Amtes Ausland/Abwehr

20. Juli 1944

Deportationen in Ungarn und der Slowakei 1944

Kontakte zu den Alliierten

Auflösung

IV. Epilog

9. Rückkehr in die Zivilgesellschaft

Wandlungszonen

Regierung Dönitz

Unter falschen Namen

Nürnberger Prozesse

Gestapo und SD als verbrecherische Organisationen

Einsatzgruppen-Prozeß

Gnadengesuche

Nachkriegskarrieren

Erwin Schulz oder das kurze Gedächtnis der Bremer Sozialdemokratie

Martin Sandberger oder die ehrbaren Bande württembergischer Familien

Karl Schulz oder der Wiederaufstieg eines Kriminalpolizisten

Hans Rößner oder die Taubheit deutschen Geistes

Strafverfolgung

RSHA-Verfahren

Integration und Ignoranz. Die RSHA-Führung in der Bundesrepublik

Schluß

Generation

Weltanschauung

Institution

Praxis

Nachkrieg

Abkürzungen

Quellen

Literatur

Quelleneditionen, Dokumentationen, Tagebücher

Zeitgenössische Literatur (bis 1949)

Darstellungen

Biographischer Anhang

Dank

Zum Autor

Einleitung

Am 3. Januar 1946, während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, schockierte der Zeuge und spätere Angeklagte Otto Ohlendorf durch sein freimütiges Bekenntnis, er habe als Leiter der Einsatzgruppe D 1941/42 die Ermordung von 90 000 Menschen in der Sowjetunion zu verantworten. Der amerikanische Chefankläger Telford Taylor, der Ohlendorf als einen zierlichen, gutaussehenden jungen Mann schilderte, der leise, mit großer Genauigkeit und offenkundiger Intelligenz sprach, erinnerte sich fünfzig Jahre später noch sehr gut an das lähmende Schweigen im Zuschauerraum, das der kalten und unbeteiligten Aussage Ohlendorfs folgte.1

Otto Ohlendorf, 1907 nahe Hannover als Sohn eines Landwirts geboren, trat 1925 noch als Gymnasiast in die SA ein, von der man ihn zwei Jahre später zur SS mit der Mitgliedsnummer 880 überstellte. Er studierte Rechts- und Staatswissenschaften in Leipzig und Göttingen, ging 1931 als vielversprechender Stipendiat nach Italien an die Universität Pavia und folgte 1934 seinem akademischen Lehrer, dem Nationalökonom Jens Peter Jessen, nach Berlin, wo er Abteilungsleiter am Institut für angewandte Wirtschaftswissenschaften wurde. Von dort wechselte er in den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) und stieg zum Chef des Amtes III (SD-Inland) des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) auf. Ebenfalls wurde er Geschäftsführer der Reichsgruppe Handel und avancierte 1943 im Reichswirtschaftsministerium zum stellvertretenden Staatssekretär.2 In dem Versuch, eine Erklärung für den Täter Otto Ohlendorf zu finden, nahm der amerikanische Richter in der Begründung des Todesurteils am 10. April 1948 mehr oder weniger ratlos zu einer literarischen Metapher Zuflucht: Er verglich den RSHA-Täter Ohlendorf mit Robert Louis Stevensons Figur Dr. Jekyll und Mr. Hyde, jenem Mann, der sich in der Nacht aus einem angesehenen, fürsorglichen Arzt in eine mörderische Bestie verwandelte3 – und schrieb damit den seither immer wieder kolportierten, aber wenig tauglichen Erklärungsversuch einer gespaltenen Täterpersönlichkeit fest, deren Teile voneinander unabhängig existierten.4

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Otto Ohlendorf, Chef des RSHA-Amtes III SD-Inland und der Einsatzgruppe D
(Bundesarchiv, BDC, RuSHA-Akte Otto Ohlendorf)

Das Reichssicherheitshauptamt, am 27. September 1939 aus Geheimer Staatspolizei, Kriminalpolizei und dem SD, also aus staatlichen Institutionen wie Parteiorganisationen, geschaffen, scheint in der Perspektive herkömmlicher Verwaltungstheorie eine eher uneindeutige, fast improvisierte Institution darzustellen, was manche Historiker dazu verleitet hat, das RSHA für eine bloße »Sammelbezeichnung« oder »organisatorische Klammer« (Johannes Tuchel)5 zu halten oder zumindest als »schwachen Kompromiß« (Gerhard Paul) zu charakterisieren.6 Der US-Ankläger, Oberst Robert G. Storey, bezeichnete das RSHA im Nürnberger Prozeß gar als »Verwaltungsbüro« mehrerer als verbrecherisch angeklagter Organisationen.7 Doch erschließt sich die politische Funktion des RSHA in diesen Umschreibungen nicht. Das RSHA stellte keine Polizeibehörde im preußisch-administrativen Sinn dar, sondern muß als eine spezifisch nationalsozialistische Institution neuen Typs gesehen werden, die unmittelbar mit der nationalsozialistischen Vorstellung der »Volksgemeinschaft« und ihrer staatlichen Organisation verbunden war. Das Reichssicherheitshauptamt bildete demnach den konzeptionellen wie exekutiven Kern einer weltanschaulich orientierten Polizei, die ihre Aufgaben politisch verstand, ausgerichtet auf rassische »Reinhaltung« des »Volkskörpers« sowie die Abwehr oder Vernichtung der völkisch definierten Gegner, losgelöst von normenstaatlichen Beschränkungen, in ihren Maßnahmen allein der im »Führerwillen« zum Ausdruck kommenden Weltanschauung verpflichtet.

