ADAM HOCHSCHILD

DER
GROSSE KRIEG

Der Untergang des alten Europa
im Ersten Weltkrieg
1914 –1918

Aus dem Amerikanischen
von Hainer Kober

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Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»To End all Wars. A Story of Loyalty and Rebellion, 1914–1918« im Verlag Houghton Miffl in Harcourt, New York, 2011

© 2011 by Adam Hochschild

© 2013 by J. G. Cotta’ sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Redaktion: Renate Warttmann, Beuren; Antje Peter, Berlin;

Marion Winter, Esslingen

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Fotos: © gettyimages (Kavallerie) / © CORBIS (Friedensfrauen)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94695-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10580-3

Dieses E-Book beruht auf der 1. Auflage 2013 der Printausgabe

INHALT

Einleitung: Der Zusammenbruch aller Träume

TEIL I  DRAMATIS PERSONAE

1. KAPITEL  Bruder und Schwester

2. KAPITEL  Ein Mann ohne Illusionen

3. KAPITEL  Die Pfarrerstochter

4. KAPITEL  Heilige Krieger

5. KAPITEL  Boy Miner

6. KAPITEL  Am Vorabend

Teil II  1914

7. KAPITEL  Ein sonderbares Licht

8. KAPITEL  Wie Schwimmer auf dem Sprung ins reinigende Bad

9. KAPITEL  … wo der gerechte Gott die Kämpfe überwacht

TEIL III  1915

10. KAPITEL  Das ist kein Krieg

11. KAPITEL  Mittendrin

12. KAPITEL  Not This Tide

Teil IV  1916

13. KAPITEL  Wir bedauern nichts

14. KAPITEL  Allmächtiger, wo ist der Rest der Jungs?

15. KAPITEL  Die Waffen wegwerfen

Teil V  1917

16. KAPITEL  In den Pranken des Löwen

17. KAPITEL  Die Welt ist mein Vaterland

18. KAPITEL  Auf dem Festland ertrinken

19. KAPITEL  Bitte stirb nicht

TEIL VI  1918

20. KAPITEL  Mit dem Rücken zur Wand

21. KAPITEL  Mehr Tote als Lebende

TEIL VII  EXEUNT OMNES

22. KAPITEL  Des Teufels eigene Hand

23. KAPITEL  Ein imaginärer Friedhof

Bildteil

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Dank

Register

Für Tom Engelhardt

Kenner des Britischen Weltreichs

Koryphäe im Buchgeschäft

EINLEITUNG

Der Zusammenbruch aller Träume

Eine frühe Herbstkühle liegt in der Luft, während sich der Spätnachmittag des Augusttags golden auf die hügelige Landschaft Nordfrankreichs senkt. In den Mulden zwischen den sanften Anhöhen sammeln sich schon Schatten. Die Felder sind von den mannshohen, maschinengepressten Ballen der letzten Heuernte übersät. Bullige Traktoren ziehen Anhänger – groß wie Güterwaggons – voller Kartoffeln oder gehäckseltem Futtermais hinter sich her. Auf einer niedrigen Anhöhe beschirmt ein Wäldchen die Zeugen einer anderen, am selben Ort fast 100 Jahre zuvor eingebrachten Ernte. Jeder Grabstein auf dem kleinen Friedhof trägt einen Namen, einen Dienstgrad und eine laufende Nummer; auf 162 Steinen sind Kreuze angebracht, auf einem der Davidstern. Falls bekannt, ist auch das Alter des Mannes in den Stein gemeißelt: 19, 22, 23, 26, 34, 21, 20 Jahre. Auf zehn Gräbern heißt es einfach: A Soldier of the Great War, Known unto God (»Unbekannter Soldat des Ersten Weltkriegs«). Fast alle Gefallenen sind Angehörige des britischen Devonshire-Regiments. Das Datum auf ihren Grabsteinen ist der 1. Juli 1916, der erste Tag der Schlacht an der Somme. Die meisten fielen einem einzelnen deutschen Maschinengewehr, mehrere hundert Meter von dieser Stelle entfernt, zum Opfer und wurden in einem Abschnitt des Schützengrabens beerdigt, aus dem sie am Morgen dieses Tages geklettert waren. Hauptmann Duncan Martin, 30, Kompaniechef und im Zivilleben Kunstmaler, hatte ein Tonmodell des Schlachtfelds angefertigt, auf dem die Briten ihren Angriff planten. So konnte er den anderen Offizieren exakt vorhersagen, wo seine Männer und er selbst unter das Feuer des nahen deutschen Maschinengewehrs geraten würden, sobald sie auf den ungeschützten Abhang des Hügels gelangten. Auch er ist hier begraben, einer von rund 21 000 britischen Soldaten, die an diesem Tag fielen oder tödliche Verwundungen erlitten – dem blutigsten Tag der britischen Militärgeschichte, davor und danach.

Auf einer Steintafel neben den Gräbern stehen die Worte, die Überlebende des Regiments in ein Holzschild schnitzten, als sie ihre Toten begruben:

Die Devonshires hielten diesen Graben

Die Devonshires halten ihn noch immer

Die Kommentare im Gästebuch des Friedhofs stammen fast alle aus England: Bournemouth, London, Hampshire, Devon. »Haben Dreien aus unserer Stadt die letzte Ehre erwiesen.« »Lasst euch nicht stören in eurem Schlaf.« »Auf dass wir nie vergessen.« »Danke, Jungs.« »Danke, Großonkel, ruhe in Frieden.« Warum bekomme ich einen Kloß im Hals, wenn ich Wörter wie Schlaf, Ruhe, Opfer lese, obwohl mich doch die Überzeugung hierher geführt hat, dieser Krieg sei überflüssig und töricht, ja wahnwitzig gewesen? Ein einziger Besucher schlägt einen anderen Ton an: »Nie wieder.« Auf einigen Seiten wurde die Tinte, mit denen die Namen und Bemerkungen der Besucher geschrieben sind, von Regentropfen verwischt – oder waren es Tränen?

