Cover

Jan Schröter

Kreisverkehr

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Jan Schröter

Jan Schröter, geboren 1958 in Hamburg, ist gelernter Buchhändler. Seit 1995 schreibt er Drehbücher für große Fernsehproduktionen (»Großstadtrevier«, »Alphateam«, »Traumschiff«) sowie Reisebücher und Kriminalromane. »Kreisverkehr« ist sein zweiter Roman bei Knaur.

Über dieses Buch

Linus’ Leben verläuft seit einer gefühlten Ewigkeit unspektakulär im Kreisverkehr: Single, Eigenbrötler und arbeitslos. Doch dann steht – kurz vor seinem 40. Geburtstag – seine 15-jährige Tochter Nele vor der Tür. Mit im Gepäck: ihr Wellensittich Chuck Norris. Als sich auch noch sein Vater Valentin einquartiert, ist es für Linus schlagartig vorbei mit der gemächlichen Umlaufbahn. Während sich die notorische Schulschwänzerin Nele mit abenteuerlichen Aktionen immer mehr in die Sackgasse manövriert und Valentin im Kreisverkehr des Lebens noch einmal eine Bonusrunde drehen möchte, findet Linus plötzlich eine Abzweigung auf die Hauptstraße zum Glück …

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2013 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41823-9

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1.

Was ist mit Nele? Ich höre dich nicht … Bist du noch da?« Linus Kruse blieb im Treppenhaus stehen, um nicht mit dem Geräusch der eigenen Schritte die Funktelefonverbindung zu übertönen.

Petra war noch da. Leider. Linus lauschte am Handy ihrer Stimme, die wie immer, wenn sie sich aufregte – also meistens –, eine halbe Oktave über Normalton lag.

»… habe schon gestern …« Rauschen, Stille, Rauschen. »… und sie will nicht …« Rauschen, Stille, Rauschen …

»Die Verbindung ist echt mies«, unterbrach Linus. Hier im Treppenhaus war der Empfang wirklich grottenschlecht. Wie erfreulich.

»Wo bist … denn?«

»Im Bahnhof. U-Bahn.« Draußen auf der Straße wäre der Empfang erfahrungsgemäß einwandfrei. Also blieb Linus, wo er war, und ließ sich gemächlich auf den Treppenstufen nieder. »Mach schneller, der Zug kommt gleich!«

Damit provozierte er einen aufgeregten Redeschwall, gnädig überlagert von sphärischem Rauschen und von Funklöchern durchbrochen. Petra verstehe ich sowieso selten genug, amüsierte sich Linus stillvergnügt. Jetzt habe ich wenigstens mal einen guten Grund dafür. Irgendwie war von ihrer gemeinsamen Tochter Nele die Rede, offenbar im Zusammenhang mit der Unterhaltszahlung. Linus rekapitulierte im Geiste, dass er die Überweisung erledigt hatte – einigermaßen pünktlich sogar, obwohl sein Konto in der letzten Zeit ziemlich rote Zahlen auswarf. Petra regte sich also offenbar mal wieder über irgendeine Nichtigkeit auf.

»Du, mein Zug kommt!«, verkündete Linus fröhlich. »Lass uns später noch mal reden, ja? Tschüs!«

Linus drückte das Gespräch weg und schaltete das Handy sicherheitshalber gleich ganz aus. Schließlich wollte er nicht den Rest des Tages im Treppenhaus verbringen, und Petra würde es bestimmt spätestens in ein paar Minuten noch mal versuchen. Er steckte das Telefon ein und stieg die Treppen hinunter bis zur Haustür, vor der die Briefkästen hingen. Acht Kästen, zusammengeschweißt zum grauen Metallklotz an der Hausflurwand des betagten Mehrfamilienaltbaus, etliche davon mit mehrfach überklebten Namensschildern. Ergänzt durch Unter- und Unteruntermieternamen, gekritzelt auf Heftpflasterstreifen. Aus den meisten Briefschlitzen quollen bunte Papierfluten, von gestern, vorgestern und vorvorgestern. Für die Post von heute war es wahrscheinlich noch zu früh. Linus kramte trotzdem in der Jackentasche nach dem Briefkastenschlüssel. Wenn man schon davorsteht, kann man auch reingucken, entschied er. Am Erscheinungsbild des Postdepots ließ sich ohnehin nicht ablesen, ob der Briefträger heute bereits da gewesen war oder seit Wochen streikte. Als Linus das chronisch verkantete Blechtürchen seines Kastens mit brachialem Ruck öffnete, rieselten aus diversen Öffnungen Werbebotschaften, Postwurfsendungen und Wochenblätter zu Boden. Da dort bereits ein ganzer Haufen davon lag, kam es nicht weiter darauf an. Sein Briefkasten war leer. Hatte er sich doch gleich gedacht. War viel zu früh für die Post.

Linus ballerte die Kastentür energisch zu, ignorierte die nächste, dadurch ausgelöste Papierlawine und trat hinaus auf die Straße. Auf dem Kalender regierte noch der Spätsommer, doch der Wind pfiff das kalte Lied vom Herbst. Zum Hamburger Wetterklassiker fehlte nur der Nieselregen. Aber der konnte ja noch kommen. Im Haus gegenüber stand die Eingangstür weit offen, ein paar Menschen drängten sich im Flur zusammen. Linus entdeckte einige bekannte Gesichter: junge Leute, die dort wohnten. Die Bude war längst zum Abriss fällig, aber ein paar hartgesottene Wohngemeinschaften hatten bislang zäh allen Entmietungsversuchen widerstanden und undichten Dachpartien, Wasserschäden und Heizungsausfällen getrotzt.

Neugierig wechselte Linus die Straßenseite, trat durch die offene Tür und gesellte sich zur Menge. Die Stimmung unter den jungen Leuten wirkte ziemlich aufgeheizt. Gerade zerfetzte ein Zweimeterhüne mit wallendem Pferdeschwanz und Piratenohrring ein Stück Papier zu Konfetti.

»Wir lassen uns nicht vertreiben!«, dröhnte er. »Wir schlagen zurück!« Wutschnaubend imitierte er einen Steinwurf. Dass dabei bloß Konfetti über alle Köpfe rieselte, konterkarierte die martialische Geste beträchtlich. Abgesehen von Linus fiel das jedoch anscheinend niemandem auf.

»Wir gehen hier nicht weg!«, bekräftigte eine stupsnasige junge Frau und hakte den Hünen fest unter, als gelte es schon jetzt, die Kampfreihen geschlossen zu halten. »Das ist unser Haus! Unsere Heimat!«

»Ich hab hier auch mal gewohnt«, entfuhr es Linus spontan. Völlig überflüssige Bemerkung, bereute er sofort, als sich ihm prompt alle Anwesenden zuwandten, ihn misstrauisch musterten und ihren Mutmaßungen lautstark freien Lauf ließen.