Reinhard Heydrich, bis zu seinem Tod im Juni 1942 Chef des RSHA, setzte sich konzeptionell von der »liberalistischen« Vergangenheit ab, in der vom Staat aus gedacht und der Gegner entsprechend als »Staatsfeind« bekämpft worden sei. Der Nationalsozialismus hingegen, so Heydrich, »geht nicht mehr vom Staate, sondern vom Volke aus. […] Dementsprechend kennen wir Nationalsozialisten nur den Volksfeind. Er ist immer derselbe, er bleibt sich ewig gleich. Es ist der Gegner der rassischen, volklichen und geistigen Substanz unseres Volkes«,8 unter denen Heydrich selbstverständlich in erster Linie die Juden verstand. Werner Best, Heydrichs Stellvertreter bis Mitte 1940, verglich eine solcherart umrissene nationalsozialistische Polizei mit einem Arzt, »als eine Einrichtung, die den politischen Gesundheitszustand des deutschen Volkskörpers sorgfältig überwacht, jedes Krankheitssymptom rechtzeitig erkennt und die Zerstörungskeime […] feststellt und mit jedem geeigneten Mittel beseitigt«.9

Diese Biologisierung des Sozialen findet sich gleichermaßen bei der Kriminalpolizei. Kriminelle galten als genetisch minderwertig, von schlechter Erbanlage oder »minderen Blutes«. Aus der »professionellen Kriminalität« wurden »kriminelle Anlagen«, die, erbbiologisch einmal festgestellt, nicht mehr zu bessern waren, sondern »ausgesondert« und »ausgemerzt« werden sollten. Arthur Nebe, Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, zugleich Amt V des RSHA, betonte, daß es auf dem Gebiet der Kriminalpolizei »nicht allein um die Vernichtung des Verbrechertums, sondern gleichzeitig auch um die Reinhaltung der deutschen Rasse« gehe.10

Der Besonderheit der Institution entsprach die ihrer Akteure. Von den Führungsangehörigen des RSHA wurde mehr verlangt als nur die bloße Ausführung von Befehlen. Sie hatten selbst die Konzeptionen zu entwerfen, die Praxis zu bestimmen, mit denen der weltanschauliche »Sicherungsauftrag« verwirklicht werden konnte. An diesem zentralen Ort der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes brauchte es keine subalternen Beamten, sondern engagierte politische Männer wie Otto Ohlendorf, der als Amtschef des RSHA wie Chef der Einsatzgruppe D ebenjene beiden Seiten vereinigte, die der US-Richter Musmanno nur als getrennte, ja gegensätzliche wahrnehmen konnte, Reinhard Heydrich und Werner Best hingegen als zusammengehörig begriffen. Wer den »Volkskörper« pflegen und »gesund erhalten« wollte, durfte sich nicht scheuen, alle »Zerstörungskeime« mit »jedem geeigneten Mittel zu beseitigen«.

Diese Täter lassen sich nicht in ein gängiges Verbrecherbild einordnen. Sie waren keineswegs sadistische oder gar psychopathische Massenmörder, sondern offenkundig weltanschaulich überzeugt von dem, was sie taten. Sie stammten nicht vom Rand als vielmehr aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft, hatten eine akademische Ausbildung hinter sich, etliche führten sogar einen Doktortitel. Vielleicht war deshalb die frühe, öffentliche Konfrontation mit diesen zentralen Tätern des nationalsozialistischen Völkermords für die Zeitgenossen so verstörend und, wenn man das von Telford Taylor beschriebene Schweigen in diesem Sinn deutet, so lähmend, daß der Tätertypus, den Otto Ohlendorf verkörperte, rasch wieder verblaßte. Ohlendorf und mit ihm auch die übrigen wegen hundert- und tausendfachen Mordes Verurteilten des Nürnberger Einsatzgruppen-Prozesses (Fall 9) verwandelten sich im Laufe der Kriegsverbrecherdiskussion im Westdeutschland der fünfziger Jahre gewissermaßen in »Kriegsgefangene«, die aus alliierter Haft zu »befreien« selbst Theodor Heuss oder Carlo Schmid kein Engagement scheuten.11 Stimmiger schienen andere Täterbilder zu sein: NS-Täter als sozial Deklassierte, als Bürokraten und Schreibtischtäter, als ideologiefreie Technokraten oder rationale Sozialingenieure, als »ordinary men« oder »ganz normale« Täter.

Täterbilder

Als Ohlendorf, Sandberger, Schulz, Steimle, Blume und andere Angehörige des RSHA als Einsatzkommandoführer vor Gericht standen, zeichnete der ehemalige Buchenwald-Häftling Eugen Kogon in seinem Buch über den »SS-Staat« ein ganz anderes Soziogramm der Täter: »Die Mannschaft des Apparates bestand erneut aus Menschen, die im normalen Polizeidienst nicht vorwärtsgekommen waren, und aus einer Fülle frisch hereingenommener verkrachter Existenzen, meist ohne jede charakterliche oder fachliche Vorbildung. […] Die Gestapo entsprach sonach in ihrer ganzen Art vorzüglich der Lager-SS: die Mitglieder beider Einrichtungen waren sozial deklassierte Primitive, die man wirklich zu nichts anderem gebrauchen konnte.« Auch die »Intellektuellen« in den Reihen der SS waren laut Kogon vorwiegend Studienabbrecher gewesen, darunter »übrigens auch unverhältnismäßig viele entgleiste Volksschullehrer«, die ihre Mißerfolge durch Überheblichkeit abreagierten.12

Mögen Kogons persönliche Erfahrungen mit der »Konzentrationslager-SS« zweifelsohne zutreffen,13 das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes wurde mit solchen Charakterisierungen weit verfehlt. Zugleich aber war mit Kogons Täterprofil ein Ton angeschlagen worden, der sich auch in der frühen, verdienstvollen Studie zum Mord an den europäischen Juden von Gerald Reitlinger wiederfindet. Er charakterisierte das Personal der Einsatzgruppen als einen »seltsam zusammengewürfelten Haufen von Halbintellektuellen«, als eine »verlorene Legion arbeitsloser Intellektueller«, die es »im normalen Leben zu nichts gebracht« hätten.14 In den Landserromanen und Illustrierten der fünfziger Jahre, die voll von Gruselgeschichten über den verschollenen Martin Bormann oder Josef Mengele waren, traten die NS-Täter in einer dämonischen Verkleidung auf, die sie als Teufel in Menschengestalt eben dem Menschlichen entrückten.15

