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Buch

Lord John Redgrave, besser bekannt als »Jack«, weiß es sofort: Das kleine Mädchen mit den wunderschönen blauen Augen, das auf den Stufen vor seinem Gentlemen Club gefunden wird, ist seine Tochter. Vor drei Jahren kam ihre Mutter in einer dunklen Nacht in sein Zimmer und lehnte am nächsten Tag seinen Heiratsantrag ab. Doch als er jene Amaryllis Clarke aufsucht, um sich Klarheit zu verschaffen, offenbart sich ihm zu seinem größten Erstaunen und Erschrecken: Diese eine leidenschaftliche Nacht verbrachte er nicht mit der stolzen, erfahrenen Amaryllis, sondern mit ihrer betörenden jüngeren Schwester Laurel

Autorin

Celeste Bradley, 1964 in Virginia geboren, lebt am Fuße der Sierra Nevada in Nordkalifornien. Sie ist mit einem Journalisten verheiratet und hat zwei Töchter. Bevor sie 1999 ihren ersten Roman veröffentlichte, arbeitete sie auch als Schauspielerin, doch ihre wahre Leidenschaft ist das Schreiben. Preisgekrönt, u. a. mit dem RITA Award für besonders herausragende Liebesromane, gehört die New-York-Times-Bestsellerautorin inzwischen zu den heiß geliebten Stars des Genres.

Weitere Informationen unter: www.celestebradley.com

Von Celeste Bradley bei Blanvalet lieferbar:

Der Liar’s Club: Die schöne Schwindlerin (36335) · Die schöne
Rächerin (36614)

Die Royal Four – Spione im Dienste Ihrer Majestät:
Der verruchte Spion (36660) · Der geheimnisvolle Gentleman (36661) · Verruchte Nächte (36905) · Gefährliches Begehren (36906)

Die Heiress Brides: Brennende Sehnsucht (37415) · Flammende Versuchung (37496) · Lodernde Begierde (37497)

Die Runaway Brides: Mein teuflischer Verführer (37931) · Ein
sinnlicher Schuft (38012)

Celeste Bradley

Ein verruchter Lord

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Cora Munroe

Blanvalet-Logo.eps

Die Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel »Scoundrel in my Dreams«

bei St. Martin’s Press, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juni 2013 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2010 by Celeste Bradley

Copyright © 2013 für die deutsche Ausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLC durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.

Umschlaggestalung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter

Verwendung eines Motivs von EvrenKalinbacak /Shutterstock.com

und von Vittorio Dangelico via Agentur Schlück GmbH

Redaktion: Ulrike Nikel

LH · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-09490-4

www.blanvalet.de

Dieses Buch ist all jenen Menschen gewidmet,

die verlassene Hunde- und Katzenkinder aus Tierheimen adoptieren. All meine Tiere sind auf diese Weise zu mir

gekommen. Denken auch Sie über diese Möglichkeit nach, bevor Sie eines kaufen.

Prolog

Die Mutter hat kein Geld mehr geschickt. Kann sie deshalb nich länger behalten. Soll der Vater sie jetzt nehmen. Weiß nich, wie er heißt. Is Mitglied von Brown’s.

Es war einmal ein kleines Mädchen, das wurde auf der Treppe eines altmodischen Londoner Gentlemen Club mit einem Zettel an ihrem Mantel ausgesetzt. Die Frage, wer als Vater infrage kommen könnte, beschäftigte fortan die Mitglieder des Clubs. Im Grunde genommen war die Möglichkeit begrenzt, denn fast alle bei Brown’s waren zu alt. Viel zu alt. Und bei denen, die jung genug waren, handelte es sich um drei Freunde: Aidan de Quincy, Earl of Blankenship, Sir Colin Lambert und Lord John Redgrave, der künftige Marquis of Strickland.

Aidan und Colin waren schnell bei der Hand, das Findelkind ihrem abwesenden Freund in die Schuhe zu schieben, da sie sich völlig unschuldig fühlten. Doch Jack weilte in Übersee und konnte nicht befragt werden. Darüber verging einige Zeit, und immer mehr schlossen die beiden anderen dieses engelsgleiche Kind in ihr Herz. So sehr, dass der Gedanke, Melody hergeben zu müssen, sie schmerzte.

Als Erster stellte sich Aidan die Frage, ob sie nicht doch sein Kind sein könnte. Nicht unwahrscheinlich, denn da war seine ebenso leidenschaftliche wie unglücklich zu Ende gegangene Affäre mit Madeleine Chandler, die vorgab, verwitwet zu sein, aber ganz offensichtlich ein dunkles Geheimnis mit sich herumtrug. Konnte sie die Mutter der ausgesetzten Kleinen sein? Aidan begab sich auf Spurensuche, wodurch schließlich ein Chaos über ihn, Madeleine und den Brown’s Club hereinbrach. Zum Glück mit Happy End, wenn man von einem Wermutstropfen absah: Meldody war nicht ihrer beider Tochter.