»Wer ist das denn?«

»Bist wohl einer von denen?«

»Spekulantenpack, raus mit dem Kerl!«

Linus erwog bereits den geordneten Rückzug, da übertönte die Stimme des Hünen alles Gezeter: »Hört auf, der Typ wohnt doch gegenüber!«

Das zeigte Wirkung. Die aggressive Meute hielt sich zurück. Der Hüne schob sich vor Linus. »So, Sie haben hier also mal gewohnt. Und was wollen Sie uns damit sagen?«

Linus wollte sich eigentlich nicht auf eine Diskussion einlassen. Aber dann überwog in ihm doch das Gefühl, dem Hünen nach dessen Eingreifen eine Antwort schuldig zu sein. »Dass es auch schon vor euch Leute gab, die hier gewohnt haben. Ohne deshalb zu glauben, ihnen gehöre diese Hütte.«

»Wann haben Sie denn hier gewohnt?«, wollte die Stupsnase wissen.

»Lange her«, erwiderte Linus, »als Kind.«

»Dann müssten Sie doch voll auf unserer Seite sein! Es geht immerhin um die Stätte Ihrer Kindheit …«

»Leute, Leute. Macht mal halblang.« Linus schüttelte seufzend den Kopf. »Ein Haus ist nur ein Haus. Ein Haufen Steine. In diesem Fall sogar ein ziemlich ungepflegter Haufen.« Er wies auf einen kapitalen Schimmelpilz, der neben ihnen den blätternden Wandanstrich des Treppenhauses überwucherte. »Lasst das mystische Geschwurbel einfach weg, bleibt bei den Fakten und kümmert euch rechtzeitig um den Umzug. Sonst werden eure Sachen vom Räumkommando zerhackt, bevor euch die Wasserwerfer wegpusten.«

Damit ließ Linus die aufgebrachte Hausgemeinschaft stehen und verließ das Treppenhaus. »Desillusionierter Greis!«, hörte er noch jemanden hämisch kommentieren, als er zurück auf die Straße trat. Traumtänzer, schlug er im Geiste zurück und dachte: Ich bin kein Greis, ich bin bloß erwachsen. Was man von einem Mann von vierzig Jahren schließlich auch erwarten kann. Nun ja – fast vierzig, ein paar Tage fehlten noch bis zur Punktlandung. Die magische Vierzig. Für andere vielleicht, nicht für ihn. Er stand mitten im Leben und weigerte sich, einen schnöden Geburtstag als Demarkationslinie zu betrachten – nach dem Motto: Heute gehört man noch dazu, morgen nicht mehr. Leider sehen das nicht alle so, dachte Linus bitter. Bei seinem letzten Arbeitgeber, einer Werbeagentur, hatte man ihm vor vier Monaten unter ganz offensichtlich vorgeschobenen Gründen gekündigt – und sich dabei um das einzig relevante Entlassungsmotiv herumgelogen: Jugendwahn seitens der Kunden, die flächendeckend der Ansicht auf den Leim gingen, über Gespür für angesagte Trends verfüge nur, wer eben erst den Pubertätspickeln entwachsen war. Armselig, diese Gesinnung.

Doch davon würde er sich nicht den Tag verderben lassen. Weder vom Wetter noch von tatsachenverblendeten Nachbarn und ganz sicher nicht von den Bewerbungsabsagen, die garantiert nachher im Briefkasten auf Linus lauerten, wenn der Postbote denn endlich seinen Job erledigt hatte. Erst einmal gäbe es Frühstück. Zum Frühstück gehörte die Tageszeitung. Und die gab es bei Bärbel Maschmann.

Was Petra vorhin wohl von ihm gewollt haben mochte, überlegte Linus, während er den kleinen Eckladen ansteuerte. Wenn Nele ein Problem mit ihm besprechen wollte, würde sie es bestimmt selbst tun und nicht über ihre Mutter. Alt genug war sie ja inzwischen. Wie alt? Fünfzehn. Linus grämte es ein bisschen, dass er einen Moment lang hatte grübeln müssen, bevor ihm Neles aktuelles Alter einfiel. Er war bereits vor ihrem fünften Geburtstag aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Seitdem lebte Linus zwar nach wie vor in derselben Stadt wie seine Tochter, sah sie aber seit der Trennung nicht sehr oft – die ersten Jahre hatte Petra gegenseitige Besuche meist erfolgreich verhindert. Und als Linus darauf hoffte, dass Nele ihre zunehmende Selbständigkeit nutzen würde, um den Kontakt zu ihm von sich aus auszuweiten, musste er feststellen, dass die Entfremdung längst ihre Verbindung zernagt hatte wie Rostfraß einen schrottreifen Wagen. Würde der TÜV Vaterplaketten vorschreiben, wäre seine längst abgelaufen, ahnte Linus. Und obwohl er nicht wusste, wie er diese Entwicklung hätte ändern können, quälte ihn deswegen manchmal das schlechte Gewissen. Wie jetzt, zum Beispiel. Er würde nachher doch noch einmal bei Petra anrufen, um zu hören, was da los war.

Aber erst frühstücken.

Als Linus den Eckladen betrat, begrüßte ihn die kleine Signalglocke mit einem warmen »Dingdong« und löste damit sofort ein Heimatgefühl in ihm aus, das er in dieser Intensität nicht einmal in seiner eigenen Wohnung verspürte. Zeitungen, Lotto, Tabakwaren, Süßigkeiten, alles angeboten in drangvoller Enge auf selbstgezimmerten Regalen – hier hatte sich die Zeit den Zahn ausgebissen, es sah immer noch so aus wie früher, als sich Klein-Linus bei Maschmanns mit sämtlichen Herrlichkeiten von Comics bis Kaugummi versorgt hatte. Seit dem Tod ihres Gatten vor zehn Jahren führte Bärbel Maschmann das Geschäft allein. Doch allein im Geschäft war sie selten. Nicht nur, weil ihr die Kunden die Treue hielten. Sondern wegen Freddy. Freddy war irgendwann einfach da gewesen. Und wenn er überhaupt eine Adresse hatte, dann den Laden von Bärbel Maschmann, in dem er sich – je nach Jahreszeit – aufwärmte oder Kühlung suchte. Dafür war er dann da und passte auf den Laden auf, wenn Bärbel mal zur Toilette oder zur Bank musste oder sich ein belegtes Brötchen kaufen wollte.

Auch jetzt saß Freddy an dem kleinen Tresen, auf dem sonst die Lottojunkies ihre Scheine ausfüllten, und blätterte in einer Illustrierten. Von Bärbel keine Spur.

»Tag, Freddy«, grüßte Linus. »Bärbel nicht da?«

Freddy blickte kaum von seiner Lektüre auf, sondern wies bloß mit dem Daumen über die Schulter. Was so viel hieß wie: Irgendwo in den hinteren Räumlichkeiten. Freddy machte nie viele Worte. Wahrscheinlich hieß er nicht einmal Freddy. Aber wenn er nachts betrunken um die Häuser zog – was gar nicht selten der Fall war –, pflegte er dröhnend laut den Freddy-Quinn-Schmachtfetzen »Junge, komm bald wieder« zu grölen. Jeder aus der Gegend nannte ihn deswegen Freddy. Und sicher war: Er kam wieder. Ob man wollte oder nicht.

