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Iny Lorentz

Die Rache der Wanderhure

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Iny Lorentz

Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar, dessen erster historischer Roman »Die Kastratin« die Leser auf Anhieb begeisterte. Mit »Der Wanderhure« gelang ihnen der Durchbruch; der Roman erreichte ein Millionenpublikum. Seither folgt Bestseller auf Bestseller. Die Romane von Iny Lorentz wurden in zahlreiche Länder verkauft.

Besuchen Sie auch die Homepage der Autoren: www.iny-lorentz.de

Über dieses Buch

Glücklich und zufrieden lebt die einstige Wanderhure Marie mit ihrem Ehemann Michel Adler auf Burg Hohenstein, die die beiden als Kastellanin und Burghauptmann für den König verwalten. Mit der Geburt ihrer Tochter Trudi scheint ihr Glück schließlich vollkommen.

Doch das Unheil lauert schon, denn Maries Feind Ruppertus ist dem Feuertod auf dem Scheiterhaufen entgangen und von Mönchen, die sich dem Richtspruch Gottes nicht widersetzen wollten, heimlich nach Rom geschafft worden.

Und er hat einen düsteren Plan ersonnen, um Marie in seine Gewalt zu bringen …

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Taschenbuch Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Karte: Computerkartographie Carrle

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41284-8

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Prolog

Marie schauderte, als der Henker mit der brennenden Fackel in der Hand auf den Scheiterhaufen zutrat. Hinter ihr aber johlte die dicht stehende Menge erwartungsvoll auf. Es war, als habe sich ganz Konstanz auf der Hinrichtungsstätte versammelt, um sich das Schauspiel eines Feuertods nicht entgehen zu lassen.

Mitten aus den Holzscheiten und Reisigbündeln ragte ein kräftiger Pfahl heraus, an den der Verurteilte mit Ketten gefesselt worden war. Der Mann stand völlig regungslos, sein Gesicht glich einem weißen Fleck.

Mit einer geradezu triumphierenden Geste reckte der Henker die Fackel hoch, damit alle sie sehen konnten, und drehte sich langsam zu dem Delinquenten um. Die Richter hatten Ruppertus zu einem langsamen Tod verurteilt, daher setzte der Henker nur eine Ecke des Scheiterhaufens in Brand und zog sich dann zurück.

Aus der Menge erschollen laute Stimmen, die den Verurteilten verhöhnten. Marie biss die Lippen zusammen, um sich kein Wort entschlüpfen zu lassen, und starrte einige Augenblicke nur in die aufsteigenden Flammen, die sich langsam auf Ruppertus zufraßen. Dann glitt ihr Blick an dem Mann hoch, der aus Hass und Geldgier ihr Leben zerstört hatte. Noch verdeckten weder Rauch noch Flammen sein Gesicht, und so konnte sie die Todesangst und das Grauen in seinen weit aufgerissenen Augen lesen. Er schien immer noch nicht fassen zu können, dass er sterben musste.

Seine Lippen formten Worte, die jedoch im Prasseln des Feuers untergingen. Das blonde, nassgeschwitzte Haar fiel ihm wirr über die Stirn, und in dem Schandkittel wirkte er klein und hässlich. Von dem gutgekleideten Mann, der vorgegeben hatte, sie zur Frau nehmen zu wollen, war nur ein zitterndes Bündel Mensch übrig geblieben, an einen Pfahl gefesselt und von Flammen umzüngelt, die sich in sein Fleisch fressen würden.

In Marie wollte Mitleid aufsteigen, denn dieser Mann sah einem Tod entgegen, den sie nicht einmal ihrem ärgsten Feind wünschen würde.

»Er war dein ärgster Feind«, korrigierte sie sich, und in ihr stieg die Erinnerung an jene grauenvollen Tage und Wochen auf, in denen alles begonnen hatte. Sie sah sich selbst als widerwillige Braut, dann geschändet im Kerker und schließlich als Verurteilte an einen Pfahl gebunden, während der einstige Stadtbüttel Hunold mit aller Kraft auf sie einschlug, um sie – wie sie nun wusste – in Ruppertus’ Auftrag totzuschlagen.

Hunold – Unhold formten ihre Gedanken. Doch wie sollte sie Ruppertus bezeichnen? Er war der wahrhaft Böse gewesen, die treibende Kraft hinter dem Verbrechen an ihr. Er hatte sie ihrer Familie beraubt und ins Elend gestürzt. Noch einmal sah sie ihren Vater sterben und dachte an Wina, ihre Tante, die elend im Narrenturm umgekommen war. Auch roch sie wieder die verschwitzten Leiber der Männer, die sie auf sich hatte ertragen müssen.

Nein, sie konnte Ruppertus nicht verzeihen. Eine Heilige hätte es vielleicht vermocht, doch das war sie nicht. Sie war eine Hure, auch wenn die Kirche und der König selbst sie von aller Schuld und allen Sünden freigesprochen hatten. Doch eine Unterschrift und ein Siegel auf einem Pergament konnten nicht die Erinnerung an all die Dinge auslöschen, die sie erlebt hatte. Ihr Blick wurde hart und ihr Gesicht starr. Ruppertus hatte sich Splendidus – der Glänzende – nennen lassen und war doch nur eine habgierige Kreatur gewesen, die über Leichen ging. Er hatte diesen Tod verdient!

Während Maries Miene sich verdüsterte, starrte Ruppertus sie unverwandt an. Durch den aufsteigenden Rauch und die höher schlagenden Flammen konnte er sie nur schemenhaft erkennen, doch er begriff nun, welch starker Wille diese Frau beseelte, und erkannte die innere Kraft, mit der sie ihrem Schicksal getrotzt und ihre Rache gesucht hatte.

»Ich hätte dafür sorgen müssen, dass sie keine Möglichkeit zur Flucht bekommen konnte, sondern noch in Konstanz umgebracht wurde. Dann wäre ich jetzt Graf von Keilburg und ein hoher Herr«, stöhnte er und spürte, wie die ersten Flammen an seinem Kittel leckten.

Doch da erhob sich eine andere Stimme in ihm. Alles war falsch gewesen. Er hatte Marie doch geliebt! Warum nur hatte er zugelassen, dass sie von üblen Schurken vergewaltigt und von Hunold halb totgeschlagen worden war? Es war so viel Kraft in ihr! Diese hätte er nützen sollen, um höher aufzusteigen. Ihre Kinder wären Grafen geworden und vielleicht noch mehr. Die Zeit war im Wandel, und wer rasch und beherzt zugriff, war gegenüber allen anderen im Vorteil. Sein scharfer Verstand in Verbindung mit ihrer raubtierhaften Kraft hätte Großes vollbringen können.