Erst der Eichmann-Prozeß in Jerusalem 1961 entzauberte dieses faszinierend dämonische Bild, da auf den Fernsehmonitoren einer der wichtigen Täter der Shoah erschien und sich als ganz und gar undämonisch entpuppte. Daß dieser beflissene, unterwürfige und unscheinbare Mann im Jerusalemer Gerichtssaal tatsächlich der gefürchtete Adolf Eichmann gewesen sein sollte, war kaum zu glauben.16 Hannah Arendts ungemein nachwirkendes Diktum von der »Banalität des Bösen« entsprach so sehr allem Anschein – und doch traf es mehr den Angeklagten als den Täter Eichmann, dessen rastloses Engagement zwischen 1935 und 1945 ihn als eifrigen, von seiner Sache überzeugten Judenreferenten und Deportationsexperten zeigt.17

Doch war seit Hannah Arendts spektakulärem Buch das dämonische, entrückte Bild von NS-Tätern endgültig zerstoben. Zeitgleich erschien Raul Hilbergs bahnbrechende Studie, in der er – ausgehend von der Gesellschaftstheorie seines akademischen Lehrers Franz Neumann – die Vernichtung der europäischen Juden als bürokratischen Prozeß analysierte:

»Rückblickend mag es möglich sein, das gesamte Geschehen als Mosaik aus kleinsten Einzelteilen zu sehen, die für sich betrachtet gewöhnlich und nichtssagend sind. Doch diese Abfolge alltäglicher Erledigungen, diese aus Gewohnheit, Routine und Tradition diktierten Aktenvermerke, Denkschriften und Fernschreiben mündeten in einen gewaltigen Vernichtungsprozeß. Gewöhnliche Menschen sahen sich unversehens vor außerordentliche Aufgaben gestellt. Eine Phalanx von Funktionären in öffentlichen Ämtern und privaten Unternehmen wuchs über sich hinaus. […] So unterschied sich die Vernichtungsmaschinerie nicht grundlegend vom deutschen Gesellschaftsgefüge insgesamt; der Unterschied war lediglich ein funktioneller. Die Vernichtungsmaschine war in der Tat nichts anderes als eine besondere Rolle der organisierten Gesellschaft.«18

Zygmunt Bauman spitzte diesen theoretischen Ansatz in seinen kritischen soziologischen Überlegungen zur Ambivalenz der Moderne noch weiter zu, indem er den Holocaust als eine extreme Entwicklungsmöglichkeit der Moderne kennzeichnete, die zwar nicht zwangsläufig sei, aber nur von ihr hervorgebracht werden könne.

»Der Holocaust entsprang genuin rationalistischen Überlegungen und wurde von einer Bürokratie in Reinkultur produziert. […] Der Holocaust ist ein legitimer Bewohner im Haus der Moderne, er könnte in der Tat in keinem anderen zu Hause sein.«19

Hilbergs Studie machte den Weg frei für eine Gesellschaftsgeschichte der Shoah, in der die Täterschaft weder einem einzelnen – etwa Hitler – noch einer kleinen Gruppe in NSDAP und SS, sondern allen Institutionen der deutschen Gesellschaft zugerechnet wurde. Der Anteil der Bürokratie am Massenmord ließ ebendiese Bürokratie zum vorrangigen Gegenstand der Analyse werden. Die als Gutachten zum Frankfurter Auschwitz-Prozeß 1963/64 entstandenen Beiträge von Martin Broszat, Hans Buchheim, Hans-Adolf Jacobsen und Helmut Krausnick, die in Anspielung an Kogons Buch unter dem Titel »Anatomie des SS-Staates« veröffentlicht wurden,20 haben die Struktur des Vernichtungsapparates ebenso nüchtern untersucht wie Broszats Untersuchung über den Staat Hitlers oder Hans G. Adlers umfassende Analyse der Deportation der Juden aus Deutschland, die den bezeichnenden Titel »Der verwaltete Mensch« trug.21

Der Bürokrat, der in jeder gesellschaftlichen Institution anzutreffen war, der vom Schreibtisch aus per Erlaß den Mord organisierte, wurde zu einem zentralen Tätertypus. Nur auf seinen Teil des Arbeitsablaufes beschränkt, darauf zugeschnittene Verwaltungsaufträge entgegennehmend und diese korrekt und gewissenhaft ausführend, ohne sich für das Ganze verantwortlich zu fühlen, kurz: sich selbst nur als ein kleines Rädchen in einem großen, nicht zu beeinflussenden Getriebe begreifend – dieses Bild entsprach nicht nur den Rechtfertigungen zahlreicher Täter, sondern auch der Alltagserfahrung in einer modernen, bürokratisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft. Der Massenmord wurde als fabrikmäßiges, industrielles Töten betrachtet; der Bürokrat geriet zum »unsentimentalen Technokraten der Macht« (Hans-Ulrich Thamer), zum Techniker des Todes, der kalt und unbeteiligt seinen Teil der großen Vernichtungsmaschine instand hält und optimiert, ohne einen Gedanken an den mörderischen Sinn des Ganzen zu verlieren, geschweige denn moralische Skrupel zu entwickeln.