Linus pflückte sich eine Tageszeitung vom Regal und zählte passendes Kleingeld ab, als die Besitzerin des Ladens im Durchgang hinter dem Kassentisch auftauchte und ihn freundlich anlächelte.

»Hallo Linus! Alles klar?«

Bärbel Maschmann sah man ihre vierundsechzig Jahre nicht an. Sie strahlte so viel Leben aus, dass man ihren Anblick einfach nicht mit Rente und Ruhestand assoziierte. Damenhaft dezent gekleidet, Frisur wie frisch aus dem Salon. Wacher Blick hinter funkelnden Brillengläsern, mit dem Bärbel jedem Kunden das Gefühl vermittelte, sie höre exklusiv ihm zu – ganz gleich, wie viele Leute sich ansonsten im Laden tummelten. Schon deshalb erzählten, berichteten, beichteten ihre Kunden Bärbel hemmungslos alles. Weshalb Bärbel alles über alle wusste. Was eine ganze Menge war, wenn man bedachte, dass sie seit zweiundvierzig Jahren in ihrem Laden stand.

»Ich denke, also bin ich.« Linus legte die Münzen auf die kleine Wechselgeldschale mit der aufgedruckten Werbung für eine Programmzeitschrift, die es längst nicht mehr gab.

»Heute philosophisch angehaucht?«

»In Anbetracht meiner chaotischen Nachbarn von gegenüber die einzig angemessene Geisteshaltung.«

»Die haben heute ihre Kündigung erhalten. Da darf man schon mal auf Krawall gebürstet sein.«

»Die haben den Brief gerade erst zerrissen! Wieso weißt du schon davon?«, wunderte sich Linus.

Bärbel Maschmann lächelte nur unverbindlich. »Und wie geht es deinem Vater?«

Linus deutete ein Achselzucken an. »Länger nicht gesehen. Er ist mal wieder umgezogen.«

»In eine Senioren-Wohnanlage, hab ich gehört. Kann ich mir bei Valentin gar nicht vorstellen …«

»Das weißt du also auch schon. Dann bist du auf demselben Stand wie ich.«

»Bloß, wie es dir geht – das weiß ich immer noch nicht.«

»Wie es mir geht, weiß ich nicht mal selbst. Schon gar nicht vor dem Frühstück.«

»Das süße Leben eines Arbeitslosen.« Bärbel schaute demonstrativ auf ihre Armbanduhr, dann musterte sie Linus mitfühlend. »Immer noch nichts in Aussicht?«

Linus schüttelte nur den Kopf, Bärbel lächelte aufmunternd. »Wird schon noch. Die Welt braucht dich!«

»Dann soll die Welt mal anrufen«, grinste Linus gelassen. »Postkarte oder E-Mail reicht auch.« Er klemmte sich die Zeitung unter den Arm. »Tschüs dann.«

»Mach’s gut, Junge.«

Freddy konzentrierte sich weiter auf seine Illustrierte, als Linus an ihm vorbei auf die Ladentür zuging. Bei dem Tempo, in dem er die Seiten durchblätterte, konnte er sich eigentlich nur die Bilder angucken. Oder Freddy besaß ein fotografisches Gedächtnis und führte ein Doppelleben als Kopiergerät. Linus stellte sich vor, wie Freddy sich nach Feierabend in eine stille Ecke hockte und kilometerlang skandalöse Enthüllungen aus den Abgründen des europäischen Hochadels, Liebesbeichten deutscher Volksmusiker und Interviews mit Hollywoodstars ausschied. Linus versuchte dieses Bild in seinem Kopf rasch wieder zu verdrängen und verließ den Laden im Eilschritt. Auf der Straße rekapitulierte er kurz, dass ihm nun nichts mehr für ein gelungenes Frühstück fehlte. Brot war noch da, Eier und Aufschnitt ebenso. Es geht mir gut, dachte Linus. Und das, was vielleicht nicht so rundläuft, kann ich nicht großartig beeinflussen. Ich bin allein, aber dafür habe ich meine Ruhe. Mein Leben verläuft in einem Kreisverkehr ohne Abzweigung – da verfährt man sich wenigstens nicht. Im Großen und Ganzen geht es mir gut, befand Linus.

Er trottete über die Straße auf seinen Hauseingang zu. Ein Stück weit vor Linus schlug jemand dieselbe Richtung ein. Ein Mädchen oder eine junge Frau. Eine seltsame Erscheinung: Trotz des kühlen Windes trug sie lediglich einen grünen Minirock mit Faltenwurf, darüber eine weiße Bluse mit grün abgesetzten Manschetten und einer Art Matrosenkostümkragen, ebenfalls grün. Über den Kragen fiel langes, schwarzes Haar, das sogar auf ein paar Meter Entfernung noch künstlich aussah. An den nackten Beinen trug sie weiße Kniestrümpfe und braune Halbschuhe. Mit der linken Hand schleppte sie eine voluminöse Reisetasche, mit rechts zog sie mühsam einen Trolleykoffer hinter sich her, dessen Rollen unter dem anscheinend beträchtlichen Gewicht erbärmlich jaulten. Besonders merkwürdig erschien Linus jedoch ein in eine Wolldecke gehüllter Gegenstand von der Größe eines Nachtschränkchens, den sich die Frau mittels eines improvisierten, aus mehreren Gürteln zusammengesetzten Trageriemens auf den Rücken geschnallt hatte. Das Ganze hatte etwas von Schulmädchenuniform oder Spielmannszugtracht, aber irgendwie doch nicht – zusammen mit dem quietschenden Koffer, der Perücke und der unförmigen Traglast wirkte es ziemlich abgedreht, fand Linus. Andererseits: Bei den ganzen anderen Irren in seinem Viertel kam es auf einen bunten Vogel mehr auch nicht an. Im Geiste belegte er bereits sein Frühstücksbrot, als der bunte Vogel stoppte.

Genau vor seiner Haustür.

Gar nicht beachten, sagte sich Linus. Einfach an ihr vorbeigehen und ab in die Höhle. Sollen sie hier draußen gerne alle verrücktspielen, oben habe ich meine Ruhe. Einfach vorbeigehen war allerdings nicht so einfach – der fette Trolleykoffer blockierte den Hauseingang.

»Würden Sie bitte Ihr Gepäck aus dem Weg nehmen?«

Statt dieser Aufforderung nachzukommen, wuchtete die junge Dame auch noch die schwere Reisetasche auf den Koffer. »Das machst du. Die Treppe rauf schaff ich es sowieso nicht!«

Die Stimme kam Linus bekannt vor. Er sah genauer hin: Das Mädchen trug tatsächlich eine Perücke. Eigentlich war ihre Haarfarbe Flachsblond, das wusste Linus genau. Und sie war wirklich noch ziemlich jung.

Fünfzehn.

»Nele …?«

»Hat Mama dich nicht angerufen?«

2.