Sobald dies klar wurde, machte sich Colin Lambert, der an dem aufgeweckten, hübschen Kind einen Narren gefressen hatte, Hoffnungen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, reiste er mit dem kleinen Mädchen nach Brighton. Dort hoffte er Chantal zu finden, eine gleichermaßen hinreißende wie herzlose Schauspielerin, die über Jahre seine Geliebte war, jedoch ein wenig nettes Spiel mit ihm getrieben hatte.

Als er erfuhr, dass sie im Begriff stand, einen reichen Verehrer aus dem Hochadel zu heiraten, begann er sie zu suchen. Für die Betreuung von Melody heuerte er Prudence Filby an, eine clevere Garderobiere aus dem Theater in Brighton, die für Chantal gearbeitet hatte. Mit ihrer Hilfe hoffte er die Frau zu finden, die möglicherweise Melodys Mutter war. Und die er heiraten wollte, um »seiner Tochter« den Makel der illegitimen Geburt zu nehmen.

Doch er hatte die Rechnung ohne Prudence und ohne sein Herz gemacht. Denn zunehmend entwickelte er Gefühle für die flammenhaarige, heißblütige junge Frau. Hin- und hergerissen von widerstreitenden Empfindungen, schwankte er zwischen seiner wachsenden Leidenschaft und dem Wunsch, Melody durch eine Heirat mit ihrer vermeintlichen Mutter den Weg in eine gesellschaftlich aussichtsreiche Zukunft zu ebnen.

Auch Colin blieben Rückschläge nicht erspart, zumal er erneut von Chantal für ihre Zwecke ausgenutzt wurde, und erst in letzter Minute, vor dem Traualtar, kam die Wahrheit ans Licht. Die Schauspielerin gab zu, nie im Leben ein Kind zur Welt gebracht zu haben.

Diese Enthüllung erlaubte es Colin zwar, seinem Herzen zu folgen, konfrontierte ihn aber andererseits mit der schmerzhaften Erkenntnis, dass Melody nicht seine Tochter sein konnte.

Jetzt gab es nur noch einen, der als Vater infrage kam: Lord John Redgrave, der Erbe des Marquis of Strickland, der sich um die westindischen Zuckerrohrplantagen seines Onkels kümmerte oder mit den Schiffen des Familienunternehmens über die Weltmeere segelte. Für Jack, wie der junge Mann von seinen Freunden genannt wurde, stellte die Begegnung mit dem kleinen Mädchen eine gewaltige Überraschung dar, denn die einzige Frau, die er je geliebt hatte, war inzwischen mit einem anderen Mann verheiratet.

Zwanzig Jahre später

»Button?«

Ein leises Geräusch ließ den kleinen Mann in seiner Erzählung innehalten. Fragend schaute er auf den dunklen Schopf hinunter, der an seiner Schulter ruhte. »Ja, Lady Melody?«

Sie setzte sich auf und zog die Nase kraus, wodurch sie viel jünger wirkte als dreiundzwanzig. »Ich weiß, dass Sie es nicht mögen, wenn ich Sie schon wieder unterbreche, aber das stimmt so nicht. Mama war nie mit einem anderen verheiratet.«

Als ob die bloße Erwähnung einer Eheschließung mehr wäre, als sie ertragen konnte, warf die junge Frau einen panischen Blick auf das exquisite Hochzeitskleid, das Lementeur beziehungsweise Button, wie alle den berühmten Modeschöpfer zu nennen pflegten, entworfen hatte. Sie mochte diesen Traum aus kostbarer Spitze und schimmernder Seide, den sie bald anziehen würde, nicht einmal anschauen, sondern verbarg das Gesicht sogleich wieder an Buttons Schulter.

»Egal. Tut mir leid.« Ihre Worte klangen undeutlich, was sowohl ihrer unterdrückten Angst geschuldet war als auch dem Überrock aus feiner Schurwolle. »Bitte, erzählen Sie weiter.«

Button hob mit einem Finger ihr Kinn an und schaute in Augen von der Farbe des Sommerhimmels, die dunkle Wimpern beschatteten. »Junge Lady, wenn ich diese Geschichte zu Ende erzähle, versprechen Sie mir dann, dass Sie dieses Hochzeitskleid anziehen werden, das ich in mühevoller Kleinarbeit entworfen und für das ich Ihrem armen Vater eine geradezu obszöne Summe in Rechnung gestellt habe?«

Melody wich zurück. »Sobald ich es anziehe, dann muss ich « Der unausgesprochene Rest des Satzes hing schwer im Raum.

Button zog unerbittlich eine Augenbraue hoch. »Wenn Sie das Wort nicht einmal über die Lippen bringen, werden Sie ganz bestimmt nicht in der Lage sein, den Schritt zu tun.«

Tief atmete die ebenso entzückende wie furchtsame Braut ein und aus, um ihren fliegenden Atem zu beruhigen und die wachsende Panik niederzukämpfen. Ohne Erfolg jedoch. Deshalb drückte Button ihren Kopf ungerührt vornüber zwischen ihre Knie – offenbar verfügte er über einige Erfahrung mit Bräuten der besten Gesellschaft, die diesem Tag mit Bangen entgegensahen. Trotz des kostbaren Lementeur-Kleides, wie es nur für einen begrenzten Kreis Auserwählter vom Meister selbst angefertigt wurde.

