Reisen im Skriptorium

Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel «Travels in the Scriptorium» bei Henry Holt, New York

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2009

Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Travels in the Scriptorium» Copyright © Paul Auster, 2006

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther, unter Verwendung der amerikanischen Ausgabe der Henry Holt Company; Foto-Composing von Rachel Jaramillo

Umschlagabbildung masterfile

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-499-24341-7 (1. Auflage 2008)

ISBN E-Book 978-3-644-00261-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00261-6

(zum Gedenken)

Wer ist er? Was tut er hier? Wann ist er angekommen, und wie lange wird er bleiben? Mit etwas Glück wird die Zeit es uns allen weisen. Fürs Erste haben wir nur die Aufgabe, die Bilder möglichst aufmerksam zu betrachten und uns jedweder voreiligen Schlussfolgerung zu enthalten.

In dem Raum befindet sich eine Reihe von Gegenständen, und an jedem ist ein Stück weißes Klebeband befestigt, auf das in Blockbuchstaben ein einzelnes

Er trägt einen blau-gelb gestreiften Baumwollpyjama, seine Füße stecken in schwarzen Lederpantoffeln. Ihm ist nicht ganz klar, wo er sich befindet. In dem Raum, ja, aber in welchem Gebäude liegt der Raum? In einem Haus? In einer Klinik? In einem Gefängnis? Er kann sich nicht erinnern, seit wann er hier ist und was für Umstände seine Verlegung an diesen Ort herbeigeführt haben. Vielleicht war er schon immer hier; vielleicht lebt er hier schon seit dem Tag seiner Geburt. Er weiß nur, sein Herz ist von einem unerbittlichen Schuldgefühl erfüllt. Zugleich kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, Opfer einer furchtbaren Ungerechtigkeit zu sein.

Der Raum hat ein Fenster, aber die Jalousie ist zugezogen, und soweit er sich erinnern kann, hat er noch

Die Bilder lügen nicht, erzählen aber auch nicht die ganze Geschichte. Sie protokollieren lediglich das Vergehen der Zeit, bilden nur das Äußere ab. Das Alter des Mannes zum Beispiel lässt sich anhand der leicht unscharfen Schwarzweißbilder kaum bestimmen. Die einzige einigermaßen sichere Aussage ist die, dass er nicht jung ist, aber das Wort alt ist ein dehnbarer Begriff und kann für jeden zwischen sechzig und hundert gelten. Wir wollen daher nicht mehr von einem alten Mann sprechen und die Person in dem Raum künftig als Mr. Blank bezeichnen. Ein Vorname wird fürs Erste nicht nötig sein.

Schließlich steht Mr. Blank von dem Bett auf, hält kurz inne, um sein Gleichgewicht zu finden, und schlurft dann zu dem Schreibtisch am anderen Ende des Raums. Er ist müde, als sei er gerade aus zu kurzem, unruhigem Schlaf erwacht, und als die Sohlen seiner Pantoffeln über den nackten Holzboden schaben, erinnert ihn dieses Geräusch an Schmirgelpapier. Aus weiter

Mr. Blank lässt sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Es ist ein außerordentlich bequemer Stuhl, befindet er; weiches braunes Leder und breite Armlehnen, die reichlich Platz für seine Ellbogen und Unterarme bieten, ganz zu schweigen von einem unsichtbaren Federmechanismus, der ihm erlaubt, nach Belieben vor und zurück zu schaukeln, und genau damit fängt er an, sobald er sich hingesetzt hat. Das Schaukeln wirkt beruhigend auf ihn, und während Mr. Blank sich dem angenehmen Schwingen hingibt, kommen ihm Erinnerungen an das Schaukelpferd in seinem Zimmer, als er ein kleiner Junge war, und von neuem durchlebt er einige der Phantasiereisen, die er auf diesem Pferd zu unternehmen pflegte, dessen Name Whitey war und das für den jungen Mr. Blank kein weiß angemaltes Stück Holz, sondern ein Lebewesen, ein echtes Pferd gewesen war.