Ein Täter wie Albert Speer, dessen 1969 veröffentlichte »Erinnerungen« für die deutsche Diskussion über den Nationalsozialismus kaum unterschätzt werden können, zeichnete von sich selbst das Bild eines an Sachproblemen orientierten Managers, der in steter Auseinandersetzung mit den »Ideologen« der SS an der Optimierung von politischen und wirtschaftlichen Prozessen interessiert war.22 Ähnlich charakterisierte Christopher Browning die für die europäische »Endlösung der Judenfrage« wichtige Figur im Auswärtigen Amt, den Leiter der Deutschland-Abteilung Martin Luther, als »unconventional, hard-headed ›type of modern manager‹« und »amoral technician of power«.23 Noch weiter gehen die Annahmen von Robert Koehl und Harald Welzer, die die SS-Täter als »Sozialingenieure« klassifiziert haben. In dem Bemühen, die soziale Binnenlogik der Täter zu erhellen, gerät der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß nach Welzer gar zum »Prototyp eines ›social engineers‹«, der »industrielle und bürokratische Funktionsabläufe mit wissenschaftlich fundierter und geschmeidig angepaßter Menschenbehandlung zu kombinieren versuchte«.24

Zweifelsohne hat die Maschinenmetapher, die den Massenmord als einen vor allem technischen, reibungslosen, von handelnden Akteuren nahezu unabhängigen Vorgang darstellte, den Vergleich von NS-Tätern mit Technikern oder Ingenieuren in starkem Maße beeinflußt.25 Dagegen haben die jüngeren, empirisch ausgerichteten Regionalstudien über die besetzten Gebiete in Osteuropa und der Sowjetunion wieder in Erinnerung gerufen, daß die Vernichtung der Juden keineswegs »maschinell« oder »industriell« vonstatten ging, als vielmehr unter brutalen, grausamen Umständen.26 Das Bild des NS-Täters als Techniker des Todes wird durch diese Forschungen erheblich relativiert. Allerdings bleibt der Gedanke Jeffrey Herffs fruchtbar, den Techniker als Ideologen zu verstehen und das dem Ingenieur eigene Element des Konstruierens und der technischen Vision in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken. Im Gegensatz zur Reduktion des Technikers auf bloße Technik öffnet Herff damit den Blick auf das Engagement und den utopischen Ehrgeiz von Ingenieuren, neue, bessere Welten zu entwerfen, die sich oftmals als totalitäre Schreckensszenarios erweisen.27

Diesen Gedanken haben Susanne Heim und Götz Aly in ihrem Buch »Vordenker der Vernichtung« weitergetrieben, in dem sie die Planungsvisionen von Ökonomen, Bevölkerungswissenschaftlern, Historikern, Geographen in den dreißiger und vierziger Jahre untersuchten.28 Ihre These einer »Ökonomie der Endlösung«, in deren Rationalität der Antisemitismus und die Shoah gänzlich verschwanden, ist auf deutliche Kritik gestoßen.29 Die Planungseuphorie und Rücksichtslosigkeit jedoch, mit denen in den zahllosen Denkschriften, Artikeln, Gutachten Millionen von Menschen wie auf einem Schachbrett hin und her geschoben oder »rationeller« gleich für die Ermordung vorgesehen wurden, stellen ungeachtet der weitgespannten These der Autoren nachdrücklich unter Beweis, daß ein Gutteil der (Mit-)Täter der »Endlösung« aus den akademischen Eliten kam.30

Von einer ganz anderen Seite hat die Forschung zu NS-Tätern ebenfalls neue Impulse erhalten. In der Alltagsgeschichte wurden jenseits übergeordneter Strukturzusammenhänge und weit entfernt von Hitler und der NS-Führung die Praxis nationalsozialistischer Herrschaft, Ausgrenzung und Verfolgung vor Ort untersucht.31 Dabei gerieten die »normalen«, alltäglichen Täter in den Blick, von deren Mittun entscheidend abhing, ob sich nationalsozialistische Politik durchsetzen konnte. Kaum zwei andere Bücher haben die »ordinary men« und den Judenmord so nachhaltig in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt wie die Studien von Christopher Browning und Daniel Goldhagen, die sich zum Teil auf denselben Quellenbestand eines umfassenden staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens gegen die Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 stützen.32 Während Browning die Entwicklung dieser Männer zu Massenmördern als eine Geschichte von Gruppendruck, Anpassung, Gehorsam, situativer Gewaltbereitschaft und zunehmender Abstumpfung schildert, erscheinen dieselben Männer bei Goldhagen als mordwillige, antisemitische Gewalttäter, die schossen, weil sie durften, und nicht, weil sie mußten.

Daniel Goldhagens Buch ist sicher zu Recht wissenschaftlich heftig kritisiert worden.33 Doch obwohl die methodisch wie historisch höchst fragwürdige These eines allumfassenden deutschen »eliminatorischen Antisemitismus« sicherlich keinen Bestand haben dürfte, so behält die eingangs gestellte Frage doch ihre Gültigkeit. Denn alle bisherigen Deutungen der Täter, so Goldhagen, laufen auf die Frage hinaus, »wie man Menschen dazu bringen kann, Taten zu begehen, denen sie innerlich nicht zustimmen und die sie nicht für notwendig oder gerecht halten«. Für Goldhagen ist klar, daß der Antisemitismus als zentrales Element nationalsozialistischer Weltanschauung das Handeln der Täter bestimmte. »Die Täter, die sich an ihren eigenen Überzeugungen und moralischen Vorstellungen orientierten, haben die Massenvernichtung der Juden für gerechtfertigt gehalten, sie wollten nicht nein dazu sagen.«34

Beide Bücher, die explizit den Begriff »ordinary« im Originaltitel führen, gelangen, wenn auch von jeweils verschiedenen Polen aus, zu einem problematischen Verständnis des Gewöhnlichen. Bei Browning, der sein Buch charakteristischerweise mit der Analyse einer gegebenen Gewaltsituation, nämlich dem Massaker in Józefów am 13. Juli 1942, beginnen läßt, tritt das situative Moment in den Vordergrund. Folgerichtig verflüchtigt sich der Judenhaß als Motiv in Brownings Untersuchung, und das von Goldhagen aufgeworfene Problem, ob die Täter nicht wollten, was sie taten, verwandelt sich am Schluß in die eher ratlose Frage: Wenn diese »normalen Männer« unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich noch Ähnliches ausschließen? Goldhagen hingegen, dem das Verdienst zukommt, den Antisemitismus, der im technokratischen Rationalitäts- und strukturalistischen Bürokratiediskurs zu verschwinden drohte, wieder in den Mittelpunkt gerückt zu haben, entzieht sich der Aufgabe, das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche analytisch voneinander zu trennen, indem er einen extremen, eliminatorischen Antisemitismus zur deutschen Normalität erhebt.

