Kennst du Gotthold Ephraim Lessing?

Texte von Gotthold Ephraim Lessing für junge Leser ausgewählt und vorgestellt von

Jürgen Krätzer

Bertuchs Weltliteratur für junge Leser

BEGRÜNDET VON WOLFGANG BREKLE 

HERAUSGEBER: ANDRÉ BARZ 

BAND 15: KENNST DU GOTTHOLD EPHRAIM LESSING?

IN DER REIHE SIND BISHER BÄNDE ERSCHIENEN ÜBER Rilke, E.T.A. Hoffmann, Kafka, Heine, Kleist, Seghers, Kästner, Schiller, Dostojewski, Tolstoi, Büchner, Hölderlin, Brüder Grimm und Brecht.

In den Originaltexten wurden Schreibweise und Zeichensetzung der neuen Rechtschreibung behutsam angeglichen, stilistische Veränderungen wurden natürlich nicht vorgenommen.

© Bertuch Verlag GmbH Weimar 2015

www.bertuch-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

© Für alle Lessing-Texte: frei

REIHENGESTALTUNG: Graphische Betriebe Rudolf Keßner Weimar GmbH

UMSCHLAG: Frank Schletter

GESAMTHERSTELLUNG: Graphische Betriebe Rudolf Keßner Weimar GmbH

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN: 978-3-86397-056-7

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorab

»Ein Leben zwischen Kloster, Knast und Kaserne« – Die Kindheit

»Ich legte die ernsthaften Bücher eine Zeit lang auf die Seite …« – Leipziger Studentenleben zwischen Hörsaal und Bühne

Lob der Faulheit und anderes

Der junge Gelehrte

»… leben zu lernen« – Berlin und anderswo

Gedichte

Die Juden

Miss Sara Sampson

Kritiken

Fabeln

Briefe, die neueste Literatur betreffend (17 .Brief)

»… dass man auch den Beutel zu füllen bedacht sein müsse« – Militärdienst in Breslau

»Es ist Zeit, dass ich wieder in mein Gleis komme« – Theaterstadt Hamburg

Hamburgische Dramaturgie

»Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören, als Sie lachen« – Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück

»Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen« – Bibliothekar in Wolfenbüttel

»… wer über manchen Dingen nicht den Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren« – Emilia Gallotti

Anti-Goeze

»… nur ein Jude« – Nathan der Weise

»Die Scene ist aus!« – Letzte Schriften

»Ernst und FALK: Gespräche für Freymäurer«

»Erziehung des Menschengeschlechts«

BIOGRAPHISCHER ÜBERBLICK

WERKAUSGABEN

SEKUNDÄRLITERATUR

LESSING IM INTERNET

ÜBER DEN VERFASSER

Weitere Bücher

Vorab

(I)

Lessings Biografie liest sich erschreckend modern: Er hangelte sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob, sortierte da eine Bibliothek, konnte dort etwas für eine Zeitung schreiben, erhaschte hier einen Honorarauftrag, gab dies und das heraus … Oft war er in finanziellen Nöten, was damals hieß: kein Geld für Heizung, Essen oder Arzt (ein Jugendfreund wird elend zugrunde gehen). Eine gut bezahlte Stelle fand er nur am Rand, der ein Abgrund ist: beim Militär, ein mäßiges Auskommen erst am Ende seines Lebens, als Bibliothekar in provinzieller Ödnis.

Intellektuelles Prekariat – so würde man vermutlich Lessing beschreiben, wenn er uns heute begegnete.

(2)

Nach dem II. Weltkrieg wurde das Deutsche Theater in Berlin mit Lessings »Nathan der Weise« wiedereröffnet; es gäbe kein geeigneteres Stück, da waren sich die Alliierten einig. Im Oktober 2001, wenige Wochen nach »Nine-Eleven«, wurde »Nathan the wise« in Washington und Fairfax (Virginia), ein Jahr später am Pearl Theater in New York aufgeführt. Inszenierungen auf dem ganzen Globus folgten und sind noch immer und allerorten zu finden. In diesem Stück sind es allerdings die Christen, die das Land mit Terror und Fundamentalismus überziehen und der Kirchenbeamte ist eher ein Vertreter des »Ajatollahs von Rom« (Dietrich Schwanitz) als ein Prediger der Nächstenliebe – geradezu »aufgeklärt« wirkt hingegen der muslimische Diktator. Die katholische Kirche setzte Lessing lange Zeit auf den Index.