Linus kantete das Ungetüm von Rollkoffer durch den engen Wohnungsflur, wobei er die Ausmaße der prallen Reisetasche in seiner anderen Hand aus den Augen verlor und prompt mit diesem Gepäckstück sämtliche Jacken von der Garderobe abräumte. Er ließ den Kram am Boden liegen und zirkelte seine Last hinein in den kleinen Raum, der ihm als Allzweckzimmer diente. Hier stand vom Bügelbrett bis zum unvollendet restaurierten Sperrmülltisch alles, was im Wohn- oder Schlafzimmer nur nerven würde. Am liebsten hätte Linus Koffer und Tasche sofort aus der Hand fallen lassen, aber das sähe dann ja so aus, als wäre die Aktion anstrengend für ihn gewesen. Diese Blöße wollte er sich vor seiner Tochter nicht geben. Also ackerte Linus das Gepäck noch bis zum Schlafsofa und stellte es betont lässig darauf ab. Dabei wandte er Nele den Rücken zu, damit sie nicht sehen konnte, wie sehr er um Atem rang. Ein Stockwerk mehr, und aus seinen Ohren wären Dampfwölkchen aufgestiegen. Vielleicht wäre es doch angebracht, gelegentlich wieder etwas Sport zu betreiben. In seinem Kopf zwitscherte etwas. Hoffentlich lösten sich da nicht gerade irgendwelche überhitzten Blutgefäße auf.

Es zwitscherte schon wieder.

Nicht in seinem Kopf.

Eindeutig hinter ihm.

Nele hatte den merkwürdigen Kasten von ihrem Rücken geschnallt und auf den Sperrmülltisch gestellt. Jetzt löste sie gerade die Wolldeckenverpackung und flötete dabei trillernd vor sich hin.

Es trillerte zurück.

Linus sah, wie seine Tochter behutsam einen Vogelkäfig enthüllte, an dessen Seitenwand sich ein verängstigt flatternder Wellensittich klammerte. Nele flatterte ihrerseits um den Käfig herum, als sei es wesentlich wichtiger, den konfusen Piepmatz zu beruhigen, als, zum Beispiel, ihrem Vater zu erklären, was dieser ganze Auftritt eigentlich zu bedeuten hatte. Nele öffnete ein kleines Schiebetürchen am Käfig und zog einen leeren Plastiknapf heraus. »Er braucht Wasser«, erklärte sie lapidar und entschwand mit dem Behälter in Richtung Badezimmer. Linus hörte den Wasserhahn rauschen und starrte ratlos auf den Sittich, der immer noch an der Wand klammerte, aber nun wenigstens Ruhe gab. Der Vogel starrte zurück, aus runden, schwarzen Knopfaugen. Sein grünes Brustgefieder hob und senkte sich stakkatomäßig. Dem geht ganz schön die Pumpe – fast wie mir eben auf der Treppe, dachte Linus mitfühlend und streckte den Zeigefinger durchs Gitter. Mit schrillem Kampfkrächzen hackte der Sittich seinen Schnabel in die Fingerkuppe und verzog sich umgehend auf die Schaukel in der Käfigmitte. Linus lutschte noch an seinem blutenden Finger, als Nele mit gefülltem Wassernapf zurückkam. Sie schob es in den Vogelbauer und schien erst dann die Blessur ihres Vaters wahrzunehmen.

»Wie ich sehe, hast du Chuck kennengelernt«, bemerkte sie schmunzelnd.

Linus nahm den Finger aus dem Mund. Es ging schon wieder, aber Neles Grinsen hielt er dennoch für unangebracht. »Chuck? Der heißt so?«

»Nur mit Vornamen. Vollständig: Chuck Norris.«

Linus bedachte erst den Sittich, dann seine Tochter mit einem langen Blick. »Wusste gar nicht, dass du einen Vogel hast«, versetzte er zweideutig.

»Du weißt so manches nicht«, konterte Nele gleichmütig.

»Scheint mir auch so. Zum Beispiel: Was wird das hier eigentlich?«

»Mein Umzug.«

Linus schluckte ungläubig. »Zu mir? Hierher?«

»Schön, wie du dich freust!«

Bei allem Trotz, der in dieser Bemerkung lag, stand Nele jetzt ängstliche Verunsicherung ins Gesicht geschrieben. Sie wirkte vollkommen erschöpft, registrierte Linus plötzlich. Nun doch zerbrechlich und durchaus kindlich. Ihre merkwürdige Uniform und die Perücke unterstrichen diesen Eindruck noch.

»Was ist mit deinen Haaren? Und was sind das für Klamotten?« Zeit gewinnen, dachte Linus. Sammeln, durchatmen. »Gehst du jetzt auf eine Privatschule oder so?«

Nele zog sich die Schwarzhaarperücke vom Kopf. Darunter quoll der vertraute flachsblonde Schopf hervor – zur Erleichterung von Linus, der insgeheim schon mit der Enthüllung eines Irokesenschnitts oder ähnlicher Frisurpannen gerechnet hatte.

»Das ist das Kostüm von Kagome.«

»Kagome?«

»Aus ›Inu Yasha‹.«

»Inu– was?«

»Ein Manga-Charakter.« Angesichts Linus’ verständnisloser Miene setzte Nele seufzend nach: »Mangas. Japanische Comics.«

»Ach so«, gab sich Linus erkenntnisfreudig. »Also so wie bei Donald Duck. Der trägt ja auch immer einen Matrosenanzug. Aber sind die nicht eigentlich blau?«

»Du kapierst es nicht«, winkte Nele ab. »Was ist nun – kann ich bleiben? Früher hättest du dir das gewünscht!«

Vor einem Jahrzehnt oder so, dachte Linus und ließ weiter Diplomatie walten: »Hast du Hunger? Ich habe nämlich noch nicht gefrühstückt. Und ohne Kaffee laufe ich nicht rund.«

Sie musterte ihn prüfend. »Okay. Ich geh unter die Dusche, du machst Frühstück.«

Linus nickte und verließ das Zimmer. Schon auf dem Weg zur Küche fingerte er sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, legte es dann aber doch zunächst auf dem Küchentisch ab und lauschte, bis die Badezimmertür klappte und die Dusche rauschte. Erst dann rief er Petras Handynummer auf und wählte sie an. Zunächst kam gar nichts, dann nur die frustrierende Ansage: »Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Auf ihrer Festnetznummer sprang nicht einmal ein Anrufbeantworter an. Linus hätte ohnehin darauf verzichtet, nach dem Piepston eine Nachricht zu hinterlassen. Er benötigte Soforthilfe.

Und dringend ein Frühstück, verdammt noch mal.

 

»Petra heiratet? Ich wusste nicht mal, dass sie jemanden hat. Und wo, sagst du, ist sie dafür hin?«, erkundigte sich Linus verwirrt.

Nele mümmelte konzentriert an einer leicht vertrockneten Möhre. Sie trug nun Jeans und Sweatshirt sowie auf dem Kopf einen schrillen Turban, improvisiert aus einem Handtuch aus Linus’ Beständen. Seine Leberwurst und den luftgetrockneten Schinken hatte sie naserümpfend verschmäht und sich stattdessen übers welke Obst und Gemüse hergemacht, das Linus neulich in einem temporären Anflug von Gesundheitsbewusstsein gekauft hatte.