Einige Augenblicke lang spürte Ruppertus das Feuer nicht mehr, das seine Beine hochzüngelte, sondern sah sich selbst in prachtvoller Kleidung mit Marie an seiner Seite auf König Sigismund zutreten und dessen engster Ratgeber werden.

So schnell das Bild gekommen war, so rasch schwand es in dem Schmerz, der durch seinen Körper peitschte. Ruppertus riss die Augen auf und sah den Mann, der an Maries Seite getreten war und die Hand um ihre Schultern legte. Es war der Sohn des Schankwirts, jener Lümmel, der es gewagt hatte, seine Augen zu Marie zu erheben, und der sie nun auch bekommen hatte. Selbst der Gedanke, dass die Frau als Hure Dutzenden anderer Männer zu Willen hatte sein müssen, konnte Ruppertus’ Gefühl nicht vertreiben, gegen eine Kreatur aus der Gosse verloren zu haben.

»Herrgott, warum hast du das zugelassen?«, schrie er und meinte damit nicht nur das Paar vor sich, sondern auch den Scheiterhaufen, auf dem er sich zur Belustigung der Konstanzer Bürger und der Konzilsgäste in Qualen wand.

Das Feuer wurde heißer, und Ruppertus rang nach Luft. Er wusste, dass Rauch die Menschen betäubte, und sehnte diese Ohnmacht herbei, die ihm endlich den Schmerz nehmen würde, der immer heftiger durch seinen Körper raste. Er spürte deutlich, wie das Feuer seine Glieder verzehrte, und in seiner Not flehte er Gott an, ihm gnädiges Vergessen zu schenken.

Gierig sog er den ätzenden Rauch in die Lunge und kämpfte gegen den Hustenreiz, der ihn würgte. Da traf ihn ein kalter Windstoß und blies den Rauch von ihm weg. Die Flammen zitterten einen Augenblick lang, flammten dann aber doppelt so heiß und sengend wieder auf. Der stärker werdende Wind trieb den Rauch gegen die Zuschauer, während Ruppertus entgegen seiner Hoffnung frische Luft einatmete. Offensichtlich wollte das Schicksal ihn die Qual bis zum letzten bitteren Tropfen auskosten lassen.

Er suchte erneut nach Marie, ein dichter Schleier drohte sie seinem Blick zu entziehen. Andere Gaffer wichen bereits vor dem Rauch zurück, doch sie stand so regungslos in den Schwaden wie eine archaische Göttin. Auch der Wirtsbengel, den er unterschätzt und daher missachtet hatte, trotzte dem Rauch. Er hasste den Kerl so sehr, dass er sich wünschte, er könne seine Seele dem Teufel verschreiben, nur damit diese Gossenkreatur an seiner Stelle brannte.

Doch im nächsten Moment verflogen der Hass und die Wut, die seinen Schmerz zeitweise betäubt hatten, und er kämpfte verzweifelt gegen seine Fesseln, um den schier unerträglichen Qualen zu entkommen. Doch die Flammen fraßen sich unerbittlich in seinen Leib.

»Herrgott, mach ein Ende!«, schrie er und verfluchte im nächsten Augenblick Gott und die ganze Welt, weil man ihm dies antat.

Marie achtete nicht auf den Rauch, der sie wie schwarzer Nebel umwaberte, sondern blickte unverwandt in die Flammen, die Ruppertus umgaben. Der Wind schürte das Feuer an wie ein Blasebalg und ließ die Holzscheite hell aufglühen. Nicht mehr lange, dachte sie, dann ist mein schlimmster Feind tot! Dann endlich würde es ihr möglich sein, ein neues Leben zu beginnen.

Sie schloss die Augen und lehnte sich gegen Michel. Ihn hatte sie immer geliebt, und sie war stolz auf ihn. Stand er doch trotz allem, was in der Zwischenzeit geschehen war, treu zu ihr. Wenn Ruppertus tot ist, kann es für mich doch noch Glück und Liebe geben, wiederholte sie in Gedanken und sagte sich, dass das Schicksal sie zwar zu den tiefsten Tiefen des menschlichen Seins hinabgespült, ihr aber auch die rettende Hand gereicht hatte.

Ein weiterer Windstoß, stärker als die vorhergehenden, ließ Funken aufstieben und trieb sie auf Marie zu. Michel zog sie ein paar Schritte zurück und zeigte zum Himmel, der sich auf einmal pechschwarz über ihnen wölbte. Erste Blitze zuckten wie Flammenzeichen am Horizont, gleichzeitig erschütterten Donnerschläge das Land und übertönten das Prasseln des Feuers.

»Es zieht ein Unwetter auf! Wir sollten ins Trockene gehen, bevor es sich über uns entlädt«, riet Michel, doch Marie schüttelte den Kopf.

»Ich will ihn sterben sehen!«

Um sie herum wandten sich die ersten Zuschauer ab und hasteten in die Stadt zurück. Nicht lange, da verscheuchten die den Himmel mit einem glühenden Netz überziehenden Blitze und der ununterbrochen rollende Donner auch die restlichen Gaffer. Nur Marie und Michel, ein paar Stadtknechte und zwei Dominikanermönche blieben bei dem mittlerweile lichterloh brennenden Scheiterhaufen stehen.

Marie sah, wie Ruppertus sich in Schmerzen wand, und durch das Getöse des Gewitters hindurch glaubte sie auch, Schreie zu vernehmen, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Noch regnete es nicht, und die Windböen fachten das Feuer zu einem Inferno aus Glut und Flammen an.

Als der Wind heftiger an Maries Kleidern zerrte und sie erneut in Gefahr geriet, vom Funkenregen getroffen zu werden, schlang Michel den Arm um sie und führte sie weg.

»Es ist gleich vorbei«, sagte er. »Ruppertus kann sterben, ohne dass du ihm zusiehst.«

Marie nickte nachdenklich. »Es ist eine grauenvolle Strafe! Aber er hat sie verdient.«

Als sie auf das Stadttor zugingen, widerstand Marie dem Impuls, sich noch einmal umzudrehen. Daher sah sie nicht, dass das Pferdegespann vor dem Schinderkarren immer nervöser wurde. Bei einem besonders heftigen Donnerschlag bäumten die Gäule sich auf und gingen durch.

Der Knecht auf dem Bock versuchte noch, sie zu zügeln, doch als der Wagen über einen halb in der Erde eingebetteten Felsblock fuhr und wie ein Ball hochhüpfte, wurde der Mann hinausgeschleudert. Die Pferde rasten kopflos weiter, auf den brennenden Scheiterhaufen zu.