Allein im Bereich der Somme-Schlacht, einem sichelförmigen Gebiet von gut 30 Kilometer Durchmesser, liegen die Gefallenen des Britischen Weltreichs auf 400 Friedhöfen. Doch der Krieg hat das Land nicht nur mit seinen Gräbern gezeichnet. An manchen Stellen hat man ein Stück Land, das von Tausenden Granattrichtern aufgerissen ist, sich selbst überlassen; jahrzehntelange Erosion hat die Narben zwar rund geschliffen, doch was einst ein flaches Feld war, gleicht heute einer Landschaft aus kleinen, grasüberwucherten Sanddünen. Auf den Feldern und Äckern, die wieder geglättet wurden, wie rund um den Friedhof der Devonshires, sind unter den Sitzen einiger Traktoren Panzerplatten angebracht, weil Erntemaschinen nicht zwischen Kartoffeln, Zuckerrüben und scharfen Granaten unterscheiden können. Mehr als 700 Millionen Artillerie- und Mörsergranaten wurden zwischen 1914 und 1918 an der Westfront abgefeuert, von denen geschätzte 15 Prozent nicht explodierten. Jahr für Jahr töten diese Blindgänger Menschen – so 36 allein im Jahr 1991, als Frankreich das Gleisbett für eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke aushob. Die ganze Region ist übersät von ungeräumten Wald- und Buschflächen, umgeben von gelben Warnschildern, die Wanderern in französischer und englischer Sprache den Zutritt verbieten. Der französische Staat setzt Mannschaften von démineurs ein, mobile Entschärfungsteams, die anrücken, wenn Landwirte Granaten entdecken; 900 Tonnen nicht explodierte Munitionskörper werden jedes Jahr eingesammelt und vernichtet. Mindestens 630 französische démineurs sind seit 1946 bei Ausübung ihrer Tätigkeit ums Leben gekommen. Wie diese Granaten ragt auch der Erste Weltkrieg noch in unser Leben hinein, und das dicht unter der Oberfläche, denn wir leben heute in einer Welt, die in hohem Maße von diesem Krieg und der durch ihn geschaffenen industrialisierten und totalen Kriegsführung geprägt ist.

Obwohl ich lange nach Kriegsende geboren wurde, schien der Krieg in unserer Familie stets gegenwärtig zu sein. Meine Mutter erzählte mir, wie schrankenlos die Begeisterung der Massen bei den Militärparaden war, als die Vereinigten Staaten sich – endlich – den Alliierten anschlossen. Ein Vetter ersten Grades, den sie sehr liebte, marschierte unter dem Jubel der Menge ins Feld, wo er in den letzten Kriegswochen fiel; nie verwand sie den Schock und die Ernüchterung. Kein Familienmitglied fand es absurd, dass zwei Verwandte meines Vaters im Ersten Weltkrieg auf gegnerischen Seiten gekämpft hatten, der eine in der französischen Armee, der andere in der deutschen. Wenn das Vaterland rief, marschierte man.

Die Schwester meines Vaters heiratete einen Mann, der in diesem Krieg auf russischer Seite gekämpft hatte, 1 und wir verdankten die Tatsache, dass er ein Teil unseres Lebens war, kriegsbedingten Ereignissen: der russischen Oktoberrevolution und dem erbitterten Bürgerkrieg, der folgte – an dessen Ende er, weil er sich auf der Verliererseite befand, nach Amerika floh. Im Sommer teilten wir uns ein Ferienhaus mit der Tante und dem Onkel, der regelmäßig von seinen Freunden besucht wurde, viele ebenfalls Teilnehmer des Kriegs 1914 /18. Noch weiß ich genau, wie ich als kleiner Junge neben einem von ihnen stand – wir hatten alle Badezeug an und wollten gerade ins Wasser; ich schaute hinunter und erblickte den Fuß dieses Mannes: Irgendwo an der Ostfront waren ihm von einer deutschen Maschinengewehrkugel alle Zehen abrasiert worden.

Der Krieg lebte auch fort in den bebilderten Abenteuergeschichten, die mir meine britischen Vettern zu Weihnachten schickten. Tapfer trotzte Jung Tim oder Tom oder Trevor, obwohl fast noch halbwüchsig und vom Obersten als nicht alt genug für den Kampf erklärt, den umherfliegenden Granatsplittern, um eben jenen Obersten, nunmehr verwundet, in Sicherheit zu bringen, nachdem das Regiment unter dem Klang der Dudelsäcke over the top gegangen, das heißt, aus den Schützengräben geklettert und ins Niemandsland vorgestoßen war. In späteren Episoden fand er immer eine Möglichkeit – als Spion, Flieger oder auch nur kraft seiner Kühnheit –, sich dem Stillstand des Grabenkriegs zu entziehen.

Als ich älter wurde und erste Geschichtskenntnisse erwarb, begriff ich, dass eben dieser Stillstand seine eigene Faszination hatte. Mehr als drei Jahre lang waren die Armeen an der Westfront praktisch zur Bewegungsunfähigkeit verurteilt, bis zu 12 Meter tief verschanzt in Schützengräben und Unterständen, aus denen sie in regelmäßigen Intervallen zu schrecklichen Kämpfen auftauchten, um bestenfalls einige wenige Kilometer schlammiges, von Granattrichtern übersätes Gelände zu gewinnen. Die Zerstörungsgewalt dieser Schlachten übersteigt noch heute unser Vorstellungsvermögen. Neben den Gefallenen gab es am ersten Tag der Somme-Offensive 36 000 verwundete britische Soldaten. Das Ausmaß dieses Blutbads übertraf alles, was Europa bis dahin erlebt hatte: So fielen im Verlauf der nächsten viereinhalb Jahre mehr als 35 Prozent aller deutschen Männer, die bei Ausbruch des Kriegs zwischen 19 und 22 Jahre alt waren, und viele weitere wurden schwer verwundet. 2 Frankreich zahlte anteilig einen noch höheren Preis: Die Hälfte aller männlichen Franzosen, die bei Kriegsausbruch zwischen 20 und 32 waren, erlebte das Kriegsende nicht. »Der Große Krieg von 1914 bis 1918 hat sich wie ein breiter Streifen verbrannter Erde zwischen uns und die Zeit davor geschoben«, schreibt die Historikerin Barbara Tuchman. 3 Britische Steinmetze waren in Belgien noch damit beschäftigt, die Namen der im Krieg vermissten Soldaten in Ehrenmale zu meißeln, als die Deutschen, kaum 25 Jahre später, im Zuge des nächsten Kriegs in das Land einmarschierten. Städte und Dörfer auf dem Weg der Armeen lagen zerklüftet in Trümmern, Wälder und Bauernhöfe waren in verkohlte Gerippe verwandelt. »Das ist kein Krieg«, schrieb ein Soldat der britisch-indischen Truppen aus Europa nach Hause, »das ist der Untergang der Welt.« 4

