Veröffentlichungen von Frigga Haug bei Argument

Auswahl

Die Vier-in-einem-Perspektive

Politik von Frauen für eine neue Linke

2008, 2. Auflage 2009

Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik

2007

Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen

2003

Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit

The Duke Lectures

1999, 2. Auflage 2005

Frauen-Politiken

1996

Erinnerungsarbeit

1990, 3. Auflage 2002

Gemeinsam mit anderen

Arbeiten wie noch nie!?

Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit

2010

Sternschnuppen. Zukunftserwartungen von Schuljugend

2006

Politik ums Kopftuch

2005

Als Herausgeberin

Briefe aus der Ferne

Anforderungen an ein feministisches Projekt heute

2010

Nachrichten aus dem Patriarchat

2005

Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus

Band 1: Abtreibung – Hexe

2003

Die Reihe Frauenformen

Hg. von Frigga Haug u. a.

Lustmolche und Köderfrauen

Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

1997

Sündiger Genuß? Filmerfahrungen von Frauen

1995

Die andere Angst

1991, 2. Auflage 1994

Hat die Leistung ein Geschlecht?

Erfahrungen von Frauen

1993

Der Widerspenstigen Lähmung

Kritische Psychologie der Frauen 2

1986, 2. Auflage 1989

Subjekt Frau. Kritische Psychologie der Frauen 1

1985, 2. Auflage 1988

Küche und Staat. Die Politik der Frauen

1988

Sexualisierung der Körper. Frauenformen 2

1983, 3. überarbeitete Auflage 1991

Frauenformen. Alltagsgeschichten und Entwurf

einer Theorie weiblicher Sozialisation

Neufassung als:

Erziehung zur Weiblichkeit

1991

Sabine Gruber, Frigga Haug, Stephan Krull (Hg.)

Arbeiten wie noch nie!?

Unterwegs zur kollektiven
Handlungsfähigkeit

Argument

Argument Sonderband Neue Folge AS 308

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Deutsche Originalausgabe

© Argument Verlag 2010

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040 / 4018000 – Fax 040 / 40180020

www.argument.de

Redaktion: Sabine Gruber

Lektorat: Barbara Cäcilia Supper

Umschlaggestaltung und Illustration: Martin Grundmann, Hamburg

Satz: Iris Konopik

Druck: Fuldaer Verlagsanstalt

Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier

ISBN 9783867549462

Erste Auflage 2010

Motivation und Dank

Wir, die Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Buches, kommen aus unterschiedlichen Forschungs- und Praxisfeldern. Uns verbinden die Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit und das Engagement für eine menschengerechtere Arbeitswelt. Aus unseren persönlichen Erfahrungen ergibt sich Arbeit als ein zentraler Schlüssel zur Gesellschaftsgestaltung, um Raum und Zeit für das ganze Leben zu gewinnen.

Sabine Gruber hat das Buch initiiert, weil sie einen Überblick über die kontroversen Diskurse geben und die Menschen politisieren will. Gemeinsam haben wir das Buch für all jene geschrieben, die sich selbst eine Meinung bilden und sich in die gesellschaftlichen Entscheidungen einbringen wollen. Wir haben uns um eine verständliche Sprache bemüht, die komplexe Fragen erklärt, ohne sie unangemessen zu vereinfachen. Die gesellschaftlichen Produktions- und Machtverhältnisse sind kompliziert. Sie besser zu verstehen wollen wir einen Beitrag leisten, denn Verstehen ist Voraussetzung von Macht. Und wir hoffen, dass viele sich auf die offene Entdeckungsreise auf der Suche nach Handlungsmöglichkeiten einlassen.

Auf dieser Reise haben uns weitere Autorinnen und Autoren begleitet. Ihnen danken wir für ihre ehrenamtliche Schreibarbeit – eine voraussetzungsvolle Leistung, die heutzutage nicht honoriert wird, wenngleich sie viel wert ist.

Ein besonderer Dank gilt neben dem Autorenteam den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Utopiewerkstatt – Brigitte Kratzwald, Deborah Ruggieri und Philip Taucher –, ohne die wir kein so reiches empirisches Material für unsere Zukunftsvisionen zur Verfügung gehabt hätten. Ebenso danken wir den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern aus der Autoindustrie für die Einblicke in ihre Berufsalltage.

In die Artikel sind zahlreiche Anregungen von Frigga Haug eingeflossen. Für die aufmerksamen Korrekturen bedanken wir uns bei unserer Lektorin Barbara Cäcilia Supper und bei Iris Konopik vom Argument Verlag.

Die Sachkosten wurden durch die finanzielle Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen und der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt aus Deutschland sowie der Grünen Bildungswerkstatt und den Grünen GewerkschafterInnen/Unabhängige GewerkschafterIn­nen aus Österreich ermöglicht, bei denen wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken.