Die beiden Dominikanermönche hatten ausgeharrt, um Ruppertus’ Tod zu bekunden und seine Asche auf dem Schindanger zu verscharren. Als sie das durchgehende Gespann auf sich zukommen sahen, sprangen sie erschrocken zur Seite.

Im letzten Augenblick erkannten die Pferde die Gefahr und wichen dem Feuer aus. Dabei rissen die Stränge. Die Tiere galoppierten weiter, der schwere Karren aber rollte mit voller Wucht in den Scheiterhaufen und wirbelte brennende Scheite und Funken auf.

Als wäre dies ein Signal gewesen, öffneten sich die Schleusen des Himmels, und ein Wolkenbruch ergoss sich über die Stadt. Die beiden Mönche gingen um den Karren herum und näherten sich dem Scheiterhaufen. Da war das glühende Holz bereits im weiten Umkreis verstreut und zischte im Regen. Der Wagen hatte den Pfahl umgerissen, an den Ruppertus gefesselt war, und ein Stück mitgeschleift. Dieser lag jetzt mehrere Schritte von den Resten des Scheiterhaufens entfernt auf dem Boden.

Vorsichtig wichen die Mönche den rauchenden Holzresten aus und näherten sich der noch an den Pfahl gebundenen Gestalt, die von offenen Wunden und schwarzer Kruste bedeckt war. Der Schandkittel bestand nur noch aus am Körper klebenden Fetzen.

Einer der Dominikaner begann zu beten, während der andere auf den bis zur Unkenntlichkeit Verbrannten zutrat, um ihn vom Schandpfahl loszuketten. Da drehte Ruppertus mit einem Mal den Kopf. In dem schwarzen Gesicht öffnete sich ein Auge und starrte den Mönch an. Erschrocken schlug der Dominikaner das Kreuz und winkte seinen Mitbruder zu sich.

»Er lebt noch!«

»Wenn er lebt, so ist dies Gottes Wille, dem wir Menschen uns nicht widersetzen dürfen.«

»Aber was sollen wir tun?«

Der Dominikaner warf einen Blick auf die Stadt, die in dem starken Regen wie hinter einem Schleier verborgen lag. »Es ist am besten, wir bezeugen, dass Ruppertus Splendidus sein Ende auf dem Scheiterhaufen gefunden hat und wir ihn begraben haben. In Wahrheit aber bringen wir ihn in unser Kloster. Sollte er durch Gottes Gnade am Leben bleiben, muss er seine Seele durch eine Wallfahrt an eine heilige Stätte reinigen und dort in ein Kloster unseres Ordens eintreten.«

»Ganz wohl ist mir dabei nicht«, bekannte sein Mitbruder und schüttelte sich. Aber auch er nahm es als Zeichen des Himmels, dass der Verurteilte noch lebte, und das wagte er nicht zu missachten.

Erster Teil

Verrat

1.

Elf Jahre waren seit jenem schicksalhaften Tag vergangen, an dem Ruppertus Splendidus auf dem Scheiterhaufen hätte sterben sollen und wie durch ein Wunder gerettet worden war. Niemand hatte je wieder von ihm gehört, und die meisten Menschen, die Zeuge des Geschehens geworden waren, hatten längst seinen Namen vergessen. Auch Marie erinnerte sich nur noch während mancher Tage, an denen sich ihr Gemüt verdüsterte, an ihren einstigen Feind. Seit seiner Hinrichtung auf dem Anger von Konstanz war ihr Leben in ruhigen Bahnen verlaufen.

Da alles in ihrer Heimatstadt sie an ihr Schicksal und ihre toten Lieben erinnert hatte, war sie froh gewesen, Konstanz verlassen zu können. König Sigismund hatte ihr und Michel seine Gunst erwiesen und ihnen die Burg Hohenstein in Franken als neuen Wohnsitz zugewiesen. Dafür war ihnen die Verpflichtung auferlegt worden, als Burghauptmann und Kastellanin die Festung instand zu halten und das umliegende Gebiet samt dem Meierdorf zu verwalten.

Schon bald nach dem Konzil zu Konstanz gärte es im Osten, und schließlich zogen dunkle Wolken auf, die das gesamte Reich bedrohten. Die Böhmen waren erzürnt über die Hinrichtung ihres religiösen Führers Jan Hus in Konstanz und rebellierten gegen König Sigismund und die Papstkirche in Rom. Nicht lange, da wurden die Nachrichten, die nach Hohenstein gelangten, beinahe täglich schlechter. Schließlich forderte Marie, die sich geschworen hatte, nie mehr hilflos sein zu wollen, ihren Mann auf, sie im Gebrauch des Schwertes zu schulen.

Daher unterrichtete Michel sie regelmäßig auf der Wiese am See. An Tagen wie diesem, wenn ein sanfter Windhauch den Burghügel herabblies und ihr Haar aufstieben ließ, genoss Marie die Übungen. Sie stand neben einer Buschgruppe, hielt ihr Schwert gesenkt und sah so aus, als träume sie in den Tag hinein. Doch unter dichten Wimpern musterte sie Michel lauernd. Mit einem Mal riss sie die Waffe hoch und schwang sie gegen ihn.

Mit einem Schritt war Michel aus ihrer Reichweite und lachte. »Das war gar nicht so schlecht. Beinahe wäre ich darauf hereingefallen.«

»Bist du aber nicht! Du hast nicht einmal dein Schwert gehoben, um meinen Schlag abzuwehren.«

Marie bemühte sich, enttäuscht zu klingen. Tatsächlich war sie stolz auf ihren Mann. Er beherrschte den Kampf mit allen Waffen und war ein sehr achtsamer Krieger. In seiner Gegenwart fühlte sie sich so sicher wie in Abrahams Schoß. In friedlicheren Zeiten hätte sie sich ganz auf seinen Schutz verlassen und wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, selbst den Umgang mit dem Schwert zu erlernen. Doch die Bedrohung aus dem Osten war so stark, dass sie Michel nicht zu einer Last werden durfte. Zwar lagen etliche Tagesreisen zwischen Hohenstein und Böhmen, doch hussitische Raubscharen waren an anderen Stellen tief ins Reich eingedrungen, und früher oder später würden sie auch den Weg in ihr kleines Refugium finden.

Marie warf einen Blick auf die Burg, die König Sigismund ihrem Mann und ihr anvertraut hatte. Die Mauern von Hohenstein waren hoch und fest, und solange Michel sie verteidigte, würden die Hussiten sie wohl niemals einnehmen.

»Was ist?«, hörte sie Michels Stimme und hob erneut ihr Schwert.