In den heutigen Konflikten sind wir daran gewöhnt, dass die Armen einen überproportionalen Anteil des Sterbens übernehmen – ganz gleich, ob es sich bei den Gefallenen um Kindersoldaten in Afrika oder wie im Irak oder in Afghanistan um Kleinstadtamerikaner aus der Arbeiterklasse handelt. Zwischen 1914 und 1918 dagegen erwies sich der Krieg in allen beteiligten Staaten als ungeheuer tödlich für ihre herrschenden Klassen. Auf beiden Seiten wurden Offiziere – nicht selten aus den höchsten Schichten – weit häufiger getötet als die Männer, die sie über die Brustwehren der Schützengräben ins MG-Feuer führten. So fielen rund 12 Prozent aller an dem Krieg beteiligten britischen Soldaten, während es bei Peers oder den Söhnen von Peers 19 Prozent waren. Von den Männern, die 1913 ihr Studium in Oxford abschlossen, fielen 31 Prozent. Der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg verlor seinen ältesten Sohn; ebenso erging es dem britischen Premierminister Herbert Asquith. Bei Andrew Bonar Law, einem künftigen britischen Premier, waren es zwei Söhne, desgleichen beim Viscount Rothermere, Zeitungsmagnat und während des Kriegs Luftfahrtminister. General Erich Ludendorff, in diesem Krieg der wichtigste Kommandeur auf deutscher Seite, verlor zwei Stiefsöhne – den verwesenden Leichnam des einen, der aus einem Kriegsgrab exhumiert worden war, musste er persönlich identifizieren. Herbert Lawrence, britischer Generalstabschef an der Westfront, verlor zwei Söhne; Noël de Castelnau, auf demselben Posten in der französischen Armee, verlor drei. Der Enkel eines der reichsten Männer Englands, des Duke of Westminster, erhielt einen tödlichen Kopfschuss, drei Tage nachdem er an seine Mutter geschrieben hatte: »Schick mir Socken und Schokolade, die beiden absolut lebensnotwendigen Dinge hier.« 5

Dass uns gerade dieser Krieg so fasziniert, liegt zum Teil an der Art, wie er diese selbstsichere, strahlende Welt zerschmetterte – das Europa der Husaren und Dragoner mit ihren federgeschmückten Helmen und der huldvoll winkenden Kaiser in ihren offenen Kutschen. Bei dem Dichter und Kriegsteilnehmer Edmund Blunden heißt es in der Beschreibung des ersten, tödlichen Tags der Schlacht an der Somme: Keine Seite »hatte den Krieg gewonnen noch konnte ihn gewinnen. Der Krieg hat gewonnen.« 6 Unter dem Druck des nicht enden wollenden Blutvergießens zerfielen zwei Reiche, die Donaumonarchie und das Osmanische Reich, verlor der deutsche Kaiser seinen Thron und der russische Zar einschließlich seiner fotogenen Familie – der Sohn im Matrosenanzug, die Töchter in weißen Kleidchen – das Leben. Sogar die Sieger waren Verlierer: Großbritannien und Frankreich hatten zusammen mehr als 2 Millionen Tote zu beklagen und waren am Ende des Kriegs hochverschuldet; Proteste heimkehrender Kolonialsoldaten lösten den langen Zusammenbruch des Britischen Weltreichs aus, und ein großer Teil Nordfrankreichs wurde in Schutt und Asche gelegt. Der viereinhalb Jahre währende Sturm der Zerstörung verdüsterte unsere Weltsicht auf immer. »Menschheit? Kann irgendjemand an die Vernunft der Menschheit glauben nach dem letzten Krieg«, fragte der russische Dichter Alexander Blok ein paar Jahre später, »angesichts neuer, unvermeidlicher und noch schrecklicherer Kriege, die uns bevorstehen?« 7

Und die standen bevor. »Es kann nicht sein, dass zwei Millionen Deutsche umsonst gefallen sind«, schäumte Hitler keine vier Jahre nach Ende des Kriegs, »… Nein, wir verzeihen nicht, sondern fordern – Vergeltung!« 8 Deutschlands Niederlage und die Rachsucht der siegreichen Alliierten bei den anschließenden Friedensregelungen stellten unwiderruflich die Weichen für den Nationalsozialismus und einen noch verheerenderen Krieg 20 Jahre später – sogar den Holocaust. Natürlich löste der Erste Weltkrieg auch die russische Revolution aus und brachte ein Regime an die Macht, das mit seinen Erschießungskommandos und dem Gulag, einem Netz arktischer und sibirischer Straflager, die Menschen in Friedenszeiten mit Tod und Terror in einem kaum je dagewesenen Ausmaß heimsuchte.

Wie der Freund meines Onkels mit dem Fuß ohne Zehen lebten viele Kriegsversehrte noch viele Jahre. In den sechziger Jahren besuchte ich einmal in Nordfrankreich eine staatliche psychiatrische Anstalt – einen festungsartigen Natursteinbau –, wo einige ältere Männer mit leeren Gesichtern wie Statuen auf Bänken im Hof saßen – Opfer des »Schützengrabenschocks«, der Kriegsneurose. Jahrzehntelang füllten Kriegsveteranen solche Einrichtungen, weil sie an Leib und Seele verkrüppelt waren. Die Schatten des Kriegs erreichten auch Menschen, die erst nach seinem Ende geboren wurden – die Kinder der Überlebenden. Ich habe einmal den 1926 in London geborenen britischen Schriftsteller John Berger interviewt, der mir berichtete, er habe manchmal das Gefühl, »als wäre ich 1917 bei Ypern an der Westfront geboren worden. Die erste echte Erinnerung an meinen Vater ist, dass er mitten in der Nacht schreiend aufwacht, weil er einen seiner ständig wiederkehrenden Kriegs-Alpträume hat.«

Warum fesselt uns dieser längst vergangene Krieg noch immer? Ein Grund ist sicherlich der starke Kontrast zwischen dem, wofür die Menschen zu kämpfen glaubten, und der zertrümmerten, verbitterten Welt, die sie tatsächlich schufen. Auf beiden Seiten meinten die Teilnehmer, sie hätten gute Gründe, in den Krieg zu ziehen, und auf alliierter Seite waren die Gründe auch gut. Schließlich war Deutschland ohne jede Rechtfertigung in Frankreich einmarschiert und auch in Belgien eingefallen – trotz eines Vertrags, der Belgiens Neutralität garantierte. Die Menschen in anderen Ländern, wie etwa Großbritannien, hielten es verständlicherweise für eine ehrenwerte Sache, den Opfern dieser Invasion zu Hilfe zu kommen. Hatten im Übrigen Frankreich und Belgien nicht das Recht, sich zu verteidigen? Selbst wer heute den amerikanischen Kriegen in Vietnam oder im Irak ablehnend gegenübersteht, beeilt sich häufig hinzuzufügen, dass er sein Land im Falle eines Angriffs verteidigen würde. Trotzdem fragt sich, ob die Regierenden einer der europäischen Großmächte, hätten sie in die Zukunft schauen und die Folgen des Konflikts in ihrer ganzen Tragweite überblicken können, ihre Soldaten 1914 so bereitwillig in die Schlacht geschickt hätten?