Auf eine kritische und konstruktive Diskussion freuen sich

Sabine Gruber, Frigga Haug und Stephan Krull

Wien, Esslingen und Hannover, September 2010

Reiseanleitung

Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit

Sabine Gruber

Die Reihenfolge der Artikel bildet die Ideengeschichte unserer Arbeits- und Lebenswelten ab, wie sie sich im wissenschaftlichen Diskurs wider­spiegelt. Zu Beginn möchte ich »Grundannahmen zu Arbeit und Wohlstandsverteilung« der weiteren Lektüre voranstellen und einen Überblick über die zentralen Wirtschaftstheorien geben, weil sie durch ihren unmittelbaren Einfluss auf die Politik und die Realwirtschaft unsere Gesellschaft prägen. Zu ihnen zählen die Nationalökonomik, wie sie im 18. Jahrhundert begründet wurde, der klassische Liberalismus und die Schulen der neoklassischen Theorie sowie die marxistische Kritik an der Politischen Ökonomie. Die heute dominierende Wirtschaftsphilosophie ist der Neoliberalismus; im öffentlichen Diskurs und bei den politischen Maßnahmen vermischen sich unterschiedliche theoretische Begründungen, weshalb die Kenntnis der Argumentations­linien eine Voraussetzung darstellt, um ihre Wirkungen beurteilen zu können – beinhalten sie mehr vom Gleichen, die Festschreibung von Ungleichheiten (wie sie der kapitalistischen Produktionsweise geschuldet ist), oder haben sie emanzipatorischen, systemüberwindenden Charakter. Ich diskutiere die Theorien hinsichtlich ihrer Antworten, die sie auf historische und aktuelle Krisenerscheinungen geben. Dabei wird deutlich, dass die klassischen Theorien aus ihrer Logik heraus keine befriedigenden Lösungen entwickeln können, im Gegenteil, oft verstärken sie die Ursachen und damit auch die Symptome (wie z. B. Arbeitslosigkeit). Der Artikel bleibt nicht nur abstrakt, sondern ich stelle auch den Zusammenhang zu den von uns erlebten Umbrüchen am Arbeitsplatz, steigender Arbeitslosigkeit und Abbau von Sozialleistungen her. Der Frage, wie wir die kapitalistischen Produktionsverhältnisse überwinden können, sind die folgenden Buchbeiträge gewidmet. Sie führen von den historischen Anstrengungen der Arbeiterbewegung über die Kritik der Feministinnen hin zur Vier-in-einem-Perspektive und zu unserem gesamtheitlichen Zugang; denn Produktionsverhältnisse sind immer auch Gesellschaftsverhältnisse und lassen sich nicht einseitig ökonomisch kurieren, sondern müssen gemeinsam analysiert und gelöst werden.

Bernd Röttger beschreibt die Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung von ihrer Entstehung bis heute. Jede Form der kapitalistischen Arbeitsorganisation ist über unfreie Lohnarbeit organisiert, auch wenn das Bild des homo oeconomicus Wahlmöglichkeit suggeriert. Daher ist der Kampf um die Befreiung der Arbeit genauso alt wie die Lohnarbeit selbst. Nach einzelnen Errungenschaften (wie z. B. Kollektivlöhne und Arbeitszeitregelung) muss er aber ein Scheitern in den großen Fragen (z. B. Eigentumsrechte) diagnostizieren. Die Frage nach der Befreiung der Lohnabhängigen durch die Aneignung der Produk­tionsmittel stellt sich bis heute. Nur weil die Forderungen alt und unerfüllt sind, ist ihre Sinnhaftigkeit nicht überholt; sie stellen sich lediglich unter neuen Prämissen einer deindustrialisierten und prekarisierten Arbeitnehmerschaft, die mit den Krisen des Kapitalismus einhergehen. Röttger betitelt seinen Artikel daher »Wege in die Befreiung der Arbeit«. Dafür leitet er die immer noch gültigen Fragen nach Demokratisierung, Eigentum, Reform und/oder offensivem Arbeiterkampf von Klassikern der Gesellschaftskritik (Karl Marx, Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci) her und projiziert sie in die Zukunft. Die Zitate der alten Klassiker muten uns heute befremdlich an, für ein tieferes Verständnis der Machtverhältnisse und Krisenindikatoren sind sie aber lesenswert und aktuell wie eh und je.

Keine/r der Autorinnen und Autoren kennt den Kampf der Gewerkschaften so gut wie Stephan Krull. Als ehemaliger Betriebsrat und aktiver Gewerkschafter wirft er einen kritischen Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Als die neoliberal geprägte Politik auch über die deutschsprachigen Länder schwappte, wurden die Gewerkschaften empfindlich geschwächt und ihre Aktivitäten auf Tariflohnverhandlungen beschränkt. Die Trends sind aber nicht eindeutig und müssen differenziert gelesen werden. Krull beschreibt aus seiner Innenerfahrung die paradoxen Entwicklungen innerhalb des VW-Konzerns, wo Innovationen (die 4 Tage-Woche, die Zeit für andere Lebensbereiche eröffnet und mit der es praktische Erfahrungen gibt, und Mitbestimmung) und Verschlechterungen (Stellenabbau, Leistungsverdichtung und Lohnsenkung) fast zeitgleich passieren. Bemerkenswert ist, dass die Automobilbranche zwar weiß, dass sie »Dinosaurier« produziert, die weder ökologisch noch wirklich praktisch sind (Staus etc.), dass sie aber nicht davon ablässt/ablassen kann, sich mit mehr vom Gleichen aus der Krise retten zu wollen: mit neuen Automodellen. In seinem Artikel »Aus der arbeitspolitischen Defensive zur Befreiung der Arbeit?« skizziert Stephan Krull nicht nur die verschlungenen Wege der Gewerkschaften vom Klassenkampf zur Sozialpartnerschaft und zurück, er gibt auch Anknüpfungspunkte für einen Ausstieg aus der unökologischen Dinosaurier-Produktion hin zu einer Produktion umweltfreundlicher öffentlicher Transportmittel – eine Maßnahme gegen die drohende Arbeitslosigkeit beim Zusammenbruch einer zentralen Wirtschaftsbranche, aber keine Antwort gegen den systeminhärenten Wachstumszwang.

