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Die Bibel und die Frauen

Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie

 

Herausgegeben von

Irmtraud Fischer, Christiana de Groot,

Mercedes Navarro Puerto, Adriana Valerio

 

20. Jahrhundert

Band 9.1

Elisabeth Schüssler Fiorenza
Renate Jost (Hrsg.)

Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert

Verlag W. Kohlhammer

Übersetzt aus dem Englischen von Gabriele Stein

 

Die Herausgabe des Werkes wird unterstützt durch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Freundinnen und Freunde der Augustana Hochschule Neuendettelsau und den Förderverein Internationales Zentrum für Feministische Forschung in Theologie und Religion (Neuendettelsau).

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028989-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028990-1

epub:    ISBN 978-3-17-028991-8

mobi:    ISBN 978-3-17-028992-5

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich.

Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Danksagung

 

Der vorliegende Band ist die bearbeitete deutsche Übersetzung des von Elisabeth Schüssler Fiorenza herausgegebenen Buches Feminist Biblical Studies in the Twentieth Century. Scholarship and Movement, das 2014 in englischer Sprache bei SBL Press in Atlanta erschienen ist. Er ist Teil der breit angelegten Reihe Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, die als eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie zur Rezeptionsgeschichte der Bibel earbeitet und von Irmtraud Fischer (A), Mercedes Navarro Puerto (E), Adriana Valerio (I) und Jorunn Økland (N) verantwortet wird.

Ermöglicht wurde die Übersetzung des vorliegenden Bandes ins Deutsche durch finanzielle Mittel der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, der Freundinnen und Freunden der Augustana Hochschule Neuendettelsau und des Fördervereins Internationales Zentrum für Feministische Forschung in Theologie und Religion (Neuendettelsau).

Danken möchte ich Elisabeth Schüssler Fiorenza und Irmtraud Fischer für die Einladung, die deutsche Ausgabe zu betreuen, sowie der Übersetzerin aus dem Englischen Gabriele Stein für die konstruktive Zusammenarbeit.

Mein besonderer Dank gilt den beiden MitarbeiterInnen an der Professur für Feministische Theologie/Theologische Genderforschung Jonas Leipziger und Miriam Keller für alle Korrekturarbeit, konstruktiven Vorschläge zu Gestaltung, das Layout und die Erstellung der Druckvorlage.

Ohne die Genannten wäre das Erscheinen dieses Buches nicht möglich gewesen.

Neuendettelsau, Ostern 2015

Renate Jost

Inhaltsverzeichnis

 

  1. Einleitung
  2. Elisabeth Schüssler Fiorenza
  3. Zwischen Bewegung und Akademie: Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert
  4. 1. Eine Karte feministischer Bibelwissenschaften auf dem Globus zeichnen
  5. Judith Plaskow
  6. Bewegung und wissenschaftliche Anfänge: Die feministische Bibelwissenschaft in den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten
  7. Elsa Tamez
  8. Feministische Bibelwissenschaften in Lateinamerika und der Karibik
  9. Susanne Scholz
  10. „Lebensenergien freisetzen“: Die Entwicklungen der feministischen Bibelwissenschaft in Nordamerika von den 1980er Jahren bis ins frühe 21. Jahrhundert
  11. Dora Rudo Mbuwayesango
  12. Feministische Bibelwissenschaften in Afrika
  13. Mercedes Navarro Puerto
  14. Eine interkulturelle Landkarte der feministischen Bibelwissenschaften: Südeuropa
  15. Monica Jyotsna Melanchthon
  16. Feministische Bibelauslegungen in Asien: Beiträge zu einer Dokumentation
  17. 2. Feministisch hermeneutische Räume von Religion schaffen
  18. Helen Schüngel-Straumann
  19. Von androzentrischer zu feministischer Exegese: Genesis 1–3
  20. Cynthia Baker
  21. Jüdische feministische Bibelwissenschaften
  22. Rosa Cursach
  23. Eine christliche feministische Bibelhermeneutik
  24. Zayn Kassam
  25. Der Qur’ān aus gendergerechter Perspektive: Eine neue Lesart
  26. Jacqueline M. Hidalgo
  27. Im Kampf mit Herrschaftsmentalitäten
  28. 3. Anders lesen: Methoden der Interpretation
  29. Melanie Johnson-DeBaufre
  30. Texte und LeserInnen, Rhetorik und Ethik
  31. Shelly Matthews
  32. Feministische biblische Geschichtsschreibung
  33. Marinella Perroni
  34. Unterschiedliche feministische Methoden und Ansätze: Die biblische Frauenforschung
  35. Joseph A. Marchal
  36. Queer Studies und kritische Männerforschung in der feministischen Bibelwissenschaft
  37. Tan Yak-hwee
  38. Postkoloniale feministische Bibelexegese: Erkundungen
  39. Denise Kimber Buell
  40. Entfesselte Kanons
  41. 4. Für Veränderung und Umgestaltung arbeiten
  42. Leony Renk
  43. Wo kommst Du her? – Wo gehst Du hin? Feministisch-interreligiöses Bibliodrama im deutschen Kontext
  44. Regula Grünenfelder
  45. Frauen in Liturgie und Kunst auf WeisheitsWegen
  46. Claudia Janssen und Hanne Köhler
  47. Eine lange Geschichte des Säens, damit dann und wann Wunder wachsen: Bibelübersetzungen in gerechte Sprache
  48. Renate Jost
  49. Bibelwissenschaft und ihre Institutionalisierung im internationalen und ökumenischen Kontext aus einer deutschen Perspektive
  50. Bibliographie
  51. AutorInnen