(3)

Angesichts religiöser Fundamentalismen verweist die westliche Kultur stets auf eine geistesgeschichtliche Tradition, die Begriffe wie Toleranz, Mündigkeit, Vernunft, Urteil statt Vorurteil in das Zentrum des Nachdenkens stellte: Die Aufklärung. Für die deutsche Geistesgeschichte ist dies vor allem mit zwei Namen verknüpft: Lessing und Kant. Drei Jahre nach Lessings Tod wird der große Philosoph Immanuel Kant seine berühmte Schrift »Zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung« veröffentlichen:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.

Unser gegenwärtiges wird gern als Informationszeitalter bezeichnet: Wissen ist rund um die Uhr und allerorten verfügbar. Dennoch ist jenen Sätzen noch immer kaum etwas hinzuzufügen.

(4)

»Selbst denken« ist für Lessing die zentrale Forderung. Was hier zu Papier gebracht wurde, ist natürlich nur eine mögliche Lesart. Es gibt tausend andere (die Literatur über Lessing füllt eine eigene Bibliothek), jede(r) muss eine eigene finden. »Selbst denken« und »sich selbst zu leben« sind die Kernmotive in Lessings Leben und Schreiben.

Ein »Leben zwischen Kloster, Knast und Kaserne« – Die Kindheit

Gotthold Ephraim Lessing wurde als drittes von insgesamt zwölf Kindern am 22. 1. 1729 in Kamenz geboren; durch den Tod des älteren Bruders, der nur wenige Tage alt wurde, war Gotthold Ephraim der älteste Sohn des Hauses (fünf Geschwister sterben noch im Kindesalter, zwei weitere Brüder bereits mit neunzehn beziehungsweise neunundzwanzig Jahren). Er erhielt früh Unterricht, sowohl vom Vater Johann Gottfried Lessing, seines Zeichens »Pastor primarius«, als auch von Privatlehrern.

Geburtshaus in Kamenz (© Lessingmuseum Kamenz)

Sein jüngerer Bruder Karl Lessing schreibt in seiner Biographie:

Versichern kann man, dass Lessing, sobald er nur etwas lallen konnte, zum Beten angehalten wurde, und den ersten mündlichen Unterricht in der Religion von seinem Vater selbst erhielt. Im vierten und fünften Jahre wusste er schon, was, warum und wie er glauben sollte.

Wie wichtig bereits dem »Vorschulkind« die Bücher waren, zeigt eine Anekdote: Lessing sollte mit seinem Bruder Theophilius gemalt werden, und zwar »mit einem Bauer, in dem ein Vogel saß«, doch »hatte dieser Vorschlag seine ganze kindliche Missbilligung. Mit einem großen Haufen Bücher, sagte er, müssen Sie mich malen, oder ich mag lieber gar nicht gemalt sein.« Und noch etwas zeigt dieses Bild: Kinder wurden als »kleine Erwachsene«, nicht als Kind gesehen.

Kinderbildnis Lessing und sein Bruder (© Lessingmuseum Kamenz)

Ein Stipendienantrag für die Fürstenschule St. Afra zu Meißen war erfolgreich, allerdings war eine »Urkundenfälschung« notwendig: »Man musste ihn um ein Jahr älter machen.« Dass der Bruder Karl als elterliche »Beweggründe« nicht nur den »vorzüglichen Ruf« der Schule nennt, sondern auch die Aussicht, »dass er daselbst allen Unterricht und alle Verpflegung umsonst hatte«, wirft ein bezeichnendes Licht auf die ärmlichen materiellen Verhältnisse der Familie: »Das Erste und Schätzbarste ist, dass man da von keinen Nahrungssorgen wusste«. Möglicherweise spielte auch dies eine Rolle, wenn sich Lessing nach den Erfahrungen bitterster Armut rund ein Jahrzehnt später der »engen Bezirke« dennoch als einem Sehnsuchtsort erinnert.