Was Kaiser, Könige und Ministerpräsidenten offenbar nicht ahnten, war vielen unauffälligen Bürgern klar. Von Anfang an erkannten Zehntausende Menschen den Krieg als das, was er war: eine Katastrophe. Sie glaubten nicht, dass er den unvermeidlichen Blutzoll lohne; mit tragischer Klarheit sahen sie voraus, dass dieser Alptraum Europa verschlingen werde, und sie erhoben ihre Stimme. Mehr noch, sie taten es zu einer Zeit, als dazu großer Mut erforderlich war, denn glühender Nationalismus und eine häufig in Gewalt umschlagende Verachtung beherrschten die Gemüter. Eine Handvoll deutscher Parlamentarier sprach sich tapfer gegen die Kriegsanleihen aus, und später kamen Radikale wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ins Gefängnis – genauso wie der amerikanische Sozialistenführer Eugene V. Debs. Doch vor allem in Großbritannien – mehr als in anderen Ländern – gab es eine große Zahl von unerschrockenen Kriegsgegnern, die ihre Überzeugungen kundtaten, nach ihnen handelten und einen hohen Preis dafür zahlten. Bei Kriegsende hatten mehr als 20 000 britische Männer im wehrfähigen Alter den Kriegsdienst verweigert. 9 Viele lehnten auch einen zivilen Ersatzdienst ab. Mehr als 6000 wurden zu Haftstrafen unter härtesten Bedingungen verurteilt: Schwerstarbeit, karge Kost und ein strenges »Schweigegebot«, das ihnen sogar Gespräche unter Mitgefangenen untersagte.

Bevor offenkundig wurde, wie viele Briten sich weigerten, in den Krieg zu ziehen, wurden 50 frühe Verweigerer zwangsweise eingezogen und in Handschellen über den Ärmelkanal nach Frankreich geschafft. Wenige Wochen vor dem berüchtigten Tag an der Somme kam es in einem Lager der britischen Armee knapp 100 Kilometer von dort entfernt, in Hörweite des Kanonendonners der Front, zu einem wenig bekannten Zwischenfall. Man teilte diesen Kriegsgegnern mit, sie würden, wenn sie bei ihrer Befehlsverweigerung blieben, zum Tode verurteilt. In einem Akt großen kollektiven Mutes, der es verdient hätte, im Gedächtnis der Nachwelt fortzuleben, wurde keiner der Männer in seinem Entschluss wankend. Erst in letzter Minute wurde ihr Leben durch verzweifelte Appelle in London gerettet. Obwohl diese Verweigerer und ihre Kameraden nicht die geringste Chance hatten, dem Krieg Einhalt zu gebieten, und obwohl sie in den vielbändigen Standardwerken über den Konflikt keine Erwähnung fanden, bleibt die Unerschütterlichkeit, mit der sie ihrer Überzeugung treu blieben, eine der Ruhmestaten in dunkler Zeit.

Nicht nur Kriegsdienstverweigerer wurden wegen ihres Protestes gegen den Krieg zu Haftstrafen verurteilt, sondern auch ältere Männer – und einige Frauen. Könnten wir eine Zeitreise in britische Gefängnisse zwischen Ende 1917 und Anfang 1918 unternehmen, würden wir dort einigen außergewöhnlichen Menschen begegnen: unter anderem dem bekanntesten investigativen Journalisten des Landes, einem künftigen Nobelpreisträger, mehr als einem halben Dutzend künftigen Parlamentsmitgliedern, einem künftigen Minister und einem ehemaligen Zeitungsredakteur, der für seine Mithäftlinge ein heimliches Tagebuch auf Toilettenpapier führte. Wohl kaum jemals dürfte man eine erlesenere Schar von Menschen in den Gefängnissen eines westlichen Landes angetroffen haben.

Teilweise ist dieses Buch die Geschichte dieser Verweigerer, der Kultur, die solche Menschen hervorbrachte, und des Beispiels, dass sie gegeben haben – wenn nicht ihrer eigenen Epoche, dann vielleicht künftigen Zeiten. Ich wollte, es wäre eine siegreiche Geschichte, aber das ist sie nicht. Im Gegensatz etwa zur Hexenverbrennung, Sklaverei oder Apartheid, die einst als selbstverständlich hingenommen wurden und heute – zumindest offiziell – verboten sind, gehört der Krieg noch zu unserem Leben. Uniformen, Paraden und Militärmusik entfalten noch immer ihren verführerischen Glanz, zu dem sich noch der Reiz der Hightech-Waffen gesellt hat; überall in der Welt träumen Jungen und Männer noch immer genauso von militärischem Ruhm, wie sie es vor 100 Jahren taten. Insofern handelt dieses Buch auch – und vielleicht noch mehr – von denen, die an diesem Krieg teilnahmen, für die sich die magnetische Anziehungskraft des Kampfes oder zumindest die Überzeugung, er sei patriotisch und notwendig, als ungleich stärker erwies als der menschliche Widerwille gegen das Massensterben oder als der Gedanke, dieser Krieg werde, ob gewonnen oder verloren, die Welt zu ihrem Nachteil verändern.

Wo heutige Beobachter möglicherweise nichts als sinnloses Blutvergießen sehen, erkannten die meisten Schlachtenlenker nur Edelmut und Heldentum. »Sturmreihe um Sturmreihe rückten sie vor«, berichtete ein britischer General von seinen Männern an jenem schicksalhaften 1. Juli 1916 an der Somme, wobei er für sich selbst die dritte Person verwendete, wie es der gestelzte Sprachgebrauch offizieller Berichte verlangte, »wie zur Parade gekleidet, und alle Männer hielten dem außerordentlich schweren Sperrfeuer stand und trotzten den Maschinengewehren und Gewehren, von denen sie schließlich ausgelöscht wurden … Er sah die in so bewundernswerter Ordnung vorrückenden Reihen unter dem Feuer dahinschwinden. Doch kein Mann wankte, verließ seinen Platz oder versuchte zurückzuweichen. Noch nie hatte er so ein prachtvolles Schauspiel von Tapferkeit, Disziplin und Entschlossenheit gesehen oder sich auch nur vorstellen können. Die Berichte, die er von den ganz wenigen Überlebenden dieses fabelhaften Angriffs erhielt, bestätigten, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, dass nämlich kaum einer unserer Männer bis zur deutschen Linie vordrang.« 10

Gewöhnlich wird ein Krieg als ein Duell zweier Seiten beschrieben. Ich habe stattdessen versucht, ihn durch die Kämpfe innerhalb eines Staates, innerhalb Großbritanniens, zu begreifen, die Kämpfe zwischen denen, die der festen Überzeugung waren, der Krieg sei es wert geführt zu werden, und denen, die von dem leidenschaftlichen Glauben beseelt waren, er dürfe auf keinen Fall ausbrechen. In gewissem Sinne ist dies eine Geschichte über Loyalitäten. Wem schuldet ein Mensch die größte Loyalität? Seinem Land? Der militärischen Pflicht? Oder dem Ideal internationaler Brüderlichkeit? Und was ist mit der Loyalität innerhalb der Familie, wenn, wie in etlichen hier behandelten Familien geschehen, einige Mitglieder an den Kämpfen teilnehmen, während sich ein Bruder oder eine Schwester, ein Sohn oder eine Tochter für den Protest entscheidet, der in der Öffentlichkeit als feige oder verbrecherisch gilt?

