Der Weg nach Sacramento
Roman
Aus dem Bulgarischen von
Alexander Sitzmann
Herausgegeben von
Nellie und Roumen Evert
Die editionBalkan im Dittrich Verlag
ist eine Gemeinschaftsproduktion mit
CULTURCONmedien
Die Übersetzung dieses Buches wurde unterstützt von:
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.
ISBN 978-3-937717-56-2
eISBN 978-3-943941-35-7
© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2011
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Posoka Sakramento« im Verlag Pavlina Nikifolova,
Sofia 2000.
Lektorat: Marita Gleiss
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch
unter Verwendung eines Bildausschnittes von
Matey Mateev, Plovdiv
www.dittrich-verlag.de/www.culturcon.de
Er träumt noch immer seinen Danse macabre. Ringsherum drängen sich kleine Bengel. Nur kleine Bengel. Der Zeigefinger tanzt nicht mehr, sondern dirigiert die allgemeine Lebhaftigkeit – droht, verbietet, verweigert, ruft, zeigt und drückt am Ende den Abzug einer Pistole. Einer imaginären oder echten. Wichtig sind nur seine erneut lebhaften ausdrucksvollen Bewegungen. Gesättigt von Sinn. Manchmal gar magisch. Und sie stehen nicht im Widerspruch zu den bereits aufgezählten. Die Bewegungen eines riesigen Zeigefingers, unter dessen Diktat nicht nur seine Jugendjahre standen, sondern sein ganzes Leben. Seines und das der meisten seiner Freunde.
An dieser Stelle war der Fluss ganz schmal. Mit Anlauf könnte er hinüberspringen. Er sah sich vom flachen Ufer aus die Wohnblocks ringsherum an. Sie ragten ohne Spiegelungen aus dem unbeweglichen, trüben, fast schwarzen Wasser hervor. Die Plattenbaukartons sahen unbewohnt aus, verlassen, kein Mensch war zu sehen. Wartete man still auf die nächste Verteuerung beim Brot? Das nächste große Unglück, das in viel zu kleinen Portionen kam? Nahm man es hin und wartete voller Hoffnung darauf, dass am Ende etwas Bedeutendes geschehen würde? Dann würden die Menschen die Fenster weit aufreißen, sich auf den Balkonen zeigen und schreien, schreien, schreien. Aber das Schlechte kam erneut in kleinen Portionen, jeden Tag. Mehrmals täglich. So oft, dass sie es schon nicht mehr bemerkten. Und alle schrumpften mehr und mehr. Wurden geradezu unsichtbar an einem frühen Abend wie diesem.
Auf der Seite tauchten zwei Straßenköter auf. Sie schnupperten mit erhobenen Köpfen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er ließ sie nicht aus den Augen, während er auf die Anhöhe aus aufgehäufter Schlacke stieg. Er blieb auf dem höchsten Punkt stehen, die Hände in den Hosentaschen seiner ausgeleierten Hose. Die Hunde drehten sich abrupt um und rannten in Richtung des sumpfigen Ufers. Bald verschwanden sie hinter den herumliegenden Blechdosen. Auf manchen waren stilisierte rechteckige Käsestücke mit dunklen Löchern zu erkennen. Er hätte Lust gehabt, noch lange dazustehen und sich umzusehen. Er wartete darauf, dass es dunkel genug wurde. Nur die Dunkelheit verbarg das widerwärtige Bild. Plötzlich rief jemand nach ihm. Er sah den blauen Lada vor dem gegenüberliegenden Haus. Erneut hörte er seinen Namen.
Zwei weitere Wagen – ein schlammbespritzter grüner Jeep und ein anderer Lada – hielten hinter dem blauen. Aus den Autos ergoss sich eine Schar junger Leute. Neue Bewohner der Wüste ringsherum. Sie sahen ausgesprochen lebensfroh aus. Sie ließen zwei Flaschen Wodka der Marke »Atlantik« die Runde machen. Aus dem blauen Lada stieg noch ein Mädchen. Eine schlanke Gestalt mit hoch aufragenden, spitz zulaufenden Brüsten. Sie schaukelte mit tänzelnden Schritten zu den anderen. Er erkannte in ihr Mariana, und es lief ein Schauer über seinen Körper, wie oft in letzter Zeit, wenn er an sie dachte.
Wenn sie einander trafen, tauschten sie für gewöhnlich Banalitäten aus. Einzig und allein ihr Lächeln hatte Bedeutung. Der Blick, die übertriebenen Gesten. Ihre Handgelenke waren unnatürlich zart. Verrückt, dass er für dieses Mädchen so starke Gefühle verspürte. Einmal hatte er den Mut, sie aufzuhalten und nach ihrem Namen zu fragen. Es wunderte ihn, dass sie ihm antwortete. Er sah sie an und schwieg. Mariana, wiederholte sie, und brach in Gelächter aus. So verliefen fast all ihre zufälligen Treffen. Manchmal gelang es ihm, sich ein paar Sätze abzuquälen. Aber er zog es vor, schweigend neben ihr herzugehen.
