image

Wunibald Müller

Auf der Suche nach der verlorenen Seele

topos taschenbücher, Band 1019
Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags

image

Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Lahn-Verlag, Kevelaer

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1019-0
E-Book (PDF): 978-3-8367-5008-0
E-Pub: 978-3-8367-6008-9

Inhalt

Vorwort

Teil I

Seele ist das Lebendige im Menschen

Seele – Wunderblock oder Geheimnisvolles?

Sich der Führung der Seele überlassen

Die Seele verführt zum Leben

Wenn es mir seelisch gut geht

Mit der Seele in Berührung sein

Sich von der Seele beseelen lassen

Teil II

Die Seele als Antriebskraft unserer Selbstverwirklichung und Menschwerdung

Meine Seele entscheidet, wer ich bin

Wenn Anima bei uns anklopft

Wenn sich in meinem Verliebtsein meine Seele meldet und zeigt

Die Bedeutung der Seele in der zweiten Lebenshälfte

Animaverlust als Seelenverlust

Wenn es mich dahin zieht, den Weg nach innen zu gehen

Mut zum Risiko und Verzicht

Die Geburtsstunde des wahren Selbst

Teil III

Die Seele in der Depression

Das Dunkle darf nicht künstlich aus unserem Leben ausgestanzt werden

Auf das hören, was das Dunkle sagen will

Das Dunkle, Graue, Schwere und Kalte gehört zu unserem Leben

Die Seele in der Traurigkeit

Manche Traurigkeit will mir sagen: lass los

Die Traurigkeit bringt mich mit meiner Seele in Berührung

Teil IV

Die Seele in der Eifersucht und im Neid

Die Eifersucht will uns vor Einseitigkeit bewahren

Durch die Eifersucht hindurchgehen

Die Eifersucht – eine Feuertaufe, die die Seele weitet

Mich vom Neid zu den Wurzeln meines Neides führen lassen

Die Seele im Ärger und in der Wut

Die Seele als Ort echter Gefühle

Die Wut zulassen

Manchmal muss es krachen, damit Befreiung möglich wird

Teil V

Die Seele in der Liebe und im Sich-Verlieben

Liebe und Seele

Die Seele als Anwalt der Lebendigkeit

Die Anima als ein Stück kalter und ruchloser Natur

Folie à deux

Der inneren Anima folgen

Die Seele taucht alles in das Licht der Ewigkeit

Die Seele entscheidet, was Liebe ist

Die Liebe verbindet Gegenwart und Ewigkeit

Um geliebt zu werden, muss man lieben können – Seele und Narzissmus

Teil VI

Die Seele in der Sexualität

Sexuelles Erkennen

Bejahung von Eros

Meine Seele dürstet nach dir, mein Fleisch verlangt nach dir

Eros und Sexualität

Für eine beseelte Moral

Die hl. Theresia in Ekstase – ein lebendiges Beispiel beseelter Sexualität

Teil VII

Die Seele in der Spiritualität

Die Würdigung des Göttlichen in uns

Beseelter Gottesdienst

Beseeltes Beten

Glaubenswahrheiten als Aussagen der Seele

Teil VIII

Die Welt-Seele

In jedem von uns gibt es eine unendliche Tiefe, einem Meer vergleichbar

Sich vom Unbewussten beseelen lassen

Engel, die Botschaften vom Himmel an die Menschen überbringen

Die Verbundenheit mit der Welt-Seele

Über die Träume der Weltseele und dem Ewigen begegnen

Sich dem Schicksal überlassen heißt, sich der Seele überlassen

Die Seele im Sterben und im Tod

Wenn einem die Seele zum Körper herausschaut

Die Seele im Sterben und im Tod

Würde gegenüber dem Tod

Seelenloser Umgang mit den Toten

Beseelter Tod

Epilog

Komm heim, meine Seele

Der Schatz in mir – die Wohnung meiner Seele

Literatur