Im Grunde ist es eine Geschichte über unvereinbare Träume. Einige Menschen, von denen ich hier berichte, träumten im Jahr 1914 davon, dieser Krieg werde die nationalen Gefühle und den Zusammenhalt des Empire erneuern, von kurzer Dauer sein und von England mit jenen bewährten Mitteln gewonnen werden, die ihm anscheinend immer zum Sieg verholfen hatten: mit Schneid, Mut und der Kavallerieattacke. Die Kriegsgegner hatten ganz andere Träume: Die Arbeiter Europas würden niemals gegeneinander kämpfen, oder sie würden, sobald der Krieg begonnen habe, seinen Wahnsinn erkennen und sich weigern, ihn fortzusetzen, oder die russische Revolution werde schließlich in ihrer kompromisslosen Ablehnung von Krieg und Ausbeutung zum strahlenden Vorbild aufsteigen, dem sich andere Nationen bald anschließen würden.

Während ich mich mit der Frage auseinandersetzte, warum diese beiden ganz verschiedenen Gruppen in der Ausnahmesituation der Kriegszeit so und nicht anders handelten, wurde mir klar, dass ich ihr Leben in den Jahren vor dem Krieg betrachten musste – als sie sich häufig vor frühere Loyalitätsentscheidungen gestellt sahen. Daher beginnt dieses Buch über den ersten großen Krieg der Moderne nicht im August 1914, sondern etliche Jahrzehnte früher, in einem England, das überhaupt keine Ähnlichkeit hatte mit dem friedlichen, bukolischen Land der edwardianischen Villen und entzückenden Weekendpartys, die uns aus zahllosen Filmen und Fernsehdramen vertraut sind. Einen Teil dieser Zeit widmete es einem anderen Krieg – der eine eigene machtvolle Oppositionsbewegung hervorrief. Zu Hause war es in einen langen, erbitterten Kampf um Mitspracherechte verstrickt, einen Konflikt, in dessen Verlauf es zu gewaltigen Demonstrationen, etlichen Toten und Massenverhaftungen kam und in dem mehr Eigentum vorsätzlich zerstört wurde als über weite Strecken des Jahrhunderts zuvor.

Dies ist keineswegs eine umfassende Geschichte der Epoche unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg oder des Kriegs selbst, denn ich habe viele bekannte Schlachten, Episoden und wichtige Persönlichkeiten weggelassen. Auch handelt es nicht von Personen, die gewöhnlich als Gruppen betrachtet werden wie die War Poets oder die Bloomsbury Group; meist habe ich so bekannte Persönlichkeiten übergangen. Einige, deren Schicksal ich hier schildere, zerstritten sich, obwohl einst eng befreundet, so erbittert über den Krieg, dass sie nicht mehr miteinander sprachen. Würden sie noch leben, wären sie entsetzt, sich Seite an Seite im selben Buch anzutreffen. Doch jeder von ihnen war mit einem oder mehreren der anderen durch Bande der Familie, Freundschaft oder Feindschaft verknüpft, durch gemeinsame Überzeugungen und, in einigen Fällen, durch verbotene Liebe. Und sie alle waren Bürger eines Lands, das in eine Katastrophe taumelte, in der am Ende das Trauma des Krieges alles andere überlagerte.

Die Männer und Frauen, von denen hier die Rede sein wird, stehen exemplarisch für die verschiedenen Entscheidungen, die von den Menschen getroffen wurden, als die Welt in Flammen stand. Unter ihnen sind Generäle, Arbeiterführer, Feministinnen, Agents provocateurs, ein zum Propagandisten gewandelter Schriftsteller, ein zum Revolutionär gewandelter Zirkusdompteur, ein Minister, ein radikaler Journalist der Arbeiterklasse, drei Soldaten, die im Morgengrauen vor ein Erschießungskommando geführt wurden, und ein junger Idealist aus den englischen Midlands, der, lange nachdem sein Kampf gegen den Krieg vorüber war, von der sowjetischen Geheimpolizei ermordet wurde. Wenn dieses Buch die Schicksale einer Gruppe von miteinander in Beziehung stehenden Menschen in unruhigen Zeiten verfolgt, mag der Eindruck entstehen, es gehöre eher in den Bereich der Belletristik als der traditionellen Geschichtsschreibung. (Tatsächlich diente die Lebensgeschichte einer Frau als Vorlage für einen der besten jüngeren Romane über den Krieg.) Doch das alles ist tatsächlich so und nicht anders geschehen. Denn die Geschichte bietet uns, von Nahem betrachtet, stets Menschen, Ereignisse und moralische Versuchsfelder, wie sie sonst nur von den bedeutendsten Schriftstellern erdacht werden können.

TEIL I

DRAMATIS PERSONAE

1. KAPITEL

Bruder und Schwester

Einen solchen Aufmarsch hatte die Stadt noch nie erlebt. 50 000 glanzvoll uniformierte Soldaten kamen in zwei großen Kolonnen an der St.-Paul’s Cathedral zusammen. Eine wurde von dem liebenswürdigen Feldmarschall Lord Roberts of Kandahar geführt, dem beliebtesten Kriegshelden des Landes, der, knapp eins sechzig groß, auf einem weißen Vollblut saß, ähnlich denen, die er mehr als 40 Jahre lang geritten hatte, während er ein buntes Völkergemisch von Afghanen, Indern und Burmesen niedermachte, die die Frechheit besessen hatten, sich gegen die britische Herrschaft aufzulehnen. An der Spitze der anderen Kolonne befand sich Captain Oswald Ames von den Life Guards, mit zwei Metern drei der größte Mann des Heeres. Der traditionelle Brustharnisch seines Regiments glitzerte im Sonnenlicht, als könne er feindliche Lanzen allein durch seinen blendenden Glanz ablenken. Der Silberhelm mit langem Rosshaarbusch ließ Ames noch größer erscheinen.

An diesem 22. Juni 1897 hatte London allein für den Straßenschmuck 250 000 Pfund ausgegeben – nach heutiger Kaufkraft mehr als 30 Millionen Dollar. Über den marschierenden Truppen flatterten Union Jacks von allen Gebäuden, die Balkone waren mit Fähnchen und Girlanden geschmückt und an den Laternenpfählen hingen Blumenkörbe. Aus dem gesamten Britischen Weltreich kamen Infanteristen und die Elitetruppen der Kavallerie: New South Wales Lancers aus Australien, Trinidad Light Horse, Cape Mounted Rifles aus Südafrika, kanadische Husaren, Zaptich-Reiter mit quastenversehenem Fes aus Zypern und bärtige Lanzierer aus dem Pandschab. Dächer, Balkone und eigens zu diesem Anlass errichtete Tribünen waren schwarz von Menschen. Ein Triumphbogen in der Nähe der Paddington Station trug die Inschrift »Unsere Herzen – ihr Thron«. Auf der Bank von England stand zu lesen: »Sie errang ihres Volkes ewiges Wohl.« Würdenträger füllten die Kutschen, die über die Paradestrecke rollten – der Apostolische Nuntius teilte sich ein Gefährt mit dem Botschafter des Kaisers von China – aber die tosenden Hochrufe blieben der offenen königlichen Kutsche vorbehalten, die von acht falbfarbenen Pferden gezogen wurde. Königin Viktoria, unter einem Sonnenschirm aus schwarzer Spitze in die Menge nickend, feierte den 60. Jahrestag ihrer Thronbesteigung. Ihr schwarzes Moirékleid war mit silbernen Rosen, Disteln und Kleeblättern bestickt – den Symbolen der vereinigten Länder zur Glanzzeit des Britischen Weltreichs: England, Schottland und Irland.

