Informationen zum Buch

Die dunkle Macht der Düfte

Eigentlich wollte Jac L’Étoile auf der Insel Jersey ihrem Jugendfreund Theo Gaspard bei der Aufklärung eines keltischen Mythos helfen. Doch dann gerät sie auf die Spuren des verlorenen Tagebuchs von Victor Hugo, der Mitte des 19. Jahrhunderts Zuflucht auf der Insel suchte. Damals verschwanden immer wieder junge Mädchen, und es wurde von einem merkwürdigen Duft berichtet. Während Jac das Geheimnis dieses Duftes zu entschlüsseln versucht, muss sie sich eingestehen, dass sowohl Theo als auch sein verfeindeter Bruder eine rätselhafte Anziehungskraft auf sie ausüben. Als sie schließlich an einer mythischen Kultstätte ein Tagebuch Hugos finden, überschlagen sich die Ereignisse, und Jac gerät in tödliche Gefahr.

»Raffiniert, mit unvergesslichen Charakteren; eine wundervolle Mischung aus Spannung, Tempo und Erzählkunst.« Kate Mosse, Autorin von »Das verlorene Labyrinth«

»Rose ist eine ungewöhnlich begabte Geschichtenerzählerin. Ihre geschliffene Prosa und ihre verschachtelten Plots werden selbst den kritischsten Leser packen.« The Washington Post

MELISSE J. ROSE

DIE
INSEL DER
GEHEIMEN
DÜFTE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen
von Gesine Schröder und Max Stadler

aufbau digital

Gewisse Gedanken sind Gebete. Es gibt Augenblicke, in denen die Seele, welche Stellung auch immer der Körper einnehmen mag, auf den Knien liegt.

– Victor Hugo

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Eins

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Achtundzwanzig

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Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Anmerkungen

Nachbemerkung der Autorin

Danksagung

Über Melisse J. Rose

Impressum

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Eins

30. OKTOBER 1855

KANALINSEL JERSEY, GROSSBRITANNIEN

Jede neue Geschichte beginnt mit einem Schauder der Erwartung. An ihrem Ausgangspunkt ahnen wir schon, wohin sie uns führen wird, doch was uns schaudern lässt, ist der unentdeckte Weg dorthin. Diese absonderliche, seltsame Geschichte beginne ich am Meer. Seine Geräusche und Gerüche sind meine Satzzeichen. Seine Bewegungen meine Worte. Während ich schreibe, rennen Wellen zornig gegen die Küste an, und wenn sich das Wasser von den Felsen zurückzieht, sieht es aus, als weinten sie. Als wollte die Natur zum Ausdruck bringen, was in meiner Seele vor sich geht. Was ich nicht aussprechen, nur aufschreiben kann, nur heimlich und nur für dich, Fantine.

Dies ist die Geschichte eines Verlorenen. Eines Verbannten, der nicht nur seine geliebte Heimat, sondern seinen gesunden Verstand hinter sich ließ. Ich glaube, dass mir eine getreue und ehrliche Darstellung gelungen ist. Ob auch du es glauben wirst, kann ich nicht wissen. Doch wenigstens den Versuch schulde ich dir – den Versuch, mein Tun zu erklären und dir zu erhellen, wie dies alles zustande kam.

Die Geschichte nimmt ihren Anfang in Frankreichs Süden im September des Jahres 1843. Die erste Szene spielt, wie das Schicksal so will, am Meer.

Ich befand mich auf einer vierwöchigen Reise mit meiner Geliebten, Juliette D., die dir nur allzu gut bekannt ist. Wir waren seit drei Wochen unterwegs, als wir die Île d’Oléron erreichten. Es herrschte drückende Hitze, ohne jeden erfrischenden Hauch.

»So muss sich ein Sünder in der Hölle fühlen«, sagte ich auf der Fahrt in unser Hotel. Ich wusste ja nicht, wie ahnungsvoll meine Worte waren.

Wohin wir uns auch wandten, überall sprach man von dem grauenvollen Wetter und einer rätselhaften Seuche, die Dutzenden Kindern den Tod gebracht habe. Selbst meine Lieblingsbucht bot keine Erquickung. Keine frische Meeresbrise, kein Vogelgesang. Auf dem Weg durch die Marschen, wo ich von einem Büschel Seetang zum anderen schreiten musste, um nicht im Schlick einzusinken, waren die Stimmen der Sträflinge, die einer nach dem anderen zum Abendappell ihren Namen riefen, meine einzige Gesellschaft.

Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich angesichts des Meeres keine Freude. Es war, als hätte sich der Tod in meine Seele geschlichen. Als sei die Insel ein zu Wasser gelassener Sarg und der Mond eine Fackel.

Da wir das rätselhafte Fieber fürchteten und der Melancholie zu entkommen hofften, beschlossen wir, unseren Aufenthalt zu verkürzen, und trafen sogleich Vorkehrungen, um am nächsten Morgen abzureisen.

Am nächsten Tag auf dem Schiff waren die Gespräche der Seeleute ebenso bedrückend wie zuvor auf der Insel. Sie drehten sich um mehrere arme Seelen aus der Umgegend, die in jüngster Zeit ertrunken waren.

»Als wollte der Tod uns nachfolgen«, sagte ich zu Juliette.

Als wir endlich in Rochefort auf dem Festland eintrafen, waren wir niedergeschlagen, durstig und erschöpft. Da die Kutsche nach La Rochelle erst Stunden später fahren würde, beschlossen wir, am Marktplatz Erfrischungen zu uns zu nehmen. Das Café de l’Europe hatte geöffnet und war nicht allzu überfüllt. Wir setzten uns und bestellten Bier.

Es lagen Zeitungen aus. Juliette wählte die Charivari und ich Le Siècle.

In diesem Augenblick schob sich vor dem Fenster eine vierschrötige Frau vorbei und lenkte mich von der Titelseite ab. Sie hatte ein Kind bei sich, ein Mädchen von acht oder neun Jahren. Mit einem Mal stolperte die Frau und ging zu Boden. Das Kind stand einen Augenblick wie versteinert, als könne es nicht fassen, dass seine Mutter überhaupt zu fallen in der Lage sei. Dann kniete es sich mit ernstem, sorgenvollem Gesicht zu seiner Mama und bot ihr sacht die Hand.

Ich nahm das Bild tief in mich auf. Beim Schreiben würde ich die Szene wieder hervorholen können. Ich wollte die Sorge im Antlitz der Tochter und die Liebe in dem der Mutter, als ihr Kind ihr aufhalf, für alle Zukunft bewahren.

Dann wandte ich mich mit den üblichen düsteren Vorahnungen wieder der Zeitung zu. Politiker sind Narren und fechten närrische Kämpfe aus. Menschenleben stehen dabei auf dem Spiel, doch diese Männer erreichen mit ihren endlosen Possen nur, dass ihre Geldbeutel immer fetter werden. Wie stets war die Zeitung mit verdrießlichen Nachrichten über ihre Ränkespiele gefüllt. Spanien erlitt eine Krise … in Paris flammten erneute Kämpfe auf … und dann flimmerte mein eigener Name vor meinen Augen.

Ich war es gewohnt, Kommentare zu meinen politischen Schriften oder meiner Dichtung vorzufinden, doch dies war ganz anderer Art. Grauenhafte Worte sprangen mich an. Ich konnte kaum mehr atmen. Nein, es konnte nicht sein. Ich musste mich verlesen haben.