Beseeltes Leben ist lebendiges Wesen. Seele ist das Lebendige im Menschen, das aus sich selbst Lebende und Lebenverursachende, darum blies Gott dem Adam einen lebendigen Odem ein, damit er lebe. Die Seele verführt die nicht lebenwollende Trägheit des Stoffes mit List und spielerischer Täuschung zum Leben. Sie überzeugt von unglaubwürdigen Dingen, damit das Leben gelebt werde. Sie ist voll von Fallstricken und Fußangeln, damit der Mensch zu Fall komme, die Erde erreiche, sich dort verwickle und daran hängen bleibe, damit das Leben gelebt werde, wie schon Eva im Paradies es nicht lassen konnte, Adam von der Güte des verbotenen Apfels zu überzeugen.

Wäre die Bewegtheit und das Schillern der Seele nicht, der Mensch würde in seiner größten Leidenschaft, der Trägheit, zum Stillstand kommen.

C.G. Jung

Die Seele wird als Ausdruck des totalen Lebendigseins eines Menschen verstanden. Die Seele ist eine Ganzheit, die von Kraft erfüllt ist. Diese Kraft lässt die Seele wachsen und gedeihen, sodass sie sich selbst erhalten und ihre Arbeit in der Welt verrichten kann. Diese Lebenskraft, ohne die kein lebendiges Wesen existieren kann, nannten die Israeliten Barach – Segen. Segen ist also das jüdische Wort für Seele.

Matthew Fox

Komm, o du glückselig Licht,

fülle Herz und Angesicht,

dring bis auf der Seele Grund.

Ohne dein lebendig Wehn

kann im Menschen nichts bestehn,

kann nichts heil sein noch gesund.

Was befleckt ist, wasche rein,

Dürrem gieße Leben ein,

heile du, wo Krankheit quält.

Wärme du, was kalt und hart,

löse, was in sich erstarrt,

lenke, was den Weg verfehlt.

Pfingsthymnus

Ach, könntest du das wieder ausdrücken,
könntest du dem Papiere das einhauchen,
was so voll, so warm in dir lebt, dass es
würde der Spiegel deiner Seele, wie deine
Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes
.

Johann Wolfgang von Goethe

Vorwort

„Die Unruhe in den Herzen der Menschen ist offensichtlich, und viele versuchen diese undefinierbare Eigenschaft in sich wieder zu erlangen, die Thomas Merton ein Gespür für die Seele nannte“, behauptet Harry Moody (1997, 49). Kann man wirklich sagen, dass in unserer Zeit die Sehnsucht nach einem Gespür für die Seele zunimmt? Spricht nicht vieles eher dafür, dass wir uns immer mehr von unserer Seele wegbewegen? So meint Matthew Fox (Sheldrake/Fox 1996, 88f.): „Uns im Westen ist die Bedeutung dessen, was die Seele ist, verloren gegangen … Wir haben unsere Seele schrumpfen lassen.“ Tatsache ist doch, dass die schrillen Töne, das grelle Licht, das Schicke, Flotte, die Reichen und die Mächtigen die Szene beherrschen und zumindest öffentlich den Mittelpunkt ausmachen. Sie sind die Mitte, die „Seele“, an der wir uns orientieren. Von dieser Mitte fühlen wir uns angezogen, dahin bewegen wir uns, dahin streben wir. Das ist zumindest ein Eindruck, den man gewinnen kann.

Wenn man aber auf der anderen Seite aufmerksam hinhört, was die Menschen von heute am meisten beklagen, dann sind es Erfahrungen von Sinnlosigkeit, Depression, Enttäuschungen über Beziehungen und der Verlust von Werten. Zugleich spürt man bei ihnen eine Sehnsucht nach persönlicher Erfüllung und den Hunger nach spirituellen Erfahrungen. Im Tiefsten zeigt sich darin der Verlust ihrer Seele, die, so C.G. Jung, das Lebendige im Menschen ist.