Patriotisch suchte sich die Sonne eine Lücke am wolkenverhangenen Himmel, kurz nachdem die Kutsche der Königin Buckingham Palace verlassen hatte. Die korpulente Monarchin, deren rundes, nüchternes Gesicht offenbar von keinem Maler oder Fotografen je bei einem Lächeln ertappt wurde, herrschte über das größte Reich, das die Welt je gesehen hatte. Ein Textilfabrikant warb mit einem »Spitzenhemd für das diamantene Thronjubiläum«, Dichter schrieben Jubiläumsoden und Sir Arthur Sullivan vom Künstlerduo Gilbert und Sullivan komponierte eine Jubiläumshymne. »Seit wie vielen Millionen Jahren steht die Sonne am Himmel?«, fragte die Daily Mail. »Doch bis zum gestrigen Tag hat sie noch nie auf die Verkörperung von so viel Energie und Macht herabgeblickt.«1

Viktorias Weltregiment war nicht gerade für Bescheidenheit bekannt. »Ich behaupte, dass wir die erste Rasse der Welt sind«, erklärte der spätere Bergbau-Magnat Cecil Rhodes, als er noch Studienanfänger in Oxford war, »und dass es für die Menschheit umso besser ist, je größer der Teil der Welt, den wir bewohnen.« 2 Mit beiden Auffassungen stand er schwerlich allein da. Später fuhr er fort: »Ich würde die Planeten annektieren, wenn ich könnte.« Noch wehte zwar über keinem anderen Planeten der Union Jack, aber das britische Staatsgebiet umfasste fast ein Viertel der Erde. Gewiss, ein Teil dieses Territoriums war unfruchtbare Tundra, die zu Kanada gehörte, einem praktisch unabhängigen Land. Doch die meisten Kanadier – ausgenommen die meisten französischsprachigen und indianischen Bewohner des Landes – betrachteten sich an diesem glanzvollen Tag voller Stolz als Untertanen ihrer Majestät, und Wilfrid Laurier, der frankophone Premierminister Kanadas, war zur Feier des diamantenen Thronjubiläums nach England angereist, wofür er im Gegenzug die Ritterwürde erhielt. Wenn sich auch einige der optimistisch rosa gefärbten Gebiete auf der Weltkarte, wie etwa die Republik Transvaal in Südafrika, keineswegs für britisch hielten, so entließ ihr Präsident Paul Kruger doch zu Ehren der Jubilarin zwei Engländer aus dem Gefängnis. In Indien trug der Nizam von Haiderabad, der sich ebenfalls nicht als Untertan der britischen Krone betrachtete, dem Ereignis Rechnung, indem er jedem zehnten Strafgefangenen in seinen Gefängnissen die Freiheit schenkte. Kanonenboote im Hafen von Kapstadt feuerten Salutschüsse, in Rangun wurde ein Ball gegeben, in Australien teilte man Extrarationen Lebensmittel und Kleidung an die Aborigines aus und auf Sansibar lud der Sultan zu einem Jubiläumsbankett.

Bei diesem Anlass vergaben sogar die Ausländer den Briten ihre Sünden. In Paris verkündete Le Figaro, selbst die Größe des kaiserlichen Roms werde von Viktorias Empire »erreicht, wenn nicht sogar übertroffen«; auf der anderen Seite des Atlantiks beanspruchte die New York Times praktisch eine Mitgliedschaft im Empire: »Wir sind ein Teil, ein großer Teil von Greater Britain, das so offenkundig dazu bestimmt ist, diesen Planeten zu beherrschen.« 3 Zu Ehren der Queen wurde im kalifornischen Santa Monica ein Sportfest veranstaltet, während ein Truppenkontingent der Vermont National Guard die Grenze zu Kanada überquerte, um an einer Jubiläumsparade in Montreal teilzunehmen.

Viktoria war von diesen Beweisen der Zuneigung und Loyalität so überwältigt, dass an diesem Tag mehr als einmal Tränenspuren auf ihrem sonst so ungerührten Gesicht zu bemerken waren. In den Überseekabeln war der gesamte Telegraphenverkehr eingestellt worden, bis die Königin, bevor sie den Buckingham Palace für die Parade verließ, auf einen mit dem Central Telegraph Office verbundenen Knopf drückte. Von dort aus ging – während die bunte Schar der Ulanen, Husaren, Kamelreiter, turbangeschmückten Sikhs, der Borneo Dyak Police und Royal Nigerian Constabulary durch die Stadt paradierte – ihre Grußbotschaft im Morsealphabet in jeden Teil des Weltreichs, von Barbados bis Ceylon, von Nairobi bis Hongkong: »Von Herzen danke ich meinem Volk. Möge Gott euch segnen.« 4

Die Waffengattung, die während der Parade zum diamantenen Thronjubiläum die lautesten Hochrufe ausbrachte, war es auch, die, wie jeder wusste, den Sieg in Großbritanniens künftigen Kriegen garantierte: die Kavallerie. Auch in Friedenszeiten wusste die herrschende Klasse Großbritanniens, dass ihr angestammter Platz der Pferderücken war. Sie war, wie es ein radikaler Journalist damals formulierte, »eine kleine auserwählte Aristokratie«, die »gestiefelt und gespornt zum Reiten geboren wird« und alle anderen »für eine dumpfe Masse hält, die gesattelt und gezäumt zum Gerittenwerden geboren wird«.5 Die Wohlhabenden züchteten Rennpferde, die High Society strömte in Scharen zu Pferdeauktionen, und etliche Kabinettsmitglieder waren Stewards des Jockey Club. Als ein Pferd von Lord Rosebery, dem Premierminister, 1894 das prestigeträchtige, hochdotierte Epsom Derby gewann, schickte ihm ein Freund ein Telegramm: »Nun bleibt nur noch der Himmel.« 6 Leidenschaftliche Aficionados der Fuchsjagd warfen sich bis zu fünf oder sechs Tage in der Woche in ihre roten Röcke und auf ihre Pferde, um über Felder und Steinmauern hinter kläffenden Meuten herzujagen. Vom Privatkaplan des Duke of Rutland hieß es, er trage Stiefel und Sporen unter seiner Soutane. Pferde und Jagden wurden sogar von Seeleuten bewundert. Wer es sich leisten konnte, ließ sich eine beliebte Tätowierung stechen, auf der Reiter und Hunde, über den ganzen Rücken des Mannes verteilt, hinter einem Fuchs herjagten, der auf die Spalte zwischen den Hinterbacken zulief. Immerhin stellte die Fuchsjagd die größtmögliche zivile Annäherung an die Ruhmestaten der Kavallerieattacke dar.