Langsam normalisierte sich Melodys Atmung wieder. Sie richtete sich auf und presste beide Hände an ihre brennenden Wangen. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«

»Das weiß ich auch nicht«, sagte Button bemüht geduldig, obwohl er inzwischen seit Stunden Meldody ablenkte, indem er ihr die Familiengeschichte erzählte. »Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Sie lieben ihn über alles, und er betet Sie an. Sie sind eindeutig füreinander bestimmt.«

Sie kniff fest die Augen zusammen und schüttelte heftig den Kopf. »Füreinander bestimmt? Was bedeutet das? Gezwungen sein, für immer zusammenzuleben und einander unglücklich zu machen wie bei der Hälfte aller Paare in der Gesellschaft der Fall? Und zu wissen, wie man einander den größten Schmerz zufügen kann?«

Button runzelte die Stirn. »Er hat Ihnen nie wehgetan, oder etwa doch?«

»Nein«, sagte Melody kleinlaut. »Aber er könnte es. Er könnte, er könnte « Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Er könnte mich verlassen.«

Button umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. »Nicht weinen. Sie wollen heute schließlich hübsch aussehen.«

Melody starrte einen langen Augenblick zu ihm hoch, die Lippen zusammengepresst, die Stirn gerunzelt. »Button«, murmelte sie schließlich, »Sie sind schon ein bisschen verrückt, oder?«

Er lächelte und ließ sie los. Dann drückte er ihr einen raschen Kuss auf die Stirn. »Ein verrückter Hund, ja. Wenn Sie weinen, dauert es Stunden, bis die Spuren verschwinden.«

Erneut legte er den Arm um sie und zog sie an sich. »Ich erzähle Ihre Geschichte noch zu Ende. Jetzt geht es endlich um Ihre Eltern und die komplizierte Situation, in der sie sich befanden.«

»Sie haben gesagt, Onkel Colin sei dadurch zu seinem Buch Die Königin im Turm angeregt worden, aber ich glaube nicht, dass es so gewesen sein kann.« Sie schaute mit ernstem Blick zu ihm auf. »Zumindest gibt es keine Elfen.«

Button ignorierte den Einwand. »Hören Sie einfach weiter zu, und Sie werden erkennen, dass Ihre eigene turbulente Brautwerbung der Familientradition alle Ehre macht. Und anschließend lassen Sie sich diese zauberhafte Frivolität von Hochzeitskleid anziehen und legen damit für den alten Button Ehre ein. Und wenn Sie den Mittelgang der Kirche hinunterschreiten, darf nicht der Hauch eines Zweifels den Eindruck einer glücklichen Braut trüben, die soeben den schönsten Tag ihres Lebens genießt und es nicht erwarten kann, dem jungen Mann am Altar ihr Jawort zu geben.« Er schaute sie liebevoll an. »Haben wir uns verstanden, meine kleine Mylady?«

Sie erwiderte traurig seinen Blick und kuschelte sich an ihn wie in Kindertagen. »Ich denke, Sie sollten anfangen.«

Er drückte sie aufmunternd, als er von Neuem zu erzählen begann. »Es war einmal ein Mann, der glaubte, alles verloren zu haben «

Alles begann in einem Schloss in einem fernen Land … Na ja, es war bloß ein Herrenhaus in Surrey. Eine junge Frau zog sich ihre Haube übers Haar und glättete mit fahrigen Bewegungen ihren Hausmantel, während sie auf Zehenspitzen den dunklen Flur zum Gästeflügel hinunterschlich.

Um sich zu orientieren, brauchte sie nicht einmal eine Kerze, denn sie kannte jeden Winkel dieses Hauses und fand sich selbst im Dunkeln zurecht. Zudem schien das Licht des Mondes durch ein Fenster am Ende des Flures. Das Zimmermädchen hatte vergessen, die Vorhänge bei Sonnenuntergang vorzuziehen. Zu viel anderes gab es für sie zu tun, denn das Haus war voller Gäste. Die mehrtägige Einladung der Gastgeber hatte für regen Zulauf gesorgt.

Für die junge Lady zählte jedoch nur ein einziger Gast. Lord John Redgrave, der Erbe des Marquis of Strickland – ein gut aussehender junger Mann, den jedoch ein Hauch von Düsternis umgab. Er machte sich Vorwürfe, den Tod seines Cousins Blakely, Sohn des Marquis, auf dem Schlachtfeld nicht verhindert zu haben.

Sie blieb vor der Tür zum Zimmer von John Redgrave stehen und atmete tief ein. »Jack«, flüsterte sie vor sich hin, um ihre Rede ein letztes Mal zu proben. »Ich weiß, dass Sie morgen fortsegeln, um sich um die Plantagen Ihres Onkels zu kümmern, aber … ich liebe Sie.«

Lächerlich. Die Worte klangen selbst für ihre eigenen Ohren kindisch und erbärmlich. Doch wie sollte sie ihm sonst ihre Gefühle offenbaren, bevor er weit wegfuhr – so weit, dass sie ihn vielleicht niemals mehr wiedersah?