In der vorliegenden Veröffentlichung mache ich mich auf die Suche nach der verlorenen Seele, um sie als Antriebskraft unserer Selbstverwirklichung und Menschwerdung, in der Liebe und im Sich-Verlieben, in der Sexualität und Spiritualität zu entdecken. Doch ich finde sie auch in der Depression, der Trauer, der Eifersucht, der Krankheit und im Tod. Ich will mit meinen Ausführungen aufzeigen, dass wir noch so sehr nach Zerstreuung, Erfüllung materieller Wünsche und Befriedigung in den unterschiedlichsten Beziehungen verlangen mögen, solange darin die Seele fehlt, bleiben wir unbefriedigt. Erst wenn in unserem Leben, Streben, Sehnen und Tun die Seele zum Ausdruck kommt, wird unser Leben wesentlich, sinnvoll, lebendig. Denn, so C.G. Jung: „Beseeltes Leben ist ein lebendiges Wesen. Seele ist das Lebendige im Menschen, das aus sich selbst Lebende und Lebenverursachende.“

Wunibald Müller

Teil I

Das Meer ist wie Musik,
es hat in sich und berührt
alle Träume der Seele.
Das Schöne und Große des Meeres liegt darin,
dass wir hinabgezogen werden
in die fruchtbaren Gründe der eigenen Seele
und selbstschöpferisch uns gegenübertreten
in der Belebung der
traurigen Wüste des Meeres“.

C.G. Jung

Die Seele ist das belebende Prinzip,
das Prinzip, das Lebendes lebendig
macht …
Wir sprechen von beseelten Dingen
im Gegensatz zu unbeseelten, von Dingen
mit Seele im Gegensatz zu Dingen ohne Seele.
Die traditionelle Bedeutung des Wortes Seele
meint viel mehr als die menschliche Seele.
Die Seele ist das, was Dinge lebendig macht
.

Rupert Sheldrake

Seele ist das Lebendige im Menschen

Seele – Wunderblock oder Geheimnisvolles?

Wien 1989. Überall stößt man auf Plakate mit dem Titel Wunderblock. Sie werben für die große Ausstellung zum Gedenken an Sigmund Freud, der vor 50 Jahren gestorben ist. Sigmund Freud hatte den Begriff Wunderblock als Bezeichnung für die menschliche Seele gewählt. Sie sei, so meinte er, mit der bei Kindern beliebten Zaubertafel vergleichbar, auf der man Geschriebenes sofort wieder löschen könne, auf der aber einiges fast unsichtbar zurückbleibe. Auch in unserer Seele erhalte sich so mancher einmal aufgenommene Eindruck, der durch unsere Vergesslichkeit ausgelöscht wurde und uns nicht mehr bewusst ist (vgl. Kremer o.J.).

Ist Seele so zu verstehen, wie es Sigmund Freud mit dem Hinweis auf die Zaubertafel zu erklären versucht? Seele wäre dann nicht mehr als ein Sammelplatz gemachter Erfahrungen und Eindrücke, die für uns zum Teil schwer zugänglich sind. Weiter beschränkt sich ein solches Verständnis von Seele auf den innerpsychischen Bereich der jeweiligen Person, beginnend mit der Geburt, zu Ende gehend mit dem Tod.

Wenn ich hier von Seele spreche, gehe ich von einem anderen Verständnis aus. Es ist gar nicht so leicht, verständlich zu machen, was ich unter Seele verstehe. Ich kann meine Seele nicht anfassen. Ich weiß nicht, wo sie in mir sitzt. Ich weiß nur oder besser, ich bin davon überzeugt, dass es in mir einen tiefen Grund gibt, den ich mit Seele verbinde.