Beim letzten Treffen war er vorbereitet, gab sich angriffslustig, schlug vor auszugehen. Er habe es satt, sie zwischen den Blocks abzupassen. Er erklärte ihr, wie gern er mit ihr allein sein wollte. Aufgeregt wedelte er mit den Armen und achtete darauf, nicht wieder zu verstummen. Er begriff dann irgendwann, dass Mariana die Einladung freundlich ablehnte. Er sprach aus Trägheit weiter. Er lächelte noch immer, als sie auseinandergingen. Er hatte gesagt, was er sich zurechtgelegt hatte. Aber seither schien sie ihm aus dem Weg zu gehen. Nie traf er sie irgendwo. Einige Male am Tag ging er an ihrem Block vorbei und schaute zu den Fenstern im fünften Stock hinauf. Manchmal hatte er Lust, an ihrer Tür zu läuten, was war schon dabei? Er würde sie ja nicht fressen. Aber die Eingangstür war immer verschlossen. Die alten Frauen, die davor herumschlenderten, sahen ihn misstrauisch an. Sie öffneten die Tür nur so weit, dass sie sich hineinzwängen konnten und zogen sie sofort wieder hinter sich zu. Oft stellte er sich vor, wie sie ihn von oben beobachtete. Und sich über seine Bemühungen lustig machte.
Auf der anderen Seite des Flusses hatte Mariana jetzt einen bärtigen Typen umarmt. Sie hing geradezu an seinem Hals. Sie ließ ihn mit dem einen Arm los, griff sich die Wodkaflasche, nahm einen Schluck, den Kopf in den Nacken geworfen. Wieder blickte sie zu ihm hinüber und rief mit voller Stimme:
»He, Pavel, wie lange soll ich noch auf dich warten? Seit einem halben Jahr willst du mir die Sterne vom Himmel holen. Was ist jetzt? Komm schnell, wir fahren gleich los. Du verstehst schon. Ehe du dich versiehst, ist dein Fallschirm aufgegangen.«
Er ging ohne zu zögern zu der kleinen Holzbrücke und war erstaunt, dass der Pavel, den sie rief und dem sie Zeichen machte, er selbst war. Aber es gelang ihm, sich zu beherrschen. Er versuchte, seinen Gang lässig aussehen zu lassen. Die Gruppe gegenüber geriet in Bewegung. Man verteilte sich wieder auf die Autos. Kein anderer beachtete ihn außer Mariana. Sie hatte die Flasche zwischen ihre Brüste gepresst und winkte ihm mit ihrer freien Hand zu.
»Beeil dich!«, forderte sie ihn auf, »sonst werd ich dir keinen Tropfen geben. Nur dass du’s weißt.«
Sie hielt ihm die Flasche direkt an den Mund. Damit er einen großen Schluck nahm.
»Du kommst mit uns!«, ordnete sie lachend an. »Tu nicht so unschuldig! Du lebst nicht auf dem Mars. Das Leben ist ein Karussel. Wir müssen uns mit ihm drehen.«
Der Wodka ließ ihn husten. Seit er aus dem Wehrdienst entlassen worden war, hatte er keinen Alkohol angerührt. Er sah sie hilflos an, sie ermunterte ihn, noch einen Schluck zu nehmen.
»Los, nur noch ein klitzekleiner Schluck. Du willst doch ein freier Mensch sein. Ein Schlückchen noch, und wir steigen ins Auto. Sie warten nur noch auf uns. Die Party hat längst begonnen.«
Er nahm noch einen Schluck und holte mit offenem Mund Luft. Innerlich stand er in Flammen. Sein Kopf füllte sich mit Nebel. Er folgte Mariana auf die andere Seite des Ladas. Er beugte sich hinunter, um einzusteigen, aber auf dem Rücksitz saßen schon vier. Mariana drängte sich hinein, ohne sie zu beachten. Jemand ächzte vor Schmerz auf, dann ein anderer. Am Ende setzte sie sich auf jemandes Knie, beugte sich zu ihm hinüber und reichte ihm die Hand.
»Mach schon, nur Mut, wir machen uns dünn. Es sind höchstens zwanzig Minuten. Und Čiko ist der König des Lenkrads. Er kennt einen Schleichweg. Er kennt alle Schleichwege.«
Mariana deutete mit einer übertriebenen Geste auf den schmalen Jungen am Steuer. Er war kahlrasiert. Man konnte deutlich drei Vertiefungen sehen, die der Länge nach über seinen dünnen Nacken liefen. Sie fuchtelte mit der Flasche vor ihrem Gesicht herum, überzeugte sich davon, dass noch genug drin war, und reichte sie Čiko.
»Nicht jetzt, danke!«, lehnte er ab. »Ich habe den Jungs versprochen, nicht zu trinken, wenn ich fahre. Später werde ich es nachholen. Und wie!«
Bald ermunterte sie ihn wieder, einen kleinen, einen wirklich nur klitzekleinen Schluck zu nehmen. Ihre Stimme war verführerisch. Verlockend. Aber Čiko schüttelte nur lächelnd den Kopf. Mariana trank, Pavel trank, die anderen tranken. Sie reichten die Flasche herum, lachten, zwinkerten sich zu. Mariana drehte die Flasche um, als der Wodka alle war.
»Leer!«, trällerte sie.