Ihre zitternde Hand berührte das kalte Eisen des Knaufs. Mit einem kaum hörbaren Klicken öffnete sich die Tür, und sie war in seinem Zimmer. Auch hier schien der Mond durch das große Fenster, und in seinem magischen blausilbernen Schein sah sie Jack, der scheinbar in einem Meer von Licht ausgestreckt und nur halb bedeckt von einem zerwühlten schneeweißen Leinentuch auf dem breiten Bett lag.

Nackt. Ihr Mund wurde trocken, und ihr Herz begann warnend zu hämmern.

Er lag auf dem Rücken. Als sie sich dem Bett näherte, konnte sie jede Mulde und jede Erhebung seines breiten, muskulösen Brustkorbs erkennen. Ein Arm, seitlich ausgestreckt, schien nach ihr greifen zu wollen. Der andere ruhte entspannt auf seinem flachen Bauch.

Was sich unterhalb des Bauchnabels befand, blieb ihren Blicken weitgehend entzogen. Abgesehen von einem Oberschenkel und Knie verhüllte das Laken seinen Unterkörper, weshalb sie ihren Blick wieder nach oben wandern ließ. Hinauf zu seinem markanten Gesicht. Sie liebte die kantigen Flächen, die bereits da gewesen waren, bevor er in den Krieg zog. Doch seitdem hatten die Bilder der Schlacht, die er nicht aus dem Kopf bekam, zusätzliche Spuren hinterlassen und alle unbeschwerte Heiterkeit aus seinen Zügen vertrieben.

Sein Kinn und seine Wangenknochen wirkten härter und schärfer. Sein Mund mit der sinnlichen Unterlippe weigerte sich zu lächeln – nicht ein einziges Mal seit seiner Ankunft hatten sich seine Lippen verzogen. Und auf seiner Stirn und in den Mundwinkeln sah sie Furchen, die ebenfalls von seinen albtraumartigen Erlebnissen zeugten. Als fröhlicher, sorgloser Bursche war er in den Krieg gezogen und kam zurück als düsterer, gebrochener Mann, den Schuldgefühle quälten.

Sie allerdings liebte ihn dafür umso mehr. Es war leicht gewesen, ihn vorher zu umschwärmen. Jedes Mädchen hatte das getan, doch nun war es vorbei mit der allgemeinen Bewunderung – jetzt, da es den unterhaltsamen Charmeur nicht mehr gab.

Er redete kaum, und wenn klangen seine Worte bitter und zynisch, als sei alle Lebensfreude aus ihm gewichen. Und das entsprach offenbar den Tatsachen. John Redgrave konnte mit den banalen und trivialen Konversationen der feinen Gesellschaft nichts mehr anfangen. Sein Blick schweifte in die Ferne, und seine dunkelbraunen Augen offenbarten seelische Abgründe, die zarte Gemüter erschreckten. Folglich mieden die meisten Gäste, die von den Schrecken des fernen Krieges gegen Napoleon nichts oder lediglich vom Hörensagen wussten, den ungeselligen und unheimlichen jungen Lord wie ein nicht wirklich gezähmtes wildes Tier.

Sie hingegen fühlte sich von der düsteren Aura unwiderstehlich angezogen – beinahe wie eine Motte von einer hellen Flamme, in der sie verbrennen würde.

Ungehindert musterte sie den Schläfer. Er hatte sich das schwarze Haar lange nicht schneiden lassen, sodass es ihm fast bis auf die Schultern fiel. Sie mochte es so und verstand, was er damit zum Ausdruck bringen wollte: dass er sich nicht um gesellschaftliche Gepflogenheiten scherte. Am liebsten hätte sie ihm einige Strähnen aus der Stirn gestrichen. Und sein Kinn berührt, auf dem sich dunkle Bartschatten abzeichneten. Bestimmt würde es sich rau anfühlen – wie Sandpapier, wenn man mit den Fingern darüberstrich.

Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und trat näher ans Bett. Sie hatte sein Gesicht schon so lange studiert, dass sie ihn im Dunkeln zeichnen könnte – und sich seit Jahren danach gesehnt, mehr von ihm zu sehen. Jetzt war ihre Chance gekommen.

Erneut betrachtete sie seinen eindrucksvollen Körper, der quer auf der Matratze lag. Er hatte breite Schultern und vergleichsweise schmale Hüften, was ihm eine katzenhafte Schlankheit verlieh, die man in bekleidetem Zustand indes nicht wirklich bemerkte. Auch nicht, wie muskulös er war. Schwarzes Haar kringelte sich auf seiner Brust und verjüngte sich nach unten zu einer dunklen Linie, der sie mit ihrem Blick folgte. Bis zum Bauchnabel, wo die Decke begann. Ihre Finger zuckten, und sie spürte die Versuchung, diese ein Stück nach unten zu ziehen.

Sie stieß einen leisen Seufzer aus.

John Redgrave war ein anderer geworden. Das schon, doch seiner Attraktivität tat das keinen Abbruch. Zumindest in ihren Augen nicht. Seines Äußeren, das er früher selbstbewusst wie einen schönen Mantel zur Schau gestellt hatte, schien er sich kaum mehr bewusst zu sein. Unter dem Eindruck von Grausamkeit, Zerstörung und Tod, die er im Krieg erlebte und die sie sich in ihrer behüteten Welt nicht einmal vorstellen konnte, hatte sein Blick sich nach innen gekehrt.