Einleitung

Zwischen Bewegung und Akademie: Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert

Elisabeth Schüssler Fiorenza
Harvard University Divinity School

Ursprünglich war die vorliegende Reihe „Die Bibel und die Frauen“ als rezeptionsgeschichtliches Projekt in den Bereichen Theologie und Genderforschung geplant, das in Europa begonnen und sich mittlerweile zu einem internationalen Unterfangen entwickelt hat. Die damaligen Herausgeberinnen umrissen ihr Konzept wie folgt:

„Die Bibel und die Frauen“ könnte als gender-inklusiver Schauraum verstanden werden, der eine Vorstellung davon vermittelt, was Rezeptionsgeschichte der Bibel auch sein kann, wenn man den Fokus des Interesses auf genderrelevante Texte und Auslegungen von Frauen legt. […] Denn sie repräsentieren eine bislang verschlossene Welt, der BibelwissenschaftlerInnen mehr Aufmerksamkeit schenken sollten, wenn sie nicht weiterhin nur einen kleinen Teil eines Museums bewohnen […] wollen.1

1.         Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert – ein Überblick

So wichtig dieses Ziel auch ist, will der vorliegende Band über das 20. Jahrhundert doch mehr, als bloß einen Raum im „Museum“ der Rezeptionsgeschichte belegen. Er will einen Bruch oder Riss im Malestream biblischer Rezeptionsgeschichte kartieren, die auch das Lesen der Bibel von Frauen miteinschließt. Der Band tut dies dadurch, dass er die Bibelwissenschaft in einem feministisch-hermeneutischen Rahmen neu zu konzipieren sucht. Die Redaktion situiert das Thema „Frauen2 und Bibel“ und feministisch-biblische Studien nicht nur im „Dazwischen“ von Frauenbewegungen für Gerechtigkeit und der akademischen Bibel- und Religionsforschung, sondern auch in einem „performativen“ Sinn, der sich je nach soziokultureller und theoretisch-religiöser Verortung ganz unterschiedlich konkretisieren und ausprägen kann. Das F-Wort, „feministisch“, dient hier als Überbegriff für Gender- und Queerforschungen, für befreiungstheologische, womanistische, postkoloniale, interreligiöse und transnationale Studien, asiatischer, afrikanischer, lateinamerikanischer oder indigener Frauen und für zahlreiche andere kyriarchat-kritische Perspektiven und Ansätze. Überdies verortet der Band das Thema „Frauen und Bibel“ im Spannungsfeld zwischen den Gerechtigkeits- und Befreiungsbewegungen von Frauen einerseits und der akademischen Forschung der Heiligen Schriften andererseits.

Doch ist die angezeigte Beschränkung des Bandes auf das 20. Jahrhundert etwas ungenau, da die feministische Bibelwissenschaft in den Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts wurzelt. Ausgehend von Werken des 19. Jahrhunderts wie Grace Aguilars erst kürzlich von Mayer I. Gruber neu herausgegebenem Women of Israel3 und Elizabeth Cady Stantons Woman’s Bible etablierte sich feministische Forschung im 20. Jahrhundert in der Wissenschaft und entwickelt sich weiter im 21. Jahrhundert dahin. Es ist unbestreitbar, dass die akademisch-feministische Bibelwissenschaft in den internationalen Frauenbewegungen wurzelt, doch ist es unsicher, ob wir unser analytisches akademisches Handwerkszeug auch im 21. Jahrhundert dazu verwenden werden, „das Herrenhaus einzureißen“ (Audre Lorde), oder nur dazu, im „Herren Museum“ – der Universität – mehr und größere Räume zu bekommen.