»Die Arbeit der ›Anderen‹« kam weder in den klassischen Theorie vor, noch war es im Interesse der herrschenden Klassen, sie sichtbar zu machen, da man ihr sonst Bedeutung und damit Geld zuerkennen hätte müssen. Alexandra Weiss enttarnt hinter dem ökonomischen Kalkül die strategischen Verflechtungen mit sexistischen und rassistischen Ideologien, die strukturelle Ausschlusskriterien wie Naturgesetze erscheinen lassen. Erst die feministische Frauen- und Geschlechterforschung richtet die Aufmerksamkeit auf die Gräben zwischen männlichen Familienernährern und weiblichen Zuverdienerinnen, die bis heute nicht geschlossen sind. Darüber hinaus erweitert sie die Perspektive um die Zuwanderer – Arbeiter »zweiter Klasse« – und um die Nord-Süd-­Ungleichheit. Die Lösung liegt für Alexandra Weiss nicht in bewusstseinsbildenden Maßnahmen, sondern in der ökonomischen Gleichstellung (d. h. Chance auf einen Arbeitsplatz und gleiche Bezahlung). Vor dem Anspruch der Emanzipation diskutiert sie auch ein Grundeinkommen als Anerkennung gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Wenn mit einem Grundeinkommen aber nicht an den Herrschaftsverhältnissen gerührt wird, bleiben Frauen weiterhin vor die Frage gestellt, ob sie lieber mehr vom Staat oder von einem Ehemann abhängig sein wollen. Da weder das eine noch das andere eine akzeptable Lösung ist, plädiert Weiss für den Ausbau eines staatlichen, nicht auf Gewinn ausgerichteten Dienstleistungsbereiches. Solange die kapitalistische Produktionsweise nicht überwunden ist, wird die Schaffung bezahlter Arbeit für Frauen nämlich eine Rolle spielen, wenngleich sie keine Überwindung der Produktionsverhältnisse darstellt – ein Paradox, dessen Auflösung uns noch weiter beschäftigen wird.

Johanna Riegler stellt die Fixierung unserer Arbeitsgesellschaft – mehr Arbeit würde mehr Wohlstand bringen – auf den Kopf. Sie bezieht sich auf Hannah Arendts genaue Differenzierung menschlicher Tätigkeitsformen um zu zeigen, dass nicht alles, was nicht Arbeit heißt, Nichts-Tun sei. Sie räumt mit der Unterscheidung »Die Faulen und die Fleißigen …« auf und zeigt, wie nicht zuletzt durch die Kirchen Moralvorstellungen forciert wurden, die Arbeit letztlich zum Selbstzweck des modernen Menschen und sinnentleert werden ließen. Diese Moralvorstellungen sitzen sehr tief und hindern uns daran, verfestigte Muster und eingefahrene Konfliktlinien aufzubrechen. Zwischen lebendiger und entfremdeter Arbeit ist ein Urwiderspruch auszumachen, den Riegler vor der Prämisse diskutiert, dass eine Teilaufhebung der Entfremdung, also die Identifikation mit dem Arbeitsplatz, Selbstverwirklichung und Flexibilisierung, der Profitspirale des Kapitalismus durchaus dienlich sein kann. Sie macht auch darauf aufmerksam, dass die Trennung in bezahlte und unbezahlte Arbeit (wie sie sich mit der Politischen Ökonomie der industrialisierten kapitalistischen Gesellschaftsform her­ausgebildet hat) zwar eine Ungleichbewertung zwischen Produktion und Reproduktion, Männern und Frauen herstellt, darüber darf aber nicht vergessen werden, dass auch die Gewinnverteilung zwischen denen, die in den Produktionsprozess integriert sind, immer ungleicher verläuft. Das Faktum, dass trotz permanenter Produktivitätssteigerung nie so viele Menschen im Elend leben mussten wie heute, unterstreicht die Schwächen des kapitalistischen Systems. Johanna Riegler endet mit der ruinösen Eigendynamik zwischen Überfluss und Mangel, die eine reiche Gesellschaft das Sparen entdecken lässt – zynischerweise bei den vermeintlichen »Sozialschmarotzern«.

Eine, die bereits sehr weit gegangen ist und an vielen der Konfliktlinien weitergedacht hat, ist Frigga Haug. Sie fasst für uns noch einmal ihren Weg zur Vier-in-einem-Perspektive (4in1) zusammen, der sie von ihrer Forschungstätigkeit zum Thema Erwerbsarbeit sogleich zur Auseinandersetzung mit der benachteiligten Reproduktionsarbeit führte und dann – um die Verhältnisse verändern und gestalten zu können – zur logischen Notwendigkeit des Lernens (Kulturelle Entwicklung) hin zur Politik von unten. Durch ihre intensive Auseinandersetzung mit vielen Frauen (u. a. mittels Erinnerungsarbeit) beschreibt sie die Widersprüche, in denen wir uns selbst erkennen; sie lässt uns aber auch nicht einfach aus dem »Gefühlsknäuel um Arbeit« durch die Hintertür entwischen, indem wir das Recht auf Faulheit ausrufen oder uns durch ein Grundeinkommen Freiheit erhoffen. Vielmehr will sie die Produktionsverhältnisse aufbrechen, die mit den Geschlechterverhältnissen zusammenfallen und zeigt uns, dass Veränderung nur durch Selbstveränderung der betroffenen Subjekte stattfinden kann. »Die Geschichte der Vier-in-einem-Perspektive« ist daher eine »Schule des Lernens. Eine Vision von Frauen, die eine Vision für alle ist«. Die Kunst liegt für Frigga Haug in der Verknüpfung der vier Bereiche (Erwerbsarbeit ­– Reproduktionsarbeit – Kulturelle Entwicklung – Politik von unten) – eine Auffassung, die wir teilen und an die wir mit diesem Buch anknüpfen.