Im Auto begann ein allgemeines Gekichere. Sie schüttelten sich geradezu vor Lachen. Pavel hing in der Luft zwischen den Beinen von irgendeinem hinter ihm. Er bemühte sich, ihn nicht zu berühren. Die Muskeln seiner Oberschenkel waren steif vor Anstrengung. Er bereute, dass er so unüberlegt in den Wagen gestiegen war. Er wusste nicht einmal, wer der Gastgeber war. Mariana war bestimmt eingeladen. Sicher hatte man ausgerechnet, wie viele Mädchen auf einen Jungen kamen. Bei Partys herrscht immer Frauenmangel. Er wollte nicht die Rolle eines aufdringlichen Typen spielen. Im Jeep erkannte er einige bekannte Gesichter. Sie spielten oft Billard im Café. Er sagte »Hallo« zu ihnen. Mehr nicht. Aber der Alkohol und das allgemeine Geplauder machten ihn bald lockerer. Er lachte mit den anderen. Er hatte den Gesprächen im Auto entnommen, dass die meisten sich nicht kannten.
Es tauchte eine neue Flasche »Atlantik« auf, man hörte begeisterte Ausrufe. Sie prüften, ob auch wirklich Wodka drin war. Jemand öffnete den Verschluss und reichte die Flasche Mariana. Sie umschlang Pavel, bot ihm an, gleichzeitig zu trinken. Ihre vorgestreckten Lippen berührten sich. Wodka tropfte auf seine Hose.
»Wenn wir erst da sind«, rief Čiko wieder, »werde ich alles nachholen, aber wie.«
Er fuhr mit stocksteifem Rücken, beide Arme ausgestreckt. Das starre Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht. Er gab Gas, ohne seine Miene zu verändern, und bog abrupt ab. Er schaltete in den zweiten Gang und überholte seitlich auf dem Gras den Jeep und den anderen Lada. Auf einer steilen Wiese endete der Weg. Dort stellte er den Wagen quer und hielt an. Die Autos hinter ihnen überholten sie, fuhren noch weiter hinauf. Sie bogen in die entgegengesetzte Richtung ab. Das Chaos beim Parken passte zur allgemeinen Stimmung. Die Türen gingen auf, alle stiegen erheitert aus. Man hörte »Auf-zur-Party«-Rufe. Sie stießen indianische Kampfschreie aus, zeigten auf das Wochenendhaus. Es war ein solides zweistöckiges Gebäude mit alpinem Dach und hölzernen Fensterläden. Zwei von ihnen rannten los, wetteiferten, wer zuerst am Haus wäre. Außer Atem versuchten sie, sich durch die Gitterstäbe des Zauns zu zwängen. Der Blonde, mit Haaren, die zu einem nach hinten abstehenden Schwanz gebunden waren, blieb mit seiner Lederjacke an den Metalldornen hängen. Der andere schlüpfte zurück. Er beugte sich über den Blonden und half ihm, sich zu befreien. Er beruhigte ihn, dass das Loch in der Jacke so gut wie gar nicht zu sehen sei.
»Dreihundertfünfzig Dollar hab ich dafür hingelegt«, sagte der Blonde. »Aber scheiß drauf, das spielt keine Rolle.«
Inzwischen hatten sich alle versammelt. Jemand entdeckte eine Eisentür. Dorthin zogen sie unter Lachen und Rufen. Ein fülliges Mädchen mit dicken Lippen wedelte mit einem großen Schlüssel. Sie gab ihn wie einen Staffelstab dem, der ihr am nächsten stand. »Aufmachen, aufmachen, aufmachen«, rief sie kichernd. Die Typen um sie herum hoben sie hoch und trugen sie über ihren Köpfen wie eine afrikanische Prinzessin. Sie stimmten den Hochzeitsmarsch an, bald sangen sie im Chor.
Sie gingen über den gepflasterten Pfad zwischen wucherndem Gras und hohen Brennnesseln. Die Prozession wurde von Lachen geschüttelt. Auch das Mädchen mit den dicken Lippen lachte und ruderte mit Armen und Beinen. Als sie den asphaltierten kleinen Platz erreichten, bat sie darum, sie herunterzulassen. Sie zog aus dem Leinenbeutel, der über ihren Brüsten hing, einen Schlüsselbund und klimperte damit über ihrem Kopf.
Alle warteten, bis sie die Haustür aufgeschlossen hatte, und stürzten in den Flur. Sie rannten, stießen sich, wetteiferten, wer zuerst das Ende erreichen würde. Jemand fragte, ob es Strom in dieser Höhle gäbe. Einem anderen war es egal, ob es Strom gab. Die Ungeduldigen wurden gemahnt, dass es noch nicht an der Zeit war, miteinander zu knutschen. Die Lampen im Flur und in dem riesigen Zimmer in L-Form leuchteten gleichzeitig auf. Einige Hände versuchten wieder, das Mädchen mit den dicken Lippen hochzuheben. Es gelang ihm, sich zu befreien, und es begann, sich durch den Flur zu zwängen.