»Was gibt es, Victor?«

Ich sah hoch, doch Juliette verschwamm vor meinem Blick.

»Etwas Entsetzliches«, sagte ich und schob ihr die Zeitung hin. Die Worte, die ich soeben gelesen hatte, jagten mir durch den Kopf, ein unendliches Echo, das in den Stunden, Tagen, Monaten und Jahren darauf immer wiederkehren sollte.

»… ist eine Yacht gekentert … auch Monsieur Ch. Vacqueries Ehegattin, Leopoldine, die Tochter des Victor Hugo, war an Bord … fand man den Leichnam des Monsieur Pierre Vacquerie. Es wurde zunächst angenommen, Monsieur Ch. Vacquerie, ein erfahrener Schwimmer, sei stromabwärts abgetrieben worden, als er seine Ehefrau und seine Verwandten zu retten versuchte … förderte das Netz die sterblichen Überreste der bedauernswerten jungen Frau zutage …«

Ich erfuhr aus der Zeitung, was meine in Le Havre verbliebene Ehefrau Adèle schon seit Tagen wusste, was meine Söhne und meine andere Tochter längst erfahren hatten: Meine älteste Tochter, meine über alles geliebte Didine, war mit ihrem erst acht Monate zuvor angetrauten Ehemann bei Villequier in der Seine ertrunken.

In den Stunden darauf irrten Juliette und ich durch die Stadt, da die Kutsche, die uns nach Hause zurückbringen sollte, noch nicht abfahrbereit war. Juliette erzählte mir später, wie die Sonne auf uns herabbrannte, wie wir den Marktplatz hinter uns ließen und ins offene Land hinauswanderten, um der drückenden Hitze und den Blicken der Bewohner zu entfliehen. Auch sie hatten die Neuigkeit bereits gehört, hatten mich erkannt und verfolgten nun stumm unseren kleinen Trauerzug.

An all das blieb mir keinerlei Erinnerung. Ich stellte mir nur die entsetzlichen Bilder des Unfalls vor, sah das Boot vor mir, wie es die Seine hinuntersegelte. Wind peitschte den Fluss zu schäumenden Wellen auf. Ich sah das Boot schwanken. Stampfen. Rollen. Und kentern. Die wilden Strudel griffen begierig nach den Passagieren. Ich las im Antlitz meines Lieblings Staunen über die Rohheit des nassen Elements. Sah, wie sie sich mühte, der Strömung zu widerstehen. Wie sich ihr Kleid um sie her ausbreitete. Wie sie verzweifelt nach Luft schnappte, trübes Wasser schluckte und sank. Ich stellte mir ihr Gesicht unter Wasser vor. Wie sie immer bleicher wurde und ihre Hände hilflos ins Leere fassten. Wie Fische sich in ihrem schönen Haar verfingen. Ihre weit aufgerissenen Augen, die in der Düsternis nach einem rettenden Lichtstrahl suchten.

Der Bericht konnte unmöglich wahr sein, sagte ich ein ums andere Mal zu Juliette, als schon die Ahnung in mir aufstieg, dass er sehr wohl der schrecklichen Wahrheit entsprach, als sich schon die Trauer um mich ausbreitete wie ein Bach, ein Strom, ein Ozean; als ich selbst schon zu ertrinken drohte.

Wenn ich mich Didine doch zugesellen könnte! Es wäre eine Erlösung.

Mit jedem unserer Schritte bedrängte mich das Grauen der Ereignisse stärker. Schuld stürmte auf mich ein wie schäumende, windgepeitschte Brecher.

Während meine Tochter starb, war ich mit der Geliebten auf Vergnügungsfahrt gewesen. Adèle, meine Frau, ließ ich mit der Tragödie allein.

Schlimmer noch – wäre Didine je an Bord dieses Schiffes gegangen, wenn ich in Le Havre geblieben wäre? Vielleicht hätte man Adèle und mich ebenfalls zu der Bootsfahrt eingeladen. Wäre ich dabei gewesen, ich hätte sie womöglich retten können.

Doch ich war nicht dabei gewesen, und meine Herzenstochter, das Kind meiner Seele, war tot.

Kein größerer, unerbittlicherer Schmerz kann einen Menschen treffen als der Verlust seines Kindes. Ebendieser Schmerz war es, der mich endlich in jene Geistesverfassung versetzte, in der ich mich vor zwei Jahren bei meiner Ankunft auf Jersey als Verbannter aus meinem geliebten Frankreich befand. Ein Jahrzehnt der Trauer hatte mich auf ein schmales Gestade der Hoffnung gespült. Ich glaube an keine Religion noch an die Geistlichkeit und habe doch feste Überzeugungen. Ich glaube, dass wir noch einmal leben werden, dass mich und meine Lieben nach diesem ein neues Leben erwartet. Wie könnte ich auch nicht? Gäbe es keine Dauerhaftigkeit, welchen Sinn hätte da all das Leid, das wir zu erdulden haben? Was mich Tag um Tag am Leben hielt, war allein der Gedanke, dass Didine nicht für immer fort war.

Die Liebe zu meiner Tochter ist in dieser Geschichte die treibende Kraft. Mein Augapfel! Mein Sonnenschein! Gewiss hält jeder Vater seine Lieblingstochter für etwas Besonderes, aber sie war es wahrhaftig. Selbst in unserer irdischen Welt lebte sie ein höheres Leben. Ich kannte ihre Seele; sie hatte mich tief im Innern berührt. In dieser Welt des Leids, des Elends und der Ungerechtigkeit war Didine mein kleines Wunder, mein Glück. Und auf Jersey wurde sie zu meinem Wahn.

Wer jemanden verliert, der seinem Herzen so nahe war, der geht der Welt verloren. Er lebt nur mehr seinem Schmerz. Ohne den anderen zu existieren ist ihm eine untragbare Last. Allmählich erst kehrt er ins Leben zurück. Allmählich entwickelt er wieder Appetit, trinkt er Wein aus Genuss, nicht um seinen Durst zu stillen. Allmählich dringen wieder Worte zu ihm durch und gibt er Antwort. Lässt er sich hinreißen, sich über die Staatsmänner, die Geistlichen, die Regierenden zu empören. Allmählich kehrt er zurück. Und dann, eines Morgens, sieht er die Sonne über den Horizont steigen und begreift, dass die Tochter fort, er selbst aber am Leben ist.

Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass ein Schmerz, so unverrückbar wie meine Liebe, mir bleiben würde. Meine Trauer um Didine führte ein Eigenleben. Mein Verlangen nach einem Wiedersehen mit ihr hat nie nachgelassen. Nie ist mein Wunsch versiegt, ihre Stimme zu vernehmen, ihre Augen freudig aufleuchten zu sehen, zu spüren, wie sie sich neugierig über meine Schulter beugt, wenn ich schreibe. Ach, könnte ich noch ein einziges Mal mit ihr über meine Ideen sprechen – Ideen, die auch die ihren waren.