Während für die einen das Nebeneinander von 4in1 die Auflösung des Entweder-Oder ist, löst sie bei anderen die Sorge aus, das ganze Leben solle von Arbeit unterjocht werden; auch die Frage nach Lohn und/oder Existenzsicherung sehen sie zu wenig beantwortet. Da es uns darum geht, die Perspektive weiterzubringen und für praktische politische Forderungen fruchtbar zu machen, haben wir uns nicht über diese Kritikpunkte hinweg geschummelt – im Gegenteil: Wir haben sie intensiv in dem Pro und Contra-Dialog zwischen Frigga Haug und Johanna Riegler diskutiert.

Schließlich standen wir vor all diesen Diagnosen: Wir wissen sehr viel über Ursachen, Scheinlösungen und Veränderungsbedarf, notwendige Arbeit in den Kontext des Lebens zu stellen. Doch wie können wir dies befördern? Indem wir die abstrakt-theoretischen Überlegungen in breite gesellschaftliche Debatten einbringen, aus denen letztlich neue normative und gesetzlich verankerte Rahmenbedingungen erwachsen. Uns war klar, dass uns dafür die konkreten Bilder fehlen, die uns leiten können. Eine Utopielosigkeit hat sich breitgemacht in Zeiten, in denen jede Argumentation ökonomischen Sachzwängen unterliegt und sich Politikverdrossenheit allerorts zeigt. Doch wir brauchen alternative Vorstellungen von einer anderen Arbeitswelt. Wie schwer es uns fällt, diese zu entwerfen, wurde uns bei der im September 2009 abgehaltenen Utopiewerkstatt klar. Aber wir ließen nicht locker, und nach einiger harter Denkarbeit konnten wir mit Hilfe der Methode der Erinnerungsarbeit einige ideologische Konstrukte aufspüren und unsere Fantasien für Neues öffnen bzw. für die neuartige Kombination bekannter Bausteine unter der Prämisse der Zusammenarbeit statt Arbeitsteilung.

Im Gegensatz zu den vorherrschenden Bildern entwarfen wir Gegenerzählungen; diese zu beschreiben, war meine Kernaufgabe. Sie klingen in den bunten Schilderungen von Kooperativen oder vom Dumpstern an. Am Ende fasse ich Prinzipien und Rahmenbedingungen einer für uns wünschenswerten integrierten Lebens- und Arbeitswelt zusammen, wenngleich sie keine fertigen Entwürfe sind, sondern im Aushandlungs- und Entscheidungsprozess entstehen müssen. Meinen Artikel stelle ich daher unter das Motto »Wie wir leben und arbeiten wollen. Schritte von der Utopie zur Realität« und spiele damit auf die Tatsache an, dass wir es immer mit einem Weg und nicht mit fertigen Rezepten zu tun haben. Mit unseren Zukunftsvisionen werfen wir einen weiten Blick voraus; um sie zu realisieren müssen wir noch einige Voraussetzungen schaffen. Als vereinzelte Erwerbsarbeiterinnen und Erwerbsarbeiter müssen wir uns mit der Welt, ihren Menschen und der Natur (wieder-)verbinden. Wir müssen uns die Fähigkeit zur wirklichen Interaktion (zurück-)­erobern und eine »Kultur des Wir« (wie Frigga Haug es nennt) stärken. Dann wird es uns auch gelingen, die naheliegenden Missverständnisse auszuräumen und Blockaden zu überwinden. Auf zwei aktuelle gehe ich näher ein: auf die Sorge, dass durch die 4in1-Perspektive alle Lebensbereiche von Arbeit im Lohnarbeitssinn vereinnahmt würden, und auf die Entweder-oder-Diskussion Lohn oder Grundeinkommen. Diese Frage ist eine Sackgasse, denn sowohl Lohn als auch Grundeinkommen führen nicht über die kapitalistische Systemlogik hinaus, die uns so viel Unbehagen in der Arbeitswelt verursacht. Wollen wir die kapitalistischen Systemzwänge tatsächlich überwinden, brauchen wir ein grundlegendes Umdenken und Übergangsmodelle, für die ich Vorschläge formuliere.

Mag.a Sabine Gruber, M.C.D.

Jg. 1973; Sozialwissenschaftlerin und Gemeinwesenentwicklerin, seit 2002 tätig im Bereich Stadtforschung und -entwicklung mit den Schwerpunkten Integration, Partizipation, alternative Ökonomien und Nachhaltigkeit; 2005–2009 Leiterin der Lokalen Agenda 21 – Plattform für nachhaltige Bezirksentwicklung und BürgerInnenmitbestimmung im 9. Wiener Gemeindebezirk; seit 2009 Koordinatorin der ökumenischen Initiative »fairshare« – Ökologischer Lebensstil & Globale Gerechtigkeit; Lehrbeauftragte an der Universität für Bodenkultur Wien, Moderationen, Beratung und Bildungsangebote für öffentliche Einrichtungen und zivilgesellschaftliche Initiativen; seit 2009 Vorstandsmitglied bei Attac Österreich.

www.sabine-gruber.at; mail@sabine-gruber.at

Arbeitsverhältnisse als Gesellschaftsverhältnisse

Grundannahmen zu Arbeit und Wohlstandsverteilung

Sabine Gruber

Wir erachten Arbeit grundsätzlich als Naturnotwendigkeit, auch wenn wir das, was wir heute als »Normalarbeitsverhältnisse« kennen, kritisieren. Keine Gesellschaft kann bestehen, ohne sich durch ihre Hand- und Kopf-Arbeit mit den notwendigen Gütern und Diensten zu versorgen. Unsere Kritik betrifft die kapitalistische Organisation, in der Arbeit nicht unserer individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung dient, sondern zur Erzielung von Profit verkommen ist. Die Profitlogik führt zu Überproduktion und steigert nicht mehr unser Wohlbefinden, sondern belastet uns. Darüber hinaus führt die Logik der Kapitalakkumulation zu einer Konzentration des materiellen Wohlstands bei wenigen Privilegierten, zu immer mehr Armen und zu vielschichtigen gesellschaftlichen Spaltungen.