Nach diesem kurzen Ausflug in seine frühe Kindheit steigt ihm wieder die Angst in die Kehle. Mit matter Stimme spricht er vor sich hin: Ich darf das nicht geschehen lassen. Dann beugt er sich vor, um die Papiere und Fotografien zu untersuchen, die in ordentlichen Stapeln auf der Mahagoniplatte des Schreibtischs liegen. Als Erstes nimmt er die Bilder, drei Dutzend zwanzig mal fünfundzwanzig

Mr. Blank stöhnt gepeinigt auf. Der Anblick der Bilder ist zu viel für ihn, also schiebt er sie beiseite und wendet sich den Papieren zu. Es sind insgesamt vier Stapel, jeder etwa fünfzehn Zentimeter hoch. Ohne dass er sich eines besonderen Grundes dafür bewusst wäre, greift er nach dem obersten Blatt des am weitesten links

Aus den fernsten Weiten des Weltraums betrachtet, ist die Erde nicht größer als ein Staubkorn. Bedenke das, wenn du das nächste Mal das Wort «Menschheit» schreibst.

Aus dem angewiderten Ausdruck, der ihm beim Überfliegen dieser Sätze ins Gesicht tritt, können wir mit einiger Sicherheit schließen, dass Mr. Blank die Fähigkeit zu lesen nicht verloren hat. Wer jedoch der Autor dieser Sätze sein könnte, muss vorläufig offenbleiben.

Mr. Blank greift nach dem nächsten Blatt auf dem Stapel und erkennt, dass es sich um ein getipptes Manuskript handelt. Der erste Absatz lautet:

Sobald ich anfing, meine Geschichte zu erzählen, schlugen sie mich nieder und traten mir an den Kopf. Als ich aufgestanden war und aufs Neue zu sprechen anhob, schlug mir einer von ihnen auf den Mund, und ein anderer verpasste mir einen Hieb in den Magen. Ich brach zusammen. Wieder gelang es mir aufzustehen, aber gerade als ich zum dritten Mal mit der Geschichte anfangen wollte, schleuderte mich der Colonel an die Wand, und ich verlor das Bewusstsein.

Auf dem Blatt folgen noch zwei weitere Absätze, doch ehe Mr. Blank den zweiten lesen kann, läutet das Telefon. Es ist ein schwarzes Modell mit Wählscheibe aus den späten vierziger oder frühen fünfziger Jahren des

Hallo, sagt Mr. Blank.

Mr. Blank?, fragt die Stimme am anderen Ende.

Wenn Sie das sagen.

Wissen Sie das genau? Ich kann nichts riskieren.

Ich weiß überhaupt nichts genau. Wenn Sie mich Mr. Blank nennen wollen, will ich gern auf diesen Namen hören. Mit wem spreche ich?

James.

Ich kenne keinen James.

James P. Flood.

Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge.

Ich war gestern bei Ihnen zu Besuch. Wir haben zwei Stunden miteinander verbracht.

Ah. Der Polizist.

Expolizist.

Richtig. Der Expolizist. Was kann ich für Sie tun?

Ich möchte Sie wiedersehen.

Hat das eine Gespräch nicht gereicht?

Nicht ganz. Ich weiß, ich spiele in dieser Angelegenheit nur eine Nebenrolle, aber man hat mir gesagt, ich dürfe Sie zweimal sehen.

Das heißt, ich habe gar keine Wahl.

So sieht es aus, leider. Aber wir brauchen nicht in

Ich habe nichts anzuziehen. Ich stehe hier in Schlafanzug und Pantoffeln.

Schauen Sie in den Schrank. Da sind alle Kleider, die Sie brauchen.

Ah. Der Schrank. Danke.

Haben Sie schon gefrühstückt, Mr. Blank?

Ich glaube nicht. Darf ich denn essen?

Drei Mahlzeiten am Tag. Es ist noch ein wenig früh, aber Anna müsste bald kommen.

Anna? Haben Sie Anna gesagt?

Das ist die Person, die sich um Sie kümmert.

Ich dachte, sie sei tot.

Wohl kaum.

Vielleicht meine ich eine andere Anna.