Strenge Vorschriften regelten einen Zehnstundentag, Urlaub nach Hause gab es nur alle zwei Jahre. Der Briefwechsel jener Jahre verrät nichts über Heimweh oder Familienbesuche, der erste überlieferte Brief ist an die Schwester gerichtet (Lessing ist ein grandioser Briefeschreiber, die Werkausgabe verzeichnet rund 1600 Briefe von ihm und an ihn). Der Brief spricht bereits viel an, was den Dichter und Menschen umtreiben wird: Vernunft und Natürlichkeit – und die ausdrückliche Ermunterung an ein weibliches Wesen (und dies in einer Zeit, in der Mädchen und Frauen Bildung eher vorenthalten als vermittelt wurde), beides zu gebrauchen:

Ich habe zwar an Dich geschrieben, allein Du hast nicht geantwortet. Ich muss also denken, entweder Du kannst nicht schreiben, oder Du willst nicht schreiben. Und fast wollte ich das erste behaupten. Jedoch ich will auch das andre glauben; Du willst nicht schreiben. Beides ist strafbar. Ich kann zwar nicht einsehn, wie dieses beisammen stehn kann: ein vernünftiger Mensch zu sein, vernünftig reden können und gleichwohl nicht wissen, wie man einen Brief aufsetzen soll. Schreibe wie Du redest, so schreibst Du schön.

St. Afra (© SLUB Dresden/Deutsche Fotothek)

Lessings Unterrichtsfächer waren Religion, Latein, Griechisch, Mathematik, Arithmetik, Geschichte, Geographie, Französisch, Rhetorik, Logik, Syntax, Grammatik, Hebräisch, Philosophie und Englisch, man las Cicero, Ovid, Livius, Horaz, Virgil, Plutarch, Sophokles. Vermutlich war es Lessings Mathematiklehrer Johann Albert Klimm, der in privaten Zusammenkünften auch aktuelle Literatur und Philosophie thematisierte und Zeitschriften besorgte.

Wie das Leben im Schulinternat wirklich verlief, ist jedoch schwer nachzuvollziehen: Während der eine Biograf von einem »Leben zwischen Kloster, Knast und Kaserne« spricht, berichtet ein anderer, dass sich St. Afra durchaus keines guten Rufes erfreute, »es wurde über das ›Aussteigen‹ geklagt, d. h. das nächtliche Verlassen der Anstalt, über Spielen, Saufen und andere Üppigkeit«. Schon weil es verboten war, wurde heimlich geraucht und getrunken – und Lessing war wohl stets dabei. Hören wir den Sechzehnjährigen, es ist das erste überlieferte »Gedicht« Lessings:

Die Verleumdung

»Du nennst mich vom gestrigen Rausche noch trunken?

Vom gestrigen Rausche? das spricht

Ein - -« Fasse dich! schimpfe nur nicht!

Ich weiß wohl, du hast bis am Morgen getrunken.

Die Schulakten berichten sogar von einem »Tumult« der Schüler wegen schlechter Verpflegung, Lessings Name wird genannt, überführt werden konnte aber niemand. Ansonsten zeichnen diese Dokumente ein bemerkenswertes Bild, von »großen Geistesgaben« ist da die Rede und einem »vorlauten und frechen Wesen«: »Ein guter Knabe, aber etwas moquant [spottlustig]«, lautete das Urteil eines Schulinspektors und als sein Bruder Theophilius ebenfalls auf diese Schule kam, sagt ihm der Rektor: »sei fleißig, aber nicht so naseweis wie dein Bruder«.

Lessing bat immer wieder darum, die Schule vorzeitig verlassen zu dürfen, er langweilte sich. Der vermutlich pflichtgemäß aufgesetzten »Glückwunschrede bei dem Einritt des 1743ten Jahres« an den Vater gab er den Untertitel »Von der Gleichheit eines Jahres mit dem andern«. Als sich der Vater beim Schulleiter diesbezüglich erkundigte, erhielt er die Antwort: »Es ist ein Pferd, das doppeltes Futter haben muss. Die Lektionen, die andern zu schwer werden, sind ihm kinderleicht. Wir können ihn fast nicht mehr brauchen.«

Im Dezember 1745 wurde Meißen von der preußischen Armee, die die sächsisch-österreichische Armee bei Kesselsdorf besiegt hatte, besetzt, St. Afra diente als Lazarett und Sammelpunkt. Lessing nahm auch dies zum Anlass, den Vater noch einmal zu drängen, einem vorzeitigen Verlassen der Schule zuzustimmen:

Alles ist voller Gestank und Unflat, und wer nicht herein kommen muss, bleibt gerne so weit von ihr entfernt, als er nur kann. Es liegen in denen meisten Häusern immer noch 30 bis 40 Verwundete, zu denen sich niemand sehre nahen darf, weil alle, welche nur etwas gefährlich getroffen sind, das hitzige Fieber haben. Es ist eine weise Vorsicht Gottes, dass diese fatalen Umstände die Stadt gleich in Winter getroffen, weil, wenn es Sommer wäre, gewiss in ihr die völlige Pest schon grassieren würde. Und wer weiß, was noch geschieht. Was mich anbelanget, so ist es mir um so viel verdrießlicher, hier zu sein, da Sie sogar entschlossen zu sein scheinen, mich auch den Sommer über, in welchen es vermutlich zehnmal ärger sein wird, hier zu lassen. Ich glaube wohl, die Ursache, welche Sie dazu bewogen, könnte leicht gehoben werden. Doch ich mag von einer Sache, um die ich schon so oft gebeten, und die Sie doch kurzum nicht wollen, kein Wort mehr verlieren. Ich versichere mich unterdessen, dass Sie mein Wohl besser einsehen werden als ich.

Auch in dieser rhetorischen Volte zeigte sich schon der spätere Lessing: Er versichert als »Dero gehorsamster Sohn« (so die zeitgemäß konventionelle Unterschrift), dass der Vater es besser wisse – zeigt aber zuvor, dass die Fakten dagegen sprechen. Eine Argumentationstaktik, die Lessing noch in so manchem Streit anwenden wird.

Später sehnte sich Lessing nach jener Zeit dennoch zurück, bei allen Drangsalen war die Schulzeit eben auch schon zu Lessings Zeiten ein Lebensabschnitt, der die alltäglichen Sorgen eines Erwachsenendaseins nicht kannte:

Theophrast, Plautus und Terenz waren meine Welt, die ich in dem engen Bezirke einer klostermäßigen Schule, mit aller Bequemlichkeit studierte - -Wie gerne wünschte ich mir diese Jahre zurück; die einzigen, in welchen ich glücklich gelebt habe.

Im Sommer 1746 konnte er die Schule verlassen, er ging nach Leipzig, Theologie sollte er studieren.

»Ich legte die ernsthaften Bücher eine Zeit lang auf die Seite …« – Leipziger Studentenleben zwischen Hörsaal und Bühne

Leipzig war zu jener Zeit die Stadt Deutschlands; es war nicht nur die bedeutendste Handelsmetropole Deutschlands (in keiner anderen Stadt konnte man so viele Menschen aus aller Herren Länder sehen – und dies zu einer Zeit, in der die Journale die einzige Informationsquelle waren), es war auch die Stadt der Bücher, der Zeitschriften und des Theaters; die Bühne der Neuberin schrieb Theatergeschichte.

Lessing schreibt über seine Ankunft in der Stadt einen wunderbaren Brief an die Mutter:

Friederike C. Neuber »Die Neuberin«

Schauspieldirektrice und Theaterreformatorin (© gemeinfrei, Wikimedia)

Ich komme jung von Schulen, in der gewissen Überzeugung, dass mein ganzes Glück in den Büchern bestehe. Ich komme nach Leipzig, an einen Ort, wo man die ganze Welt in kleinen sehen kann. Ich lebte die ersten Monate so eingezogen, als ich in Meißen nicht gelebt hatte. Stets bei den Büchern, nur mit mir selbst beschäftigt, dachte ich eben so selten an die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott. Dieses Geständnis kommt mir etwas sauer an, und mein einziger Trost dabei ist, dass mich nichts Schlimmeres als der Fleiß so närrisch machte. Doch es dauerte nicht lange, so gingen mir die Augen auf: Soll ich sagen, zu meinem Glücke, oder zu meinem Unglücke? Die künftige Zeit wird es entscheiden. Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter meines gleichen. Guter Gott! was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und andern gewahr. Eine bäuerische Schüchternheit, ein verwilderter und ungebauter Körper, eine gänzliche Unwissenheit in Sitten und Umgange, verhasste Mienen, aus welchen jedermann seine Verachtung zu lesen glaubte, das waren die guten Eigenschaften, die mir, bei meiner eignen Beurteilung übrig blieben. Ich empfand eine Scham, die ich niemals empfunden hatte. Und die Wirkung derselben war der feste Entschluss, mich hierin zu bessern, es koste was es wolle. Sie wissen selbst wie ich es anfing. Ich lernte tanzen, fechten, voltigieren [die Reitkünste] […] und ich suchte Gesellschaft, um nun auch leben zu lernen.