Es hatte keine scharfe Schneide, sondern war für Übungskämpfe gemacht. Zu gerne hätte sie Michel einmal getroffen, aber natürlich nicht so, dass er verletzt wurde. Marie gab den nutzlosen Gedanken auf und setzte erneut zu einem Schwertstreich an. Ihr Mann wich jedoch mit der gleichen Behendigkeit aus wie zuvor und grinste. »So wird das nichts! Du musst schon richtig wütend werden und mir weh tun wollen.«

»Mir tun die Arme weh!« Mit diesen Worten ließ Marie das Schwert sinken und blickte zu den Büschen hinüber. Dort war ihre Tochter Trudi gerade dabei, die Blüten von einem Holunderbusch zu brechen und in einem Korb zu sammeln. Dahinter erstreckten sich sanft im Wind wiegende Kornfelder, die zu Hohenstein gehörten. Ein Bauer arbeitete auf seinem Acker, hielt nun aber inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Lachend hob Marie die Hand und winkte dem Mann zu. »Hallo, Thomas! Geht die Arbeit gut voran?«

»Aber ja!«, rief er lachend.

»Und wo hast du Hiltrud gelassen?«

»Die ist hier!«, klang da die Stimme ihrer Freundin auf.

Munter wie ein Reh kam Hiltrud den Weg von der Burg herab. Sie hielt in der einen Hand einen Krug und in der anderen einen Becher. »Ich wollte Thomas etwas zu trinken bringen. Wenn du magst, bekommst du auch etwas«, sagte sie und trat auf Marie zu.

Diese nickte lächelnd und streckte die Hand nach dem Becher aus. »Kämpfen macht durstig.«

»Vor allem, wenn man immer danebenschlägt«, warf Michel lachend ein.

»Männer, sage ich nur!« Hiltrud schnaubte scheinbar verächtlich, doch das Zucken um ihre Mundwinkel verriet ihre Heiterkeit. Sie goss ihrer Freundin den Becher voll und sah zu, wie diese trank.

Marie ist noch schöner geworden, dachte sie mit einem gewissen Anflug von Neid. Als Ehefrau des Burghauptmanns auf Hohenstein führte ihre Freundin aber auch ein angenehmes Leben.

Hiltruds Blick flog kurz zur Burg, auf deren Türmen die Banner des Königs im Wind flatterten. Wer hier das Sagen hatte, gehörte zu den Getreuen, die jederzeit Zutritt zu Sigismund erhielten.

Hiltrud wollte jedoch nicht klagen, denn ihr ging es ebenfalls gut. Mit Thomas hatte sie einen braven Mann. Gemeinsam bewirtschafteten sie den Meierhof der Burg. Für sie, die sie jahrelang als Wanderhure von Markt zu Markt hatte ziehen müssen, war dies weitaus mehr, als sie sich je erträumt hatte. Nun hatte sie ein festes Dach über dem Kopf, genug zu essen und in Marie eine Freundin, auf deren Zuneigung sie bauen konnte.

Verwundert, weil sie plötzlich wieder an jene Vergangenheit denken musste, die sie am liebsten für immer vergessen hätte, nahm Hiltrud den leeren Becher von Marie entgegen, füllte ihn und reichte ihn Michel. Dieser trank ebenfalls, bedankte sich bei ihr und sah dann seine Frau nachdenklich an.

»Du hast mich aufgefordert, dir zu zeigen, wie man mit dem Schwert umgeht. Doch du bist nicht mit dem Herzen dabei. Wenn du kämpfst, musst du es mit jeder Faser deines Leibes und voller Konzentration tun.«

Hiltrud schüttelte den Kopf über Maries Verbissenheit, Dinge lernen zu wollen, für die eine Frau nicht geschaffen war, und ging weiter, um ihrem Mann etwas zu trinken zu bringen. Dabei kam sie an Trudi vorbei und strich dem Mädchen übers Haar.

Marie hob das Schwert zum Schlag. »Weißt du, wofür ich von Herzen danke?«, sagte sie zu Michel, nachdem dieser ihren ersten Hieb abgeblockt hatte.

»Wofür?«

Da Michel für einen Augenblick abgelenkt war, führte Marie einen schnellen Hieb aus, den ihr Mann im letzten Moment parieren konnte.

»Schade. Beinahe hätte ich dich getroffen.«

Michel ging nicht darauf ein, sondern sah sie lächelnd an. »Wofür wolltest du danken?«

»Für all das hier!«, antwortete Marie und schüttelte den Kopf über sich selbst, so dass ihr Haar aufstob und in der Sonne leuchtete.

Diesmal passte sie nicht richtig auf und sah Michels Klinge wie einen Blitz auf sich zustoßen. Mit letzter Kraft lenkte sie die Waffe ab und trat einen Schritt zurück, um in aller Ruhe weiterzusprechen. »Ich danke dem Schicksal auch für unsere wunderbare Tochter und die Treue unserer Freunde Hiltrud und Thomas.«

»Und weiter?«, fragte Michel gespannt, während sie erneut die Klingen kreuzten.

»Für die Gunst des Königs, der dich zum Burghauptmann von Hohenstein gemacht hat.«

So ganz gefiel Michel dieser Satz nicht, und er führte seinen nächsten Hieb härter als die vorhergehenden. Marie konnte ihn abwehren, doch ihre Arme schmerzten bis in die Schultern hinein. Aufkeuchend wich sie einen weiteren Schritt zurück.

»Wenn du nicht aufpasst, fällst du gleich in den See«, warnte Michel sie lachend. »Und wofür dankst du dem Schicksal noch?«

Dabei attackierte er Marie ganz plötzlich, doch diesmal konnte sie dem Schlag mit Leichtigkeit ausweichen.

»Für was soll ich dem Schicksal noch danken?«, fragte sie mit schelmischem Blick.

Diesmal achtete sie zu spät auf Michels Klinge. Mit einer geschickten Drehung prellte er ihr die Waffe aus der Hand und setzte ihr spielerisch die Schwertspitze an den Hals.

Marie hob lachend die Arme. »Gnade, ich ergebe mich! Aber zu deiner Frage: Ich danke dem Schicksal vor allem für den Sohn eines Schankwirts, der mich zu seiner Kastellanin gemacht hat.«

Mit der Linken schob sie Michels Klinge beiseite und zog ihn mit der anderen Hand an sich.

»Ich weiß etwas Besseres für uns, als mit einem dummen Schwert herumzufuchteln«, flüsterte sie und küsste ihn.