Das bezweifle ich. Von allen, die an dieser Geschichte beteiligt sind, ist sie die Einzige, die ganz auf Ihrer Seite ist.

Und die anderen?

Sagen wir so: Es herrscht große Verärgerung, und dabei wollen wir es belassen.

Es sollte bemerkt werden, dass zusätzlich zu der Kamera in eine der Wände ein Mikrophon eingebaut ist; jeder Ton, den Mr. Blank von sich gibt, wird von einem

Als es ihm gelungen ist, auf den Ledersessel zu klettern, schaukelt er erst einmal ein wenig, um seine Nerven zu beruhigen. Trotz seiner körperlichen Anstrengungen begreift er, dass er Angst hat, das Typoskript weiterzulesen. Warum ihn diese Angst ergriffen hat, kann er sich nicht erklären. Es sind doch nur Worte, sagt er sich, und seit wann haben Worte die Macht, einen Mann halb zu Tode zu ängstigen? Es geht nicht, murmelt er kaum hörbar. Dann, um sich aufzumuntern, wiederholt er diesen Satz, schreit ihn aus Leibeskräften: ES GEHT NICHT!

Unerklärlicherweise gibt ihm dieser plötzliche Ausbruch den Mut weiterzumachen. Er holt tief Luft, richtet seine Augen auf die Worte vor ihm und liest die folgenden zwei Absätze:

Man hielt mich von Anfang an in diesem Raum gefangen. Soweit ich das erkennen kann, ist es keine typische Zelle und scheint weder zu dem abgezäunten Militärbereich

Die Wüste beginnt unmittelbar vor meinem Fenster. Immer wenn der Wind aus Westen weht, rieche ich Salbei und Wacholder, die Minima dieser dürren Weiten. Ich habe da draußen ganz allein fast vier Monate lang gelebt, die Gegend von einem Ort zum anderen durchstreift, bei jedem Wetter im Freien geschlafen, und es ist mir nicht leichtgefallen, aus der Offenheit jenes Landes

Mr. Blank hört auf zu lesen. An die Stelle seiner Angst ist Verwirrung getreten, und obwohl er jedes Wort des Textes versteht, hat er keine Ahnung, was er daraus machen soll. Ist das ein Tatsachenbericht, fragt er sich, und was genau ist die Konföderation mit ihrer Garnison bei Ultima und den rätselhaften Fremden Territorien, und warum klingt diese Prosa, als stamme sie aus dem neunzehnten Jahrhundert? Mr. Blank ist sich durchaus bewusst, dass sein Kopf nicht arbeitet wie gewohnt, dass er über seinen Aufenthaltsort und den Grund seines Hierseins völlig im Dunkeln tappt, hält es aber für einigermaßen ausgemacht, dass der gegenwärtige Augenblick irgendwo am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts liegt und dass er selbst in einem Land lebt, das Vereinigte Staaten von Amerika heißt. Dieser letzte Gedanke erinnert ihn an das Fenster oder, genauer gesagt, an die Jalousie davor, an der ein weißer Klebstreifen mit dem Wort JALOUSIE befestigt ist. Die Fußsohlen auf den Boden und die Arme auf die Lehnen des Ledersessels gepresst, schwenkt er um neunzig bis hundert Grad nach rechts, um einen Blick auf besagte Jalousie zu werfen – denn der Stuhl bietet nicht nur die Möglichkeit,

Nach den drei Umdrehungen auf dem Stuhl ist ihm jedoch ein wenig schwindlig, und da er eine Wiederholung der Episode fürchtet, die ihn vor wenigen Minuten gezwungen hat, auf allen vieren durch den Raum zu kriechen, traut er sich nicht so recht von der Stelle. Mr. Blank ist sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, dass der Stuhl nicht nur vor- und zurückgeschaukelt

Haben Sie gut geschlafen?, fragt die Frau.

Ich bin mir nicht sicher, antwortet Mr. Blank. Um ganz ehrlich zu sein, ich kann mich nicht erinnern, ob ich geschlafen habe oder nicht.

Das ist gut. Das heißt, die Behandlung wirkt.