Um die feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert zu kartieren und sie für das 21. Jahrhundert fruchtbar zu machen, dürfen wir uns nicht auf die Frage beschränken, mit welcher Art von Analyse wir den biblischen Text auslegen sollen, sondern müssen uns – im Interesse der Frauenbewegungen weltweit – immer wieder fragen: „Wie können wir von der Analyse dessen, was ist oder war, zur Ankunft dessen übergehen, was sein könnte oder sein sollte?“4 Bei einer solchen Kartierung der Genealogie feministischer Bibelauslegung wird deutlich, wie viel noch zu tun bleibt.

Deshalb beginnt die vorliegende Beitragssammlung diese grundlegende Arbeit mit einem allerdings nur vorläufigen Überblick über die Errungenschaften der weltweiten feministischen Bibelforschung – und das, obwohl es zu diesem Problembereich nur wenige schriftliche Quellen und feministisch-historische Studien gibt. Es ist wichtig, das Terrain feministischer Bibelforschung abzustecken, damit die feministische Geschichte biblischer Forschung aufgezeichnet und nicht vergessen wird. Wir brauchen sehr viel mehr Dissertationen, Forschungsprojekte, mündliche Geschichte und Archive, um die Anfänge, Entwicklungen und Institutionalisierungen von feministischer Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert zu sammeln und zu erforschen, damit sie im 21. Jahrhundert weiter gedeihen kann. Das vorliegende Buch kann dies lediglich anfangsweise tun, denn es fehlt nach wie vor an umfassenden wissenschaftlichen Darstellungen der Geschichte feministischer Bibelforschung. Dennoch bietet dieser Band ganz wesentliche Beiträge zur Entwicklung der feministischen Bibelwissenschaft. Deshalb muss er als ein erster, wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Geschichte feministischer Bibelauslegung gesehen werden – ein Schritt, der im Interesse progressiver Bewegungen überall auf der Welt fortgesetzt und intensiviert werden muss.

Diese grundlegende Kartierung feministischer Bibelforschung im 20. Jahrhundert will vier Forschungsbereiche ansprechen, die der Vertiefung bedürfen. Sie versucht zunächst die Anfänge und Entwicklungen feministischer Bibelwissenschaft nicht nur in den USA und in Europa, sondern auch in anderen Erdteilen festhalten. In einem zweiten Schritt benennt, bewertet und bespricht sie die von feministischer Bibelforschung geschaffenen hermeneutischen religiösen Räume, um sodann in einem dritten Abschnitt akademische Methoden des Lesens und der Interpretation zu diskutieren, die entwickelt worden sind, um „das Haus des Herrn abzureißen“ (Audre Lorde) – ein Haus der androzentrischen Sprache und kyriarchalen Autorität. Der vierte und abschließende Teil des Bandes greift wieder auf den ersten zurück und veranschaulicht anhand von Werken, die über die akademischen Grenzen hinausgehen, mit welcher verändernden, inspirierenden und institutionalisierenden Kraft feministische Arbeit dazu beigetragen hat und auch weiterhin beiträgt, religiöse Beherrschungsmentalitäten zu erschüttern und Frauen zum kritischen Lesen der Bibel zu befähigen.

Das Projekt der Enzyklopädie, zu dem der vorliegende Band gehört, geht zu Recht davon aus, dass Frauen aller Jahrhunderte biblische Texte und Vorstellungen rezipiert, verstanden und auf ihr eigenes Leben angewandt haben. Was im 20. Jahrhundert neu ist und im vorliegenden Band herausgearbeitet wird, ist nicht nur die Tatsache, dass Frauen zum ersten Mal in der Lage sind, in die Bibelwissenschaft einzusteigen, sondern auch, dass wir neue Ansätze und Interpretationstheorien entwickelt haben. Eine feministische Rezeptionsgeschichte, die die Interaktion zwischen Frauen und der Bibelforschung nachzeichnet, kann sich daher nicht allein darauf konzentrieren, wie Frauen biblische Texte im Lauf der Geschichte verstanden und angewandt haben. Sie muss auch jene Kräfte analysieren, die dazu geführt haben, dass Frauen von den maßgeblichen Auslegungstraditionen ausgeschlossen wurden. Das heißt, wir müssen fragen, inwieweit die feministische Bibelwissenschaft versucht hat, nicht nur die herrschende biblische Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, sondern auch die für die Bibelinterpretation von Männern wie Frauen entscheidenden Herrschaftsstrukturen zu unterbrechen und abzubrechen.