»Jeder soll sich einen bequemen Platz suchen«, ordnete sie mit lauter Stimme an. »Und fühlt euch nicht wie zu Hause. Nicht jeder hat es ja gut zu Hause. Fühlt euch wie im Paradies. Aber macht nichts kaputt. Aber wenn etwas kaputtgeht, dann macht euch keine Sorgen.«
Ich will dir erklären, warum ich gegangen bin, liebe Mutter, warum ich weggelaufen bin und warum ich auf dieser Pritsche herumhänge und versuche, nicht nachzudenken. Mir fehlen die Worte. Ich wiederhole immer nur »liebe Mutter, liebe Mutter«. Ich kann dir nicht erklären, warum ich gegangen bin, warum ich weggelaufen bin. Die Augen fallen mir zu, aber ich will standhaft sein. Ich will mich erinnern und standhaft bleiben. Ich werde nur auf der Pritsche sitzen und schauen. Ich erwarte, dass sie mich auf ein Schiff laden, in ein Flugzeug, in eine Weltraumrakete. Und dass sie mich irgendwohin schicken. Damit ich noch weiter weg bin, mich mit jeder vergangenen Stunde noch weiter entferne. So weit weg, dass es, wenn ich mich wie jetzt frage, warum ich gegangen bin, warum ich weggelaufen bin, keine Antwort mehr braucht. Oder die Erklärung findet sich in den Ozeanen, auf den Kontinenten, in den kosmischen Weiten.
Liebe Mutter, ich sehe dich, wie du Kinder in der Grundschule unterrichtest. Ich weiß, dass du nie Lehrerin gewesen bist. Aber ich sehe dich, wie du durch die Reihen gehst, vor den ungehorsamsten Kindern stehen bleibst und ihnen erklärst, was sie nicht verstehen. Ich sitze ganz hinten, am Fenster, und du kommst nie bis zu meiner Bank, so sehr ich es mir auch wünsche. Obwohl auch ich nichts weiß, denn ich verstehe genauso wenig wie die anderen.
Liebe Mutter, du nähst Reißverschlüsse an Hosen und willst nicht dazulernen. Es reicht dir, dass du mit den Reißverschlüssen zurechtkommst. Liebe Mutter, ich möchte gern lernen, wie man Hosen näht. Aber das, denke ich, ist keine Männerarbeit. Obwohl die besten Schneider Männer sind. Ich kneife die Lippen zusammen, würde dir gern Mut machen, Hosen zu nähen. Später, liebe Mutter, werde ich verstehen, wie recht du gehabt hast. Spielt es eine Rolle, ob du nur Reißverschlüsse annähst oder ob du Hosen schneiderst? Hat überhaupt irgendetwas einen Sinn, liebe Mutter?
Ich kann jetzt nicht erklären, was der Grund ist. Ich verstehe ihn nicht, besonders nicht auf dieser Pritsche, wenn ich versuche, nicht an dich zu denken. Liebe Mutter, denk an alles, was du nicht leiden kannst. Das Warten auf eine Unterschrift – was für eine Unterschrift auch immer. Aber ohne sie geht es nicht. Vor der Tür, auf der »Chef« steht. Und du wartest, wartest, wartest. Aber jetzt gehst du nach Hause zurück. Und erzählst, wie du gewartet und gewartet hast. Ich wollte, dass sie mich als Gepäck auf ein Schiff laden, in ein Flugzeug, in eine Weltraumrakete und dass sie mich irgendwohin schicken, Hauptsache weit weg. Aber ich lauschte nicht nur deiner Erzählung über das Warten vor der Tür, die nicht die Güte hatte aufzugehen. Ich selbst wartete. Ich wartete und wartete, liebe Mutter, und füllte mich mit Unerträglichkeit an. Am Ende explodierte ich. Ich zersprang in tausend Stücke. Ich flog mit dem Wind, trieb im schmutzigen Fluss vor dem Wohnblock. In mir drängelten sich Wörter, Absichten, Versprechungen. Ich bemerkte nicht, dass ich in Stücke gegangen war. Nur in meinem Kopf lebendig, nur in der Brust, nur … nur … Ich bemerkte nicht, dass mich die Unzufriedenheit in Stücke gerissen hatte. Ich war explodiert, gesprengt. In Stücke gerissen, aber ich lebte, jeder Teil von mir war lebendig. Bereit zu überleben. Auch wenn ich weiß, dass es keinen Sinn hat, das hast du ja selbst gesagt.
Liebe Mutter, ich versuche vergeblich, es dir zu erklären. Ich kann mich nicht erinnern, was genau, aber du hast es sicher verstanden, so wie auch ich, der ich es dir nicht sagen werde. Es bleibt das Wichtigste. Du bist viel zu weit weg, als dass ich den Versuch unternehmen könnte, dir zu helfen. Du nähst schon lange keine Reißverschlüsse mehr an. Du hast nie etwas angenäht. Und deshalb sehe ich dich, wie du den braven und weniger braven Kindern hilfst. Ich weiß, liebe Mutter, dass du nie Lehrerin gewesen bist. Aber ich sehe, wie du denen, die Fehler machen, hilfst.