All die Jahre habe ich gehofft, sie würde mir im Traum erscheinen. Würde mir einen Besuch abstatten, und sei es hinter geschlossenen Lidern. Ich bekniete den schrecklichen Gott, der sie mir nahm, er möge mir erlauben, sie wiederzusehen, mich zumindest von ihr zu verabschieden. Mich bei ihr zu entschuldigen, weil ich nicht auf ihrer Beerdigung war. Ihr zu sagen, dass mein Schmerz nur umso größer sei. Ich flehte ihn, den Ungerechten, an, er möge mir nur einen kurzen Blick gewähren, damit ich sähe, dass sie das Tor durchschritten hatte und wohlbehalten im Himmelreich angekommen war. Nicht einmal im Schlaf wurde mir dies Wiedersehen gewährt.

So kam es, dass kurz nach unserer Ankunft auf Jersey, am Jahrestag von Didines Tod, die Bühnenautorin Delphine de Girardin, meine Freundin aus Kindheitstagen, für eine Woche aus Paris zu Besuch kam und neben allen erdenklichen Delikatessen und Annehmlichkeiten auch eine teuflische neue Form der Zauberei mitbrachte. Seither ist nichts mehr, wie es war.

Meine Tagesabläufe hier auf Jersey ähneln denen in Paris. Abends dinieren wir meist en famille, einfache Mahlzeiten aus Fisch und Gemüse, frischem Brot, Wein und Gebäck. Unsere Köchin ist keinen Deut schlechter als die in Frankreich, dabei aber jünger und anmutiger. Carolines Tarte Framboise ist so delikat wie ihre Lippen, von denen zu kosten sie mir manchmal erlaubt.

Für das erste Diner mit Delphine hatte Caroline ein Festmahl zubereitet, das mit einer Hummersuppe begann und mit einer Mousse au Chocolat den Ausklang fand. Vorzüglicher hätte es nicht einmal im Pariser Grand Véfour sein können.

Niemand erwähnte während der Mahlzeit Didines Todestag. Meine Ehefrau und ich lebten tagtäglich mit unserem Verlust; ein Datum mehr zu ehren als jedes andere wäre uns nicht in den Sinn gekommen. So gab es keinen Grund, den Tischgenossen mit makabren Themen den Appetit zu verderben. Stattdessen erzählte uns Delphine die neuesten Pariser Klatschgeschichten: Wie es unseren Freunden ergangen war, wer seine Residenz in die Provinz verlegt hatte, welche Schauspiele ein Erfolg gewesen und welche durchgefallen waren, die neuesten Herzensangelegenheiten und Skandale, welches Restaurant neu eröffnet und welches seine Türen geschlossen hatte.

Zuletzt berichtete sie von einer neuen Mode, welche die ganze Stadt in ihren Bann geschlagen hatte: Ein Gesellschaftsspiel namens Tischerücken. Sie sagte, es öffne eine Tür ins Totenreich.

Dies letzte Wort hallte schaurig von den Wänden wider. Bemerkte Delphine den Blick, den wir Eheleute wechselten? Sah sie, wie ich mich abwandte, als ich den Schmerz in Adèles Augen nicht ertrug? Wie mein Sohn Charles zu hastig seinen Becher leerte und sein Bruder François-Victor sich räusperte? Und wie meine Jüngste, die nach der Mutter Adèle heißt, zu Boden blickte, weil ihr Tränen in die Augen traten?

Delphine bemerkte nichts von alledem. Atemlos fuhr sie in ihrer Schilderung fort, berichtete von Séancen, die sie besucht, und von Geistern, die sie dort gesehen habe.

Mich hatte seit je die Neugier auf die Fähigkeit des Geistes, sein beinernes Gefängnis hinter sich zu lassen, umgetrieben. Im Zuge eines meiner Experimente hatte ich mit Balzac und Dumas den Klub der Haschischesser gegründet. Das süße Harz bescherte tatsächlich Träume jenseits all meiner Erwartungen. Doch ging die Reise tiefer in mich selbst hinein, statt hinaus ins Unbekannte. Das aber war es, was ich mir ersehnte: die engen Grenzen meines Selbst zu überwinden.

Auch die provokanten Thesen des Franz Anton Mesmer faszinierten mich. Er hatte das Fluidum entdeckt, ein unsichtbares Prinzip, welches unsere Körper miteinander und mit dem All verbindet. Ich hatte selbst erlebt, wie Magnete bei meinem Sohn François-Victor eine Stockung lösten und ihn von einer Krankheit heilten. Einmal hatte ich einem Magnetiseur erlaubt, mich in Trance zu versetzen, in der Hoffnung, ich werde mit empfindlicheren Sinnen daraus erwachen, vielleicht auch in der Lage sein, die Zukunft vorherzusehen. Doch der Zustand, den ich mir ersehnte, blieb mir verwehrt.

Delphines Spiritismus klang nun vielversprechend. Der Vater dieser geistigen Bewegung, ein gewisser Hippolyte Léon Denizard Rivail, der sich inzwischen Allan Kardec nennen ließ, erklärte, dass das Zwiegespräch mit Toten möglich sei. Er war der Auffassung, wir Geisteswesen lebten viele Leben. Wir seien schon früher auf der Welt gewesen und kehrten dereinst zurück. Bei seinen Vorträgen behauptete er, die Lehre von der Seelenwanderung einst als keltischer Druide erlernt zu haben und schon zuvor im alten Griechenland als Schüler des Pythagoras.

Diese Ahnenreihe überraschte mich, denn es gab, wie ich sogleich Delphine erzählte, auf Jersey hunderte keltischer Überreste. »Bei jedem Ausflug in den Wald oder ans Meer stolpern wir über die Ruinen ihrer Tempel und Gräber«, sagte ich.

Delphine bat mich, sie gleich am kommenden Nachmittag herumzuführen, und als ich es versprach, erzählte sie weiter von ihren Erlebnissen bei Séancen in Paris.

»Aber wie kommt bei diesem Tischerücken das Gespräch mit dem Jenseits zustande?«, fragte meine Frau.

»Nun, wir wählen aus unserem Kreis ein Medium. Er oder sie legt die Hände auf einen kleinen dreibeinigen Hocker, der auf dem Tisch platziert worden ist. Die Geister sprechen, indem sie mit den Hockerbeinen Botschaften klopfen. Das Zwiegespräch mit Geistern«, sagte sie, »ist groß in Mode.«

Wir überfielen sie mit Fragen, die sie geduldig beantwortete. »Ach, es lässt sich alles schwer erklären«, sagte sie endlich. »Viel besser wäre es, wenn ich es vorführen dürfte. Halten wir doch selbst eine Séance ab.« Sie blickte fragend in die Runde. »Sollen wir?«

Alle waren begeistert, bis auf meine Ehefrau.

»Bien«, sagte Delphine. »Wir sind zu sechst. Wenigstens einer in der Runde sollte in der Lage sein, Kontakt aufzunehmen.«

Das Ganze kam mir harmlos vor. Ich war von der Idee gefesselt, doch auch skeptisch. Es klang zu spielerisch, zu leichtfertig, auf diese Weise mit dem Totenreich Verbindung aufzunehmen.

Und so nahm das Schicksal seinen Lauf.