Leipzig, Markt (© gemeinfrei, Wikimedia)

Doch nicht nur der Wechsel aus der Provinz in die Metropole eröffnete dem Siebzehnjährigen neue Räume, vor allem war es wohl der Wegfall autoritärer Unterordnung und einer ständigen Kontrolle des Tagesablaufs. Zwei Freundschaften halfen ihm, »leben zu lernen«: zu Christian Felix Weiße, welcher um drei, und zu Christlob Mylius, der um sechs Jahre älter war. Weiße war ein Kommilitone Lessings, Mylius ein Verwandter (Mylius’ Vater war in erster Ehe mit der Schwester von Lessings Vater verheiratet). Wer von beiden Lessing in die Leipziger Theaterwelt einführte, weiß man nicht, überliefert ist, dass sie »lieber trocknes Brot aßen, « als eine Aufführung zu versäumen und, um sich ein Freiticket zu verschaffen, Theaterstücke übersetzten. Doch nicht nur jenen Verlockungen war es geschuldet, dass für Lessing nun eher eine Zeit des Studentseins als des Studierens begann; wie schon in St. Afra so waren es auch in Leipzig nur wenige Lehrer, die ihn überzeugen konnten. Sein Bruder Karl berichtet:

Herr Weiße und Lessing hörten anfänglich mit einander einerlei Collegia [die gleichen Vorlesungen]. Es währte aber nicht lange, so lief Lessing aus einem ins andere. Kein Lehrer tat ihm Genüge: all schienen ihm seicht, und gaben seinem Leichtsinn oft Gelegenheit zum Spotte; den einzigen Ernesti ausgenommen, den er dann und wann über die Römischen Altertümer, über die Griechischen Klassiker, und über die Universalgeschichte, doch sparsam genug, hörte. Oft schwatzte er seinen Freund Weiße noch vor Ernestis Tür weg, und auf die Promenade.

Christian Felix Weiße

Er wurde später ein gut situierter Kreissteuereinnehmer und zu seiner Zeit ein viel gelesener und gespielter Autor. (© gemeinfrei, Wikimedia)

Auf der »Promenade« traf man sich, es ging um sehen und gesehen werden, um kennenlernen, wohl auch ums Flirten – heute würden sie vermutlich »raus gehen« oder »cruisen«. Prägender als Weiße war Christlob Mylius. Als Lessing nach Leipzig kam, war jener bereits ein erfahrener Zeitschriften- und Theaterautor; möglicherweise kannte ihn Lessing auch bereits als einen solchen. Bemerkenswert ist, dass sich Lessing überhaupt traute, in eine solche Beziehung zu treten, löste jener doch wenige Jahre zuvor in Kamenz einen handfesten Skandal aus: Das Theater galt als Ort der Sünde – und der Kamenzer Schuldirektor Heinitz hatte es gewagt, in der Schule Theateraufführungen zu zeigen. Er musste daraufhin die Stadt verlassen, voll Wut über die engstirnigen Bürger verfasste Mylius eine Schmähschrift, in der er auch an Lessings Vater kein gutes Haar lässt. Mylius wurde wegen dieses Gedichts »gefänglich eingezogen«, Lessings Vater wird jene Schmähung nie vergessen; über Jahre hinweg muss sich Lessing immer wieder seines Freundes wegen rechtfertigen. Zudem besaß der »Naturforscher« Mylius (er gab u. a. eine gleichnamige Zeitschrift heraus) die Stirn, Wunder der Bibel natürlich zu erklären und auch den unmittelbar göttlichen Ursprung ihres Wortlautes anzuzweifeln.

In Mylius‘ Zeitschriften, die zeitgemäß eine Mischung aus allen Gebieten bot, debütierte Lessing als Dichter: Wein, Weib und Gesang sind die Themen, der Rest ist Spott …

Lob der Faulheit

Faulheit, jetzt will ich dir

Auch ein kleines Loblied bringen. -

O - - wie - - sau - - er - - wird es mir, - -

Dich - - nach Würden - - zu besingen!

Doch, ich will mein Bestes tun,

Nach der Arbeit ist gut ruhn.

Höchstes Gut! wer dich nur hat,

Dessen ungestörtes Leben - -

Ach! - - ich - - gähn´ - - ich - - werde matt - -

Nun - - so - - magst du - - mir‘s vergeben,

Dass ich dich nicht singen kann;

Du verhinderst mich ja dran.

Comische Einfälle und Züge

(Notizen)

I

Sie hat ja nur ein Auge –

O desto eher wird sie sterben, da sie ja nur eins zu zutun hat.