Du beugst dich zu den Köpfen der Kinder hinunter, führst ihre Hand, während sie angestrengt Buchstaben malen, die wie Häkchen aussehen. Und wie oft ich mich auch melde, du bemerkst mich nicht, siehst nicht, dass ich ebenfalls Hilfe brauche. Es gelingt mir nicht, dir die Hauptsache zu sagen, auch nicht das Nebensächliche, ich sehe nur, wie ich dir schon seit Jahren von der letzten Bank ein Zeichen gebe, aber du bemerkst mich nicht. Du bewegst dich zwischen den anderen Kindern, und ihnen hilfst du geduldig.
Ich will dir nur das sagen: liebe Mutter. Es reicht, ich habe es jetzt verstanden. Da, ich gebe dir kein Zeichen mehr von meiner Bank, sondern wiederhole nur aus der Ferne: liebe Mutter, liebe Mutter … Ich interessiere mich nicht dafür, was ich falsch gemacht habe und wie oft ich es noch falsch machen werde. Ich habe das Heft mit den darin gemalten Häkchen endgültig zugeschlagen. Ich will dir etwas sagen, und du sollst mich dann ansehen und verstehen, dass ich, egal wie leise ich es wiederhole, wie weit weg ich auch sein mag, nur zu dir sage: liebe Mutter, liebe Mutter. Ich will dir das erzählen, von dem bereits klar ist, dass ich es nicht mehr tun werde. Aber ich bin sicher, es reicht – liebe Mutter! …
Manche Dinge kann man nur seiner Mutter sagen. Andere nicht. Man kann sie bestimmt nicht seiner Mutter sagen. So ist das mit der Frau, die dich in ihrem Leib getragen hat. Ich bin sicher, dass du geträumt hast, als du mich in dir spürtest. Noch war es nicht ich. Erst allmählich habe ich mich herausgebildet mit Hilfe deines verträumten Blicks. In ihm war Licht. Es erinnerte schon an den zukünftigen Menschen.
Die Entfernung und die Zeit machen die Verbindung zwischen uns deutlicher. Während einiger Stunden des Tages fühle ich mich wieder mit einer Nabelschnur mit dir verbunden. Körperlich. Ich spüre, wie viel von dir in mir ist. Und umgekehrt. Eher umgekehrt. Ich fühle mich leer, ohne jede Identität. Alles, was ich bin oder sein sollte, ist abgeflossen. Es ist zu dir hinübergeströmt. Dann denke ich mir, was du fühlst. Jetzt schon Hunderte Kilometer und wahrscheinlich ein ganzes Leben weit entfernt.
Mein Vater, oder eher der Mensch, der dir half, mich aufzuziehen, war mir immer fremd. So sehr ich ihn auch liebte, als ich ein Junge war. So nachsichtig ich auch seinen kleinen Mängeln gegenüber war. Was für ein Tänzer früher, bei den Abendveranstaltungen! Sein Stolz, dass alle im Viertel ihn kennen. Er lachte glücklich. Er trank das dritte Schnäpschen und begann den Kampf gegen den Wunsch, sich einen vierten Rakija einzuschenken. Nie schenkte er sich ein. Ich gestehe, dass es vorkam, dass ich ihn gerade wegen dieser Anstrengung gehasst habe. Drei Rakija. Mehr nicht. Das hielt sein Gefühl für Anstand am Leben. Plus die Geste, ein von einem anderen schwangeres Mädchen zu heiraten. Ganz gleich von wem.
Ich bin sicher, dass der Mensch, der dir geholfen hat, mich aufzuziehen, einfach ein jämmerlicher Unglücksrabe war. Natürlich mit seinem eigenen Heldentum. Er hatte seine eigenen unlösbaren Konflikte. Und andere, die er löste. Ich sehe seinen Gesichtsausdruck. Nicht ein bestimmtes Gesicht, nur einen Ausdruck, in dem ich seine Züge erkenne. Ziemlich verwischt, ziemlich undeutlich. Er zeigt das Geld, das er mit zusätzlichen LKW-Fuhren verdiente. Er hatte auf ein Bett gespart. Ein echtes Bett. Bis dahin wusste ich nicht, dass ich auf zwei Brettern schlief, die auf Böcken standen. Glaub mir, ich wusste es wirklich nicht.
Mein altes Bett war mir bequem. Ich verstand ihn nicht, als er sagte, dass ich endlich in einem richtigen Bett schlafen würde. Ich fühlte mich sogar beleidigt. Ich erwartete immer, dass er mich auf irgendeine Weise beleidigen würde. Ich weiß, dass das Ausdruck einer gewissen Undankbarkeit ist. Aber das liegt daran, weil ihr mich nie belogen habt, dass er mein Vater sei. »Er ist nicht dein echter Vater!« – hatte ich immer im Hinterkopf. Hätte man mir das auf eine behutsame Art erklärt, wären mir sicherlich einige Spannungen erspart geblieben. Sicherlich ist es so. Aber denk nicht, ich würde dich verurteilen, dich, ihn, wen auch immer. Nicht einmal den Zufall. Die Zufälligkeit.