Michel schlang die Arme um sie und genoss für einige Augenblicke ihre Nähe. Dann griff er unter sein Wams und holte ein Armband aus gelbem Samt hervor, auf dem elf kleine Muscheln befestigt waren. »Eigentlich sollte es ein Armreif aus Gold mit elf Perlen sein, eine für jedes Jahr, das ich mit dir verbringen durfte. Leider hat mich der Goldschmied versetzt, und so habe ich dir dieses Muschelarmband gemacht.«

»Danke!« Maries Gesicht wurde weich, und sie schmiegte sich an ihren Mann, während dieser ihr das selbstgefertigte Armband umlegte.

»Elf Muscheln – und jede birgt ein Geheimnis«, flüsterte sie ergriffen.

»Das Geheimnis unserer Liebe!« Michel lächelte sanft, hob dann aber Maries Schwert auf und reichte es ihr. »Nun stell dir vor, ich wäre dein größter Feind, und du müsstest dich, unsere Tochter und all unsere Freunde gegen mich verteidigen!«

Marie schauderte es. »Mein größter Feind ist tot!«

Sie sah zu Trudi hinüber, als benötige sie den Anblick der Tochter, um die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, weit wegzuschieben. Die Kleine hob den Kopf, stand auf und rannte lachend auf sie zu.

Bevor Trudi ihre Mutter erreichte, klang Hufgetrappel auf. Alle drei drehten sich um und sahen einen Mann den Weg zur Burg hinaufreiten. Michel winkte dem Reiter zu und ging zur Straße.

Bei seinem Anblick zügelte der Fremde sein Pferd und blickte auf ihn herab. »Ich suche Michel Adler, den Burghauptmann von Hohenstein!«

»Du hast ihn gefunden!« Michel stemmte die Hände in die Seiten und musterte den Besucher, der einen Waffenrock mit Sigismunds Wappen trug.

Der Mann zog ein versiegeltes Schreiben aus seiner Satteltasche und reichte es Michel mit weitaus respektvollerer Stimme. »Ich habe eine Botschaft für Euch, Herr. Sie kommt vom König!«

Verwundert nahm Michel den Brief entgegen, erbrach das Siegel und begann zu lesen. Mit jeder Zeile wurde sein Gesicht finsterer. Schließlich wies er mit der Hand zur Burg. »Reite voran und sage meinem Stellvertreter, dass ich dich geschickt habe. Er soll dir eine Mahlzeit und einen Krug Wein auftischen lassen. Man wird auch dein Pferd gut versorgen.«

Der Kurier neigte kurz das Haupt und trieb seinen Gaul an, während Michel sich seufzend umdrehte und Marie hinter sich stehen sah. »Seine Majestät Sigismund, der römisch-deutsche König, erwartet seine Ritter und Lehensträger zum Reichstag in Nürnberg. Wir sollen in Waffen erscheinen. Du weißt, was das bedeutet.«

Obwohl Marie es sich denken konnte, schüttelte sie heftig den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht!«

»Es gibt Krieg! Sigismund wird gegen die Hussiten ziehen wollen«, erklärte Michel mit ernster Miene.

Trudi war Marie bis zur Straße gefolgt und blickte fragend zu ihrem Vater hinauf. »Was ist ein Hussit?«

Mit einem gekünstelten Lachen nahm Michel seine Tochter auf den Arm und ging mit ihr in Richtung der Burg. »Ein Hussit, meine Kleine, ist unser schlimmster Feind!«

Marie fühlte bei seinen Worten einen scharfen Stich im Magen, so als würde die Wunde aus jenen schrecklichen Tagen erneut aufgerissen. Wieder stiegen Schmerz und Trauer wie eine düstere Wand in ihr auf und drohten über ihr zusammenzuschlagen. Mit ein paar Schritten stand sie vor der Vogelscheuche, die Thomas am Rand des Getreidefelds aufgestellt hatte, schwang ihr Übungsschwert und trennte den hässlichen Kopf der Puppe mit einem wütenden Hieb vom Rumpf. Als dieser über den Boden rollte, glaubte sie einen Augenblick lang, Ruppertus Splendidus’ Gesicht darauf zu sehen, und atmete schwer. Dann drehte sie der kopflosen Vogelscheuche mit einer schroffen Bewegung den Rücken zu und folgte Michel und Trudi zum Schloss. »Mein schlimmster Feind ist tot!«, flüsterte sie vor sich hin. Doch sie wusste längst, dass die Erinnerung an Ruppertus Splendidus und das, was dieser Mann ihr angetan hatte, sie ihr Leben lang verfolgen würden.

2.

Ein paar Wochen später wanderte ein Mönch im Habit der Dominikaner auf der Straße nach Nürnberg. Trotz des warmen Wetters hatte er seine Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass es fast vollständig bedeckt war. Er murmelte lateinische Worte vor sich hin und stieß dabei den Stock, auf den er sich stützte, immer wieder hart auf den Boden, als müsse er die Erde wegen irgendwelcher Verfehlungen züchtigen.

Mit einem Mal erblickte der Mönch am Rand des Weges eine kleine, offene Kapelle und blieb stehen. Einige Atemzüge lang musterte er das bescheidene Bauwerk und schritt dann darauf zu. Die tiefstehende Sonne fiel durch das Portal ins Innere und leuchtete es hell aus. In dem Augenblick aber, in dem der Mönch eintrat, verdeckte er das Sonnenlicht. Nur ein einziger Strahl drang noch über seine Schulter hinweg in den Raum und umgab die kleine Marienstatue auf dem Altar mit einer goldenen Aura.

Bei diesem Anblick sank der Dominikaner auf die Knie und streifte die Kapuze vom Kopf. Dabei berührte seine Hand die silberne Platte, welche die rechte Hälfte seines Gesichts bedeckte. Die Maske verbarg auch das rechte Auge, während der Blick des linken mit einem feurig-ergebenen Ausdruck auf der umstrahlten Madonna ruhte.

Der Mönch begann wieder zu beten und stieß die lateinischen Worte mit einer Wucht hervor, dass sein ganzer Leib vor Erregung zitterte. Dabei streckte er die Hände so begehrend nach der Statue aus, als wäre sie eine Frau aus Fleisch und Blut.

»Imperat tibi excelsa Dei Genetrix Virgo Maria«, rief er schließlich mit donnernder Stimme, so als müsse er unreine Geister durch einen Exorzismus austreiben, »quae superbissimum caput tuum a primo instanti immaculatae suae Conceptionis in sua humilitate contrivit …«

Seine Worte wurden inbrünstiger, und er schien in Ekstase zu verfallen. Sein ganzer Leib zuckte, während der Mund Ton um Ton ausstieß, so als stände der Satan bereits vor ihm und wolle ihn ins Verderben reißen. Dabei näherte er sich langsam der Madonnenfigur, deren vom Sonnenlicht erfasstes Haupt mit einem Mal andere Züge annahm, Züge, die ihn an jene Frau gemahnten, die ihm einst zum Verhängnis geworden war.