Feministische ReligionswissenschaftlerInnen haben sich nicht einfach der langen und exklusiven „Prozession“ von Klerikern und Gelehrten (Virginia Woolf) angeschlossen, sondern auch darauf bestanden, dass die Erforschung der Bibel und ihrer Rezeptionsgeschichte anders werden muss, weil etablierte Wissenschaft die Interessen der Herrschenden nicht nur theoretisch untermauert und mitgetragen, sondern überdies Frauen als Subjekte der Interpretation die Anerkennung verweigert, sie von professioneller Bibelwissenschaft ausgeschlossen und sie dadurch zum Schweigen verurteilt hat. Daher hat feministische Forschung die Frage der Macht, der Ausgrenzung und der Herrschaft aufgeworfen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben afrikanische, asiatische und lateinamerikanische WissenschaftlerInnen aus postkolonialer Perspektive oder aus der Sicht von Menschen mit Behinderung zu dieser Arbeit wesentlich beigetragen.

Im Lichte der Feminismus-Definition „Frauen sind Leute (people)“ – die Cheris Kramarae und Paula Treichler zugeschrieben wird, verstehe ich Feminismus in einem politischen Sinn als die radikale Überzeugung, dass Frauen BürgerInnen, Vollmitglieder von Gesellschaft, Universität und organisierten Religionen mit vollen Rechten und Pflichten sind. Beim Treffen der Society of Biblical Literature im Jahre 2010 adoptierten die anwesenden AutorInnen die folgende von Monica Melanchthon in fünf Punkte untergliederte Bedeutung von „feministisch“:

Feministische Arbeit:

•  darf die Unterordnung von Frauen nicht verfestigen oder verstärken, sondern muss sie hinterfragen/erschüttern/untergraben;

•  muss die Wertschätzung und Achtung für die Erfahrung von Frauen reflektieren, dadurch dass sie deren Leistungsvermögen und Handlungsfähigkeit anerkennt;

•  muss sowohl für den unmittelbaren als auch nach Möglichkeit für den erweiterten Kontext sensibel sein;

•  muss einen kritischen Blick dafür haben, wie Frauen sich der Unterdrückung, Herrschaft und Gewalt nicht nur widersetzen, sondern sie auch unterstützt haben;

•  muss als Konsequenz sowohl weitreichende Veränderungen in Religion und Gesellschaft als auch politische wie revolutionärer Bedeutsam haben. Deshalb muss sie praktisch, diesseitig, umgestaltend, erneuernd und übergangbegleitend sein.

Es steht zu hoffen, dass andere Bände der Enzyklopädie – ob sie sich nun die Bezeichnung „feministisch“ zulegen oder nicht – diese ethisch-politischen Imperative als Perspektiven und Kriterien einer kritischen Bibelinterpretation aufgreifen werden.

Im Einklang mit diesem Verständnis feministischer Arbeit weisen die Beiträge im vorliegenden Band darauf hin, dass feministische Bibelwissenschaft in feministischen Bewegungen wurzelt, die sich für Veränderungen in den Religionen einsetzen. Dies kommt insbesondere in den Berichten aus Afrika, Asien und Lateinamerika, aber auch in den europäischen und US-amerikanischen Beiträgen zum Ausdruck. Sie weisen auch darauf hin, dass feministische Bibelwissenschaft derzeit Gefahr läuft, es sich in akademischer Interpretation und Debatte bequem zu machen, statt Auslegungsmethoden und Interpretationsregeln zu entwickeln, die Frauen in ihrem Kampf ums Überleben, um ihre Würde und um ihre Rechte bestärken. Diese Gefahr lässt sich insbesondere in den Vereinigten Staaten und in Europa beobachten, wo Frauen größere Zugangsmöglichkeiten zu Universitäten erreicht haben.