Meister Eckhard predigt über die Seele: „Ein Meister, der das Beste über die Seele sprach, sagt, dass alle menschliche Wissenschaft nicht ergründen kann, was die Seele im Grunde ist. Zu wissen, was die Seele ist, bedarf eines übernatürlichen Wissens.“ Mit anderen Worten heißt das, so kommentiert Matthew Fox (Sheldrake/Fox 1996, 92) diese Aussage, dass die Seele unsagbar ist. „Sie ist so tief, dass man sie nicht ausloten kann – sie ist bodenlos.“

Die Seele steht für Leben, das ohne sie leblos, farblos, kalt, sinnlos, entseelt wäre. Wir wissen intuitiv, so Thomas Moore (1994, XII), dass Seele mit Echtheit und Tiefe etwas zu tun hat, etwa wenn wir sagen, dass eine bestimmte Musik Seele hat. Ein gutes Essen, eine erfüllende Unterhaltung, echte Freude, Erfahrungen, an die wir uns gern erinnern und die unser Herz berühren, können, so fährt er fort, beseelt sein. Die Seele zeigt sich weiter im Hingezogensein zu einem Menschen, in der Liebe, in der Erfahrung von Gemeinschaft. Sie verbindet Geist und Körper, Ideen und Leben, Spiritualität und Welt. Sie ist die große verbindende und integrierende Kraft in uns, die garantiert, dass wir den größeren und tieferen Zusammenhang sehen und beachten, dass wir vor Einseitigkeit bewahrt bleiben, die uns, unserer Umwelt und Mitwelt schaden würde.

Ich weiß und spüre, wenn ich bewusst leben will, wenn mein Leben sinnvoll sein soll und ich gerne leben möchte, dann vermag ich das nur, wenn meine Seele nicht zu kurz kommt. Essen, Sex, Erfolg, Entspannung können mein Leben bereichern, ja sie sind zum Teil Voraussetzung, um überhaupt leben zu können. Für sich alleine genommen und ohne Bezug zu meiner Seele vermögen sie aber nicht, die Bedürfnisse und Sehnsüchte meiner Seele zu stillen. Wenn es mir nicht gut geht oder ich den Eindruck habe, mir fehlt etwas, frage ich mich daher immer wieder: „Wonach verlangt meine Seele? Was braucht sie? Worin habe ich sie vernachlässigt?“

Nach Harry Moody (1997, 51) gibt es „eine transzendente spirituelle Eigenschaft im Herzen eines jeden Menschen, ein Potenzial, das man seit undenklichen Zeiten kennt und sucht. Wird dieses Potenzial geweckt, so gewinnt der Suchende eine offenere Sicht auf die alltäglichen Sorgen und Irrungen des Lebens, mehr Lebendigkeit, Freude und Sicherheit. Sinn und Zweck des Lebens liegen nicht länger im Verborgenen, sondern treten offen zu Tage. Dieses Potenzial – die Seele – können wir nur in uns selbst finden und erwecken.“

Das Verständnis der Seele, das Harry Moody vertritt, erinnert an die Sichtweise von C.G. Jung (1971, 40 f.), der allerdings noch stärker an traditionellen, darunter auch christlich gefärbten Vorstellungen von Seele festhält, wenn er sagt:

„Die dogmatisch festgestellte Unsterblichkeit der Seele erfüllt diese über die Vergänglichkeit des körperlichen Menschen und macht sie zum Teilhaber einer übernatürlichen Eigenschaft. Sie überragt damit den sterblichen Bewusstseinsmenschen um ein Vielfaches an Bedeutung, sodass es den Christen eigentlich verboten wäre, die Seele als ein Nur zu betrachten. Wie das Auge der Sonne, so entspricht die Seele Gott. Unser Bewusstsein umfasst die Seele nicht, und es ist daher lächerlich, wenn wir in einem gönnerhaften oder verkleinernden Ton über die Dinge der Seele sprechen. Selbst der gläubige Christ kennt Gottes verborgene Wege nicht und muss es ihm anheimstellen, ob er von außen oder von innen durch die Seele auf den Menschen wirken will.“