So scheint sich am Ende der Kontroverse die Erkenntnis herauszubilden, es mit mehreren Typen von NS-Tätern zu tun zu haben, die je nach Stellung im Vernichtungsprozeß, je nach Rolle und Engagement, Herkunft und Ausbildung differenziert werden müssen.35 Je mehr die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden nicht als Tat Hitlers oder nur spezifischer bürokratischer Instanzen, sondern die gesellschaftliche Dimension, die Tatbeteiligung zahlreicher Gruppen und Institutionen wahrgenommen wird, desto eingehender wird sich auch die Analyse der Täter differenzieren müssen. Nicht die Annahme eines dominanten Tätertypus wird den Weg der künftigen Forschung weisen, als vielmehr die Analyse des Zusammenhangs verschiedener Akteure und Institutionen, von intentionalem Vernichtungswillen und strukturellen Bedingungen, von Ideologie und Funktion, individuellem Vorsatz und situativer Gewaltdynamik.

Generation, Institution, Krieg

An diesem Punkt setzt die vorliegende Untersuchung über die führenden Akteure des Reichssicherheitshauptamtes ein. In die vorgestellten Täterbilder passen sie offenkundig nicht hinein. Otto Ohlendorf zum Beispiel gehörte weder zu den sozial Deklassierten, noch verfügte er über eine verwaltungsjuristische Ausbildung, die ihn zum Bürokraten oder Schreibtischtäter qualifiziert hätte. Ebensowenig ließe sich die Figur Otto Ohlendorf als Techniker oder Sozialingenieur beschreiben. Ohlendorfs kalte Erklärung jedoch, daß die Juden getötet werden mußten, weil sie ein »Sicherheitsproblem« dargestellt hätten, verweist wiederum auf den modernen Rationalitätsmodus, mittels dessen in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft selbst das Ungeheuerliche eine kalkulierende Begründung erhält, die ihren antisemitischen Ursprung sachlich-kühl zu kaschieren weiß. Die Tatsache, daß Ohlendorf kein Jurist war, verhinderte keineswegs, daß er Amtschef einer Reichsbehörde und stellvertretender Staatssekretär, also Entscheidungsträger im bürokratischen Geflecht des NS-Staates wurde. Mit monokausalen Zuschreibungen läßt sich das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes offensichtlich nicht erfassen. Um das Gewöhnliche wie Außergewöhnliche dieser RSHA-Täter, der »Kerngruppe des Genozids« (Ulrich Herbert), zu erklären, wird es notwendig sein, ihre verschiedenen, abweichenden wie übereinstimmenden, Profile zu untersuchen.

Summiert man sämtliche Personen, die im Reichssicherheitshauptamt, das insgesamt annähernd 3000 Mitarbeiter besaß, führende Funktionen eingenommen haben, also Amtschefs, Gruppenleiter und Referenten, so kommt man auf eine Zahl von etwa 400 Männern (und einer Frau), von denen zu einem großen Teil bislang nicht einmal die Namen bekannt waren. Allerdings gab es eine nicht unbeträchtliche Fluktuation, und etliche dieser Führungsmitglieder gehörten dem RSHA nur für kurze Zeit, oftmals nur wenige Monate, an. Um daher ein aussagefähiges Sample zusammenzustellen, sind für die vorliegende Untersuchung diejenigen Führungsangehörigen ausgewählt worden, die dem RSHA entweder mindestens anderthalb Jahre oder in der wichtigen Phase seiner Gründung 1939 bis 1941 angehört haben. Dieses Sample umfaßt 221 Personen, auf deren Daten sich die vorliegende Studie zum RSHA-Führungskorps stützt.

Betrachtet man die altersmäßige Zusammensetzung dieser Gruppe, sticht deren weitgehende generationelle Homogenität ins Auge. Mehr als drei Viertel von ihnen entstammten den Jahrgängen 1900 und jünger, gehörten also jener Kriegsjugendgeneration an, die den Krieg an der »Heimatfront« erlebten, aber selbst nicht mehr eingezogen, geschweige denn Frontsoldaten wurden.36 Zu Recht hat Hans Jaeger darauf hingewiesen, daß ein historischer Generationenbegriff weniger zur Analyse von gleichförmig ruhigen Phasen der Geschichte taugt, als vielmehr seinen interpretatorischen Wert erst mit den Einschnitten großer, die ganze Gesellschaft erfassenden geschichtlichen Ereignissen wie Kriegen, Revolutionen, Naturkatastrophen oder wirtschaftlichen Zusammenbrüchen entfaltet, die die Gesellschaften spalten und ihre Mitglieder zu Stellungnahmen zwingen.37 Zweifellos war der Erste Weltkrieg, die »Urkatastrophe des Jahrhunderts« (George F. Kennan), ein solcher generationsbildender Einschnitt. Die umfassenden existentiellen Erfahrungen des massenhaften Sterbens auf dem Schlachtfeld, der Zusammenbruch der alten kaiserlichen Welt und der Zerfall der Wertvorstellungen aus der Vorkriegszeit haben alle europäischen Gesellschaften erfaßt und Deutschland, das 1914 siegesgewiß auszog und sich 1918 in der Rolle des Geschlagenen wiederfand, sicherlich in besonderer Weise.