Insofern feministische Bibelforschung an Universitäten und theologischen Hochschulen Fuß gefasst hat, muss sie den institutionellen Anforderungen und akademischen Standards gerecht werden. Deshalb haben viele junge feministische WissenschaftlerInnen nicht mehr die Zeit und Freiheit, mit Frauen zu arbeiten, die die Bibel lesen, oder zu erforschen, wie sie ihre Bibellesung im Alltag anwenden. Überdies werden Dissertationen und Aufsätze ermutigt, die zwar akademischen Standards und Interessen, nicht aber der Frauenbewegung und ihrer Bedürfnisse gerecht zu werden haben. Dieser Druck, sich den traditionellen akademischen Maßstäben anzupassen, kommt der feministischen Forschung teuer zu stehen. Wir bräuchten zum Beispiel mehr Dissertationen, die die Entwicklung feministischer Bewegungen aus historischer Sicht untersuchen, und ethnographische Arbeiten, die die feministischen Bibelwissenschaft im Kontext der Universität und der Bewusstwerdung von Frauen erforschen. Es fehlt an Forschungsarbeiten, die sich etwa mit der Arbeit führender WissenschaftlerInnen oder mit mündlicher Geschichte von AktivistInnen, RabbinerInnen oder SeelsorgerInnen, die die Frauenbewegung geprägt haben, befassen.

Außerdem fehlt es uns an institutionellen Räumen und finanziellen Stiftungen, die die Errungenschaften der bereits geleisteten akademischen und aktivistischen Arbeit sicherstellen und diese Arbeit auch in Zukunft unterstützen könnten. Es fehlt uns an kritischen feministischen Büchern und elektronischen Medien für Kinder, an Materialien für die Mittel- und die Oberstufe und an bibelwissenschaftlichen Materialien für Religionsgemeinden. Die Beiträge zum vorliegenden Band würdigen die kreative Arbeit, die bereits getan worden ist und getan wird, und weisen zugleich darauf hin, dass noch ein gewaltiges Stück Arbeit vor uns liegt.

Da die beitragenden Autorinnen diese Arbeit zu dokumentieren und bewahren suchen, möchte ich diesen Band so kontextualisieren, dass er sich auf den theoretischen Rahmen konzentriert, auf den sich die Beitragenden in vielfältiger Weise beziehen, und die „Linsen“ kritischer Interpretation benennen, die nötig sein werden, um kritischfeministische Bibelwissenschaft auch in Zukunft im theoretischen und praktischen „Raum“ zwischen Bewegung und Universität anzusiedeln. Natürlich ist die Ausprägung und Abmessung eines solchen theoretischen Rahmens immer vom jeweils eigenen Blickwinkel der betreffenden Autorin geprägt. Doch möchte ich die Diagnose wagen, dass die meisten Beiträge in diesem Band – auch wenn sie vielleicht andere Terminologien verwenden – mit einer intersektionalen Herrschaftsanalyse arbeiten und letztlich in den Kämpfen von Frauen um Gerechtigkeit und Veränderung verwurzelt und diesen verpflichtet sind.

2.         Eine entkolonialisierende, kritisch-feministische Analytik

Die Frauenforschung benannte im Anfang die kulturell-politische Herrschaftsform, die unsere Welt bestimmt, mit dem Begriff Patriarchat, der im eigentlichen Wortsinn die Herrschaft des Vaters über die Mitglieder seines Haushalts bezeichnet, später aber allgemein als die Herrschaft des Mannes über die Frau verstanden wurde.5 Seit Mitte der 1980er Jahre ist diese zentrale Kategorie der feministischen Analyse problematisiert und schließlich durch den Genderbegriff ersetzt worden.

2.1        Gender

In den 1970er Jahren unterschied die Frauenforschung zwischen sozialer Geschlechterrolle – Gender – und biologischem Geschlecht. Um die Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich dann die Genderforschung als eigener Fachbereich, der allgemeingültiges Wissen über Frauen und Männer hinterfragt und versucht, die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Wurzeln von Gender offenzulegen.6 Seitdem ist Gender neben ‚Rasse‘, Klasse, Alter und Kolonialismus zur zentralen Analysekategorie geworden, eine Analytik , die dazu verleitet, verschiedenen Formen von Unterdrückung oder verschiedene Strukturen von Herrschaft „aufzuaddieren,“ und als ein Nebeneinander verschiedener dualistischer Analyserahmen zu begreifen. Diese dualistische Gender-Analytik hat die Diversität als Gesamtheit solcher dualistischen Identitätsmerkmale konstituiert. Frauenforschungs-WissenschaftlerInnen haben sich zuerst der Einführung dieser analytischen Kategorie widersetzt, weil sie nicht mehr zum Ausdruck bringt, dass Frauen im Brennpunkt feministischer Analyse stehen.