Wie Alternativen für eine gerechte Verteilung der Arbeitslast und des produzierten Wohlstands auf alle Gesellschaftsmitglieder genau funktionieren können, kann aus heutiger Sicht niemand mit Sicherheit behaupten. Wir können aber auf eine fundierte Kritik zurückgreifen, denn die Kritik am Kapitalismus ist fast gleich alt wie das Phänomen selbst. Darauf aufbauend schließen wir in diesem Buch unsere kritische Suche nach einer anderen, erfüllenden Organisation von Arbeit an.

Das Unbehagen in der Arbeitswelt

Viele Menschen teilen ein allgemeines Unbehagen, das sich daraus ergibt, dass die Lebensentwürfe unserer Großeltern und Eltern für uns nicht mehr passen. Ihre Lebensplanung war eine Zeit lang um ein Erwerbsleben aufgebaut, das sich als Anstellungsverhältnis mit rund 40 Wochenstunden Arbeitszeit gestaltete; man konnte von einem existenzsichernden Einkommen ausgehen sowie von kontinuierlicher Arbeit mit Aufstiegschancen bei einem Unternehmen oder wenigen Firmenwechseln; Sozial- und Pensionsversicherung waren durch den Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil und eine staatliche Vorsorge abgesichert. Die Stabilität und Planbarkeit des Erwerbslebens bildete das Fundament für die Einrichtung eines eigenen Hausstands, die Versorgung von Kindern und bescherte einer breiten Mittelschicht materiellen Wohlstand auch im Alter. Dies bezieht sich etwa auf die Jahre, in denen der Fordismus blühte und der Wohlfahrtsstaat eingerichtet wurde.

Die Vorteile lagen im breiten Wohlstand und der damit verbundenen Sicherheit für viele – allerdings auf Zeit und auch nicht für alle, weil die Nebenwirkungen nur eine Zeitlang erfolgreich verdrängt werden konnten. Eine Erklärung zu den systemisch angelegten Nebenwirkungen (z. B. Geschlechterdifferenzen und Umweltverschmutzung) folgt weiter unten; bleiben wir vorerst dabei, wie sich die Konstellation aus »Arbeitnehmersicht« darstellt. Die geregelten Arbeitsbedingungen entsprachen der standardisierten Produktionsweise des Fordismus1, der sich nach Ende des Ersten Weltkriegs etablierte. Im Vordergrund stand die industrielle Massenproduktion, die auf einer hohen Arbeitsteilung (Taylorismus) basiert. Sie benötigte teils spezialisierte, teils unqualifizierte, auf jeden Fall verlässliche und disziplinierte Arbeiter. In der Zeit der Ost-West-Systemkonkurrenz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Produktionsweise mit wohlfahrtsstaatlichen Leistungen flankiert und als »Soziale Markwirtschaft« ideologisch überhöht. Die erforderlichen Fertigkeiten wurden im öffentlichen oder betrieblichen Bildungssystem erworben. Eine grundlegende Umschulung und ein Berufswechsel waren möglich, galten aber als Ausnahme nicht als Regel. Für eine kontinuierliche Teilnahme am Arbeitsprozess und am Massenkonsum sorgten relativ hohe Löhne und ein öffentliches Sozialversicherungs­system mit Kranken-, Arbeitslosen- und Pensionsvorsorge. Dieser Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern funktionierte bis in die 1970er zur gegenseitigen Zufriedenheit. Die Unternehmer akzeptierten die von den Gewerkschaften ausverhandelten hohen Löhne, über die das Sozialsystem finanziert wurde, und die Arbeiter fügten sich in den Takt der Fließbandarbeit mit Freizeit- und Familienglück ein; der Produktions-Konsumtions-Kreislauf hielt in der Wiederaufbauphase einigermaßen die Balance.

Die heutige Erwerbsgeneration kann immer weniger auf dieser »traditionellen« Arbeitswelt der Nachkriegsära aufbauen. Einerseits verlagerte sich der Schwerpunkt am Arbeitsmarkt auf Dienstleistungsberufe (aufgrund der weiteren Technisierung und Verlagerung der industriellen Produktion in so genannte Billiglohnländer). Andererseits wurde die fordistische Produktionsweise (Fließband) von der hochtechnologischen (Computer) abgelöst. Sowohl für die verbleibenden Industrie- als auch für die Dienstleistungsarbeitsplätze setzte sich die neue Arbeitsorganisation durch, welche im Sinne der Flexibilisierung und Effizienzsteigerung den Individuen viel persönlichen Einsatz abverlangt (Postfordismus). Gleichzeitig wurden staatliche Absicherungen gekürzt und private Versicherungsangebote forciert.