Aber er hatte auch äußere Narben davongetragen. Sie sah sie Unheil verkündend auf seiner im Mondlicht silbern schimmernden Haut. Ein Sternenmuster an einer Schulter, wo ihn eine Kugel getroffen haben musste. Ein diagonaler Streifen über den Rippen – Spuren eines Bajonetts, das seinem Herzen gefährlich nahe gekommen war. Ein anderes hatte ihn offenbar hoch zu Ross sitzend am Oberschenkel getroffen – sein Gegner musste den Hieb wohl von unten geführt haben.

Ein neuer Jack lag vor ihr, den selbst im Schlaf noch eine Ahnung von Tod und Gefahr umgab. Vom Krieg gezwungen, ebenso zu töten und zu verwunden wie tagtäglich aufs Neue Leben und Gesundheit aufs Spiel zu setzen.

Trotzdem fand sie ihn einfach schön – es gab kein besseres Wort dafür, wie er dalag, unbekleidet und nahezu unverhüllt in seiner körperlichen Pracht. Kraftstrotzend und perfekt in seiner Männlichkeit, während sie

Ihre Hand, die sie bereits nach ihm ausgestreckt hatte, zuckte zurück. Ihre romantischen Fantasien kamen ihr mit einem Mal lächerlich vor. Wie konnte ein Mann, der durch die Hölle gegangen war, an einem unerfahrenen jungen Ding wie ihr Interesse zeigen? An einem Mädchen, das über das Leben nicht mehr wusste, als ihr Bücher vermitteln konnten. Und das einzige Leid, das sie ertragen musste, waren ihre ehrgeizigen, nach gesellschaftlichem Aufstieg strebenden Eltern und ihre missgünstige Schwester.

Plötzlich kam sie sich vor wie ein Kind, das sich einen Tiger als Haustier wünscht.

Sie sollte nicht hier sein, nicht allein in einem Zimmer mit diesem schönen, nackten und so unverkennbar potenten Mann. Vielmehr sollte sie auf der Stelle kehrtmachen und ihre törichten Backfischträumereien für sich behalten. Ein für alle Mal. Ja, das wäre das Richtige. Doch der Anblick seines Körpers ließ sie nicht los, sondern weckte Begehrlichkeiten. Wobei Faszination und Angst eine seltsame Verbindung eingingen und um die Vorherrschaft rangen. Sollte sie ihn berühren … oder fliehen?

Ohne dass sie bewusst eine Entscheidung getroffen hätte, gewannen ihre Bedenken die Oberhand. Oder die Vernunft. Mit nur wenigen hastigen Schritten war sie bei der Tür, um zurückzukehren in die Sicherheit ihres Jungmädchenzimmers – gleichermaßen beschämt über ihre unangemessenen Träume wie wütend über ihre Mutlosigkeit. In ihren Augen brannten Tränen wegen des feigen Rückzugs, den sie selbst als Niederlage empfand.

Und dann hörte sie hinter sich plötzlich ein tiefes Stöhnen und undeutlich gestammelte Worte. Sie hielt inne und drehte sich um.

Der Mann im Mondlicht hatte sich verändert. Jedes Zeichen friedlicher Ruhe war dahin. Sein ganzer Körper bewegte sich in unruhigen, unkontrollierten Zuckungen – die Muskeln spannten sich an, und ein leiderfüllter Schrei des Protests drang über seine Lippen. Aller Schmerz, alle Verlusterfahrungen und -ängste kamen darin zum Ausdruck.

Erneut näherte sie sich dem Bett. Es war kein bewusster Entschluss. Ihre Füße trugen sie automatisch dorthin – sie reagierte bloß auf den Entsetzensschrei, dessen Zeuge sie wurde.

Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. »Jack?« Ihr Flüstern ging unter in dem gestammelten Schrecken seines Albtraums. Mittlerweile glänzte seine Haut schweißfeucht, und die Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Finger krallten sich ins Bettlaken und zerrissen es.

Sollte sie jemanden holen? Aber wen? Ihre Eltern? Undenkbar! Wie sollte sie ihnen ihre Anwesenheit im Schlafzimmer eines Mannes erklären? Einen Dienstboten? Die konnten auch nicht mehr tun als sie selbst.

»Jack!«

Sie beschloss, ihn aufzuwecken, doch er war zu tief gefangen in diesem wiedererlebten Horror, um sie zu hören. Energisch begann sie ihn zu schütteln. Sie musste es tun, konnte ihn nicht seinem Albtraum überlassen. Was aber würde sie sagen, wenn er erwachte? Dass sie seine Schreie gehört habe? Möglich. Allerdings durfte er dann nicht wissen, dass ihr Zimmer in einem ganz anderen Gebäudetrakt lag.