An jenem ersten Abend saß ich nicht selbst am Tisch, sondern sah nur zu, wie ein Mitglied unserer kleinen Gesellschaft nach dem anderen sich bemühte, aus dem Hocker einen Geist hervorzulocken. Keinem gelang es, doch das Verlangen packte sie nur umso mehr. Sie waren wild entschlossen, die neuentdeckten Möglichkeiten auch zu nutzen. Deshalb bat mich Delphine tags darauf, als wir einige der seltsamen Ruinen besichtigt hatten, sie in den Ort zu begleiten, wo sie einen kleineren Hocker erstehen wollte. Vielleicht, sagte sie, sei unser klobiges, vierbeiniges Möbel das Hindernis.

Doch auch mit dem schlankeren Dreibeiner änderte sich nichts.

Nach vier Tagen wurde ich das Spielchen leid und ermunterte die anderen, diese Torheit aufzugeben.

»Nur einen Versuch noch«, bat mein Ältester flehentlich. »Diesmal sollten Sie mit am Tisch sitzen, Papa, und ich lege die Hände auf den Hocker. Das ist die einzige Kombination, die wir nicht erprobt haben.«

Wider besseres Wissen willigte ich ein. Ich urteilte allzu oft harsch über Charles und hatte auf Jersey den Vorsatz gefasst, ihm mehr Anerkennung zu erweisen.

Unser letzter Versuch fiel auf den Abend des elften September.

Zum Diner empfingen wir an jenem Tag Delphine, Auguste Vacquerie, General Le Flo und Pierre de Revenue. Es gab Geflügelbraten, Kräuterkartoffeln, zarte Spargel und Apfeltarte. Dazu tranken wir guten Rotwein, den ich jedoch kaum anrührte. Da ich später an der Séance teilnehmen würde, wollte ich wach und empfänglich bleiben, falls etwas geschah. Wein benebelt die Sinne und verursacht Schläfrigkeit. Statt seiner führte ich mir, als Delphine die Sitzung vorbereitete, ein wenig Haschisch zu, das meinen Geist anregen, mein Bewusstsein schärfen und meine Aufnahmefähigkeit erhöhen sollte.

Unser Haus auf Jersey sieht auf den Ärmelkanal hinaus. Öffnet man ein Fenster, so hört man das Meer. An jenem Abend war es besonders gesprächig. Seine Wellen stürmten unablässig auf die felsige Küste ein und unterlegten unser Schweigen mit zornigem Donnerhallen, als wir unsere Plätze am Kartentisch einnahmen. Es klang rastlos, wollte mir scheinen; als wartete auch das Meer voll ängstlicher Ungeduld darauf, dass etwas Besonderes geschah.

Und das tat es auch. Diese vierte Séance war beglückend und entsetzlich zugleich. Sie war von einer Macht, gegen die weder Mensch noch Tier noch Gott etwas ausrichten kann. Uns eröffnete sich in jener Nacht eine neue Welt, eine Welt jenseits des Meers, des Himmels, jenseits der entferntesten Sterne. Wir entdeckten einen Riss in der Mauer, welche die Gegenwart von der Vergangenheit trennt. Als am Abend jenes elften September 1853 der Seewind zu den Fenstern des Salons hereinblies, brachte er das Undenkbare ins Haus. Das Meer heulte in wildem Protest. Und ein einfacher Sterblicher wurde mit einer Gabe in Versuchung geführt, die ihn – und dich, Fantine – leicht ins Verderben hätte reißen können.

»Leg deine Fingerspitzen hier oben auf den Hocker«, sagte Delphine.

Charles tat wie geheißen.

»Was auch geschieht, du darfst deine Hände nie wegziehen. François-Victor, du schreibst alles genau auf, wenn der Hocker auf den Tisch klopft. Einmal klopfen heißt ja, zweimal nein. Und denk daran, ganze Wörter werden ausbuchstabiert – wie oft geklopft wird, entspricht der Position des Buchstabens im Alphabet. Wir können das Gespräch dann später entschlüsseln.«

Wir setzten uns im Kreis um den Kartentisch herum, in dessen Mitte der kleine Hocker stand. Erwachsene Menschen bei einem Gesellschaftsspiel. Neugierig waren alle, doch einen trieb ein so starkes Verlangen, dass es bis in den Äther ausstrahlte, bis in die Geisterwelt.

Während ich noch wartete, gestand ich mir ein, wie gerne ich an diesen Budenzauber glauben wollte. Ich brauchte die Verbindung ins Totenreich. Gerade hatte sich Leopoldines Todestag zum zehnten Mal gejährt, und ich sehnte mich verzweifelt nach einem Zwiegespräch mit meiner Tochter.

»Öffnet euren Geist«, wies Delphine uns an. »Lasst die Seelen der Toten zu euch kommen. Heißt sie willkommen und ladet sie ein, zu uns zu sprechen.«

Nichts geschah. Mit jeder Sekunde, die verstrich, flaute meine Hoffnung weiter ab. Dann, nach fast einer Minute, begann sich der Hocker zu bewegen. Eines seiner Beine klopfte auf den Tisch. Und dann wieder. Und wieder.

»Ist jemand in unserer Mitte?«, fragte Delphine. »Bist du es, Leopoldine?«

Tock, tock.

Dies trockene Klopfen von Holz auf Holz werde ich nie vergessen. Es klang wie das Brechen dünner Äste. Wie der Deckel einer Truhe. Ein unschuldiges Geräusch, so dachte ich. Wie sehr ich mich irrte! Denn mit jedem Klopfen schlug die Saat des Wahnsinns neue Wurzeln in dem Boden meines Geistes. Das Klopfen war lasterhaft, gottlos. Es war verderbt.

»Ist da jemand?«, schrie meine Ehefrau voller Angst.

Weitere Klopfer folgten in längeren Abständen. François-Victor machte sich pflichtbewusst Notizen, doch ich war fest überzeugt, dass sich kein Muster herauslesen lassen würde. Delphine war anzusehen, dass sie dasselbe dachte.

Wieder ein Fehlversuch, dachte ich.

Doch dann änderte sich der Rhythmus. Das Klopfen klang jetzt dringlicher, entschlossener.

Während François-Victor wieder jedes Klopfen zählte und notierte, gelang es mir, die Worte vorauszuahnen, als spräche jemand direkt zu mir. Ich verstand dieses Flüstern der Luft. Ach, es ist nicht leicht zu erklären, selbst für mich nicht. Wie so vieles, was noch folgen soll. Aber glaube mir: Während dieser Séance, wie auch während der vielen weiteren danach, vernahm ich die Stimmen der Geister. Nicht laut; nicht so, dass alle es hören konnten. Doch sie entsprangen auch nicht meiner Einbildungskraft.

Ich bin hier. Ich bin bei euch.

Dann hörte das Klopfen auf. Der Hocker regte sich nicht mehr. Dieses Mal geschah volle zwei Minuten lang nichts. Ich wollte mich schon vom Tisch erheben, als es wieder einsetzte. Der Hocker zitterte, rutschte ein Stück weg und wieder heran. Rief etwa Charles diese Bewegungen hervor?

»Bist du der Geist, der uns soeben schon einmal besucht hat?«, fragte Delphine.

Es klopfte zweimal.

Nein.

»Wer bist du?«, fragte sie.

Der Hocker klopfte lange und gleichmäßig. Zwanzig Mal zählte François-Victor. Dann wurde es still.

T.

Dann klopfte es fünfzehnmal.

O.

Dann nur drei Klopfer und eine Pause.

C.

Dann achtmal.