Für viele Arbeitnehmer bedeutete das eine Entwertung ihrer bisherigen Fähigkeiten, Umschulungen kamen auf die Tagesordnung. Diejenigen, die den Umstieg nicht schaffen, nennt man »Modernisierungsverlierer«. Eine noch tiefere Wunde schlägt die Destabilisierung des existenzsichernden Einkommens. Die Erosion fand und findet über die Ausweitung von Teilzeitbeschäftigungen und »Minijobs« statt und indem Anstellungsverhältnisse umgangen werden. Zeitarbeiter werden über Personalagenturen angemietet, solange sie gebraucht werden; herrscht Auftragsflaute müssen sie nicht entlassen werden, sondern sie kehren zur Agentur zurück, werden als Arbeitssuchende gemeldet und erhalten staatliche Arbeitslosengelder (die in Zeiten der Haushaltsdefizite und Sparpakete ebenfalls gekürzt werden). Wieder andere machen sich selbstständig; sie gründen aber keine Firma mit Mitarbeitern, sondern bleiben Ich-AGs; Scheinselbstständige, die einer bestimmten Branche oder nur einem Betrieb zuarbeiten. Damit einher geht die Privatisierung des Risikos; sie sind selbst für die Absicherung im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedarf und Pension/Rente verantwortlich. Die Prekarisierungsspirale, die damit in Gang gesetzt wurde, führt dazu, dass Menschen in diesen so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr von ihrem Einkommen leben können. Nur rund einem Drittel gelingt das; im Vergleich dazu können das fast alle mit Vollzeitanstellung. Der Rückschritt besteht darin, dass die Menschen zwar arbeiten, aber verstärkt auf die Unterstützung durch Fami­lienangehörige angewiesen sind. Sie werden arm trotz Arbeit, wenn Lohn, Sozialtransfers und Familienrückhalt nicht mehr reichen.

In Anbetracht dieser Tatsachen ist es nicht verwunderlich, dass die prekär gewordenen Verhältnisse für die Betroffenen einen schmerzlichen Verlust von lebenswerten Perspektiven bedeutet, die sie sich noch unter anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Vorzeichen erhofft hatten. Arbeitsbiographien werden brüchig, sie sind mit Zeiten von Einkommensausfällen, Berufswechseln und Umzügen verbunden; die Erfüllung des Wunsches vom Eigenheim, Kindern und einem stabilen Leben wird weniger planbar und zufälliger. Die Betroffenen kämpfen mit der raschen Anpassung an wechselnde Anforderungen, denen sie sich mangels Alternativen unterordnen. Selbst die Gewerkschaften bieten kaum noch Schutz vor Sozialabbau. Die Konkurrenz am Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz zwingt die Menschen zu einer Art der Selbstinszenierung, welche durch fehlende Solidarität und ständigen Konkurrenzkampf ihre Würde verletzt – als unbegrenzt flexible Mitarbeiter zeigen sie Unternehmergeist und sind immer zu allem bereit, was dem Unternehmen und angeblich auch ihnen selbst nützen soll.

Als Folge öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für Millionen Menschen sind Arbeitslosigkeit und damit einhergehender sozialer Abstieg, Kontaktverluste und Ausgrenzung bereits Realität (z. B. für Sozialhilfeempfänger oder Ein-Euro-Jobber nach der Hartz IV-Reform). Für viele schwebt eine »Ansteckungsangst« (vgl. Bude 2008, 113ff) wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen und sie versuchen, statt die Ursachen anzugehen, sich von den Betroffenen zu distanzieren, um das »normale Leben« aufrechtzuerhalten. Der Sicherheit, die wir aus dem Normalarbeitsverhältnis und der Kleinfamilie bezogen, wurden wir beraubt auf dem Weg zur Individualisierung unseres Glücks am Arbeitsmarkt (vgl. Malli 2005; zur allg. sozialen Situation und Ungleichheit vgl. Bourdieu 1997).

Empirische Krisendiagnosen & methodische Irrtümer

Die sozio-ökonomische Ungleichheit lässt sich empirisch messen. Im Querschnitt lassen sich wachsende Unterschiede beim Haushaltseinkommen von Bevölkerungsgruppen nachweisen; im Längsschnitt lassen sich Schwankungen bei der konjunkturellen Gewinnentwicklung und -beteiligung feststellen. Z. B. können wir für Deutschland belegen, dass die 10 % der Höchstverdienenden zwischen 1992 und 2007 ihr Einkommen noch einmal um 40 % erhöhen konnten. Demgegenüber haben die 10 % derer mit dem geringsten Einkommen noch einmal 15 % verloren (Wolf 2010, 73). Arbeitsmarktexperten sprechen von einer steigenden Lohnspreizung; umgangssprachlich kann man sagen, die Reichen werden reicher, die Armen noch ärmer. Für Österreich fällt die Auseinanderentwicklung geringer aus, lässt sich aber wie der allgemeine Trend auf die Zunahme von geringfügigen, kurzfristigen und Teilzeitbeschäftigungen zurückführen (Guger/Marterbauer 2007, 266). Die Daten lassen sich nach Gruppen (Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungsstand) weiter ausdifferenzieren und interpretieren. An dieser Stelle sei auf die Frauen hingewiesen, die häufiger Teilzeitbeschäftigungen nachgehen als Männer, weswegen zu erwarten ist, dass der geschlechtsspezifische Lohnunterschied wieder zunehmen wird. Davor konnten die Frauen zumindest aufholen aber nicht gleichziehen (ebd. 272)2.