Ich habe kein Recht zu urteilen. Ich habe ein Recht dazusitzen und nachzudenken. In der Wunde der Vergangenheit zu bohren. Und sollte ich mich wundern, dass sie noch manchmal blutet, werde ich mir einen Spiegel suchen. Und werde mich betrachten. Hier muss ich dir wohl sagen, dass ich mich seit langer Zeit nicht mehr betrachtet habe. Es kommt mir so vor, ob du es glaubst oder nicht, als hätte ich mich nie im Spiegel betrachtet. Oder dass ich, wenn ich mich in einem sauberen, kristallenen Spiegel betrachtete, nur dich und ihn sehen würde. Ich würde mich vergebens im Spiegel suchen. Ich bin nicht mehr das, was ich einmal war. Ich sehe, wie ich meine Vergangenheit verlasse. Sie ist ein Gipskorsett. Sie bekommt Risse. Sie bricht auf. Sie wird zu einem Haufen Gips. Und keine Spur mehr von der Frische und Schönheit, die das Leben einmal war. Weil ich auch so ein Gefühl habe, dass ich an einem Feiertag am lautesten Ort gewesen bin. Ich habe mich wirklich amüsiert.
Kannst du dir vorstellen, wohin ich in so einer tiefen Nacht aufsteigen kann? Inmitten so vieler schnarchender, im Schlaf sprechender, schmatzender Typen. Wie hoch ich wohl fliegen kann? Nur um möglichst weit weg zu sein. Oder tief hinunterzusteigen. Genau – auch in dieser Richtung liegt Rettung. Ich glaube, in der Tiefe fühle ich mich besser. Ich reibe meine Augen mit den Handflächen. Einfach wegen der Schmerzen. Ich will nicht schlafen. Ich habe das schreckliche Gefühl, dass ich nie einschlafen werde. Dass ich immer ins Dunkel schauen werde. So weit mein Blick reicht. Und das ist nicht weit. Mein Blick löst sich einfach in der Dunkelheit auf. Er wird Teil der schmatzenden, stinkenden, winselnden, weinenden, schnaufenden Dunkelheit.
Mutter, erst jetzt, erst hier spüre ich, dass die Verbindung zwischen uns nicht mehr dieselbe ist. Es gibt keine Nabelschnur zwischen uns. Jahrelang war sie da. Am Beginn der Nacht war sie da. In ihr pulsierte unser Egoismus gegenüber diesem Unglücksraben, der es sich nie erlaubte, sich einen vierten Rakija einzuschenken. Er erlaubte es sich nicht, laut zu werden und sparte Geld, um uns mit verwundertem Gesicht anzusehen, wie ein Taschenspieler, wenn er feststellte, was wir noch brauchten.
Alles, was er für uns beide tat, schien mir auf irgendeine Weise beleidigend. Immer, immer, immer. Jetzt nicht mehr. Jetzt wo ich mich nicht mehr mit dir verbunden fühle. Wir beide duldeten ihn. Jetzt sehe ich ihn anders. Er ist mir noch fremder. Aber er ist inzwischen ein ganz anderer Mensch. Nicht der, der unser Verhalten ihm gegenüber verdiente. Ich habe mir nie erlaubt, diesen Menschen kennenzulernen. Und ich denke mir, dass er sich schlau, mit dem Hochmut unserer Harmonie spielend, versteckt hatte. Absichtlich. Und bis zum Schluss.
Er war sicher, dass ich ihn in einer Nacht wie dieser verstehen würde. Und nichts kann mir helfen. Nicht einmal der Wunsch, Schmerz zu spüren. Einen so starken Schmerz, dass ich vergesse, was ich entdeckt habe. Ich spüre keinen Schmerz. Ich fühle mich nur leer. Alles ist ausgeflossen. Ich bin ein leeres Gefäß, das sich Tropfen für Tropfen mit dem Schmutz dieses dunklen Ortes füllt.
In dem Durcheinander hatte er sie an der Hand gefasst. Die Wärme durch die Berührung und den Wodka vermischten sich. Sie setzten sich aufs Sofa unter den riesigen, von den Holzläden verdunkelten Fenstern. Im nächsten Augenblick stand der Bärtige, den er die ganze Zeit über im Verdacht hatte, ein Verhältnis mit Mariana zu haben, ihm gegenüber. Er legte ihm rituell die Hände auf die Schultern.
»Hör zu!«, sagte er und nickte zur Seite. »Sie weiß, dass du sie liebst. Und sie wird auf dich warten. Doch nun brauche ich ein wenig Aufmerksamkeit.«
Pavel war dankbar, dass der Bärtige das Wichtigste aussprach. Zumindest im Moment brauchte er keine nochmalige Liebeserklärung. Die Hände auf seinen Schultern erlaubten ihm nicht, sich zu rühren. Es war schwer zu erkennen, mit wem Mariana sprach. Er saß auf ihrer anderen Seite, hatte lässig die Beine nach vorn ausgestreckt. Sie stand auf, drehte sich um, zerzauste sein lockiges Haar und lachte schallend. Sie hatte sich schon einem anderen zugewandt, die Hand warnend erhoben. Sie erlaubte nicht, dass jemand die Flasche berührte. »Das ist meine!« Dann schenkte sie großzügig in die gereichten Gläser ein. Alle ringsum kannten sie, es war eine vertraute Runde. Die beiden, denen sie Wodka einschenkte, küssten sie auf die Wange. Sie strichen ihr liebevoll übers Haar. Mariana trank direkt aus der Flasche. Sie hatte die Rockschöße ihres Seidenkleids mit weit gespreizten Knien aufgespannt, sah zu Pavel hinüber und warf ihm eine Kusshand zu. Wieder lachte sie schrill, wie nach einem unerwarteten Scherz. Es würde ihr nicht gelingen, sich woanders hinzusetzen. Er, Pavel, würde sofort bemerken, wenn jemand versuchte, sie zu entführen. Zu ihrer anderen Seite erhob sich der Lockige. Er entfernte sich mit unsicheren Schritten.