Die Kriegsjugendgeneration, der in ihrer eigenen Perspektive die »Bewährung« an der Front versagt geblieben war, bildete das Reservoir, aus der das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes zu mehr als drei Vierteln stammte. Hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und akademischen Ausbildung hoben sich die RSHA-Angehörigen keineswegs von ihren Altersgenossen ab. Im ersten Kapitel kommen daher bewußt Zeitgenossen wie Klaus Mann (Jahrgang 1906) oder Sebastian Haffner (Jahrgang 1907) zu Wort, deren antinationalsozialistische Position außer Frage steht, die jedoch aufgrund ihrer scharfen Beobachtungsgabe und Fähigkeit zur Reflexion Deutungen ihrer Generation formulieren konnten, die anderen Altersgenossen verschlossen blieben. Nicht nur die Erfahrung der Kriegszeit, sondern mindestens ebenso die unmittelbaren, entbehrungsreichen wie politisch instabilen Nachkriegsjahre und besonders das Erlebnis des politisch wie wirtschaftlich desaströsen Inflationsjahrs 1923, in dem die bürgerliche Welt gewissermaßen auf den Kopf gestellt wurde, haben die Kriegsjugendgeneration geprägt.38

Diese Generationslage gibt Aufschluß über das spezifische politische Weltanschauungsprofil, wie es für die späteren RSHA-Angehörigen während ihrer Universitätsjahre in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu beobachten ist. Als Analysefaktoren reichen Generation und Weltanschauung jedoch allein nicht aus. Beide Elemente strukturieren Wahrnehmungen und Erfahrungen, sie disponieren indessen keineswegs zwangsläufig zum Massenmord. Bei keinem der jungen Männer, die später im RSHA führende Positionen einnahmen, finden sich zu Beginn des NS-Regimes irgendwelche Anzeichen auf einen »eliminatorischen Antisemitismus« oder auf eine Bereitschaft zur Vernichtung, die nur auf den Moment des Auslösens wartete. Dennoch waren etliche dieser Männer wenige Jahre später Führer von Einsatzgruppen und -kommandos und verantwortlich für den Mord an Zehntausenden von Juden, Männern, Frauen und Kindern. Welche Faktoren also müssen über den »Generationszusammenhang« (Karl Mannheim) hinaus Eingang in die Analyse dieser RSHA-Täter finden? Wenn man nicht ein deterministisches biographisches Modell verfolgen will, dem zufolge sich aus den Erlebnissen und Erfahrungen in Kindheit und Jugendzeit die späteren Auffassungen und Handlungen von Menschen ableiten – eine Annahme, die oftmals den »intentionalistischen« Erklärungsansätzen für Hitler zugrunde liegt –, dann ist ein komplexeres Modell gefordert, das den politischen Kontext, die Struktur des NS-Regimes und insbesondere die spezifische Institution der nationalsozialistischen Polizei und des SD einbezieht.

So erhöhte die NS-Diktatur ohne Zweifel auf der einen Seite den Anpassungsdruck auf junge Akademiker, wenn sie eine Berufskarriere in Deutschland planten und nicht an Emigration dachten, sich in den Dienst des Regimes zu stellen. Auf der anderen Seite bedeutete die Zerstörung rechtsstaatlicher, zivilgesellschaftlicher und moralischer Schranken in der wissenschaftlichen Forschung und Praxis eine ungeheure mephistophelische Öffnung des Möglichkeitshorizonts, die gerade diese jungen, radikalen Akademiker nicht unbeeinflußt ließ. Insbesondere erfuhr die politische Polizei, die in jeder Diktatur eine maßgebliche Rolle spielt, im Nationalsozialismus eine bedeutsame Strukturveränderung wie Aufgabenerweiterung. Die Entscheidung Hitlers, die staatliche Polizei mit der SS zu vereinigen und unter die Führung des Reichsführers SS zu stellen, war, wie Martin Broszat zu Recht schrieb, »der weitaus folgenreichste Vorgang der Verselbständigung eines Teils der Reichsgewalt bei gleichzeitiger Verschmelzung von Partei- und Staatsaufgaben«.39

Die Frage nach der Struktur des NS-Regimes stellt sich für das Reichssicherheitshauptamt in besonderer Weise, da es sich sowohl von einer traditionellen Behördenorganisation abhob als auch seine Struktur einen deutlichen politischen Gestaltungswillen offenbarte. Das RSHA sollte eine politische Institution mit der Aufgabe der »rassischen Generalprävention« (Ulrich Herbert) sein, losgelöst von bürokratischen Bindungen allein nationalsozialistischer Politik verpflichtet, eine genuine Institution des »Maßnahmenstaates« (Ernst Fraenkel). In der Art, mit der die Akteure des RSHA auf die Eroberungserfolge des NS-Regimes reagierten beziehungsweise sie projektiv im Ausbau oder in der Neubildung von Referaten und Gruppen vorwegnahmen, Referate zusammenlegten, anders verorteten oder ganz strichen, wenn es die politische Situation erforderte, zeigt das Reichssicherheitshauptamt als eine flexible Institution, die sich rasch den politischen Gegebenheiten anpaßte, um wiederum auf sie größtmöglichen Einfluß zu nehmen.40 Die dem RSHA inhärente entgrenzte Struktur, die es signifikant von herkömmlichen Behörden oder Vorstellungen bürokratischer Staatlichkeit abhebt, stieß jedoch innerhalb einer bürgerlich-verrechtlichten Gesellschaft, wie es das Deutsche Reich auch in der NS-Diktatur blieb, an immanente Grenzen. Erst der Krieg und die Politik in den eroberten, besetzten Gebieten, vor allem im Osten, boten einer Institution wie dem RSHA die Möglichkeit, entgrenzte Radikalität nicht nur als organisatorische Struktur, sondern auch als politische Praxis zu verwirklichen.