Bleiben wir bei den ökonomischen Daten, so bringt die Lohnquote die systematische Ungerechtigkeit am deutlichsten zum Ausdruck. Die Anpassung der Lohnquote drückt die Gewinnbeteiligung aus – demzufolge müsste die Quote in der Konjunktur steigen und in der Rezession fallen. Aber obwohl wir in den letzten Jahrzehnten – zwar mit Schwankungen – fast ausschließlich wachsende Volkswirtschaften hatten (gemessen am Bruttoinlandsprodukt; vgl. Wolf 2010, 23 und 25), ist die Lohnquote seit Mitte der 1970er Jahre nur gesunken und die Arbeitslosigkeit gleichzeitig gestiegen3 – ein Trend, der sich für alle westlichen Industrienationen nachzeichnen lässt (vgl. Wolf 2010, 70f). Daraus kann man schließen, dass zwar die Produktivität steigt (ein anderer Ausdruck dafür, dass mit weniger menschlicher Arbeitskraft produziert werden kann), die Gewinne aber nicht als Löhne an die Arbeitskräfte weitergegeben werden. Theoretisch könnte die aufgrund gesteigerter Effizienz frei werdende Zeit auch als Arbeitszeitverkürzung weitergegeben werden, um den Beschäftigungsstand zumindest gleich zu halten. Der Verbleib der Gewinne ist bei Unternehmern und Aktionären zu suchen.

Die hier herausgegriffenen Indikatoren – Bruttoinlandsprodukt (BIP), Lohnquote und Arbeitslosigkeit – sind auch generell Gradmesser für Wirtschaftskrisen. In Anbetracht der zahlenmäßigen Entwicklung ist man sich einig, dass wir spätestens seit 2009 eine Rezession haben – also kein Wachstum, sondern rückläufige Bruttoinlandsprodukte. Ferner ist man sich über den Auslöser weitgehend einig: das Platzen der Immobilienblase in den USA 2007. Die Aktienkursabstürze griffen rasch auf die globalen Finanzmärkte über und rissen die weltweit vernetzten Wirtschaften mit sich. Dann brach die Realwirtschaft (Güter- und Dienstleistungsproduktion und deren Handel) ein, Kurzarbeit und Entlassungen folgten. Wir können von einer Weltwirtschaftskrise sprechen. Bis auf die noch stark aufholenden Länder China und Indien bilanzierten alle industrialisierten Länder 2009 negativ (Wolf 2010, 25), in Island kam es sogar zu einem Staatsbankrott. Griechenland steht kurz davor.

Die Gretchenfrage lautet nun: Wie konnte es passieren, dass das Wirtschaftswachstum so rasch in eine Rezession (Schrumpfung) umschlug und das, obwohl Löhne zurückgehalten und Sozialleistungen eingespart wurden? Wurde damit nicht alles Erdenkliche unternommen? Und warum ging es so plötzlich? War die Entwicklung nicht vorhersehbar?

Was ich mit den empirischen Daten und den folgenden Theorieexkursen veranschaulichen möchte, ist, dass anscheinend gute Wirtschaftsdaten (allem voran Wachstumszahlen gemessen am BIP) nicht zwingend auf eine gesunde Volkswirtschaft schließen lassen; geschweige denn garantieren sie die Gleichverteilung des Wohlstands unter der Bevölkerung. Nun haben alle volkswirtschaftlichen Theorien das zentrale Ziel, eine Lösung für die Verteilungsfrage der Ressourcen im vorherrschenden Wirtschaftssystem, dem Kapitalismus, zu finden. Bei der Herleitung der wirtschaftstheoretischen Modelle und den daraus gefolgerten Rückschlüssen für politische Empfehlungen gehen die akademischen Meinungen aber weit auseinander. Daher möchte ich die unterschiedlichen Denkrichtungen zwar mit Auslassungen, aber komprimiert auf ihre Hauptargumente skizzieren.

Beginnen wir in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, weil damals die Grundsteine für eine neue Wirtschaftsordnung gelegt wurden. Bis dahin basierte die ökonomische Grundlage auf einer einfachen Landwirtschaft, und die in Europa vorherrschende Gesellschaftsform war der Feudalismus, eine anscheinend natürliche, gottgegebene Ordnung von adeligen Grundherren und unfreien, leibeigenen Bauern. Motor und Voraussetzung für die Befreiung aus den feudalen Verhältnissen waren das Wachstum der Städte, die Herausbildung des freien, städtischen Bürgertums, die zunehmende Bedeutung des Handwerks, der Zünfte und Manufakturen sowie der Geldwirtschaft, die wiederum Voraussetzung von Märkten war und dem Handel Auftrieb gab. Adam Smith (1723–1790) fasst als Erster die Charakteristika der neuen Ordnung zusammen, die wir heute Kapitalismus nennen4.

In seinen zentralen Schriften zur Nationalökonomik legt er nicht nur eine Beschreibung sondern auch ein normatives und bis heute prägendes Leitbild vor. Smith arbeitet die Vorteile der Arbeitsteilung für die Produktivitätssteigerung heraus und beschäftigt sich mit den Austauschverhältnissen auf freien Märkten. Er führt die Unterscheidung zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert von Waren ein und ist der Ansicht, dass sich Angebot und Nachfrage durch Gestaltung von Löhnen und Preisen das Gleichgewicht halten. Eines seiner zentralen Anliegen ist es, damit zu zeigen, dass eigennütziges Handeln von Individuen nicht zu Chaos und Anarchie führe, sondern zu Wohlstand für die ganze Gesellschaft. Weil jeder ein Interesse daran habe, seine Lage stetig zu verbessern, fördere er indirekt auch das Gemeinwohl, indem er seine Profite wieder investiert und die Gesamtproduktivität steigert. Smith begründet das »einfache System der natürlichen Freiheit« auf ­einem universellen Freiheitsgedanken und geht davon aus, dass die Wirtschaftssubjekte intuitiv – von einer »unsichtbaren Hand« geleitet – zum Wohle aller das System im Gleichgewicht halten könnten. Damit liefert er eine verständlicherweise attraktive aber auch widersprüchliche Grundlage für die Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise: Er weist die herrschaftlichen Privilegien und staatlichen Monopole in ihre Schranken und verschafft dem von feudalen Zwängen freien Bürgertum und dessen Privatbesitz der Produktionsmittel Legitimation. Er verschiebt den Fokus auf »freie Märkte« und marginalisiert, dass nicht alle freie Wirtschaftssubjekte und Eigentümer von Produktionsmitteln, Fabriken, Werkzeugen und Rohstoffen sind und dementsprechend Preise und Löhne nicht mitbestimmen können.