Die Aussage von C.G. Jung über die Seele hebt einen Aspekt christlichen Verständnisses von Seele hervor, nach dem unter Seele der unsterbliche Teil des Menschen zu verstehen ist, den es zu retten gilt und der unser Überleben – im Himmel oder in der Hölle – garantiert. Diese traditionelle Vorstellung von Seele gibt Franz Mechsner (1998, 111) wieder, wenn er sagt: „Als Flügelwesen symbolisiert christliche Kunst die Seele, als kleinen Menschen, der aus dem Mund des Sterbenden in die Arme eines Engels strebt. Als Kind war auch ich überzeugt, dass ich meinen Körper nur vorübergehend bewohne und dass der Sinn des sterblichen Lebens die Erlösung der unsterblichen Seele ist.“ Auch wenn eine solche Vorstellung von Seele die christliche Dogmatik nicht korrekt wiedergibt – so meint der katholische Dogmatiker Gisbert Greshake, dass die Seele ein Krüppelwesen bleibt, solange sie nicht mit dem Leib wesenhaft vereint ist –, entspricht sie doch gängigen Vorstellungen von Seele.

Seele steht heute oft für Personkern, Eros, Herz, Mitte. Mit Seele wird in der Regel nicht etwas Unsterbliches verbunden. Dennoch haftet auch dem gängigen zeitgenössischen Verständnis von Seele manchmal etwas von dem traditionellen Verständnis von Seele an. Seele meint dann etwas, das nicht ganz zu erklären ist, das etwas Geheimnisvolles an sich hat. „Wir wissen nicht, was die Mächte der Seele tun, wenn sie ausgehen, um ihr Werk zu tun. Wir wissen ein wenig, aber nicht sehr viel. Was die Seele im Grunde ist, weiß niemand“ (Eckhard, in: Sheldrake/Fox 1996, 92).

Sich der Führung der Seele überlassen

Wenn durch unsere Anwesenheit oder unser Tun etwas von unserer Seele zum Ausdruck kommt, zeigt sich darin zugleich etwas von unserer letztlich unergründlichen Einzigartigkeit. Unsere Seele spürt, wenn Dinge, die uns begegnen, beseelt sind. Sie lässt sich davon anstecken, vielleicht sogar davontragen. Beseeltes spricht die Seele an. Sie ist unser Resonanzboden dafür. Wir spüren sie, wenn wir Beseeltem begegnen.

Ich mag noch so viel erleben, noch so viel Vergnügen, Ablenkung erfahren, die ganze Welt bereisen, Reichtum und Erfolg haben – wenn die Fühler meiner Seele davon nicht berührt werden, habe ich letztlich nichts davon. Sie sind wie Antennen oder Rezeptoren, über die alle diese Erfahrungen mich erreichen können. Werden sie von den Fühlern meiner Seele nicht aufgespürt, sind sie für mich verloren. Sie können dann überhaupt nicht bei mir ankommen, sie berühren mich nicht. Sie dringen nicht zu meiner Mitte vor, meinem Kern, meinem Selbst. Das erklärt die Unzufriedenheit von Menschen, die sich anscheinend alles leisten können, deren Seele aber wie tot wirkt, da es keinen Zugang zu ihr zu geben scheint, im Unterschied zu der Person, die sich über eine kleine Aufmerksamkeit wirklich freuen kann. Die Fühler ihrer Seele registrieren das Erlebnis und leiten es weiter.

Wenn die Fühler der Seele intakt sind, dann kann sich auch die Seele bemerkbar machen. Sie lässt uns wach sein für alles, was offen ist, von ihr berührt und damit beseelt zu werden. Was die Fühler unserer Seele aufnehmen, kann dann auch von unserer Seele her mitgestaltet und durchdrungen werden.