»Las Vegas.«

»Dafür muss man normalerweise besoffen sein.«

»Das wäre ein Grund«, stellte Nele grimmig fest und ließ die Möhre zwischen den Zähnen knacken. »Aber Mama schafft es sogar nüchtern, sich zum Affen zu machen.«

»Wollte sie dich nicht dabeihaben?«

»Wieso glauben Eltern immer, es sei bloß entscheidend, was sie wollen?«

Nele hämmerte in einem spontanen Wutausbruch die Restmöhre auf die Tischkante. Ein Stück Gemüse brach ab, schoss als vegetarisches Schrapnell über die Aufschnittplatte und blieb in der Leberwurst stecken. Geburt einer neuen Geschmacksrichtung. Immer locker bleiben, beschwor sich Linus.

»Du wolltest also nicht. Warum?«

»Weil ich nicht will. Weil der Typ peinlich ist. Weil es Mama ärgert. In dieser Reihenfolge.«

Peinlicher Typ, interessant, vermerkte Linus und verspürte eine gewisse Befriedigung. Nicht, dass er noch irgendwelche Ambitionen hinsichtlich Petras hegte – das war lange, lange vorbei. Aber immerhin schmeichelhaft, wenn seine Tochter ihren Vater offenbar als weniger peinlich empfand als Mutters Neuen. Komplimente – nicht einmal indirekte – hatte Linus von Nele nicht mehr gehört, seit er ihr vor gefühlt hundert Jahren Gutenachtgeschichten vorgelesen hatte. Wahrscheinlich war der Las-Vegas-Bräutigam ein Langweiler ersten Ranges. Bestimmt eine spießige Sachbearbeiter-Schlipsratte. Oder ein staubtrockener Golffahrer aus der mittleren Beamtenlaufbahn mit Hornbrille und chronischer Bügelfalte. Würde beides gut zu Petra passen.

»Inwiefern peinlich?«, erkundigte er sich, scheinbar ganz beiläufig.

»Maximilian?« Nele schnaubte verächtlich. »Immer gut drauf, Charmebolzen, Geld wie Heu. Porsche, Villa mit Elbblick …«

»Sieht aber komplett bescheuert aus?«, soufflierte Linus.

»War früher Unterwäschemodel«, versetzte Nele. »Dieser markige Männertyp mit kantiger Fresse und energischem Grübchen am Kinn. Waschbrettbauch und breite Schultern. Hat er immer noch.«

»Verbringt bestimmt ganze Tage in der Muckibude, weil er nichts Besseres zu tun hat«, äußerte sich Linus lahm.

»Allerdings. Die Buden gehören ihm nämlich«, entgegnete Nele trocken. »Eine ganze Kette davon jedenfalls. Die besten, edelsten, teuersten Wellnessclubs der ganzen Stadt. FIT IN THE CITY – nie gehört?« Sie ließ Linus keine Zeit zur Antwort, sondern streifte mit vielsagendem Blick seinen Bauchansatz und stellte gnadenlos fest: »Okay, kennst du wohl eher nicht …«

Linus ignorierte diese Bemerkung wohlweislich. »Petra heiratet also Superman. Du hast keine Lust auf die Hochzeitssause nach Vegas und bist deshalb hier. Weiß Petra das?«

Nele nickte. »Sie ist einverstanden! Also – was ist nun?«

Hätte ich Petra vorhin am Telefon nicht verschaukelt, dachte Linus, wäre vielleicht alles anders gelaufen. Klarer Fall von Eigentor. Obwohl, es könnte ja auch ganz nett werden. Und es ist wohl auch nicht für lange. In Vegas heiratet man ratzfatz, dann geht’s vielleicht noch ein, zwei Wochen auf Rundreise – schon ist das junge Glück wieder daheim und Nele geht zurück zu Mami. Und ich kann inzwischen mal als Vater punkten.

»Geht klar«, willigte er generös ein.

Nele strahlte, zog sich den Handtuchturban vom Kopf, ließ ihn kurzerhand zu Boden segeln und schüttelte die flachsblonde Mähne. »Super! Dann hol ich noch ein paar Sachen. Bis später!«

Weg war sie. Bevor sich Linus hinter dem Tisch hervorgearbeitet hatte, hörte er bereits die Wohnungstür ins Schloss fallen. Linus hob das Handtuch auf und hängte es demonstrativ über Neles verwaisten Stuhl. Was will sie denn noch holen?, wunderte er sich. Für zwei Wochen sollten die Klamotten aus dem Riesenkoffer und der fetten Reisetasche eigentlich reichen. Andererseits, Frauen und Garderobe … Nele zählte zwar vielleicht noch nicht ganz als Frau, aber möglicherweise waren weibliche Teenager in dieser Hinsicht sogar noch extremer als ausgewachsene Geschlechtsgenossinnen. Linus fehlte da die einschlägige Erfahrung.

Aber das würde sich nun offenbar ändern.

 

»… müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir uns bei der Besetzung dieser Stelle in anderem Sinne entschieden haben …«

»… danken Ihnen dennoch für Ihre Bewerbung und behalten uns Ihre Anfrage gerne für künftige Eventualitäten vor …«

»… nach Bewertung aller in Frage kommenden Kriterien können wir Ihnen jedoch keine positive Nachricht …«

»… bedeutet keine Wertung Ihrer fachlichen Qualifikation. Es ist eine rein sachbezogene Entscheidung, die sich einzig und allein auf unsere Belange bezieht …«

Linus klickte sich durch die E-Mails des Tages. Eine so deprimierend wie die nächste, alles Absagen auf diverse Online-Bewerbungen bei diversen Arbeitgebern aus dem Bereich Werbung und Medien. Der analoge Briefträger war irgendwann auch endlich da gewesen und hatte vier weitere Absagen abgeladen. Nur in einer davon steckte die komplette Bewerbungsmappe nebst persönlichem Beileidsschreiben. In einer weiteren befand sich lediglich die knapp formulierte Jobabsage. Die beiden verbliebenen Kandidaten sandten immerhin Zeugniskopien, Lebenslauf und Passfoto zurück, hatten aber jeweils die Bewerbungsmappe für sich behalten. Die kostete ja auch 2,50 Euro. Da kam fast Mitleid darüber auf, wie schlecht es diesen Firmen gehen musste. Gut, dass er bei denen keinen Job kriegte – wer weiß, ob es dort jemals Gehalt ohne juristische Auseinandersetzung durch sämtliche Instanzen hindurch gab …

Obwohl die Absagen alle unterschiedlich formuliert waren: Der eigentliche Grund dafür war immer der gleiche. Fast vierzig. Zu alt. Alt. Alt. Er schloss alle Programme und ließ den PC herunterfahren. Der Monitor wurde dunkel. Dann verröchelte der altersschwache und daher überlaute Lüfter im Gehäuse. Abgesehen von den gedämpften Stadt- und Straßengeräuschen draußen herrschte nun Stille im Wohnzimmer. Linus reckte eben seine ermatteten Glieder, als ihn ein abnorm hochfrequentes Quietschen aus dem Schreibtischstuhl katapultierte. Sein Herzschlag beruhigte sich gerade, als ihm die nächste schrille Trommelfellattacke ins Bewusstsein ätzte, wer hier so randalierte.