XI

Wer ein alt Haus reparieren und eine junge Frau befriedigen will, der muss immer wieder von vorne anfangen.

An die J. L***.

Natürliches Ebenbild der Liebe!

Nimm hier dein künstlich Ebenbild;

Das, wenn man dich auch drüber schriebe,

Doch seines Meisters Schwäche schilt.

Dem Maler lass es nicht entgelten,

Wenn dir dies Bild zu wenig gleicht:

Nur auf das Urbild musst du schelten,

Wenn dich sein Pinsel nicht erreicht.

Dich, ähnlichstes von allen Bildern,

Hat die Natur hervorgebracht:

Jedoch wie kann ein Künstler schildern,

Was die Natur vollkommen macht?

Lessing-Büste im

Leipziger Studentenklub »Moritzbastei« (© J. Krätzer)

Die Türken

Die Türken haben schöne Töchter,

Und diese scharfe Keuschheitswächter.

Wer will, kann mehr als eine frein:

Ich möchte schon ein Türke sein!

Wie wollt ich mich der Lieb ergeben!

Wie wollt ich liebend ruhig leben,

Und - - doch sie trinken keinen Wein.

Nein, nein! ich mag kein Türke sein.

Im Januar 1747, also um Lessings achtzehnten Geburtstag, wurde sein erstes Stück, »Der junge Gelehrte«, durch die Bühne der Neuberin uraufgeführt. Einiges spricht dafür, dass er sich mit dem Stoff schon während seiner Schulzeit beschäftigt hatte. Die Anregungen kamen vermutlich nicht nur von der Lektüre einer Anekdote gleichen Titels, die in der Zeitschrift mit dem merkwürdig anmutenden Titel »Belustigungen des Verstandes und des Witzes« (»Witz« meint in jener Zeit Intellekt, Esprit, Originalität – »das hat Witz«, wird ja noch heute gesagt), zu lesen war, sondern vor allem aus unmittelbarer Beobachtung:

Ich muss es, der Gefahr belacht zu werden ungeachtet, gestehen, dass unter allen Werken des Witzes die Komödie dasjenige ist, an welches ich mich am ersten gewagt habe. Schon in Jahren, da ich nur die Menschen aus Büchern kannte -- beneidenswürdig ist der, der sie niemals näher kennen lernt! -- beschäftigten mich die Nachbildungen von Toren, an deren Dasein mir nichts gelegen war. […] Ein junger Gelehrter war die einzige Art von Narren, die mir auch damals schon unmöglich unbekannt sein konnte. Unter diesem Ungeziefer aufgewachsen, war es ein Wunder, dass ich meine ersten satirischen Waffen wider dasselbe wandte?

Obgleich der »junge Gelehrte« Damis die zu verlachende Person ist, werden ihm Worte in den Mund gelegt, die in ihrer Derbheit zum einen wohl auf Publikumswirksamkeit zielen, die sich zum anderen aber auch als der provokante Versuch einer gegen die väterliche Autorität gerichteten Tabubrechung deuten lassen: Johann Gottfried Lessing hatte es nie verwunden, die Gelehrtenlaufbahn nicht betreten zu haben.

»Damis« lässt sich aber auch als Folie verstehen: Das dichterische Spiel projiziert die Ängste und Wünsche nicht gelebter, doch erfahrener bzw. erahnter Lebensvarianten selbst noch auf die Karikatur, ein bei vermutlich allen großen Dichtern nachvollziehbares Verfahren. Nicht zuletzt stellt hier Lessing seinen Entschluss, »leben zu lernen« und eben nicht  so zu werden, schon einmal auf die Bühne.

Der junge Gelehrte

Erster Aufzug, erster Auftritt

DAMIS: Zwar, im Vertrauen, mein lieber Anton, die Geistlichen überhaupt sind schlechte Helden in der Gelehrsamkeit.

ANTON: Nu, nu, bei allen trifft das wohl nicht ein. Der Magister in meinem Dorfe wenigstens gehört unter die Ausnahme. Versichert, der Schulmeister selber hat mir es mehr als einmal gesagt, dass er ein sehr gelehrter Mann wäre. Und dem Schulmeister muss ich das glauben; denn wie mir der Herr Pfarr oft gesagt hat, so ist er keiner von den schlechten Schulmeistern; er versteht ein Wort Latein und kann davon urteilen.