Für jeden Engländer aus gutem Haus, der sich für eine militärische Laufbahn entschied, war es selbstverständlich, die Kavallerie zu wählen. Allerdings stand sie nicht jedem offen, denn sie war die teuerste Gattung des Heeres. Bis 1871 mussten britische Offiziere ihre Patente kaufen wie die Mitgliedschaft in einem exklusiven Club. (»Grundgütiger Himmel«, soll ein frischgebackener Subalternoffizier gesagt haben, als er auf seinen Bankauszügen eine Einzahlung des Kriegsministeriums entdeckte. »Ich wusste gar nicht, dass wir bezahlt werden.« 7) Nachdem der Erwerb von Offizierspatenten abgeschafft worden war, mochte ein gerade ernannter Infanterie- oder Artillerieleutnant, wenn er einem schlichten Regiment angehörte, von seinen Bezügen leben können, nicht aber ein Kavallerieoffizier. Denn da kam einiges hinzu: die erforderlichen Clubmitgliedschaften, ein persönlicher Diener und ein Stallbursche, Uniformen, Sättel und vor allem der Erwerb und der Unterhalt der eigenen Pferde: ein oder zwei Dienstpferde für die Schlachten, zwei Jagdpferde für die Verfolgung der Füchse und natürlich zwei Poloponys. Ein Privateinkommen von mindestens 500 Pfund – etwa 65 000 Dollar nach heutiger Kaufkraft – war unabdingbar. Und so füllten sich die Reihen der Kavallerieoffiziere mit Männern von den großen Landsitzen.

Ende des 19. Jahrhunderts waren Schwert (Pallasch) und Lanze des Kavalleristen gar nicht so verschieden von den Waffen, die 1415 bei Azincourt geführt wurden; daher war die Kavalleriekriegsführung die vollkommene Verkörperung der Idee, dass in der Schlacht nicht die Waffe entscheide, sondern der Mut und die Geschicklichkeit des Kriegers. Obwohl die Kavallerie nur einen geringen Prozentsatz der britischen Streitkräfte stellte, sorgte ihr Prestige dafür, dass Kavallerieoffiziere einen überproportionalen Anteil an höheren Posten in der Armee bekleideten. So kam es, dass von 1914 bis 1918, ganze 500 Jahre nach Azincourt und in einem Kampf, der sich unvorstellbar gewandelt hatte, zwei Kavalleristen nacheinander als Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte an der Westfront eingesetzt wurden – und das im tödlichsten Krieg, den das Land je erlebte.

Die militärische Laufbahn des einen begann 1874, also 40 Jahre zuvor, als er es mit 21 Jahren, nachdem er seine Beziehungen hatte spielen lassen, zum Leutnant im 19th Regiment of Hussars gebracht hatte. John French wurde auf dem Familiensitz im ländlichen Kent geboren; sein Vater, dessen Familie ursprünglich aus Irland stammte, war Marineoffizier im Ruhestand. French mochte mit seiner geringen Körpergröße nicht unbedingt dem Idealbild des schneidigen Kavalleristen entsprechen, doch besaß er andere Eigenschaften – ein fröhliches Lächeln, schwarze Haare, einen dichten, schwarzen Schnurrbart und blaue Augen –, die auf Frauen unwiderstehlich wirkten. Seine Briefe zeugten von großer Herzenswärme; einem General a. D., der ein wenig Aufmunterung brauchte, schrieb French: »Sie genießen die aufrichtige Zuneigung eines jeden wahren Soldaten, der jemals unter Ihnen gedient hat, und jeder von ihnen würde morgen für Sie an jeden beliebigen Ort der Welt gehen. Meinen großartigen Kameraden und Freunden habe ich stets gesagt, am liebsten würde ich sterben, indem ich, unter Ihnen dienend, die tödliche Kugel empfange.« 8 Schwierigkeiten bereitete es French indessen, sein Geld zusammenzuhalten – keine lässliche Schwäche angesichts der enormen finanziellen Verpflichtungen eines Kavallerieoffiziers. Er gab horrende Summen für Pferde, Frauen und riskante Investitionen aus, machte Schulden und bat andere um Hilfe. Beim ersten Mal half ihm ein Schwager aus der Patsche; wenig später pumpte er mehrere Verwandte und Freunde an.

Offiziere der 19th Royal Hussars trugen schwarze Hosen mit doppeltem goldenen Seitenstreifen und lederverbrämte rote Mützen mit goldenem Abzeichen. Von April bis September exerzierten sie an den Wochentagen, um sonntags geschlossen zur Kirche zu marschieren, in Galauniform mit klirrenden Sporen und Säbelgehängen und schwarzen Lederstiefeln, die nach Pferdeschweiß rochen. Den Herbst und den Winter verbrachten French und seine Offizierskameraden großenteils auf den heimischen Landsitzen und vergnügten sich mit einer endlosen Folge von Jagden, Hindernisrennen und Polospielen.

Wie viele Offiziere in dieser Zeit vergötterte French Napoleon als den größten General aller Zeiten, kaufte sich Napoleon-Devotionalien, wenn er flüssig war, und hatte eine Büste des Kaisers auf seinem Schreibtisch stehen. Er las militärgeschichtliche Bücher, Jagdgeschichten und die Romane von Charles Dickens, aus denen er lange Abschnitte auswendig lernte. Wenn später jemand einen Satz zitierte, den er irgendwo in Dickens’ Werken gelesen hatte, konnte French den Absatz nicht selten aus dem Gedächtnis beenden.

Bald nach Frenchs Eintritt in das Regiment wurden die 19th Hussars in das ewig von Unruhen geplagte Irland entsandt. Die meisten Iren glaubten in einer ausgebeuteten Kolonie zu leben. Stets wiederkehrende Wellen von Nationalismus wurden durch die Spannung zwischen den verarmten katholischen Pachtbauern und den wohlhabenden protestantischen Großgrundbesitzern geschürt. Bei einem dieser Konflikte wurden Frenchs Truppen gerufen – natürlich von den Großgrundbesitzern. Ein erboster irischer Landarbeiter lief auf French zu und durchtrennte die Achillessehnen seines Pferdes mit einer Sichel.