Zudem ist es interessant, zu beobachten, dass die Gender-Analytik zu einem Zeitpunkt aufkam, als die neoliberale Globalisierung und die postmodernen akademischen Diskurse weltweit an Boden gewannen. Da die zentralen Analysekategorien Patriarchat und Androzentrismus (auf den Mann zentrierte Ideologie) durch die Kategorie „Gender“ ersetzt wurden, trat zudem die Frage nach den Machtverhältnissen in den Hintergrund und wurde nicht selten ganz ausgeblendet. Wer aber die Frage nach den Machtverhältnissen vernachlässigt, gerät leicht in Gefahr, auch die schädlichen Auswirkungen genderbestimmter Sprache zu übersehen. Genderbestimmte Sprache drückt Machtverhältnisse aus und schreibt kulturell-religiöse Gendervorstellungen fest. Die androzentrischen Sprachen und Diskurse des Westens drängen Frauen nicht nur an den Rand oder streichen uns aus den Chroniken, sondern konstruieren als kyriozentrische Sprachen die Bedeutung von Frausein (wo/man) oder Mannsein jeweils unterschiedlich. Deshalb müssen sich feministischen Forschung im Allgemeinen und die feministischen Religionsforschung im Besonderen mit diesem Problem von genderbestimmter Sprache auseinandersetzen.

Grammatisch-maskuline Sprache funktioniert als sogenannte „generische“ Sprache: ein „konventioneller“ Sprachgebrauch, der die Anwesenheit von Frauen verschweigt. Nicht bloß männlich, sondern kyrios-bestimmte Sprache subsumiert Frauen unter maskulinen Oberbegriffen wie „Bürger“, „Direktoren“ oder Professoren. Um die linguistische Gewalt dieser sogenannten generischen, androzentrischen Sprache deutlich zu machen, gebrauche ich nicht „Mann“, sondern „Frau“ in einem inklusiven Sinne. Ich möchte damit anregen, dass wir immer dann, wenn wir das Wort „Frauen“ lesen, diesen Begriff generisch und inklusiv von Männern verstehen. Im Englischen ist das Wort „Mann“ (man) im Wort „Frau“ (wo/man), Er (he) in Sie (s/he) und das Wort „männlich“ (male) im Wort „weiblich“ (fe/male) enthalten. (Dieses Wortspiel ist allerdings nur im Englischen, nicht aber im Spanischen oder Deutschen möglich, wodurch ein solches inklusiv-generisches Hören und Sprechen in diesen Sprachen sehr erschwert wird.) Feministische Linguistikforschung hat belegt, dass die androzentrischen Sprachsysteme des Westens androzentrische Sprache sowohl als generisch als auch als genderspezifisch verstehen. Frauen müssen immer zweimal – wenn nicht öfter – hinsehen, um herauszufinden, ob wir gemeint sind oder nicht, wenn solche „generischen“ maskulin-bestimmten Begriffe wie „Menschen“, „Brüder“ oder „Professoren“ verwandt werden.

Wie eine solche angeblich generische Sprache sich auf die soziale Stellung auswirkt, lässt sich anhand von Bekanntmachungen wie der folgenden verdeutlichen: „Universität X ist den Förderungsmaßnahmen zu Gunsten von Minderheiten verpflichtet und steht afrikanischen, asiatischen, hispanischen und indigenen sowie weiblichen Bewerbern offen“ – so, als seien diese verschiedenen Bewerber allesamt männlichen Geschlechts, während Frauen als weiblich über Gender, nicht aber über ihre Zugehörigkeit zu ‚rassischen‘ und ethnischen Minderheiten definiert werden. Mithin sind afrikanische, asiatische, hispanische und indigene Frauen in vergenderten Sprachsystemen doppelt unsichtbar.

Zudem darf nicht übersehen werden, dass die Bedeutung des Genderbegriffs „Frau“ (wo/man) instabil und veränderlich ist und nicht so sehr von seiner Sex-/Gender-Relation, sondern vielmehr vom soziopolitischen Kontext der Zeit und der Region abhängt, in der das Wort gebraucht wird. Obwohl die englischen Wörter woman und female heute austauschbar und damit zu einem generischen, auf dem biologischen Geschlecht basierenden Begriff geworden sind, wurde das Wort women noch bis vor kurzem vor allem auf Frauen der unteren Schichten angewandt. Die historische Ambivalenz des Wortes woman lässt sich sehr viel leichter fassen, wenn es mit dem Wort lady/Dame verglichen wird, einer Anrede, deren Voreingenommenheit hinsichtlich ‚Rasse‘, Klasse und Kolonialismus sofort ins Auge sticht. Die Bezeichnung Dame/lady war nicht nur höhergestellten oder höhergebildeten Frauen vorbehalten, sondern stand überdies für echtes Frauentum und wahre Weiblichkeit. Die Aussage „Sklaven waren keine Frauen“ geht gegen den gesunden Menschenverstand, doch der Satz Sklaven waren keine Damen leuchtet unmittelbar ein.