Während sie sich noch Erklärungen zurechtlegte, streckte sie eine zitternde Hand nach ihm aus. Nackter Mann, bloße Haut … Wo sollte sie ihn berühren? Zögernd legte sie ihre Finger auf seine Schulter, versuchte nicht an die Hitze seines Körpers zu denken, nicht an die Intimität des Gefühls von Haut an Haut. Kurz und heftig rüttelte sie ihn. »Jack! Wach auf!«

Eine Hand schlug um sich, schob ihre beiseite. Sie biss sich auf die Unterlippe und rückte näher, raffte ihren Hausmantel und kniete sich auf die Matratze. Beugte sich vor und griff erneut nach seiner Schulter. »Jack!«

Er bäumte sich auf und schrie, brachte sie aus dem Gleichgewicht, sodass sie auf seiner nackten Brust landete und seine Hitze durch ihren Körper zu schießen schien. Dennoch blieb er in seinem Traum gefangen.

»Blakely«, keuchte er.

Mein Gott, dachte sie. Er rief nach seinem gefallenen Cousin und engstem Vertrauten. Vorbei alles Zaudern und alle Verlegenheit, alle Rücksichtnahme auf Anstand und gesellschaftliche Normen. Entschlossen drückte sie seinen zitternden Körper mit ihrem auf die Matratze und streichelte sein Gesicht. »Schsch, Jack, es ist vorbei. Du bist zurück. Schsch. Du bist in Sicherheit.«

Seine konvulsivischen Zuckungen ließen ein wenig nach. Dadurch ermutigt, fuhr sie fort, die Spuren des Schmerzes und des Entsetzens von seinem Gesicht zu streicheln. Wolken schoben sich vor den Mond und verdrängten das Licht. Die Dunkelheit machte sie noch mutiger, und sie übersäte sein Gesicht mit eiligen Küssen. »Schsch. Komm zu mir zurück, Jack! Komm zurück nach England!«

Mit jeder Minute, die verstrich, löste sich seine Anspannung ein wenig mehr. Das atemlose Keuchen verlor an Heftigkeit, und sie spürte, wie sein Herzschlag sich verlangsamte. Sie umklammerte ihn, fuhr mit den Händen durch sein feuchtes Haar, rief nach ihm, flüsterte seinen Namen, küsste seine Wangen, seine Stirn, seine zusammengepressten Lippen.

Zunächst bemerkte sie es nicht einmal, wie ihr Mund immer länger auf seinem verweilte. Es fühlte sich so richtig an, auf ihm zu liegen, die Finger in seinem Haar und ihre Lippen auf seinen. Plötzlich hoben sich seine Hände, legten sich um ihr Gesicht – jetzt küsste er sie, und zwar auf eine ungewohnte Art: leidenschaftlich und fordernd. Und sie? Zu lange lag sie bereits auf seinem großen, festen, nackten Körper, zu lange massierten ihre Hände seinen Nacken und seine Schultern, zu lange sog sie seinen Duft ein, spürte seinen Atem – zu lange schon berührte und küsste und presste sie sich an ihn

Als er sich auf sie rollte und den Kuss vertiefte, war sie so benommen, dass ihr gar nicht in den Sinn kam, dass irgendetwas daran falsch sein könnte.

John Redgrave, durch den Tod seines Cousins Blakely zum Erben des Marquis of Strickland geworden, fühlte sich beim Aufwachen zum ersten Mal seit Wochen ausgeruht und frisch. Es war die erste Nacht ohne erneutes Durchleben all der Schrecken und Gräuel gewesen. Stattdessen war die Frau, der sein Herz gehörte, zu ihm gekommen, hatte ihn getröstet und mit ihren zärtlichen Berührungen die quälenden Erinnerungen vertrieben. Alles, alles war ausgelöscht worden durch die Hingabe ihres Körpers, durch ihre heißen, leidenschaftlichen Küsse und das sanfte Streicheln ihrer Hände.

Zum ersten Mal, seit der Krieg ihm seine Seele geraubt und ihm nichts als Schuldgefühle und Trauer hinterlassen hatte.

Als Jack den Kopf auf dem Kissen drehte, nahm er ihren Geruch wahr. Den leichten Blütenduft ihres Haares und die parfümierte Seife, mit der sie sich wusch. Und dann war da noch ein anderer Geruch: der ihres Geschlechts. Er roch ihn auf den Laken und an sich selbst, spürte ihm jetzt nach, indem er sein Gesicht fest in die Kissen und Decken presste. Ihr Körper war ein Traum aus sanften Hügeln und verborgen lockenden Tiefen, und bereitwillig hatte sie ihn mit ihren Armen und ihrem Schoß willkommen geheißen. Und eine Hitze in ihm entfacht, die er bereits für immer erloschen glaubte. Aber auch menschliche Wärme.

Er hielt die Augen geschlossen und schwelgte in Erinnerungen – an den Geschmack ihres unerfahrenen Mundes, die Art, wie ihre zitternden Hände ihn liebkost hatten, während ihr dunkles Haar sich über seinen Brustkorb ergoss wie Seide, wie sie sich an ihn geklammert hatte, als er endlich behutsam in sie eindrang

Er setzte sich auf und schlug die Bettdecke zurück, um den verräterischen Fleck ihrer verlorenen Unschuld zu enthüllen. Eine Mischung aus Verlegenheit und Besitzerstolz ergriff ihn.