Schon das Datum seiner Gründung, der 27. September 1939, offenbart, wie sehr das RSHA mit dem Krieg verbunden war. Zwar wurde es mit weitgehenden konzeptionellen Vorgaben geschaffen, aber seine Bewährung, seine Tauglichkeit hatte es im Krieg, im »Einsatz«, unter Beweis zu stellen. Entgegen der Betrachtung des RSHA als »Verwaltungsbüro« enthüllten sich seine Macht und Bedeutung in den mobilen Einheiten, den Einsatzgruppen und Einsatzkommandos, die in den eroberten Gebieten sowohl die polizeiliche »Sicherung« als auch das Projekt einer politischen »Sicherung«, das heißt einer völkisch-rassenbiologischen Neuordnung Europas, verfolgten, die im destruktiven ersten Schritt die Vernichtung des europäischen Judentums bedeutete. Dabei spielte der Krieg gegen Polen 1939 eine entscheidende Rolle, da er durch die Absicht, die geistige Elite des polnischen Volkes zu vernichten, sowie durch die Vertreibung und Deportation von Polen und Juden aus den westpolnischen Gebieten einen unverkennbar völkisch-rassistischen Charakter besaß. In Polen, wo im Herbst 1939 zahlreiche spätere RSHA-Führungsangehörige als Kommandoführer oder Stabsangehörige in den Einsatzgruppen fungierten, wurde der rassistische Massenmord in großer Dimension zum ersten Mal praktiziert. Die Radikalität der RSHA-Praxis in Polen setzte sich in Westeuropa und vor allem von 1941 an in den besetzten sowjetischen Gebieten fort, wie im siebten Kapitel, insbesondere an drei Fallstudien, gezeigt wird. Selbst der Zerfall, die räumliche Fragmentierung in einzelne Ämter, Gruppen und Referate in den Jahren 1944/45 durch die Auslagerungen etlicher Dienststellen aus dem zerbombten Berlin in eine Vielzahl von Ausweichquartieren, minderte nicht die Radikalität und Gefährlichkeit des RSHA. Die Deportation der ungarischen Juden im Sommer 1944, die Jagd auf die slowakischen Juden 1944/45 und auch die Verfolgung der Widerstandskreise nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 vollzogen die RSHA-Akteure mit unbedingtem Engagement.

Der Krieg, die Entgrenzung alltäglichen Tötens, ist daher nach Generation und Institution der dritte entscheidende Faktor, der für die Analyse des RSHA-Führungskorps von Bedeutung ist. Will man das Problem der Radikalisierung, die Frage nach Entwicklung und Entscheidung, erhellen, so wird man ebendiesen Zusammenhang von Akteuren, Institution und Praxis untersuchen müssen. Das RSHA entstand gewissermaßen durch die Politik seiner Akteure, deren Praxis wiederum durch die von ihnen geschaffene Institution gelenkt und strukturiert wurden. Nicht individual- oder sozialpsychologische Vorstellungen einer gespaltenen Persönlichkeit, nicht die soziologische Festschreibung von technokratischen Erfüllungsgehilfen bürokratischer Machtstrukturen oder modernisierungstheoretische Annahmen von NS-Tätern als Sozialingenieuren bilden die Leitlinie dieser Studie, sondern die Untersuchung eines Prozesses dynamischer Radikalisierung von weltanschaulich radikalen Akteuren, entgrenzter Institution und mörderischer Praxis im Krieg.41

Quellen und Forschung

Hinsichtlich der Quellen kann sich eine solchermaßen angelegte Studie zum RSHA-Führungskorps in erster Linie auf die SS-Personalakten, die ehemals im Berlin Document Center und nun im Bundesarchiv lagern, sowie auf staatsanwaltliche Ermittlungsunterlagen stützen. Unter der Federführung des Generalstaatsanwaltes beim Kammergericht in Berlin hat in den sechziger Jahren eine länderübergreifende Sonderkommission von Staatsanwälten und Kriminalbeamten Ermittlungen gegen die Angehörigen des RSHA aufgenommen. Obwohl es in der Mehrzahl der Fälle nicht zur Anklageerhebung und Verhandlungseröffnung gekommen ist, wie im neunten Kapitel erläutert wird, bieten diese Ermittlungsakten dennoch für den Historiker eine Fülle an Dokumenten, Vernehmungen und Beweisaufnahmen, die für diese Untersuchung genutzt werden konnten.42 Darüber hinaus sind gegen etliche RSHA-Angehörigen in den sechziger und siebziger Jahren Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, die zum Teil auch zu einer Verurteilung führten. Für diese Fälle konnten die umfangreichen Bestände der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg ausgiebig herangezogen werden. Persönliche Dokumente wie Tagebücher und Briefe sind nur in den seltensten Fällen erhalten geblieben beziehungsweise dem Verfasser zugänglich gewesen, bis auf einige Fälle, die dann allerdings, wie bei Heinz Gräfe, sehr anschaulich gerade über die Zeit der Annäherung an das NS-Regime und den Eintritt in den SD Aufschluß geben. Zusätzlich hat die Recherche in Universitätsarchiven wie Leipzig oder Jena aussagekräftiges Material für die studentischen politischen Aktivitäten der späteren RSHA-Angehörigen zutage fördern können.