»Marie!« Einen Augenblick unterbrach er sein leidenschaftliches Gebet und stieß diesen Namen wie einen Hilferuf hervor. Dabei schüttelte er sich wie im Fieber und fuhr dann mit seinem Exorzismus fort.

»… Ergo, draco maledicte et omnis legio diabolica …« Bei diesen Sätzen steigerte sich die Stimme des Mönchs zu einem schrillen Diskant und war schließlich kaum noch zu verstehen. Die letzten Worte schrie er schließlich wie eine Kampfansage an alle Höllenmächte hinaus.

»Vade, satana, inventor et magister omnis fallaciae, hostis humanae salutis!«

Im gleichen Moment erlosch das goldene Licht, das der Madonnenfigur überirdischen Glanz verliehen hatte. Verwirrt starrte der Mönch auf das plötzlich kalte und schmucklose Standbild und vermochte zuerst nicht zu begreifen, weshalb der Strahlenkranz verschwunden war. Er sprach ein letztes Gebet, bekreuzigte sich und verließ die Kapelle. Als er wieder auf der Straße stand, sah er, dass die Sonne von den Wipfeln dichter Bäume verdeckt wurde, und schüttelte sich, als müsse er sich unangenehmer Gedanken erwehren. Dann machte er sich wieder auf den Weg in die nahe Reichsstadt.

All die Bilder wallten wieder in ihm auf, die ihn zumeist nur des Nachts quälten. Elf Jahre lang hatte er das Land seiner Geburt nicht mehr betreten dürfen. Aber diejenigen, die ihm dies verboten hatten, lebten nicht mehr, und mit ihnen war auch das Geheimnis seiner Herkunft ins Grab gesunken. Um seinen Mund zuckte ein böses Lächeln, als er an die beiden Mönche dachte, denen er seine Rettung verdankte. Sie hatten niemand verraten, dass er noch lebte.

Ihn selbst hatten sie nach Rom geschafft und zu einem Leben in Gebet und Demut verurteilt. Gerade dadurch aber war es ihm möglich gewesen, in der verschlungenen Hierarchie des Vatikans aufzusteigen und den Rang zu erreichen, den er nun einnahm. Als Inquisitor besaß er mehr Macht als jeder andere Würdenträger des Heiligen Stuhls mit Ausnahme des Papstes. Selbst Bischöfe und Kardinäle hatten ihn zu fürchten, das galt auch für die christlichen Fürsten Europas bis hoch zu König Sigismund. Allerdings hatte er dafür einen hohen Preis zahlen müssen.

Bei dem Gedanken berührte er die silberne Maske, die auf der rechten Seite nur den Mund und die Kinnpartie freiließ. Einst hatte er als gutaussehender junger Mann gegolten, nun aber würde jede Frau schreiend vor ihm zurückweichen. Nicht alle, durchfuhr es ihn. Eine gab es, deren Geist stark genug war, auch diesen Anblick zu ertragen. Sobald er seinen Auftrag in Nürnberg erledigt hatte, würde er sie suchen. Sie war noch am Leben, das fühlte er. Zu seinem Leidwesen hatte er bisher nicht in Erfahrung bringen können, wo sie sich aufhielt. Der Bote, den er vor zwei Jahren nach Konstanz geschickt hatte, um nach Marie Schärer zu fragen, hatte ihm nur melden können, dass sie die Stadt schon vor vielen Jahren verlassen hatte.

»Die Heilige Jungfrau wird mich leiten!« Mit diesem Stoßseufzer ging er weiter und erreichte kurz darauf das Stadttor.

Ein Wächter vertrat ihm den Weg. »Woher kommst und wohin willst du, frommer Bruder?«

Der Mönch blieb stehen, hob den Kopf und funkelte den Mann mit dem einen Auge an. »Ich bin Janus Suppertur, Inquisitor im Auftrag Seiner Heiligkeit, Papst Martin V., und ich komme, um die Sünder zu bestrafen!«

Damit schob Janus Suppertur, der einst auf den Namen Ruppertus getauft worden war, den Mann zur Seite und ging weiter. Ein Windstoß blähte seine Kutte auf, so dass sie ihm wie eine schwarze Fahne um die Beine schlug.

Der Wächter sah ihm verblüfft nach, wagte aber nicht, ihn aufzuhalten. Als der Mönch im Menschengewühl untergetaucht war, kehrte er zu seinem Kameraden zurück und rieb sich mit der rechten Hand das Gesicht. »Der Mönch ist ein Inquisitor und will die Sündhaftigkeit aus Nürnberg vertreiben!«, sagte er mit gepresster Stimme.

»Ein Inquisitor, sagst du, und da reist er allein? Diese Herren kommen doch immer mit großem Gefolge. Andererseits flößt mir der Mönch Angst ein. Solange er hier ist, sollten wir das Hurenhaus meiden. Nicht dass er mit Feuer und Schwert dreinfährt und es uns teuer büßen lässt, wenn wir dort unseren Mann stehen wollen.«

Sein Kamerad nickte eifrig. »Ins Wirtshaus sollten wir vielleicht auch nicht mehr gehen und auch das Fluchen unterlassen. Ich muss sagen – der Mönch ist mir unheimlich! Du hättest ihn aus der Nähe sehen sollen! Sein Gesicht wird zu einem großen Teil von einer Silbermaske verdeckt.«

»Vielleicht ist das die neueste Mode unter den Pfaffen in Rom!« Sein Kamerad spie angewidert aus und fand, dass die Anwesenheit eines fanatisch auftretenden Mönchs seine Behaglichkeit störte.

Während die Torwächter sich noch eine Weile über die Begegnung unterhielten, durchquerte Ruppertus die Stadt und erreichte in kurzer Zeit die Burg. Dort scheuchte er den Wächter mit einer Handbewegung beiseite. Mit der gleichen Arroganz winkte er im Hauptgebäude einen Diener heran. »Wo ist der König?«

»Seine Majestät befindet sich in der großen Halle«, antwortete der Mann. »Aber ich weiß nicht, ob …«

Was der Diener noch hatte sagen wollen, unterblieb, denn Ruppertus ging einfach an ihm vorbei und vernahm bald laute, getragene Stimmen, die ihm den Weg wiesen.

3.

Isabelle de Melancourt beobachtete die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, mit einem nachsichtigen Lächeln. Nicht weit von ihr entfernt trug ein Ritter ein Samtkissen in den Händen, auf dem der Reichsapfel lag. Ein anderer Edelmann hielt ein Kissen mit dem Zepter, während ein dritter sich mit dem purpurfarbenen Krönungsmantel abmühte. Direkt neben ihm umklammerte ein vierter Edelmann den Griff eines altmodisch wirkenden Schwertes, das der Überlieferung zufolge bereits Kaiser Karl der Große geführt haben sollte. Weitere Ritter standen in blankpolierten Rüstungen Spalier.