H.

Ich hatte in einer Sekunde erfasst, wofür der Hocker Minuten brauchen sollte. Ein Wort nur: Tochter.

»Bist du es wirklich, Didine?«, keuchte ich. »Bist du es?«

Ich brauchte die ermüdenden Klopfzeichen nicht. Ich wusste es. Dennoch klopfte es ein einziges, beglückendes Mal.

Ja.

»Bist du glücklich?«

Ja.

»Wo bist du?«

Licht.

»Wie können wir dir nahe sein, mein Liebling?«

Liebe.

»Wachst du über uns und siehst unser Unglück?«

Ja.

Ich bin geübt darin, anderen die Regungen ihres Herzens an den Gesichtern abzulesen, ohne mich von Worten irreleiten zu lassen. Als jener Hocker die Antworten auf unsere Fragen gab, suchte ich bei meinen Gefährten nach Anzeichen von Arglist und Betrug. Bewegte etwa Charles aus Verzweiflung und Trauer den Hocker? Oder war er grausam genug, sich in dieser ernsten Stunde einen Scherz zu erlauben?

Ich fragte ihn offen danach, und er versicherte, er habe das Möbelstück nicht absichtlich bewegt. Hatten meine anderen Kinder etwas damit zu schaffen? Oder meine Ehefrau? Sie litt unter meinen Tändeleien, doch sicher grollte sie mir nicht genug, um mich derart zu bestrafen. Zu solchen Streichen war Adèle nicht imstande. Sie schluchzte sogar, und unsere Tochter Adèle gab ihre eigenen Tränen dazu.

Nein, es war keine Schelmerei. Vor uns stand der dreibeinige Hocker der Sibylle.

Ich stellte Didine noch eine letzte Frage.

»Wirst du wiederkommen und wieder zu uns sprechen?«

Ein einzelnes Klopfgeräusch war die Antwort. Ein Ja, bei dem mein Herz jubilierte.

Und so veränderten nur wenige Augenblicke ein ganzes Leben.

Ich, der ich nicht an Spukgeschichten glaubte, ließ selbst die kühnsten Möglichkeiten gelten. Oder, wie ein Priester sagen würde, ich ließ den Teufel in mein Leben ein.

Und ich tat weit mehr als das. Ich bot dem Teufel ein wärmendes Herdfeuer und einen annehmlichen Ruhesessel und meine unbeschränkte Gastfreundschaft. Ich gewährte ihm Einlass in meine Seele.

Zwei

GEGENWART, 14. AUGUST

UPSTATE CONNECTICUT, USA

Seit sie vor sechs Wochen aus Paris zurückgekehrt war, hatte Jac L’Étoile sich jeden Morgen beim Aufwachen geschworen, den Rat ihres Bruders zu befolgen und präsent zu sein. Robbie hatte ihr beim Abschied eine lockige Strähne hinters Ohr gestrichen, sie auf die Stirn geküsst und gesagt: »Wenn du das schaffst, Jac, nur das, wirst du endlich zur Ruhe kommen.«

Jetzt, da sie mit Malachai Samuels über die Wiesen stapfte, versuchte sie, wie Robbie es formuliert hätte, achtsam zu sein, ganz im Hier und Jetzt. Sie wollte nicht zulassen, dass ihr Geist abschweifte und in tiefe Trauer versank.

Sei präsent.

Es gab so vieles, wofür es sich lohnte, präsent zu sein. Die Luft war von einem frischen Duft nach Äpfeln und Laub erfüllt. Malachai war bei ihr, ihr Mentor, dem sie vertraute, und wollte ihr etwas Wichtiges zeigen.

Vor ihnen tauchte eine Grenzlinie aus Schildern mit der Aufschrift »Betreten verboten« auf. Während sie sich ihnen näherten, zog sich der heitere Sommerhimmel zu. Die knisternde Spannung eines nahenden Sturms brachte die Luft zum Flirren, und Jac schauderte. Eine Vorahnung, dass sie besser umkehren sollten. Dann tadelte sie sich selbst für ihre kindische Reaktion. Das hier war kein Schauermärchen. Sie war nicht Gretel. Und Malachai war ganz bestimmt nicht Hänsel. Er war ein in Oxford ausgebildeter Psychoanalytiker und der Vizedirektor der renommierten New Yorker Phoenix Foundation, einer anderthalb Jahrhunderte alten Institution, die sich mit Reinkarnationsforschung befasste. Ihm gehörten diese Ländereien. Sie waren seit fast zweihundert Jahren im Besitz seiner Familie. Hier konnte ihr nichts passieren.

Vorhin, nach dem Mittagessen, hatte Malachai sie gebeten, mitzukommen, weil er ihr etwas zeigen wolle.

»Was denn?«, hatte sie gefragt.

»Meinen geheimen Garten«, hatte er nur geantwortet.

Malachai war kompromisslos verschwiegen, eine Eigenschaft, die mal altmodisch und mal erfrischend neuartig wirkte. Er war ein Taschenspieler, der nie seine Tricks verriet. Der Kinder von ihren Alpträumen erlöste, ohne seine Geheimformel preiszugeben. Er war ein Magier. Vielleicht der einzige wahre Zauberer, den Jac je kennengelernt hatte. Er hatte, als sie vierzehn war, die Halluzinationen, an denen sie seit Jahren litt, in der frischen Schweizer Alpenluft einfach verschwinden lassen.

Jac und Malachai verließen das mit Erkern und Wasserspeiern verzierte Herrenhaus durch die Flügeltüren des Salons. Steinerne Stufen führten von dort in einen gepflegten Ziergarten, dessen sommerliche Pracht sich allmählich dem Ende zuneigte. Sie folgten einem kiesbedeckten Weg, der sich zwischen kunstvoll wuchernden Beeten voller Hortensien, Steinkraut, rosa Rosen und Blaurauten hindurchschlängelte.

Der Blumenduft begleitete die beiden durch das schmiedeeiserne Gartentor. Am viktorianischen Pavillon gesellte sich noch das Aroma frisch gemähten Grases hinzu.

Ein paar Dutzend Meter weiter lag eine Apfelplantage. Die Bäume waren alt und knorrig, aber die Zweige hingen voller harter, grüner Früchte, die erst nach Wochen reif werden würden.

Hinter den Obstbäumen erstiegen sie eine kleine Anhöhe und näherten sich dem Wald. Hier endeten die kultivierten Flächen und begann die ungezügelte Natur. Kein Zeichen menschlichen Wirkens war mehr zu sehen außer den handgeschriebenen Warnschildern, die alle zwei Meter schief an unbehauenen Holzpflöcken hingen.

Privat – Betreten verboten.

Zuwiderhandlungen werden strafrechtlich verfolgt.

Gilt für Pilger wie Touristen.

Pilger?

Jac wollte Malachai danach fragen, aber er war schon vorausgegangen und erwartete sie jenseits der unsichtbaren Grenzlinie am Rande eines Tannen- und Kieferngehölzes. Gemeinsam betraten sie den Wald.

Die blaugrüne Finsternis und die Gerüche überwältigten Jac. Normalerweise mochte sie den Harzgeruch der Nadelbäume, aber hier war er viel zu intensiv. Stechend. Es fühlte sich an, als bohrten sich die feinen Spitzen der Tannennadeln in ihre Geruchssensoren.