Meine Frau. Meine.

Er zog die Decke wieder darüber und beschloss, baldmöglichst mit ihrem Vater zu sprechen, bevor ein übereifriges Zimmermädchen sie womöglich in Verlegenheit brachte.

Als er vor einigen Wochen als ein Schatten seiner selbst nach England zurückgekehrt war, um widerwillig den Platz seines toten Cousins als Erbe einzunehmen, hatte Jack erfolglos versucht, die Fäden seines alten Lebens wieder miteinander zu verknüpfen. Doch mit ihr an seiner Seite erschien es ihm fast möglich.

Dann konnte er hoffentlich endlich auch seinem Onkel gegenübertreten, ohne ständig an Blakely zu denken und sich zu fragen, ob dieser ihm wohl über den Tod hinaus Vorwürfe machte, weil er seinen ihm durch Geburt zustehenden Platz einnahm. Eine liebende Frau neben sich zu wissen würde das alles leichter und irgendwann vielleicht sogar vergessen machen.

Jack begann in diesem Moment beinahe wieder an eine Zukunft ohne Schießpulver und Tod zu glauben. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich wusch und rasch anzog. Es schien tatsächlich, als würden sich die Dinge zum Besseren wenden.

Er sollte sich schrecklich täuschen.

»Ich verstehe nicht, Sir.« Jack versuchte seine Empörung so gut wie möglich zu verbergen, doch wer ihn kannte, hörte den scharfen Unterton in seiner Stimme. »Sie kann unmöglich den Earl of Compton heiraten – schließlich ist sie mit mir verlobt!«

Mr. Clarkes Hängebacken gerieten vor Unmut in Bewegung. Indigniert räusperte er sich, mied jedoch Jacks Blick. »Das war bloß ein sentimentales Versprechen in einer außergewöhnlichen Situation. Hunderte junger Mädchen haben es sicherlich einem Soldaten gegeben, der in den Krieg zog.« Er umklammerte mit den Fingern seine Rockaufschläge und wippte auf den Fersen, wobei er das Kinn selbstsicher in die Luft reckte. »Es hat keine offizielle Verlobung gegeben.«

Jack gab sich größte Mühe, ruhig zu bleiben. »Dennoch handelt es sich um ein Versprechen. Wenn Sie aus egoistischem finanziellem Interesse darauf bestehen, dass sie diesen alten Ziegenbock heiratet, dann «

»Aber Jack, ich möchte Compton heiraten.« Amaryllis’ Stimme wehte wie ein leichter Windhauch ins Arbeitszimmer ihres Vaters.

Er drehte sich um, und sein Herz begann wild zu hämmern, während ihre Worte in sein Bewusstsein drangen. Überrascht starrte er sie an, wie sie da in der Tür stand. Eine kühle, kontrollierte und wohlerzogene Version des süßen, leidenschaftlichen Mädchens, das er in der vergangenen Nacht geliebt hatte.

Jetzt trug sie ihre schwarze Haarfülle kunstvoll zu einem Knoten gebunden – abgesehen von ein paar verführerischen Strähnchen, die ihre Wangen umspielten. Ihre eifrigen Hände, die ihn vor nur wenigen Stunden in Leidenschaft versetzt hatten, waren gesittet vor ihrem Körper gefaltet. Wenn er ihre Haut mit seinen Bartstoppeln gereizt hatte, während er sich in ihr verlor, dann waren alle verräterischen Spuren mit Cremes und Puder getilgt worden. Jedenfalls sah ihr Teint makellos aus wie feinstes Elfenbein.

»Darling « Er trat vor, weil er nicht anders konnte, doch als er ihren Blick auffing, entdeckte er keine warme Regung darin. Sie neigte den Kopf und schaute ihn an, als sei nichts zwischen ihnen vorgefallen. Seine Schritte wurden immer langsamer, und schließlich blieb er stehen.

Amaryllis durchquerte den Raum, stellte sich neben ihren Vater, und beide musterten ihn so kühl, wie man das mit unwillkommenen Verehrern tat. Oder, schlimmer noch, mit aufdringlichen Geschäftspartnern.

Übermächtig kehrten die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück, und am liebsten hätte er sie ihr und ihrem Vater ins Gesicht geschrien, doch irgendwie fehlten ihm in diesem Moment die richtigen Worte. Offenbar war seine Eloquenz ebenfalls auf den Schlachtfeldern geblieben.

Seine Freunde hatten ihn bedrängt, dieser Einladung zu folgen. Sie alle hofften, dass die Begegnung mit dem Mädchen, das er liebte, in ihm wieder den Mann zum Vorschein bringen würde, der er einmal gewesen war. Nur deshalb war er nach Sussex gereist, wo ihre Familie den Sommer verbrachte.

Dort angekommen, merkte er jedoch erst richtig, wie viel ihn inzwischen vom oberflächlichen Amüsement der anderen Gäste trennte. Mehr und mehr quälte ihn das Gefühl, in einer gläsernen Hülle zu sitzen, die ihn hermetisch von der Umwelt absonderte und jede Kontaktaufnahme von vornherein verhinderte. Außerdem spürte er, dass alle sich in seiner Gegenwart unbehaglich fühlten.