Die soziopolitische Genderzuordnung entspricht – genau wie ihr grammatisches Pendant – nicht immer der Zuordnung zu dem einen oder anderen biologischen Geschlecht. AnthropologInnen haben darauf hingewiesen, dass nicht alle Kulturen und Sprachen lediglich zwei (biologische/soziale) Geschlechter kennen, und GenderhistorikerInnen haben aufgezeigt, dass das duale Geschlechts-/Gender-System selbst in der westlichen Kultur modernen Ursprungs ist. Thomas Laqueur7 hat beispielsweise die Auffassung vertreten, dass sich in der Moderne ein entscheidender Wandel vom antiken Ein-Geschlecht-Modell zur Dichotomie des gegenwärtigen Zwei-Geschlechter-Modells vollzogen habe. Früher glaubte man, Frauen hätten dasselbe biologische Geschlecht und dieselben Genitalien wie die Männer, nur dass sie bei den Frauen innerhalb, bei den Männern hingegen außerhalb des Körpers lägen. In diesem Ein-Sex-Modell galt die Vagina als innenliegender Penis; die Schamlippen als Vorhaut; der Uterus als Skrotum; und die Eierstöcke als Hoden.

Was es in diesem antiken Ein-Sex-Modell hieß, ein Mann oder eine Frau zu sein, wurde durch sozialen Rang und Stellung innerhalb des Haushalts und nicht durch die Sexualorgane bestimmt. Als ein freier Mann oder als eine Sklavin spielte man eine kulturelle Rolle, die dem eigenen gesellschaftlichen Status entsprach, aber wurde nicht unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zu einem von zwei nicht miteinander zu vereinbarenden biologischen Geschlechtern betrachtet. Nicht das biologische Geschlecht, sondern die gesellschaftliche Stellung des freien, elitären, vermögenden männlichen Familienoberhaupts bestimmte überlegenen Genderstatus. Deshalb mussten die Menschen der Antike nicht auf biologische Geschlechtsmerkmale zurückgreifen, um den Anspruch zu vertreten, dass freigeborene Frauen freigeborenen Männern untergeordnet waren. Vielmehr hielt man freigeborene Frauen aufgrund ihrer untergeordneten Stellung von „Natur“ aus für untergeordnet.

Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert kam das Zwei-Geschlechter-Modell, also die Vorstellung auf, dass es zwei stabile, einander entgegengesetzte Geschlechter gibt. In dieser Epoche entsteht auch die landläufige Vorstellung, wonach das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben von Frauen und Männern oder ihre Genderrollen auf zwei biologisch gegebenen Geschlechtern basieren. So, wie in der Antike der Leib als Spiegel der kosmologischen Ordnung gesehen wurde, galten in der Moderne Leib und Sexualität als Abbild und Legitimation der sozio-politischen Ordnung. Weil die Forderungen der Aufklärung nach Demokratie und Gleichheit freigeborene Frauen und untergeordnete Männer vom Status eines vollwertigen Bürgers ausschlossen, mussten neue Argumente gefunden werden, damit die freigeborenen Elite-Männer den Ausschluss von Elite-Frauen aus dem öffentlichen Bereich auch weiterhin rechtfertigen konnten.

Das Versprechen der Demokratie, wonach Frauen und untergeordnete Männer vollwertige BürgerInnen waren, brachte neue Argumente gegen Frauen hervor, die sich auf die Natur, Physiologie und Wissenschaft beriefen. Zum Beispiel, waren die Gegner der demokratischen Beteiligung von freigeborenen Frauen bestrebt, diese in mentaler und physischer Hinsicht als nicht öffentlichkeitstauglich zu erklären, indem sie die Meinung vertraten, dass Frauen sich aufgrund ihrer körperlichen und biologischen Konstitution nicht an der Demokratie beteiligen konnten. Hinsichtlich untergeordneter Männer und kolonialisierter Völker wurde ähnlich argumentiert.