»Schön hier, nicht?«, fragte Malachai und breitete die Arme aus, als wollte er den ganzen Wald umarmen.

»Ja«, sagte sie, aber insgeheim fand sie, dass hier neben Schönheit auch Rohheit herrschte. Der urtümliche Wald, der ringsumher aufragte, kam ihr bedrohlich vor. Sie fühlte sich winzig im Vergleich zu den Bäumen. Diese Kiefern hatten ihre Mutter überlebt. Viele waren älter als ihre Großmutter. Ihnen gehörte dieses Land. Sie war bloß ein Eindringling.

Jac und Malachai waren jetzt ganz von Schatten umgeben, in sie eingetaucht. Die Bäume standen so dicht, dass sie jeden Sonnenstrahl abschirmten, der noch durch die Wolken drang. Jac fühlte sich in eine alles durchdringende Dunkelheit gehüllt.

Als Produzentin und Autorin einer Fernsehsendung über die wahren Ursprünge von Mythen wusste Jac nur allzu genau, wie bedeutsam Schatten für die Griechen der Antike und die alten Ägypter waren.

Von allen mythischen Geschichten, mit denen sie sich befasst hatte, war eine beängstigender als alle anderen und suchte sie immer wieder in ihren Träumen heim – die von Agaue, der Mutter des Pentheus. Dionysos raubte ihr ihren Schatten und mit ihm ihre Identität als Frau und Mutter. Sie wurde männlicher, bösartiger, grausamer und weniger emotional. Ihre rationalen Impulse wurden mehr und mehr von irrationalen verdrängt, bis die Leidenschaften ganz über den Verstand triumphierten. Immer öfter verfiel sie in Raserei, siegte das unbewusste über das bewusste Selbst, bis sie eines Tages in einem letzten, zügellosen Blutrausch das Unvorstellbare tat. Agaue tötete ihren eigenen Sohn.

Und dann, nach dem Kindsmord, ereilte sie das Schicksal, das Jac so verstörte. Das schwerste Los von allen. Nachdem Agaue ihren eigenen Sohn zu Grabe getragen hatte, überlebte sie ihn um viele Jahre und litt unaufhörlich an dem Verlust.

Jac kannte C. G. Jungs Ausführungen über den Schatten als Summe aller negativen, unzugänglichen Aspekte einer Persönlichkeit. Der Schatten war derjenige Teil der Psyche, dem man sich stellen und mit dem man sich aussöhnen musste, um ganz zu werden. Jac wusste, dass sie sich längst nicht allen ihren Schattenseiten gestellt hatte und dass sie eines Tages nicht darum herumkommen würde.

Auch Malachai wusste das. Er hatte sie vor siebzehn Jahren in der Schweizer Klinik Blixer Rath mit C. G. Jungs Methoden therapiert. Sie hatten viel über ihren Schatten gesprochen.

»Geht es dir gut?«, rief Malachai ihr über die Schulter zu.

»Sicher«, war alles, was sie herausbrachte. Wie hätte sie ihre merkwürdige Überreaktion auf diesen Ort zur Sprache bringen können, ohne ihn nervös zu machen? Seit ihrer Reise nach Paris beobachtete er sie viel zu genau. Sie war im Mai zum ersten Mal seit Jahren dorthin gefahren, um ihrem Bruder bei der Suche nach einem geheimnisvollen Buch mit Parfümrezepturen zu helfen, das Teil ihrer Familienlegende war. Am Ende hatte sie sogar Robbies Leben gerettet, aber die Gefahren, in die sie sich begeben hatte, und die Erinnerungen, die dabei heraufbeschworen wurden, hatten sie aus ihrem seelischen Gleichgewicht gebracht. Seitdem benahm sich Malachai wie ein Arzt, der minütlich Fieber maß. Ständig wollte er wissen, ob es ihr gutging. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte Jac ihn nicht mehr so besorgt erlebt.

Nein, Jac wollte ihm auf keinen Fall diesen Ausflug verderben. Malachai war es offenbar wichtig, ihr einen ganz speziellen Ort zu zeigen. Nach allem, was er für sie getan hatte, war es das Mindeste, dass sie jetzt durchhielt. Dennoch zögerte sie und sah sich um. Aus welcher Richtung sie gekommen waren, war nicht mehr zu erkennen. Selbst wenn sie versucht hätte, zu entkommen, gab es keinen Ausweg mehr. Sie hatten keine Spuren hinterlassen.

Entkommen?

Sie begaben sich schließlich nicht in Gefahr, sondern machten einen Spaziergang durch Malachais Ländereien. Ihre Phantasie musste mit ihr durchgegangen sein.

Sei präsent.

In einigem Abstand hinter Malachai trottete Jac weiter den Pfad entlang, der sich jetzt unter gewaltigen Kiefern hindurchwand. Überirdische Wurzeln und abgebrochene Zweige, die sich unter dem dichten Nadelteppich verbargen, ließen ihn tückisch werden. Sie stolperte, und Malachai, der weit voraus war, bemerkte es nicht. Nur die Vögel wurden Zeuge ihrer Ungeschicklichkeit. Sie richtete sich auf und lief weiter.

Plötzlich hörte sie aus einiger Entfernung ein Geräusch und nahm neue Gerüche war. Beides war nicht leicht einzuordnen, bis sie über eine Erhebung schritten und dahinter an einen Wasserfall kamen, der über Felsblöcke zu Tal rauschte. Die feine Gischt, die Jacs Gesicht benetzte, roch metallisch, die Luft nach Petrichor, dem Duft von regenfeuchter Erde. Er wurde immer intensiver, je weiter sie dem rauschenden Bach hangaufwärts folgten.

»Haben wir ein festes Ziel?«, fragte Jac schließlich, nachdem sie über eine halbe Stunde gelaufen waren. »Oder zeigst du mir nur die Ländereien?«

Ein umgestürzter Nadelbaum, Opfer eines Sturms oder eines Parasiten, versperrte ihnen den Weg.

»Zeit ist viel zu kostbar, um sie zu vertändeln. Ich habe immer ein festes Ziel. Das solltest du doch wissen. Und unser heutiges Ziel könnte genau das sein, wonach du suchst.«

»Wie meinst du das?« Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, wusste Jac, dass Malachai ihre Frage nicht beantworten würde. Er liebte es, zu provozieren. Während sie ihn dabei beobachtete, wie er wegen seiner Hüftverletzung ungelenk über den umgestürzten Baum hinwegkletterte, beschlichen sie Sorgen um seine Gesundheit. Sie wusste nicht genau, wie alt er war, schätzte ihn aber auf Mitte sechzig oder älter. Er war der entschlossenste Mensch, den sie kannte. Manchmal ließ seine emotionslose Art, einmal gefasste Ziele zu verfolgen, ihn beinahe übermenschlich erscheinen. Aber das war er nicht. Er würde nicht immer für sie da sein können.

Da tat sie es schon wieder: Sie driftete in negative Gedanken ab. Seit ihrer Rückkehr aus Paris war sie anfälliger als sonst. Existentielle Dilemmas, die sonst ihre Neugier erregten, fand sie jetzt zutiefst verstörend.

Wir sind alle verletzlich. Jeden Moment kann das Schicksal zuschlagen. Es gibt fast nichts, das wir kontrollieren können.