Chuck Norris.

Wie ein paar Gramm Fleisch und Federn diese eindrucksvolle Dezibelleistung zu erreichen vermochten, war Linus schleierhaft. Aber es musste aufhören, so viel war mal klar. Und zwar schnell. Linus eilte ins Zimmer mit dem Vogelkäfig, der im Dunkeln auf dem Tisch stand, und knipste in rascher Folge dreimal das Licht an und aus. Der grüne Wellensittich saß auf dem Käfigboden und blinzelte irritiert mit seitlich geneigtem Köpfchen. Dann schoss sein Schnabel vor und hackte gegen den Wasserbehälter. Prompt flog das Teil aus der Drahthalterung, die Nele anscheinend nur schlampig verriegelt hatte, verkleckerte im Flug den kompletten Inhalt und landete vor Linus’ Füßen. Als er sich instinktiv danach bückte und sein Kopf dabei für einen Moment lang auf Tischplattenhöhe verharrte, nutzte Chuck Norris die günstige Gelegenheit für einen akustischen Terror-Akt auf Nahkampfdistanz. Linus fuhr entsetzt zurück und knallte rücklings in ein Regal. Es regnete Staub und Taschenbücher. Fluchend riss er eine Wolldecke vom Sofa und warf sie ausgebreitet über den Vogelkäfig. Gute Nacht, Mr. Norris, grollte Linus, schloss die Zimmertür hinter sich und lauschte noch eine Weile im Flur. Der Vogel hielt den Schnabel. Beruhigt kehrte Linus ins Wohnzimmer zurück.

Erst jetzt fragte er sich, wo Nele eigentlich blieb. Draußen war es längst dunkel. Petra wohnte nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt … Linus suchte gerade im Verzeichnis seines Mobiltelefons nach Neles Handynummer, als es an der Tür klingelte.

Nele schleppte drei Umhängetaschen und über beiden Armen diverse Mäntel und Jacken. Der Mann hinter ihr war unter dem von ihm transportierten Haufen von Taschen, Koffern und Klamotten kaum noch als Mensch zu erkennen. Wie er jetzt alles zu Boden fallen ließ, hatte es eher etwas von einer Lawine. Dabei stieß er ein mitleiderregendes Geräusch aus, das an ein verendendes Maultier erinnerte. Dann wischte sich der Kerl den Schweiß von der Stirn und hielt demonstrativ die Hand auf. Nele drückte ihm einen Geldschein in die Kralle und bemerkte aufmunternd: »Sehen Sie, war doch gar nicht so schlimm!« Der Mann rang nach Luft und schien etwas erwidern zu wollen – entschloss sich dann aber doch für ein knappes Fingertippen an die Stirn und den stummen Abgang.

»Taxifahrer.« Nele verdrehte die Augen himmelwärts. »Trägst du mit rein?«

Schon wuselte sie an Linus vorbei zu ihrem kleinen Zimmer. »Was ist das denn?«, hörte er sie rufen. Zornsprühend tauchte sie wieder auf, in der Hand die Wolldecke.

»Der Geier hat geschrien ohne Ende«, rechtfertigte sich Linus.

»Ich schrei auch gleich!«, wütete Nele.

»Aber nicht bei offener Tür«, bestimmte Linus und warf seiner Tochter eine der zahlreichen Taschen zu, die sie instinktiv auffing. Dann schmiss er alle übrigen Sachen und Gepäckstücke kurzerhand in den engen Flur, wo sie sich zu einem kapitalen Haufen türmten. Er schloss die Wohnungstür und sah Nele auffordernd an. »So. Kannst loslegen.«

Nele sah plötzlich gar nicht mehr so aufgebracht und selbstsicher aus. »Keine Lust.«

Linus wies auf den wüsten Gepäckhaufen. »Wie lange, sagtest du, ist Petra weg?«

Neles Schultern zuckten trotzig. »Ist doch egal.«

»Egal?«

»Ich darf hierbleiben. Hast du gesagt!«

»Du meinst … auch wenn Petra wieder da ist?«

»Die wollen mich doch gar nicht!«, brach es aus Nele hervor. »Und ich will die auch nicht! Was soll ich in Blankenese? In Maximilians Protzvilla? Meine Schule ist hier, und überhaupt …«

In Neles Augen glitzerte es feucht, doch sie biss sich auf die Lippen und bewahrte tapfer Haltung. Irgendwie rührte das Linus noch mehr, als wenn seine Tochter hemmungslos in Tränen ausgebrochen wäre. Er hätte sie jetzt gerne tröstend in den Arm genommen, aber so eine Geste war zwischen ihnen zu lange nicht mehr vorgekommen. Am Ende finge sie dann vielleicht doch noch an zu schreien. Und was Geschrei anbelangte, reichte ihm Chuck Norris voll und ganz.

»Dann bleibst du eben«, bekannte Linus ergeben. »Früher oder später meldet sich deine Mutter, dann sehen wir weiter. Okay?«

»Okay.« Nele wirkte nicht sonderlich beruhigt, schien aber einzusehen, dass für den Moment nicht mehr drin war als dieses einstweilige Abkommen. »Dann geh ich schlafen. Bin irre müde. Gute Nacht.« Damit verschwand sie in ihrem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Linus blickte ihr verdattert nach – dann auf den Gepäckhaufen im Flur.

»Und wann räumst du die Klamotten weg?«

»Morgen!«, antwortete es gedämpft durch die Tür.

3.

Irgendwas fühlte sich anders an.

Das Rollo vor dem Fenster war nicht vollständig heruntergezogen. Wie immer, wegen der frischen Luft – Linus schlief stets bei offenem Fenster. Sein Schlafzimmer lag zur ruhigen Hofseite hin, sogar der nie ganz verstummende Großstadtlärm störte hier selten. So weit schien alles okay zu sein. Dass es schon nach neun Uhr und draußen längst hell war, störte Linus nicht weiter. Abgesehen vom Erwerb einer aktuellen Tageszeitung stand nichts auf seinem Programm. Seit Monaten schon.

Trotzdem, irgendwas war anders.

Er kam erst darauf, als er schlaftrunken über den Flur zum Badezimmer schlurfte, sein nackter Fuß unsanft gegen einen Hartschalenkoffer prallte und der jähe Schmerz die Erkenntniskette provozierte: Aua – Gepäckhaufen – Nele – Aua. Dass er nicht mehr allein in seiner Wohnung hauste, hätte Linus ansonsten spätestens vor dem Badezimmerspiegel bemerkt. Die Ablage darunter, das kleine Regal neben dem Spiegel und sogar der Rand des Waschbeckens waren mit einer aberwitzigen Flut rätselhafter Tiegel, Flakons, Tuben, Bürsten, Pinselchen und Pülverchen zugestellt. Mühsam darum bemüht, nichts davon abstürzen zu lassen, erledigte Linus in aller Vorsicht seine Morgentoilette. Das meiste von dem Zeug würde vermutlich umgehend Löcher in die Fliesen ätzen, befürchtete er. Wieso musste sich eine Fünfzehnjährige schminken? Im Job vielleicht, aber als Schulmädchen … Das brachte Linus darauf, dass Nele wohl schon längst im Schulunterricht saß und er sich gar nicht danach erkundigt hatte, wann sie aufstehen musste. Ob er sie wecken sollte. Ob sie etwas frühstücken wollte. Gehörte das zum normalen Vater-Pflichtprogramm? Oder machte Nele morgens lieber ihr Ding alleine und ungestört? Linus hatte keine Ahnung. Vor seiner Trennung von Petra war Nele noch in den Kindergarten gegangen. Danach hatte sie nur selten bei ihm übernachtet. Und auch das nur am Wochenende oder während der Ferien. Alltag mit Schulkind war für Linus etwas Neues.