Schon bald wurde der wohlgelittene French zum Hauptmann befördert. Eine unbedachte frühe Heirat fand ein rasches Ende und wurde später aus seiner offiziellen Biographie gestrichen, weil die viktorianische Gesellschaft Scheidungen aufs schärfste missbilligte. Wir sind auf Vermutungen angewiesen. Mit 28 Jahren heiratete French erneut, diesmal in prachtvollem Rahmen. Eleanora Selby-Lowndes war die Tochter eines jagdbesessenen Landedelmanns, die ideale Gefährtin für einen allseits beliebten Kavallerieoffizier mit besten Aussichten. Er schien seine frischvermählte Ehefrau aufrichtig zu mögen, obwohl ihn das nicht davon abhalten sollte, sich von einer Affäre in die nächste zu stürzen.

Sportlichen Tugenden wurden in der Armee, in der French die Karriereleiter erklomm, höchste militärische Bedeutung beigemessen. Ein Offizier dieser Zeit hinterließ seinem Regiment testamentarisch über 70 000 Pfund, unter anderem um den »Männersport« zu fördern. 9 Einige Regimenter hielten eigene Meuten, damit die Offiziere sich für die Fuchsjagd nicht einen Tag freizunehmen brauchten. In einem Buch aus dieser Zeit Modern Warfare von Frederick Guggisberg, einem späteren Brigadegeneral – wurde der Krieg mit Rugby verglichen: »Eine Armee versucht, in der Schlacht zusammenzuarbeiten … ganz so wie eine Rugbymannschaft zusammenspielt  Die Armee kämpft für das Wohl ihres Vaterlandes, wie die Mannschaft für die Ehre ihrer Schule spielt. Regimenter stehen einander bei, wie es die Spieler tun, wenn sie den Ball von einem zum anderen passen; todesmutige Angriffe und heldenhafte Verteidigung entsprechen glänzenden Flügelläufen und sauberem Tackling 10 Von der Ähnlichkeit des Kriegs mit einer anderen Sportart, dem Kricket, handelte eines der berühmtesten Gedichte jener Tage, Vitai Lampada (»Die Fackel des Lebens«) von Sir Henry Newbolt:

Atemlose Stille liegt heut Abend über dem Kampf –/

noch zehn zu machen, und das Spiel ist gewonnen –/

ein gewaltiger Wurf und ein blendendes Licht, /

noch eine Stunde zu spielen, und der letzte Mann drin/

und es geht nicht um bebänderte Jacken, /

nicht um die eitle Hoffnung auf den Ruhm einer Saison, /

sondern es ist die Hand des Captains, die seine Schulter packt – /

»Auf, Leute! Auf! Und spielt das Spiel

Der Wüstensand ist rot getränkt, – /

rot von den Resten des zerschlagenen Karrees; – /

Die Waffe klemmt, der Oberst tot/

und die Männer blind von Staub und Rauch, /

über seine Ufer steigt der Totenfluss /

und England ist weit und Ehre ein Wort, /

da schließt der Ruf eines Schülers die Reihen: /

»Auf, Leute, auf! Und spielt das Spiel[1]

Das Gedicht überdauerte; als Leutnant George Brooke von den Irish Guards 1914 bei Soupir in Frankreich von einem deutschen Granatsplitter tödlich verwundet wurde, waren die letzten Worte an seine Männer: Play the game. 11

Für den jungen John French schien dieser blutgetränkte Wüstensand lange Zeit unerreichbar. Von dem sichelschwingenden irischen Landarbeiter abgesehen, überschritt er die Dreißig ohne die geringste Kampferfahrung. Bis er 1884 schließlich auf einen Außenposten abkommandiert wurde, der das wahre Leben versprach: einen Kolonialkrieg im Sudan. Endlich erlebte er das Kampfgeschehen, von dem er lange geträumt hatte, als die von ihm befehligten Truppen erfolgreich den Überraschungsangriff eines Feindes zurückschlugen, der, vorwiegend mit Schwertern und Speeren bewaffnet, aus einer Schlucht hervor stürmte. Das war das wahre Leben: Handgemenge, aufständische »Eingeborene«, die lehrbuchmäßig von einer disziplinierten Kavallerie und britischem Kampfgeist besiegt wurden. Er kehrte mit dem Lob seiner Vorgesetzten, Orden und einer – im jugendlichen Alter von 32 Jahren ungewöhnlichen – Beförderung zum Oberstleutnant nach England zurück. Nur wenige Jahre später, ein wenig o-beinig von einem Jahrzehnt auf Pferderücken, übernahm er das Kommando der 19th Hussars. Durch die Wände der Kommandeurswohnung konnten John und Eleanora French mit ihren Kindern das Brummen und Brüllen des Regimentsmaskottchens, eines Schwarzbären, hören.

Für die Laufbahn eines ehrgeizigen jungen Offiziers war es förderlich, auf mehreren Kontinenten gedient zu haben. Daher war French hocherfreut, als die 19th Hussars 1891 nach Indien verlegt wurden. In dieser größten und reichsten britischen Kolonie verbrachten viele Offiziere die entscheidenden Jahre ihrer Laufbahn, vollkommen überzeugt, einen heiligen, dem Allgemeinwohl dienenden Auftrag auszuführen.

Aber dort war ihm keine militärische Aktion beschieden – nur die übliche Friedenszeit-Routine mit Polofeld, Offizierskasino und turbantragenden Dienern. Ansonsten beschäftigte er sich damit, seine Husaren bis zur Erschöpfung zu drillen, indem er sie über die ganze Breite der weitläufigen indischen Maidans, der Exerzierplätze, hetzte: mit Vieren, im Schritt, im Trab, im Galopp, rechts schwenkt … und hinter ihnen stiegen die Staubwolken auf. Da Eleanora mit den Kindern in England geblieben war, verbrachte French seine Freizeit damit, die Frau eines anderen Offiziers zu umgarnen, mit der er schließlich an einen jener in den Hügeln gelegenen Orte entschwand, wo die Briten der Sommerhitze des Tieflands zu entfliehen suchten. Daraufhin verklagte der wütende Offizier seine Frau auf Ehebruch und nannte French als Mitbeklagten. Gerüchten zufolge habe dieser auch etwas mit der Tochter eines Eisenbahnbeamten und der Frau seines Kommandeurs gehabt.

Als French 1893 nach England zurückkehrte, führte die Kunde von diesen Eskapaden zu einem Karriereknick. Angesichts halber Bezüge, wie es bei Offizieren zwischen zwei Kommandos üblich war, sah sich die Familie gezwungen, zu einer toleranten älteren Schwester zu ziehen. Weit demütigender war der Umstand, dass der Kavallerist auf ein Fahrrad als kostengünstigere Alternative zum Pferd umsteigen musste – ein Gefährt, das er nie richtig meisterte. Offizierskameraden beobachteten, wie er, unfähig aufzusitzen, neben dem Rad eine ganze Straße entlang hüpfte. Trotzdem bekam er seine Verschwendungssucht nicht in den Griff und musste das Familiensilber versetzen. In Ungnade gefallen, wartete er ungeduldig auf ein neues Kommando oder, besser noch, auf einen Krieg.

In John Frenchs England waren die Prachtstraßen, auf denen Viktorias