Alle blickten so ernst, als wohnten sie tatsächlich einer heiligen Zeremonie bei. Selbst die beiden Nonnen in Isabelles Begleitung sahen ergriffen aus, während sie selbst die Sache eher belustigend fand. Ihr Blick suchte den König, der in einem härenen Hemd steckte und wenig majestätisch wirkte. Seiner Miene nach schien er dies auch selbst zu empfinden.

Er erhob sich, zupfte das Hemd zurecht, das ihn unter den Achseln zwickte, und kniete dann erneut vor dem Mann nieder, der im Ornat der höchsten geistlichen Autorität vor ihm stand und in der Hand die schwere, achteckige Kaiserkrone hielt, die mit kostbaren Edelsteinen und den Bildern der biblischen Könige David und Salomon geschmückt war.

Ein Luftzug traf Isabelle und machte sie darauf aufmerksam, dass soeben die große Flügeltür in den Saal geöffnet worden war. Sie wandte den Blick und entdeckte einen Mönch im Habit der Dominikaner. Als eine der Fackeln an der Wand einen silbern schimmernden Reflex auf seinem Gesicht aufblitzen ließ, kniff sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

Der Mönch trat einen Schritt in den Saal, verharrte dann und starrte verblüfft auf das Spiel, das ihm geboten wurde.

Eben hob der als Papst verkleidete Mann die Krone und sah Sigismund fragend an. »Bist du bereit, als gläubiger Christ den Schirm der Kirche, die Wahrung der Gerechtigkeit, die Mehrung des Reiches, das Beschützen der Witwen und Waisen und die Ehrung des Papstes zu geloben?«

Der kniende Sigismund kratzte sich am Hals, weil ihn der Kragen des unbequemen Kleidungsstücks juckte, und nickte dann.

»Sicher!«

Mit einem mahnenden Hüsteln machte der falsche Papst den König darauf aufmerksam, dass er sich in dieser Situation nicht von seinen Launen leiten lassen durfte.

Daher nickte Sigismund noch einmal und antwortete der Zeremonie gemäß: »Volo! Ich will!«

Währenddessen ließ Isabelle de Melancourt den Neuankömmling nicht aus den Augen. Sie spürte seine Verwirrung und auch seinen Zorn, weil ausgerechnet hier in der königlichen Residenz mit einem der heiligsten Sakramente der Kirche Schindluder getrieben wurde. Schon erwartete sie, dass der Mönch einem Engel mit dem Flammenschwert gleich dazwischenfahren würde. Doch er hielt sich zurück und sah regungslos zu.

Nachdem Sigismund zur Zufriedenheit seines Papstdarstellers geantwortet hatte, wandte dieser sich mit einer weit ausholenden Geste an die im Saal versammelten Adeligen und Gefolgsleute des Königs. »Seid ihr bereit, diesen Fürsten anzunehmen, seinen Befehlen zu gehorchen und sein Reich zu festigen?«

Unter den Rittern befand sich auch der Burghauptmann auf Hohenstein. Michel war mit der Vorstellung nach Nürnberg gereist, an einem Kriegszug teilnehmen zu müssen, und fand sich nun als Teilnehmer an einer fingierten Krönung wieder. Für solche Spiele erschien ihm die Lage wahrlich zu ernst. Dann aber sagte er sich, dass gerade diese Zeremonie, auch wenn sie nur eine Probe für eine richtige Kaiserkrönung darstellte, die Einheit zwischen Sigismund als Reichsoberhaupt und den Teilnehmern am Reichstag stärken konnte. Daher skandierte er ebenso laut wie die anderen die altüberlieferte Antwort: »Fiat! Fiat! Fiat!«

Kaum waren die Worte verklungen, setzte der falsche Papst dem echten König die Krone aufs Haupt, strich ihm mit Zeige- und Mittelfinger über die Stirn und erhob seine Stimme. »Es geschehe! So salbe ich dich zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches in nomine patris et filii et spiritus sancti, amen!«

Sigismund wartete gerade noch ab, bis diese Worte gesprochen waren, erhob sich und zupfte erneut an seinem härenen Kittel.

»Muss das Ding wirklich sein?«, fragte er Isabelle de Melancourt.

Dann entdeckte er die schwarze Gestalt in der Nähe der Tür und gab seinem Herold einen Wink. Dieser trat auf den Mönch zu und fragte ihn nach Namen und Begehr. Nachdem Ruppertus die Auskunft recht hochmütig gegeben hatte, drehte der Herold sich um und hob seinen Stab, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken.

»Janus Suppertur, Inquisitor und Gesandter Seiner Heiligkeit, Papst Martin V.!«

Auf Sigismunds Gesicht erschien ein abweisender Zug, während Isabelle de Melancourt hinter ihre beiden Begleiterinnen zurücktrat, als wolle sie sich vor Ruppertus’ schweifendem Blick verbergen. Ihre Miene zeigte für einen Augenblick Abscheu, ja sogar Hass. Doch sie hatte sich rasch wieder in der Gewalt und spitzte die Ohren.

Sigismund trat mit einem gezwungenen Lächeln auf Ruppertus zu. »Ihr also seid Janus Suppertur! Ich hatte Euer Kommen später erwartet.«

»Das habe ich bemerkt«, antwortete Ruppertus mit eisiger Stimme, besann sich aber, was er dem Oberhaupt des Reiches schuldig war, und neigte den Kopf, um eine Verbeugung anzudeuten.

Dann kam er auf das Geschehen im Saal zurück. »Euer Majestät, was hatte dies hier zu bedeuten?«

Mit einer ärgerlichen Bewegung nahm Sigismund die schwere Krone ab und setzte sie dem Papstdarsteller kurzerhand auf den Kopf. Dann lachte er hart auf.

»Wenn Ihr es genau wissen wollt: Die Krönungszeremonie ist seit vierhundert Jahren die gleiche, und sie muss, wenn sie gelingen soll, vorher geübt werden. Man wird schließlich nur einmal im Leben Kaiser.«

In der Stimme des Königs schwang deutliche Kritik mit. Papst Martin hatte ihn bereits zu lange mit der Kaiserkrönung hingehalten, und seine Geduld war erschöpft.

Dies spürte Ruppertus sehr genau, doch das, was Sigismund sich am meisten wünschte, nämlich die Einladung nach Rom und das Versprechen der Kaiserkrönung, konnte er ihm nicht überbringen. Daher bemühte er sich vorerst, verbindlich zu sein.