Vielleicht schlief sie ja auch noch. Linus zog sich an, schlug im Flur diesmal wohlweislich einen Bogen um den Gepäckhaufen und lauschte an Neles Zimmertür. Nichts zu hören, nicht einmal Chuck Norris. Linus öffnete und sah seine Tochter auf dem zum Bett umgebauten Sofa verschlafen unter der Decke hervorblinzeln.

»Guten Morgen. Keine Schule heute?«

Als Antwort ertönte unwilliges Genuschel mit Gähnintermezzo, dann krächzte auch noch der Sittich dazwischen. Linus beschloss, die Schulfrage später zu diskutieren.

»Gut geschlafen, wenigstens?«

Nele reckte sich ausgiebig. »Glaube schon. Irgendwann hat draußen jemand gesungen. Irgendwas von einem Jungen und hinaus aufs Meer oder so …«

»Das war Freddy«, schmunzelte Linus. »Gehört hier zum Lokalkolorit. Dabei fällt mir ein, ich gehe eben runter und besorge eine Zeitung. Bin gleich wieder da.«

»Bring Müsli mit.«

»Müsli?«

»Ich will kein totes Tier!«

Erst im Treppenhaus kam Linus darauf, dass Nele damit auf seine wunderbare Leberwurst und den köstlichen, luftgetrockneten Schinken anspielte.

Sie war wirklich ganz schön anders.

 

»Jaja. Kommen Männer in die Jahre, entdecken sie den Wert gesunder Ernährung«, empfing ihn Bärbel Maschmann mit einem vielsagenden Blick auf die Müslipackung, die Linus eben im Supermarkt erstanden hatte und offen in der Hand trug. »Oder hast du eine neue Freundin? Das wäre natürlich auch ein Motiv.«

»Das ist für meine Tochter«, erklärte Linus würdevoll.

»Ein Mann wie ein Fels«, kicherte Bärbel, um dann neugierig nachzusetzen: »Nele ist bei dir? Die habe ich ja ewig nicht gesehen!«

»Sie wohnt eine Weile bei mir. Vorübergehend. Falls Freddy nachts nicht immer so laut singt wie gestern.«

Freddy schämte sich überhaupt nicht. Linus hatte auch nicht ernsthaft damit gerechnet. Der Mann saß wieder lesend an der Lottotheke und raunzte ihn jetzt empört an: »Brauchst du sonst noch was?«

Ein ganzer Satz. Bemerkenswert.

»Schöne Frauen und Weltfrieden.«

»Ausverkauft.«

»Dann möchte ich vorbestellen.«

Freddy grunzte nur mürrisch und wandte sich wieder seiner Illustrierten zu. Bärbel signalisierte Linus mit einem verstohlenen Wink, es nun aber mal gut sein zu lassen. Linus zwinkerte ihr vergnügt zu, nahm sich eine Zeitung, legte das Geld dafür in die Schale und verließ den Laden.

Vor dem abbruchreifen Haus seiner kämpferischen Nachbarn von gegenüber parkte ein nachtblauer Mercedes Kombi. Luxusausstattung vom Feinsten. An den Flanken ein Logo und der Firmenname, dynamisch kursiv gedruckt: Event Emotion. Die Abdeckung über dem Laderaum war eingerollt und bot dem vorbeigehenden Linus freie Sicht auf die exquisite Fracht: mehrere Tabletts mit verlockend angerichteten Leckerbissen. Meeresfrüchte, edler Käse, Fleischspezialitäten. Da hatte jemand tief in die Tasche gegriffen. Wohl kaum einer von denen aus dem Abbruchhaus. Vielleicht feierte jemand Silberhochzeit. Oder runden Geburtstag. Womit Linus wieder sein bevorstehender Vierzigster einfiel. Er würde sich keine große Feier leisten können, dachte er im Weitergehen. Und selbst wenn, ihm fielen auch kaum Freunde ein, die er dazu einladen würde. Und eine Zahl von Lebensjahren zu feiern, die einem offenkundig den Weg zurück in die Arbeitswelt verbaute, erschien ihm ohnehin paradox. Nicht zum ersten Mal beschlich Linus ernsthaft Sorge darüber, wie es eigentlich mit ihm weitergehen sollte. Er müsste in Sachen Bewerbung einfach viel mehr ausprobieren. Es in allen möglichen Branchen versuchen, nicht nur in der Werbung oder bei Zeitungen. Zu bieten hatte er ein abgebrochenes Germanistikstudium und fast fünfzehn Jahre Werbetexterei. Was machte man damit? Wer brauchte das schon? Und dann noch von einem Vierzigjährigen?

Zurück in der Wohnung, hörte er Nele im Bad rumoren. Immerhin schon aufgestanden. Wenn sie allerdings alles benutzte, was sie dort an Kosmetika bunkerte, könnte es noch Stunden dauern, schätzte Linus. Also ging er nicht in die Küche, sondern verzog sich mit der Zeitung ins Wohnzimmer. Stellte die Müslipackung auf der Fensterbank ab, warf einen Blick durchs Fenster hinaus auf die Straße und stellte fest, dass der nachtblaue Kombi dort immer noch parkte. Der Zweimeterkerl mit dem wallenden Pferdeschwanz und ein paar seiner Genossen entluden gerade die festlichen Delikatessen aus der offenen Heckklappe und schafften ihre Beute in die Abrisshöhle. Ob die den Wagen aufgebrochen hatten? Die Frage beantwortete sich im nächsten Moment, als der Riese die Heckklappe zuknallte und einen kleinen Gegenstand in der Hand betätigte – den Autoschlüssel. Der Wagen blinkte kurz, Pferdeschwanz verschwand hinter seinen Mitbewohnern im Haus. Schimmel an der Wand, aber Hummer fressen, dachte Linus amüsiert. Salonkommunisten in Reinkultur. Fehlt nur noch, dass denen der Mercedes gehört. Oder gleich die ganze Firma – wie hieß die noch, Event Emotion …

»Dass alte Leute immer aus dem Fenster glotzen müssen!«

Linus hatte Neles Hereinkommen nicht bemerkt, so gebannt hatte er das Treiben auf der Straße beobachtet. »Der Nation geht’s prächtig«, kommentierte er. »Hierzulande lassen sich sogar die Hausbesetzer Feinkost anliefern.«

»Das Haus ist besetzt? Cool.«

»Cool ist es bestimmt. Die Heizung ist längst abgestellt.«

Linus wandte sich vom Fenster ab und stutzte: Nele trug wieder ihr seltsames Kostüm, inklusive der Schwarzhaarperücke.