Über ihm, sich auf seine Schultern stützend, sprach der Bärtige auf Deutsch. Er blinzelte mit seinem trüben Augen, schüttelte den Kopf und fuhr auf Englisch fort.
»Ich versteh dich trotzdem nicht«, sagte Pavel, »außer ein paar Wörtern. Auf dem Gymnasium hatte ich ja Englisch.«
Der Bärtige stieß sich von seinen Schultern mit einer abrupten Bewegung ab, drehte sich um und taumelte. Er machte einige weit ausladende Schritte. Es gelang ihm, sich mit seinen nach vorn gereckten Armen am Tisch abzustützen, auf den Čiko gestiegen war. Er stand gebeugt und mit hängenden Schultern da. Einige Jungs umringten ihn. Der mit dem runden Kopf, karierten Hemd und breiten Hosenträgern verkündete mit tiefer Stimme:
»Achtung – Achtung! … Čiko möchte was sagen.«
»Ich hab keine Lust zu reden«, schüttelte Čiko den Kopf. »Ich hab was anderes vor.«
»Gut, einverstanden, aber sag zuerst was«, meinte der mit dem runden Kopf. »Nur ein paar Worte.«
»Ich werde nichts sagen«, weigerte sich Čiko und schüttelte wieder den Kopf. »Lasst uns doch zum Wesentlichen kommen!«
Der mit dem runden Kopf begann ziellos hin und her zu laufen, irgendjemand hinter ihm gab ihm eine Literflasche »Sibirska«. Er hob sie über seinen Kopf, zeigte auf Čiko und sagte, alle sollten jetzt gut aufpassen. Dann reichte er ihm die Flasche. Er wartete mit ausgestrecktem Arm, um sicherzugehen, dass Čiko sie fest genug hielt. Alle ringsum waren verstummt. Es herrschte gespannte Erwartung. Er hielt die Flasche hoch und begann, sie gut hörbar in seinen Schlund zu schütten. Sein Adamsapfel stand hervor, zuckte. Der mit dem runden Kopf und den Hosenträgern forderte einen Tusch für ihn. Er wedelte wie ein Dirigent mit beiden Armen, stürzte nach vorn und es gelang ihm, Čiko festzuhalten, der bedrohlich zu wanken begann. Ein paar andere Arme halfen mit und versuchten, ihn zurück auf den Tisch zu stellen. Aber er ließ die halbleere Flasche fallen. Seine Knie knickten ein, klappten zur Seite. Čiko hockte sich auf dem Tisch.
Die vier Lautsprecher der Anlage begannen fürchterlich zu knacken. Sie waren hoch oben an der Decke in den Zimmerecken montiert. Ein erneutes Knacken. Dann war der Schaden endlich behoben und das ganze Zimmer begann im Rhythmus zu pulsieren. Die meisten sprangen auf, um zu tanzen. Nur der mit dem runden Kopf und den Hosenträgern blieb da, um sich mit Čiko zu befassen. Er half ihm vom Tisch und schleppte ihn zu einem freien Sessel. Dort ließ er ihn liegen, auf dem Rücken, mit weit ausgebreiteten Armen. Dann drehte Pavel sich um und schüttelte begeistert im Takt mit der Musik die Fäuste über dem Kopf. Neben ihm flog ein Pärchen mit komplizierten Rock’n’Roll-Figuren vorbei. Er stand ihnen im Weg. Sie rempelten ihn an und zwinkerten ihm zu.
Nachdem er gewartet hatte, bis Čikos Auftritt vorbei war, drehte sich der Bärtige auf den Hacken mit dem Rücken zum Tisch um. Er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, trat auf die Tanzenden zu. Er wartete, bis sich ein freier Korridor bildete, und stürzte wieder auf Pavel los, stützte sich wieder auf seine Schultern. Er hauchte ihm geräuschvoll ins Gesicht und begann, Französisch zu sprechen. Dann eine andere Sprache – Norwegisch oder Schwedisch. Pavel schlug ihm entrüstet ins Gesicht und stotterte:
»Du bist ja ein Sprachgenie, Mann!«
Er versuchte, Mariana zu folgen, als sie aufstand, um zu tanzen. Der Bärtige drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht aufs Sofa. Pavel versuchte sich zu befreien und der Bärtige fiel auf ihn, stammelte etwas in einer jetzt unbekannten Sprache. Er fasste ihn um die Hüfte, stieß ihn angeekelt zur Seite und ließ ihn, Gesicht nach unten, auf dem Sofa liegen. Der Bärtige lallte weiter, den Kopf in den Damast vergraben. Seine unbequeme Lage gefiel ihm nicht. Pavel stand auf und sah sich um. Mariana hatte noch bis vor einer Minute in der Mitte des Zimmers getanzt. Jetzt waren nur noch drei Pärchen da. Die übrigen waren in der kurzen Zeit verschwunden. Der Rock eines großen Mädchens mit auf dem Rücken überkreuzten Schulterträgern rutschte bei jeder Bewegung ihrer Arme fast bis zur Hüfte hinauf. Ihr Slip blitzte auf, gelb, mit kleinen Fliegenpilzen gesprenkelt.