»Eine Kaiserkrönung ist ein feierlicher Akt. Ich verstehe, dass Ihr darauf vorbereitet sein wollt.«

»Ich bin es und hoffe, Martin V. ist es auch!« Sigismund klopfte dem falschen Papst auf die Schulter und wies auf die Reichskleinodien. »Schaff das weg! Wir werden die Zeremonie später noch einmal proben. Jetzt habe ich so einiges mit dem Boten Seiner Heiligkeit zu besprechen.«

Ruppertus’ Blick wurde dunkel, weil er als Bote bezeichnet wurde, und er sah mit wachsendem Ärger zu, wie der Papstdarsteller die Reichskleinodien einsammelte und mit ihnen durch eine Seitentür verschwand. Am liebsten hätte er Sigismund über die notwendige Demut belehrt, die auch einem König angemessen war. Schon die Tatsache, dass irgendein Hofnarr den Heiligen Vater in Rom darstellen durfte, überschritt die Grenze der Häresie. Doch leider brauchte Papst Martin den König als Schwertarm gegen die Feinde des Glaubens, und er war gesandt worden, um Sigismund an seine Pflichten zu erinnern.

»Wann werdet Ihr gegen die ketzerischen Hussiten ziehen?«, fragte Ruppertus den König unvermittelt.

Sigismund wies mit einer weit ausholenden Geste auf die Ritter im Saal. »Wie Ihr sehen könnt, habe ich bereits meine Getreuen zusammengerufen. All diese Männer sind bereit, einen Kreuzzug gegen den Ketzer Vyszo und seine Hussiten zu führen und ihnen allen die Schädel einzuschlagen.«

Einen Augenblick lang suchte des Königs Blick Isabelle de Melancourt, die es mittlerweile aufgegeben hatte, sich vor dem Dominikaner verbergen zu wollen.

Nun bemerkte auch Ruppertus die Äbtissin, und ein Ruck ging durch seinen Körper. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt und wandte sich Sigismund zu. »Ich darf Seiner Heiligkeit also berichten, dass der König und seine Truppen mit Freude im Herzen aufbrechen werden, um die heilige Religion gegen Ketzerei und Häresie zu verteidigen.«

»Die Freude meiner Ritter und Soldaten wäre noch größer, wenn sie einem Kaiser anstelle des Königs in die Schlacht folgen dürften!« Sigismund klang fordernd. Wenn er schon gegen die Ketzer zog, wollte er dafür belohnt werden.

Ruppertus war jedoch nicht befugt, auf die Wünsche des Königs Rücksicht zu nehmen, und bedachte Sigismund mit einem tadelnden Blick.

»Seine Heiligkeit Papst Martin glaubt, das Symbol der Kaiserkrone werde noch strahlender auf der Stirn eines Herrschers leuchten, wenn dieser bereits bewiesen hat, dass er die Feinde des Glaubens niederwerfen und das Reich befrieden kann.«

Die Abfuhr war deutlich. Das Gesicht des Königs färbte sich dunkel, doch bevor er auffahren konnte, sah er, dass Isabelle de Melancourt ihm ein Zeichen machte, Ruhe zu bewahren. So antwortete er verbindlicher, als es seinem Gefühl entsprach. Seine Stimme aber klang wie die eines kleinen Jungen, dem man ein begehrtes Spielzeug verwehrt hatte.

»Soll das heißen, Seine Heiligkeit will warten, bis ich die böhmischen Ketzer abgeschlachtet habe, bevor er mich zum Kaiser krönt?«

»So könnte man es sagen. Majestät, die Zeit drängt! Dem Heiligen Römischen Reich droht die Abspaltung der böhmischen Lande, die dann in Häresie versinken werden. Das darf ein künftiger Kaiser niemals zulassen.«

Ruppertus sah bei diesen Worten nicht den König an, sondern Isabelle de Melancourt. Seine Worte, ja seine ganze Haltung waren als Warnung zu begreifen, sich ihm nicht in den Weg zu stellen. Schließlich war er hier im Namen des Papstes, der auch über sie und ihren kleinen Nonnenorden gebot. Er brauchte nur ein paar Worte über ihre Schwäche im Glauben zu verlieren, und sie würde als Beschuldigte vor einem Inquisitionstribunal stehen.

Einen Augenblick lang fragte Ruppertus sich, ob er sie nicht tatsächlich anklagen sollte. Aber wenn es stimmte, was er von dieser nicht sehr frommen Äbtissin gehört hatte, wärmte die Frau gerade Sigismund das Bett. Daher hielt er es für klüger, erst einmal abzuwarten, bis sich die Leidenschaft des Königs für die Melancourt abgekühlt hatte, um sie danach erst zu vernichten.

Während Ruppertus seinen für Äbtissin Isabelle gefährlichen Gedanken nachhing, wandte Sigismund sich an einen Edelmann, der in Michel Adlers Nähe stand.

»Dann werden Wir eben gegen diese elenden böhmischen Ketzer ziehen! Vetter Hettenheim, Ihr sammelt Unsere Truppen in Franken. Auf diese Weise erfüllen Wir den Auftrag Seiner Heiligkeit in Rom und hoffen, dass er es nicht vergisst.«

Allen im Saal war bewusst, dass Sigismund auf die Kaiserkrone anspielte, auf die er nicht mehr lange warten wollte.

Zwar hatte Michel zuerst ein wenig über die gespielte Kaiserkrönung gelächelt. Nun aber empfand er den Auftritt des Inquisitors als anmaßend. Um zu zeigen, dass immer noch Sigismund im Reich befahl und nicht der Papst in Rom, zog er sein Schwert und reckte es in die Höhe.

»Für Gott, das Reich und den Kaiser!«

Sofort rissen auch die anderen Ritter die Schwerter aus den Scheiden und jubelten Sigismund zu.

»Für den Kaiser!«, hallte es machtvoll durch den Saal und zeigte deutlich, dass die Ritter auf Seiten des Königs standen und nicht ewig darauf warten wollten, bis der Papst sich dazu herabließ, Sigismund zu krönen.

Ruppertus achtete nicht auf die Jubelnden, sondern starrte Michel mit einem Gefühl an, als raste Feuer durch seine Adern. Zwar war sein Gegenüber älter geworden und wirkte in seiner Rüstung wie ein Edelmann. Dennoch erkannte er den Wirtsschwengel, der Marie geholfen hatte, ihn zu vernichten, und der als Lohn ihre Hand und ihren Leib bekommen hatte.

»Nein, ich bin nicht vernichtet! Ich bin zurückgekommen – und bin stärker als jemals zuvor«, murmelte er unhörbar für andere.