Die Seele ist dabei einer Knospe vergleichbar, die sich öffnet und, wenn sie sich entfalten darf, alles erfüllt. Überlassen wir der Seele die Führung in unserem Leben, erfasst und durchweht sie alles in uns. Von ihrer Mitte her durchstrahlt sie unseren Leib, unser Herz, unsere Gedanken, alles, was uns ausmacht und von uns ausgeht. Sie beseelt uns und unser Tun. Sie führt uns in Begegnungen, durch Krisen, lässt uns die Wege gehen, die wir gehen müssen – auch den letzten Weg. Sie lehrt uns die Liebe und hilft uns zu trauern. Sie vermeidet nicht die Abgründe, vergisst nie den Blick nach oben, der zugleich ein Blick in das Innerste ist. Sich der Seele zu überlassen ist freilich riskant, für Konformisten, Perfektionisten, Moralisten und Rechthaber geradezu unvorstellbar, wenn auch heilsam. Wer sich seiner Seele überlässt, wird immer wieder die gängigen, einstudierten, festgelegten, gar für heilig und unantastbar erklärten Verhaltensmuster und -regeln sprengen – aber er wird leben. Denn, so C.G. Jung (1971, 49):

„Beseeltes Leben ist ein lebendiges Wesen. Seele ist das Lebendige im Menschen, das aus sich selbst Lebende und Lebensverursachende, darum blies Gott dem Adam einen lebendigen Odem ein, damit er lebe. Die Seele verführt die nicht lebenwollende Tätigkeit des Stoffes mit List und spielerischer Täuschung zum Leben. Sie überzeugt von unglaubwürdigen Dingen, damit das Leben gelebt werde. Sie ist voll von Fallstricken und Fußangeln, damit der Mensch zu Fall komme, die Erde erreiche, sich dort verwickle und daran hängen bleibe, damit das Leben gelebt werde, wie schon Eva im Paradies es nicht lassen konnte, Adam von der Güte des verbotenen Apfels zu überzeugen. Wäre die Überlegtheit und das Schillern der Seele nicht, der Mensch würde in seiner größten Leidenschaft, der Trägheit, zum Stillstand kommen.“

Von dieser Knospe Seele, die sich zur Blüte entfaltet, geht Kraft aus, die sich über uns ausbreitet. Alles wird eingetaucht in das Kraftfeld und die Farbenpracht, die sich in der Entfaltung der Knospe ausbreitet. Im Zustande der Gelassenheit, der Ekstase, der Hingabe hat die Seele ganz Besitz von uns ergriffen. Aber auch, wenn wir ganz darniederliegen, am Boden zerstört und verzweifelt sind, umfasst uns unsere Seele. Immer dann, wenn wir echt sind, ist auch unsere Seele präsent und zeigt sich. In diesem Moment haben wir auch am ehesten Zugang zu unserer Seele.

Wirklich der Seele die Führung überlassen heißt auch, sie ernst zu nehmen, selbst dort, wo sie sich in schlechten Launen, Missgeschicken, ungesunden Verhaltensweisen zeigt. Das verlangt zunächst einmal näher hinzuschauen, was uns unsere Seele damit sagen will. Es geht dann nicht darum, uns von all dem Unangenehmen zu befreien und zu erlösen. Es geht darum, „einen tieferen Respekt dafür zu finden, was tatsächlich da ist. Wenn wir versuchen, menschliche Fehler und Missgeschicke zu vermeiden, gehen wir an dem vorbei, worum es der Seele geht“ (Moore 1994, 9).

Eine solche Sichtweise ist eine Provokation für alle, die daran interessiert sind, uns vor Missgeschicken zu bewahren, uns von Belastungen und unangenehmen Gefühlen zu befreien. Die Seele will uns gut. Sie will das aber nicht auf eine billige Weise. Doch „der Weg durch die Welt ist schwerer zu finden als der Weg um die Welt herum“ (James Hillmann, in: Moore 1994).