Der Langhaarige und der Kahle, die vor zehn Minuten hereingekommen waren, stritten monoton. Sie hatten sich vor Čikos Sessel an der Kleidung gepackt. Mit steifen Bewegungen machten sie einen Schritt nach rechts, einen nach links. Ein nicht sonderlich rhythmischer Tanz. Allmählich bewegten sie sich schneller. Und bald würden sie wohl mit Fäusten aufeinander einschlagen.
»Ich hab dir gesagt, du sollst deine Rechnung bezahlen«, sagte der Kahle voller Wut. »Du steigst in mein Taxi, willst, dass ich dich wie einen König behandle. Du machst dich wichtig, rauchst Zigarre. Dreimal hab ich sie dir angezündet. Alle deine Spielchen mitgespielt. Und nun willst du dich, ohne zu bezahlen, aus dem Staub machen.«
»Ich hab dir doch die Flasche dort auf dem Tisch angeboten«, sagte der Langhaarige träge. »Anstelle von Geld. Der Whisky hat genausoviel gekostet.«
»Damit fangen wir erst gar nicht an!«, meinte der Taxifahrer. »Ich will, dass du mich bezahlst. Weißt du, was das bedeutet? Du bedeutet du. Los jetzt! Der Whisky gehört ja noch nicht einmal dir.«
»Was interessiert’s dich?«, fragte der Langhaarige.
»Es interessiert mich!«, erhob der andere die Stimme. »Ich hätt dich in Ruhe gelassen, wenn du ein echter Säufer wärst. Aber so einem Arschloch wie dir schenk ich doch nichts!«
Der kahle Taxifahrer hatte ihn schon mit beiden Händen gepackt, schüttelte ihn mit ausladenden Bewegungen vor und zurück. Er zischte durch die Zähne und lachte gehässig. Der Langhaarige hatte offenbar aufgegeben. Sein Kopf schaukelte willenlos hin und her. Neben ihnen erhob sich, ohne die Augen zu öffnen, Čiko aus dem Sessel. Er schwankte, aber es gelang ihm das Gleichgewicht zu halten.
»Schlag ihn nicht!«, brachte er mit Mühe hervor. »Das ist der Amour. Ein großer Liebhaber. Sonst ist er Geologe. Das heißt, er hat Geologie studiert. Eine romantische Natur. Er ist ein bisschen ein Ekel. Aber was soll’s. Nimm ihn nicht ernst.«
Pavel beugte sich vor, um den Taxifahrer an der Jacke zu ziehen. Es gelang ihm nicht, er streifte ihn nur mit den Fingerspitzen. Er wollte Čiko helfen. Er war auf seiner Seite, was auch geschehen mochte. Irgendeine dunkle Flasche kam von der anderen Seite des Zimmers geflogen. Sie zersprang über Čiko an der Wand. Das Geräusch warf ihn wieder zurück in den Sessel. Er fiel auf den Rücken, die Arme über der Brust gekreuzt, das Gesicht bleich. Der Taxifahrer sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er hielt den Amour mit nur einer Hand fest. Er schüttelte ihn nicht mehr. Am Ende ließ er ihn los und nahm die Flasche Whisky vom Tisch.
»Nimm dir ein Glas!«, sagte er. »Lass uns trinken. Ekel sind meist nicht so widerlich, wie es aussieht.«
»Ich bin kein Ekel!«, stammelte der Amour. »Ich bin ein cooler Bastard.«
»Bedank dich bei dem«, sagte der Taxifahrer und zeigte auf den Sessel. »Seinetwegen bist du noch mal davongekommen.«
Čiko hatte den Kopf auf seine über der Brust gekreuzten Arme sinken lassen. Im Mundwinkel, zwischen seinen schmalen Lippen, bildete sich eine glänzende Blase. Der Taxifahrer sah ihn immer noch an, dann nahm er einen Schluck aus der Flasche. Er reichte sie dem Amour, der noch kein Glas gefunden hatte. Pavel kehrte ihnen den Rücken zu. Es würde wohl nichts Gefährliches mehr passieren. Sie würden nur die Flasche Whisky leeren. Ringsum lagen alle kreuz und quer auf dem Boden und den drei riesigen Sesseln herum. Die Pärchen saugten sich noch tiefer in den Rhythmus des traurigen Blues hinein. Die Lippen bewegten sich wie Raupen. Rosa Zungen zeigten sich. Ihre Beine waren ineinander verschränkt. Einige Pilze mit roten Köpfchen waren zwischen weit gespreizten Fingern gewachsen.