Malachai klopfte sich nach seiner Kletterpartie die Hände ab.

»Wir sind fast da«, sagte er und nahm seinen Weg wieder auf.

Nach weiteren drei oder vier Minuten wand sich der Pfad nicht mehr, sondern verlief zielsicher und gerade wie der Mittelgang einer Kathedrale zwischen knorrigen Eichenstämmen hindurch. An seinem Ende konnte Jac eine Lichtung erkennen.

Malachai breitete theatralisch die Arme aus. »Willkommen in meinem geheimen Garten.« Er lächelte geheimnisvoll und führte sie in das Eichengehölz. Es war kühl und schattig. Der sinnliche, erdige Duft von Eichenmoos erfüllte die Dunkelheit.

Getrocknetes Eichenmoos duftet nach Rinde, nach Laub, manchmal sogar nach Meer. Aber seine Bedeutung lag schon seit der Antike nicht in diesem Eigengeruch. Seinen wahren Wert bewies es als Bindeglied: Eichenmoos harmonisierte die einzelnen Parfümbestandteile miteinander und verlieh dem Endergebnis eine seidige, cremige Note. Eine unvergleichliche Fülle und Langlebigkeit.

»Das sind wunderschöne Bäume«, sagte Jac.

»Majestätisch.«

Auch die Eiche spielte eine wichtige Rolle in der Mythologie und war daher für Jac von besonderer Bedeutung. »Die Bezeichnung ›Druide‹ bedeutet ›der Eichenkundige‹«, sagte sie. »Druiden haben ihre religiösen Rituale in Eichenwäldern abgehalten.«

»Interessant, dass du ausgerechnet auf keltische Mythologie zu sprechen kommst.«

»Wieso interessant?«, fragte Jac.

Malachai lächelte nur wieder und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Der Pfad war von einer dicken Schicht aus Laub, Zweigen und Eicheln bedeckt. Wieder geriet Jac ins Stolpern. Alles verlangsamte sich, als sie das Gleichgewicht verlor.

Bevor sie zu Boden stürzen konnte, packte Malachai sie am Arm und half ihr, sich wieder aufzurichten.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er in dem besorgten Ton, den sie den Sommer über schon so oft von ihm gehört hatte.

»Ja, danke.«

»Man kann unter all dem Laub die Wurzeln und Erdlöcher nicht erkennen. Du musst vorsichtig sein.«

Jac nickte. Sie hatte mehr auf alles andere geachtet als auf den unebenen Boden. Das Aroma von Moos, halbverrottetem Laub und feuchter Erde berauschte sie fast. Es umschmeichelte sie, gaukelte ihr vor, sie könne das Verstreichen der Zeit einatmen. Es war der Geruch von Erde, die sich Jahr für Jahr erneuerte, von Flora und Fauna, die sich regenerierten und zum Nährboden für neues Wachstum wurden.

Es hätte der Geruch der Wiedergeburt sein können. Doch Jac roch den nahenden Herbst. Sie roch den Tod.

Sie erreichten die Lichtung. Große Felsblöcke waren dort zu zwei konzentrischen Kreisen zusammengestellt. Wie bei zahlreichen ähnlichen Kalendarien, die Jac hier in Neuengland und in Europa gesehen hatte, war die Funktion dieses Arrangements leicht zu erraten. Kein Wunder, dass Malachai auf ihren Verweis auf die keltische Mythologie gleich eingestiegen war.

Ihr Gastgeber begleitete sie auf dem Weg um die eindrucksvolle Ruine herum.

»Du hast die Steine doch sicher datieren lassen«, sagte Jac.

»Sie müssen schon vor 2000 vor Christus hier gewesen sein.«

»Unglaublich.« Jac war begeistert.

Sie begann ihre Inspektion an einem Felsblock, der etwas außerhalb des Steinkreises lag. Aufmerksam untersuchte sie seine Seiten und die zerfurchte Oberseite. »Diese Rußreste sehen aus, als wäre das hier eine Kultstätte gewesen.«

»Ganz meiner Meinung«, sagte er. »Aber es hat sich bisher nicht verifizieren lassen.«

»Tja, es ist schwer, aus solchen Spuren detaillierte Schlüsse zu ziehen. Es gibt so vieles, das wir über die Vergangenheit nie erfahren werden«, flüsterte sie, fuhr mit den Fingerspitzen über die verwitterte Steinplatte und versuchte sich vorzustellen, was – oder wer – einmal darauf gelegen hatte.

Malachai lachte spöttisch. »Und so vieles, das wir sehr wohl erfahren könnten, wenn wir bereit wären, die Grenzen der traditionellen Wissenschaft hinter uns zu lassen.«

Jac war verletzt, sagte aber nichts. Malachai war einer der weltweit bedeutendsten Reinkarnationswissenschaftler. Sie hatten sich in den vergangenen Monaten oft genug darüber auseinandergesetzt, dass Jac sich weigerte, die Reinkarnation als Tatsache anzuerkennen. Gut, sie hatte in Paris ein paar schwer erklärbare Halluzinationen gehabt. Aber deswegen mussten es noch lange keine Regressionsschübe gewesen sein. Und ja, sie schienen von einem olfaktorischen Reiz ausgelöst worden zu sein. Aber das war nicht unbedingt ungewöhnlich. Es gab eine ganze Reihe natürlicher Substanzen, die halluzinogen wirken konnten, wenn man sie aß, trank oder einatmete. Seit Urzeiten hatten sich Schamanen und Mönche, Mystiker und Sufis ihrer bedient, um sich in meditative Zustände zu versetzen und Visionen zu empfangen.

Malachai war fest überzeugt, dass ihre geistigen Achterbahnfahrten nichts anderes gewesen waren als Erinnerungen an ihre früheren Leben, aber Jac war einfach nicht ganz bereit, sie als solche anzuerkennen. Irgendwann hatte sie Malachai gebeten, sie nicht weiter zu bedrängen; sie brauche Zeit, das Geschehene zu verarbeiten. Widerstrebend hatte er nachgegeben. Aber das hielt ihn nicht von gelegentlichen spitzen Bemerkungen ab.

»Was denkst du, wer diese Kreise errichtet hat? Die Indianer?«, fragte Jac, um das Gespräch auf die Ruine zurückzulenken.