»Schon wieder Karneval?«

Nele tippte sich nur an die Stirn, nahm die Müslipackung von der Fensterbank und ging in die Küche, wo Linus sie mit einem Schälchen klappern hörte. Er sah wieder nach draußen und erhaschte gerade noch einen unscharfen Blick auf den Rücken einer Frau in elegantem Business-Kostüm, die in den nachtblauen Mercedes einstieg, damit aus der Parklücke kurvte und um die nächste Ecke verschwand. So wie es aussah, gehörte Pferdeschwanz Auto und Firma doch nicht. Event Emotion – Macht auch aus Ihrer Hausbesetzung ein unvergessliches Erlebnis. Was trieb eine Eventagentur eigentlich sonst noch? Müsste man mal googeln. Kopfschüttelnd folgte Linus seiner Tochter nach und setzte sich zu ihr an den Tisch. Nele schaufelte verdrossen Müsli und Milch in sich hinein und schwieg ihn an.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Linus. »Ich weiß, es hat nichts mit Karneval zu tun, sondern mit diesen … diesen Mangos oder so.«

»Mangas.«

»Japanische Comics.«

»Genau.«

»Gehst du denn in diesem Dress auch zur Schule?«, erkundigte sich Linus vorsichtig.

Nele schüttelte nur den Kopf.

»Das heißt«, hakte Linus nach, »du gehst heute gar nicht zur Schule?«

Das Mädchen nickte lapidar.

»Gibt das keinen Ärger?«

Nele schob die geleerte Müslischale von sich. »Nicht, wenn du mir eine Entschuldigung schreibst.«

»Nur, wenn du ab morgen wieder hingehst.«

Sie zuckte ergeben mit den Schultern. »Okay.«

Linus musterte seine Tochter eingehend. Kostüm und Perücke verfremdeten sie, aber eigentlich kannte er sie ohnehin kaum. Zwar entdeckte er in ihrem Gesicht Vertrautes, beispielsweise, wie sie die Nase rümpfte oder die Brauen hochzog, wenn sie nachdachte. Andererseits war ihm ihre Art, sich blitzartig in sich zurückzuziehen, bisher noch nie aufgefallen. Von einem Moment auf den anderen war sie völlig in sich gekehrt. Machte sie das immer so oder nur bei ihm? Sie wirkte sehr viel fraulicher, als Linus sie in Erinnerung gehabt hatte. Kein Hungerhaken, eher stabil gebaut. Vielleicht war ihr Müsliverzehr eher diätisch als ideologisch motiviert. Darauf würde er sie aber lieber nicht ansprechen. Frauen und ihre Figur, das war ein Minenfeld – in jedem Alter.

»Und? Was machst du mit dem Tag heute?«

Wieder das obligate Achselzucken. »Ein paar Leute aus der Szene treffen.«

Oh Gott, sie nimmt Drogen, fuhr es Linus durch den Sinn. »Szene?«

»Cosplayer.«

Kenn ich nicht, diese Droge, dachte Linus. Bestimmt was Synthetisches mit verschärftem Suchtpotenzial. »Ist das irgendwie illegal?«

Zu seiner Erleichterung brach Nele in schallendes Gelächter aus. Das wirkte befreiend – auf beide.

»Quatsch! Cosplayer, das kommt von ›costume play‹. Das sind Leute, die sich verkleiden und damit Manga-Figuren imitieren.«

»So wie du«, stellte Linus aufatmend fest. »Und was macht ihr so in der Szene?«

»Manga-Dialoge nachspielen, die Songs aus den Filmen singen, über die Kostüme reden und so. Illegal, also echt …« Sie kicherte vergnügt. »Was hast du denn gedacht, was ich treibe?«

»Ach, keine Ahnung«, wich Linus aus. »Ich weiß ja nicht viel von dem, was du so treibst.«

»Tja. Geht mir bei dir genauso.« Nele wurde wieder ernst. »Was machst denn du mit dem Tag?«

Diesmal war es Linus, der mit den Achseln zuckte. »Zeitung lesen.«

»Kein Job in Sicht?«

Kopfschütteln. Diesmal Linus.

»Warum nicht, was meinst du? Woran liegt’s?«

»Fast vierzig«, entgegnete Linus knapp und stand auf. »Wann willst du los?«

»Jetzt gleich. Hast du einen Haustürschlüssel für mich?«

Linus kramte in einer Schublade des Küchenschranks, fand den Ersatzschlüssel und warf ihn Nele zu, die ihn lässig auffing.

»Wann kommst du nach Hause?«

»Frag mich was Leichteres.« Nele steckte den Schlüssel ein und huschte aus der Küche.

»Okay – was macht eigentlich eine Eventagentur?«

Keine Antwort mehr, stattdessen klappte die Wohnungstür. Keine Ahnung, was die machen, sinnierte Linus. Was er als Nächstes täte, war dagegen sonnenklar: Neles Müslischale wegräumen, die noch auf dem Tisch stand.

 

Nele spürte die neugierigen Blicke der anderen U-Bahn-Fahrgäste auf sich und ihrem Kostüm ruhen, aber dagegen war sie längst immun. Sollten sie doch glotzen, war ihr egal. Kam nicht darauf an. Worauf kam es überhaupt noch an? Sollten getrost alle denken, sie sei vom Karneval übrig geblieben. So, wie ihr Vater es vorhin gesagt hatte.

Neles Gedanken blieben bei Linus, während der Zug am Baumwall hielt, sie ausstieg und zu Fuß den Weg zur Hafencity einschlug. Und nicht einmal in Gedanken war sie sich über eine passende Anrede für ihn im Reinen. Ihr Vater. Das ist er natürlich, aber so kann man ja niemanden anreden, dachte Nele. »Vater, reich mir bitte mal die Butter rüber« – das wäre volle Pulle neunzehntes Jahrhundert, einfach nur peinlich. Sie könnte ihn schlicht »Linus« nennen. Doch das machte ja jeder, der ihn kannte. Bis auf die, für die er »Herr Kruse« war. Ein Vater ist doch etwas Besonderes, da musste etwas anderes als der bloße Name her. Zu ihrer Mutter sagte sie »Mama«. Bei ihrem Vater ging ihr ein »Papa« nicht über die Lippen. Früher hatte sie es vielleicht mal zu ihm gesagt, aber Nele konnte sich nicht mehr daran erinnern. Dieser Mann war ihr nicht völlig fremd, aber auch nicht besonders vertraut. Und deshalb wand sie sich seit gestern hilflos um jede direkte Anrede herum. Sogar in Gedanken.

Es wäre einfacher gewesen, alleine zu wohnen. Leider spielte Mama da nicht mit. Der war es viel zu wichtig, was »die Leute« darüber denken könnten – eine Fünfzehnjährige und ganz alleine wohnen … Dann lieber bei einem Vater, den sie kaum kannte. Das war anscheinend okay.