Die Seele lässt sich dabei nicht beeindrucken von äußeren Vereinbarungen und Verpflichtungen. Sie greift tiefer. Sie ist unbestechlich. Sie sorgt für sich, schaut, dass sie nicht zu kurz kommt, indem sie versucht, das abzustoßen, was ihr im Wege steht, und das anzunehmen und zu erreichen, was sie braucht und ihr zukommt. Denn die Seele weiß: „Das Streben, den Vorschriften – seien es pädagogische, soziale oder kirchliche – bis aufs Kleinste nachzuleben, um ja nirgends anzustoßen oder gar eine ‚Sünde‘ zu begehen, ist ein Perfektionismus, der allzu oft anstatt zur ‚Vollkommenheit‘ in die Neurose führt“ (Jacobi 1965, 130).

Die Seele darf auch nicht verwechselt werden mit einer Instanz in uns, die die Vernunft oder die so genannte Norm vertritt. Sie lässt sich nicht darauf beschränken und einengen. Sie mag sich zuweilen „einen Dreck“ darum kümmern. Sie mag einfach aufschreien, etwa durch einen tiefen seelischen Schmerz, und sich in Erinnerung rufen, wenn etwas, das fundamental zu uns gehört, zu kurz kommt. Das kann auch dazu führen, dass sie uns in eine seelische Krise stürzt, um dadurch mitunter unerbittlich etwas einzufordern, was wir vernachlässigen. In der Regel wird sie nicht nachlassen, bis wir auf sie hören, oder aber wir werden seelisch krank. Denn, so Jolande Jacobi (1965, 148), „nur was erlebt wurde, gibt Sicherheit und Gewissheit und wird verbindlich für denjenigen, der es eben erlebt hat. Deshalb ist es gerade für den Neurotiker indiziert, seine Persönlichkeit durch das Wagnis des Lebens zu erweitern, seine Fesseln durch die Erweiterung seines Bewusstseinsfeldes abzustreifen … Seine Neurose ist vielleicht ein letzter Aufruf zur Individuation, zur Ausschöpfung der in ihm brachliegenden, verdrängten, verkannten Möglichkeiten.“

Der Seele in unserem Leben die Führung zu überlassen, kann daher heißen, sich auf ein turbulentes Leben einzulassen. Wir riskieren damit alles. Wir entscheiden uns damit, auf Absicherungen zu verzichten, uns dem Fluss des Lebens, dessen Richtung von unserer Seele bestimmt wird, zu überlassen. Das stellt eine ungeheuere Herausforderung dar, der wir oft nicht gewachsen sind und auf Grund innerer und äußerer Gegebenheiten auch nicht immer gerecht werden können. Dennoch gilt es, sich immer wieder aufzumachen, der Spur der Seele zu folgen, sich von ihr führen und herausfordern zu lassen. Dann kann sie uns mehr und mehr dahin geleiten, wo unser Ziel ist, wo unsere Bestimmung uns hinführen und letzt-end-lich auch haben will.

Die Seele verführt zum Leben

Die Seele sagt mir: Nimm dich nicht so wichtig. Sie sagt mir nicht, du bist unbedeutend oder wertlos. Sie sagt mir vielmehr, weil du wertvoll bist – so wie du bist –, musst du dich nicht wichtig nehmen. Du musst dich nicht anstrengen, gar kämpfen, um für wichtig, wertvoll erachtet zu werden. Sei einfach, sei einfach du. Entspanne dich. Verkrampfe dich nicht so sehr, sei nicht so hektisch, nimm dir alle Zeit, alle Zeit des Lebens, deines Lebens. Es ist deine Zeit und du hast nur diese Zeit.