»Wir haben Pfeilspitzen und Tonfragmente gefunden, die auf Paleo-Indianer hindeuten, aber wir glauben, dass vor ihnen schon andere da waren.«

»Also denkst du tatsächlich, dass das hier keltischen Ursprungs ist?«

»Gehen wir weiter; es gibt noch viel mehr zu sehen.«

Dieser Steinkreis allein wäre schon den Fußmarsch wert gewesen. »Noch mehr? Im Ernst? Das ist wirklich unglaublich, Malachai. Wie viele Fundstellen gibt es denn hier?«

»Etliche. Das hier sind zehn Hektar Land, und wir haben schon mindestens fünf Ruinen gefunden, die so alt sind wie die hier.«

»Seit wann ist das Land schon in eurem Familienbesitz?«

»Eine Gruppe von Transzendentalisten hat dieses Land entdeckt und hielt es für einen heiligen Ort. Aber mein Vorfahr Trevor Talmage hatte als Einziger von ihnen die nötigen finanziellen Mittel, um es in seinen Besitz zu bringen. Er kaufte es in den 1870er Jahren mit dem Vorsatz, hier einen spirituellen Rückzugsort zu schaffen. Die Pläne dazu lagern in der Bibliothek.«

»Was ist daraus geworden?«

»Er wurde erschossen, bevor er sie verwirklichen konnte.«

»Wie furchtbar.«

»Der Schuldige wurde nie gefunden. Ich selbst gehe von Brudermord aus. Mein Vorfahr Davenport Talmage war nach dem Mord in einer ziemlich begünstigten Position. Er heiratete die Witwe seines Bruders, adoptierte dessen Kinder, übersiedelte in den Familiensitz und übernahm die Verwaltung des gesamten Vermögens. Jüngere Brüder tragen manchmal einen gewaltigen Groll mit sich herum.«

Jac fragte sich, ob noch etwas anderes hinter Malachais Aussage stand. Der Tonfall, in dem er von Davenport sprach, klang erstaunlich wohlwollend dafür, dass dieser vielleicht ein Mörder gewesen war.

Inzwischen hatte sich der Wald gelichtet. Auf ihrem Weg über Wiesen und zwischen dichten Büschen hindurch kamen sie an einem Erdhügel vorbei, in den eine kleine steinerne Hütte eingebaut war – nur der Eingang war zu sehen. Es schien noch ein weiteres keltisches Bauwerk aus demselben Zeitraum zu sein. Jac konnte es kaum erwarten, es sich näher anzusehen, und fragte Malachai, ob sie hingehen könnten.

»Auf dem Rückweg«, sagte er.

»Das ist ja eine echte Schatzkammer. Warum habe ich davon noch nie etwas gelesen? Wie habt ihr es all die Jahre unter Verschluss halten können?«

»Nur unter großen Mühen. Vor allem, weil Trevor Talmages Tod so aufsehenerregend war. Historiker mögen nichts lieber als spektakuläre Todesfälle in der Familiengeschichte. Es war alles andere als leicht, diesen heiligen Ort geheim zu halten.«

»Besonders, wenn man an das Spektakel denkt, das du als Reinkarnationswissenschaftler veranstaltest. Ständig wegen seiner bahnbrechenden Forschung über Regressionstherapien in der Zeitung zu stehen ist nicht gerade die überzeugendste Strategie, um von sich abzulenken«, witzelte Jac.

»Eher nicht«, lachte Malachai. »Aber es ist uns trotzdem gelungen. Vor ungefähr dreißig Jahren, als ein hiesiger Indianerstamm das Land für sich einfordern wollte, gab es etwas Medieninteresse. Aber weil es sich nicht nachweisen ließ, dass diese Bauwerke von ihren Vorfahren errichtet worden waren, wurden ihre Forderungen für haltlos erklärt.«

»Tja, sie könnten diese Stätten entdeckt und genutzt haben, aber erbaut haben sie sie nicht«, sagte Jac.

Malachai nickte ihr anerkennend zu. Sie waren am Fuß einer Steigung angelangt, und Malachai ging über grob behauene steinerne Stufen voran. Obwohl ihm seine Hüfte zu schaffen machte, zögerte er keinen Moment.

Über ihren Köpfen ballten sich die Wolken immer dichter zusammen. Der Himmel verdüsterte sich. Gerade als Jac hochsah, fielen die ersten Tropfen.

»Du bist ja nicht aus Zucker, stimmt’s?«, fragte Malachai lächelnd.

Jac hatte sein Lächeln schon immer merkwürdig gefunden. Sein Mund bewegte sich, wie es sich gehörte, aber die Augen wirkten seltsam unbeteiligt.

»Nicht dass ich wüsste.« Sie lächelte zurück.

»Dann macht dir so ein bisschen Regen keine Angst, oder?«

Nein, sie hatte keine Angst vor Regen. Vor Gewitter ebenso wenig. Das wusste Malachai. Und er wusste, dass sie in Panik geriet, wenn sie mit Kanten konfrontiert war. Diese seltene Phobie hatte sie schon als Kind entwickelt. Sie hatte einmal mit ihrem Bruder Robbie Verstecken gespielt und war aufs Hausdach geklettert, um ihn dort zu suchen. Die vielen Schornsteine und Nischen gaben großartige Verstecke ab. Als sie auf der Suche nach Robbie umherkletterte, hörte sie Stimmen, wagte sich bis zur Dachkante vor und sah hinab. Unten auf der Straße standen ihre Eltern und stritten sich. Es war eine besonders hässliche, laute Auseinandersetzung. Jac war von ihren Beleidigungen und Drohungen so fasziniert, dass sie Robbie nicht kommen hörte. Als er ihren Namen rief, erschrak sie. Drehte sich zu hastig um. Ihr linker Fuß rutschte über die Kante. Sie verlor das Gleichgewicht. Robbie packte sie an der Hand, hielt sie fest und zog sie über die Kante zu sich hoch. Die Dachziegel schürften ihr die Haut auf, aber er rettete sie vor Knochenbrüchen oder Schlimmerem.

Während ihrer Therapiesitzungen hatten Jac und Malachai über die metaphorische Bedeutung dieser Szene gesprochen – wie sie fast vom Dach gefallen und mitten in der brutalen Auseinandersetzung ihrer Eltern gelandet wäre. Als die Gespräche sie nicht heilten, hatte Malachai ihrer Phobie mit Hypnosesitzungen beizukommen versucht. Als auch die nicht weiterhalfen, hatte er vermutet, dass die Angst das Überbleibsel einer Tragödie aus einem ihrer früheren Leben war.

Jac hatte diese Vorstellung schon damals in der Blixer-Rath-Klinik abgelehnt, wie auch bei jedem seiner folgenden Versuche, ihre Probleme mit früheren Existenzen in Beziehung zu setzen.

»Wenn es allzu ungemütlich wird, können wir uns in den Steinhütten da vorn unterstellen«, sagte Malachai. »Die wollte ich dir ohnehin zeigen. Am Tag der Sommersonnenwende dringt durch ein kleines Loch in der östlichen Wand ein einzelner Sonnenstrahl und erleuchtet Steine, in die Runen eingraviert sind. Bis jetzt hat sie niemand übersetzen können.«

»Kann ich schon mal einen kurzen Blick reinwerfen?«

Er nickte. Jac näherte sich einer der Hütten und begann sie zu untersuchen. Sie ließ sich auf die Knie sinken und fuhr die eingemeißelten Symbole mit den Fingern nach.

»Ein paar davon erkenne ich wieder«, sagte sie.

»Tatsächlich?«

»Das hier zum Beispiel.« Sie zeigte darauf. »Das sieht mir nach Dagda, dem keltischen Allvater aus. Er hatte eine Harfe aus Eichenholz, mit der er den Wechsel der Jahreszeiten einläutete. Meinst du nicht, dass das hier diese Harfe darstellen könnte?«

Malachai starrte darauf. »Da könntest du tatsächlich recht haben«, sagte er. »Wir können auf dem Rückweg noch einmal hier vorbeikommen. Jetzt sollten wir weiter. Ich möchte dir noch den Rest zeigen, bevor es regnet.«

»Ich kann kaum glauben, dass das immer noch nicht die Hauptattraktion gewesen sein soll«, sagte Jac.

Malachai schmunzelte.