Für die Institution des Reichssicherheitshauptamtes bietet in erster Linie der von Heinz Boberach akribisch rekonstruierte Aktenbestand RSHA (R 58) des Bundesarchivs die Quellenbasis. Aber insbesondere zum SD-Hauptamt waren die seit 1991/92 zugänglichen Bestände des Sonderarchivs in Moskau ebenso wie die Fülle an überlieferten Originalakten des SD aus der Abteilung IX/11 des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, die heute im Bundesarchiv/Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten lagern, wichtig und ertragreich. Für die Praxis des RSHA, das sowohl im Deutschen Reich selbst als auch in allen besetzten Gebieten tätig war, mußte in etlichen Archiven recherchiert werden, die Dokumente zur Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes enthalten, wie die Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem in Jerusalem, die US National Archives oder das US Holocaust Memorial Museum in Washington, ganz zu schweigen von der Fülle an Forschungsliteratur zur Shoah, die für eine Geschichte des RSHA-Führungskorps auszuwerten war. Hier hätte ich mich sicherlich als einzelner im Dickicht der Forschung verloren, wenn nicht die gemeinsame Editionsarbeit am Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42 nicht nur gerade diese zwei für die »Endlösung« entscheidenden Jahre erschlossen, sondern auch die Gelegenheit geboten hätte, mit anderen kompetenten Forscherinnen und Forschern zur Vernichtungspolitik des NS-Regimes Probleme, offene Fragen und Forschungsdebatten zu diskutieren.

Ganz ohne Zweifel hat die vorliegende Arbeit viel der wegweisenden Studie von Ulrich Herbert über Werner Best zu verdanken – nicht zuletzt stammt von Ulrich Herbert der Anstoß für eine Untersuchung des Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes.43 Mit Best stellte Herbert einen exemplarischen, hochrangigen SS-Täter vor, der ebenfalls weder Technokrat noch »normal« war. Werner Best unterschied sich durch Ausbildung, Weltanschauung und politische Praxis von anderen Deutschen und gehörte doch einer spezifischen Generation an, deren Erfahrungen und politische Schlußfolgerungen einer konkreten historischen Phase zuzurechnen sind. Die Biographien der späteren RSHA-Führer weisen daher bis zu ihrem Eintritt in das Reichssicherheitshauptamt durchaus Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mit Werner Best auf. Allerdings verließ Best das RSHA kurz nach dessen Gründung im Juni 1940 als Folge einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit Reinhard Heydrich, wie im vierten Kapitel eingehender geschildert werden wird. Insofern gibt Herberts Studie über Best wichtige Aufschlüsse über den Werdegang der RSHA-Führer, aber im Moment der Entfaltung und Entgrenzung der Institution auf der einen und des »Einsatzes« im Krieg auf der anderen Seite gehörte Werner Best nicht mehr dem Reichssicherheitshauptamt an. Er führte nie eine Einsatzgruppe, sondern blieb als Kriegsverwaltungschef in Frankreich und Reichsbevollmächtigter in Dänemark im klassischen Sinn ein Schreibtischtäter.

Mittlerweile kann auf eine durchaus beachtliche Forschung zur Sicherheitspolizei und zum SD zurückgegriffen werden. Zwar brauchte es über zehn Jahre, bis nach den ersten Ansätzen von Friedrich Zipfel und Hans Buchheim mit Shlomo Aronsons Dissertation über die Anfänge von Gestapo und SD eine erste, solide und umfassende Grundlage geschaffen wurde.44 Die nach dem Krieg erschienenen Aufzeichnungen von früheren Protagonisten von Gestapo und SD waren allenfalls als Quelle, nicht als Analyse zu gebrauchen,45 und auch ein so beachtliches Buch wie das von Heinz Höhne über die SS konnte die wissenschaftliche Untersuchung nicht ersetzen.46 Dagegen entstanden in England und den USA in den siebziger und achtziger Jahren eine Reihe von Arbeiten zur SS, die für die Beschäftigung mit Sicherheitspolizei und SD unverzichtbar sind.47 Vor allem ist George Browder zu nennen, dessen Studien zum SD, zum größten Teil leider bis heute nicht ins Deutsche übersetzt, mit empirischer Akribie und wissenschaftlicher Zuverlässigkeit die Frühzeit von SD und Gestapo behandeln.48

In den achtziger und neunziger Jahren nahm auch die deutsche Forschung wieder die Fäden aus den frühen sechziger Jahren auf. Wichtige Arbeiten entstanden, wie die Studie von Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm über die Einsatzgruppen, Bernd Wegner über die Waffen-SS, Christoph Graf zur politischen Polizei, Ruth Bettina Birn über die Höheren SS- und Polizeiführer oder Johannes Tuchel zur Inspektion der KL.49 Nicht zuletzt die von Reinhard Rürup initiierte und geleitete Ausstellung »Topographie des Terrors« auf dem Gelände des ehemaligen Gestapo-Gebäudes in Berlin, Prinz-Albrecht-Straße, lenkte den Blick auf die »Zentrale des Terrors«.50 Hans Safrian hat mit seinem Buch über die »Eichmann-Männer« das Personal und vor allem die Praxis des RSHA-Referats IV B 4 untersucht, wie jetzt Yaacov Lozowick gewissermaßen als Pendant die Deportationen in Westeuropa und die bürokratische Struktur das Eichmann-Referats analysierte.51 Christian Ingraos Studie über die SD-Intellektuellen steht vor ihrer Veröffentlichung.52 Jens Banach schließlich hat mit seiner umfassenden quantifizierenden sozialstatistischen Arbeit zum Führungskorps der Sicherheitspolizei und des SD im Gefolge der Untersuchungen von Gunnar Boehnert und Herbert Ziegler zur SS-Führerschaft sowie Mathilde Jamin zu den SA-Führern aussagekräftige Zahlen vorgelegt, die für die Untersuchung der RSHA-Führung als verläßliche Rahmendaten gelten können.53

Robert Gellately, Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann haben, weit über ihre nachhaltige Kritik am Bild von der Gestapo als einer allwissenden und allmächtigen Institution, mit ihren empirischen Forschungen das Wissen zur Struktur und Praxis der Gestapo enorm erweitert.545556575859