Eine erste logische Konsequenz der Verschiebung gesellschaftlicher Steuerungsmechanismen auf freie Märkte lag im Abbau von Zöllen und Zollschranken und im Ausbau des Freihandels, der eine Internationalisierung der Arbeitsteilung und eine Verschärfung des Wettbewerbs mit sich brachte. Die Durchsetzungskämpfe verliefen jedoch nicht widerspruchsfrei, und es gab Argumentationsbedarf für die Abschaffung von Handelshemmnissen wie z. B. von Schutzzöllen. Aufbauend auf Smith arbeitet David Ricardo (1772–1823) die komparativen Kostenvorteile heraus, nach der die relativen Kosten der produzierten Güter im Austausch mit anderen Ländern wichtiger sind als die absoluten Produktionskosten; seine Außenhandelstheorie besagt, dass jedes Land profitiere, wenn es seinen Güterertrag bestmöglich steigere, indem es die Lohnkosten niedrig halte und die restlichen Güter über den Austausch beziehe. John Stuart Mill (1806–1873) übernimmt ebenfalls viele Grundgedanken von Smith und schreibt mit »Principles of Political Economy« (1848) das für den klassischen Liberalismus unumstrittene Standardwerk. Mill präzisiert die Freiheit des Individuums. Er unterscheidet nicht zwischen formal unterstellter und materiell ausgestatteter Freiheit, spricht sich jedoch für ein allgemeines Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln aus, weil »jeder« Mensch einen Anspruch auf den Ertrag seiner Arbeit und Sparsamkeit haben solle und in der Verwertbarkeit seiner Leistungen auch sein Ansporn läge. Mit der Rechtfertigung, Eigentum rechtmäßig vererben zu können und in der Darstellung von Eigentum als Mittel zum Zweck der gesellschaftlichen Wohlstandsproduktion verfestigt Mill die neuen Herrschaftsverhältnisse. Mill erkennt zwar die Interessensgegensätze zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, denkt aber, dass sie durch Bildung und Arbeiterassoziationen (heute Gewerkschaften) auszugleichen seien.

Der springende Punkt ist, dass die idealtypischen Annahmen unmittelbar auf die Politik übertragen wurden und aufgrund ihrer Auslassungen (Machtungleichheiten, anderen Bedürfnis- und Motiva­tionsstrukturen) erneut für Ungleichheiten (Arbeiterklasse und Bourgeoisie) sorgten und Konflikte (Klassenkampf) auslösten. Ihren Siegeszug startete die industrielle Revolution in England, wo der von den oben skizzierten Theorien untermauerte Manchester-Liberalismus in eine ­Laissez-faire-Politik mündete.

Dort wurden die enormen technischen Innovationen der Zeit (Dampfmaschine, Eisenbahn, Fabrikmaschinen, Telegraph) mit den rechtlichen Voraussetzungen des Freihandels gepaart. Diese Kombination führte explosionsartig zu Modernisierung und mehr Reichtum der Volkswirtschaft. Ebenso massiv fiel aber auch die Verelendung des vom Land in die Städte vertriebenen Arbeiterproletariats aus. Dies ist der historische Ausgangspunkt für alle weiteren Auseinandersetzungen, die uns bis heute (wenn auch in anderen Ausprägungen, aber in der Grundproblematik gleich) beschäftigen.

Praktisch wurde mit Arbeiterkampf, Streiks, Sabotage und Bummelei geantwortet und punktuell wurden auch bessere Arbeitsbedingungen erkämpft. Theoretisch gehen die Argumentationslinien jedoch weit auseinander bzw. widersprechen sich. Grob lassen sich drei Richtungen unterscheiden: Die Marxisten kommen zu dem Schluss, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem zwar ungeheuren Fortschritt bringe, aufgrund seiner inneren Widersprüche aber in ständige Krisen bis zur Barbarei stürze und daher zu überwinden sei. Die Vertreter des Keynesianismus haben das Ziel, den Kapitalismus aufrechtzuerhalten aber mit staatlichen Regulierungen zu zähmen. Die neoklassischen Theoretiker gehen davon aus, dass staatliche Störungen auf an sich funktionsfähigen Märkten das Ungleichgewicht verursachen und die Markfreiheiten noch weiter ausgebaut werden müssten. Bevor die Wechselwirkungen zwischen Theorien und Realwirtschaft skizziert werden, soll die marxsche Kritik der Politischen Ökonomie umrissen werden, weil sie Schlüsselkriterien für die Analyse liefert.

Der Philosoph und Jurist Karl Marx (1818–1883) erlebte die erste Hochblüte und das Elend des industriellen Kapitalismus in England. Er setzt der Rechtfertigungslehre der Politischen Ökonomie eine dialektisch verfasste Kritikund