Auch bei ihr hatte er bei seiner Ankunft eine reservierte Kühle wahrgenommen und sich gefragt, ob sie ihn absichtlich mied oder ob die Gastgeberrolle sie überforderte, die sie anstelle ihrer erkrankten Mutter übernehmen musste. Das Wiedersehen blieb enttäuschend, denn er schaffte es nicht, an das belanglose Geplauder aus der Zeit vor dem Krieg anzuknüpfen. Er fühlte sich in dieser äußerlich vertrauten Welt wie ein Fremder, der sein Zuhause und jede Orientierung verloren hatte.

Bis zur vergangenen Nacht, als sie zu ihm kam und ihm mit ihrem Körper Trost bot. Für ihn war es der erste Augenblick echter Verbundenheit gewesen, und dankbar ging er auf ihr Angebot ein – schließlich waren sie verlobt, rechtfertigte er sich.

Offenbar jedoch nicht, wie er erkennen musste.

Amaryllis wandte den Blick von seinen fragenden Augen ab und hob das Kinn. »Der Earl of Compton ist eine sehr gute Partie«, sagte sie, und ihre Stimme drang zu ihm durch wie aus weiter Ferne. »Ich denke, wir werden sehr gut harmonieren.«

»Du sagtest doch … Ich bin zurückgekommen, weil … Du hast versprochen « Verdammt! Sein Gehirn schien außerstande, seine Sprache sinnvoll zu steuern. Seit er aus dem Krieg zurück war, erkannte er sich selbst beim Reden kaum wieder. So unbeholfen klang alles. Er atmete tief durch, doch sie kam ihm zuvor.

»Es tut mir entsetzlich leid, falls Sie einen falschen Eindruck von meiner Freundschaft gewonnen haben sollten«, sagte sie vorsichtig. »Es lag mir fern, irgendwelche Verwirrung anzustiften.« Die Worte klangen ein wenig eingeübt.

Und ihm fiel nichts anderes ein, als das auszusprechen, was ein echter Gentleman für sich behalten würde. »Ich habe dich kompromittiert«, sagte er.

Entsetzt riss sie Augen und Mund auf, doch er sollte nie erfahren, was sie geantwortet hätte. Statt ihrer ergriff ihr Vater das Wort. Er trat zwischen sie und sah in diesem Moment einer zum Sprung bereiten Bulldogge extrem ähnlich. »Mylord, wenn Sie weiter Lügen über meine Tochter verbreiten, muss ich Sie bitten zu gehen.«

Es ist keine Lüge.

Flehentlich schaute er sie an, bat sie stumm, die Wahrheit zu sagen. Sie aber schwieg. Jack meinte keine Luft mehr zu bekommen, denn schlagartig begriff er, was hier gespielt wurde. Sie hatten einen lockenderen Preis im Sinn. Einen alten, reichen Titelträger. Er würde ihr Vergleichbares erst nach dem Tod seines Onkels zu bieten haben – offenbar wollte sie nicht darauf warten.

Unmöglich, das einfach geschehen zu lassen. Nicht nach dieser Nacht, die ihm beinahe den Glauben an den Sinn des Lebens zurückgegeben hatte. »Das können Sie nicht machen«, schrie er unbeherrscht Vater und Tochter an. »Ich werde nicht zurücktreten.« Aufgebracht wandte er sich an Amaryllis, die erschrocken zurückwich. »Wie kannst du nur – nach allem, was wir geteilt haben?«

Stumm stand das Mädchen da mit hochroten Wangen, die blauen Augen voller Verachtung auf ihn gerichtet, während zwei stämmige Lakaien ihn an den Armen packten und den heftig um sich Schlagenden unsanft nach draußen beförderten. Später würde er sich an die Szene kaum noch erinnern, wusste lediglich, dass er sich mit aufgeschürften Handflächen und auf allen vieren im Kies der Auffahrt wiederfand. Schemenhaft nahm er an den Fenstern der Vorderfront Gesichter wahr: Gäste und Personal, die entrüstet auf ihn herunterblickten, und ein vertrautes Gesicht mit entsetzt aufgerissenen blauen Augen, aus denen Tränen flossen.

Jack verstand endgültig die Welt nicht mehr.

Zurück in London geriet er vollends aus dem Gleis. Er soff und prügelte sich, prügelte sich und soff. Bis zu jener Nacht, als er sich hoch oben auf dem Dach des Brown’s Club wiederfand, in der Hand eine Whiskyflasche, die Beine über dem Nichts baumelnd und darüber nachdenkend, wie lange es wohl dauerte, bis er in der Ewigkeit ankam.

Seine Freunde schafften es, den Sprung zu verhindern und ihn ein wenig zur Vernunft zu bringen. Ihn in London zu halten, das vermochten sie jedoch nicht. Jack entschloss sich, nach Übersee aufzubrechen, um sich dort um die Plantagen des Marquis und die Handelsschiffe zu kümmern – in Wirklichkeit jedoch, um die Frau zu vergessen, von der er sich Rettung erhofft hatte.