Die Seele hat Geduld mit mir. Sie gibt mich nicht auf. Sie schmunzelt, wenn ich meine, mich wieder ins Zeug legen zu müssen, glaube, den Starken, Potenten, Tollen spielen zu müssen. Sie lässt sich davon nicht beeindrucken. Sie verachtet mich deswegen nicht. Sie wird aber nicht müde, mir zu sagen: Du musst dich nicht unter Beweis stellen. Du musst all das nicht tun, um wichtig, wertvoll zu sein, um geliebt zu werden. Und dann küsst sie mich einfach. Einfach so, weil sie mich mag, ohne Wenn und Aber, bedingungslos, voraussetzungslos.

Die Seele ist das Kind in uns. Sie flüstert den Liebenden die Kosenamen ins Ohr. Sie lässt sie in Liebesspielen ihre Rollen, ihren Status, ihre Gescheitheit vergessen und einfach spielen, genießen, sich gegenseitig einfach hingeben. Die Seele öffnet die Herzen zweier Partner füreinander, indem sie einlädt zum Liebesspiel. Die Seele findet dabei durch all die Enttäuschungen, den Ärger, den Alltag hindurch die Stelle, die es den Partnern möglich macht, all das hinter sich zu lassen, auch die Mauern, die sich vor ihnen aufgerichtet haben, um miteinander zu spielen, zärtlich zu sein, Lust zu erfahren. Unsere Seele weiß, dass wir verrosten, versauern, furchtbar vernünftig und starr werden, wenn die Seite, die für das Kind in uns, das Spielerische, das Lustvolle, das Genießenkönnen steht, zu kurz kommt oder gar brachliegt.

Die Seele steht unten. Sie zählt sich zu den Kleinen. In ihrer Gegenwart fühlt sie sich am wohlsten. Sie braucht nicht die große Übersicht. Ihr sind Höhenflüge zuwider. Sie liebt es, mitten im Leben zu stehen. So liebt sie Spaziergänge. Ja, die genießt sie. Sie bleibt immer wieder stehen, schaut sich eine Blume genauer an, riecht daran, nimmt einen Stein in die Hand, greift ihn ab, wiegt ihn in der Hand. Sie hat kein festes Ziel. Sie schaut in die Sonne, lässt ihre Wangen von ihr erwärmen.

Die Seele ist mit Eros blutsverwandt. Sie reagiert besonders sensibel auf alles Erotische. Sie forciert es nicht, aber sie spürt es und sie findet es gut. Sie versteht es, wenn du dich von jemandem, von etwas angezogen fühlst, und sie versteht es, wenn du so tust, als wirke auf dich jemand nicht anziehend. Dann freilich wirbt sie dafür, dass du dich nicht verkriechst, sondern dich dem Erotischen öffnest. Komm, tu doch nicht so, als würde sie dich nicht ansprechen. Sie ist doch anmutig und – sei ehrlich! – du begehrst sie. Sie ist ja auch begehrenswert. Du brauchst doch keine Angst davor zu haben. Schau, wie dein Herz höher schlägt, ja wie du rot wirst. Steh dazu! Mach dir doch nichts vor!

Die Seele ist spontan, manchmal furchtbar spontan. Sie macht dir damit oft einen Strich durch die Rechnung. Du planst lange voraus Besuche, überlegst dir gut, wen du einlädst und wen nicht. Der Seele kann es eine Stunde vorher einfallen, dass sie Lust hat, sich mit jemandem zu treffen. Sie ist dabei nicht wählerisch. Heute ist er es, morgen sie. Oh, wie dich das aus deinem Konzept bringt! Vor allem unterminiert sie deine Prinzipien, dein Verständnis von Verbindlichkeit und was sich gehört, was richtig ist. Doch sie lebt, während du auf deinen Prinzipien sitzen bleibst und dabei schwarz wirst. Es sei denn, du gehst auf deine Seele ein, wirst deinen Prinzipien und deiner Seele gerecht.

Die Seele schaut zunächst ruhig zu, wenn du sammelstDafür