Die Theorie von „seperaten Wirkungsbereichen“ für Männer und Frauen entwickelte sich parallel zum dualen Geschlechter-/Gender-Modell. In den Diskursen der Aufklärung wurden Elite- Frauen nicht länger als minderwertige Männer, sondern als deren vollkommen anderes, komplementäres Gegenstück und als Wesen einer „reineren ‚Rasse‘“ oder „engelgleichen Spezies“ konstruiert, die weniger stark von sexuellen Trieben und Begierden beeinflusst seien als die Männer. Um Frauen nicht an der neuen bürgerlichen Gesellschaft beteiligen zu lassen, wurden physische und moralische Unterschiede zwischen Männern und Frauen so formuliert, dass Elite- Frauen und untergeordnete Menschen beiden Geschlechts von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen wurden. Das Ergebnis dieser ideologischen Ausführungen waren zwei nicht miteinander vereinbare biologische und soziale Geschlechter. Zu beachten ist allerdings, dass diese genderbestimmten Identitätskonstrukte in erster Linie Angehörige der elitären Bürgerklasse betrafen.

Gender ist also, kurz gesagt, eine sozio-politische Institution und eine ideologische Repräsentation. Die Annahme natürlicher Geschlechts-/Genderunterschiede dient als vorgefertigter Bedeutungsrahmen für Individuen und kulturelle Institutionen. Durch die Verallgemeinerung dieses Sex-Gender-Systems von männlich-weiblich oder maskulin-feminin verschleiert dieser vorgefertigte Bedeutungsrahmen die Tatsache, dass schon die Vorstellung von der Existenz zweier Geschlechter keine wesentliche biologische Gegebenheit, sondern ein soziopolitisches Konstrukt ist, das bestehende Herrschaftsverhältnisse stützt. Geschlechtsunterschiede hängen von soziokulturellen Kommunikationspraktiken ab und können sich daher unterschiedlich entwickeln oder auch verändern. Individuen akzeptieren und verinnerlichen Genderzuschreibungen, weil sie sie als real wahrnehmen. Mithin ist Gender ein Produkt und Prozess nicht nur der Repräsentation, sondern auch der Selbstidentifikation. Gender als ein Produkt und einen Prozess zu verstehen, gibt uns die Möglichkeit, kulturell-konstruierte Männlichkeit und Weiblichkeit zu analysieren, um sie zu verändern.

2.2        Intersektionalität8

Da die Frauen- und Genderforschung tendenziell männliche/maskuline Macht über Frauen, aber weniger ‚Rasse‘, Klasse, Heteronormativität, Behinderung, Kolonialismus und anderen Herrschaftsstrukturen erforschen, ist eine neue Art der Analyse nötig geworden. Wenn ‚Rasse‘ und Kolonialismus in den Blick kommen, wird der Genderdualismus maskulin-feminin im Allgemeinen durch die Dualismen „Erstwelt- und Zweidrittelwelt- Frauen“ oder „weiße und schwarze Frauen“ ersetzt. Also erzeugt der dualistische Genderidentitätsrahmen eine Dichotomie zwischen dem Bereich gekennzeichnet als „weiße Frauen/Erstwelt- Frauen“ und dem Bereich gekennzeichnt als „schwarze Frauen/Zweidrittelwelt- Frauen“. Im Sinne von Identitätspolitik können weiße ErstweltfeministInnen nur über und im Namen von weißen Erstwelt- Frauen sprechen, während schwarze Frauen/Zweidrittelwelt- Frauen als fähig gelten, für alle Frauen der sogenannten Zweidrittelwelt zu sprechen. Feministische ReligionswissenschaftlerInnen und TheologInnen, so die Argumentation, können nur eine The*ologie und Hermeneutik formulieren, die entweder der Kategorie „weiß/Erste Welt“ oder der Kategorie „schwarze Frauen/Zweidrittelwelt- Frauen“ zuzuordnen ist.

Gegenüber und gegen eine solche diskursive Identitätspolitik formuliert im Sinne von Gender ist geltend zu machen, dass Identität nicht nur durch Gender, sondern auch z. B. durch Immigrantenstatus, Klasse, Bildung, Nationalität, sexuelle Orientierung, Behinderung, ‚Rasse‘, Religion und andere Bereiche konstituiert wird. Deshalb muss Identität als ein vielfältiges Konstrukt betrachtet werden, das von einander überschneidenden Herrschaftsstrukturen bestmmt ist. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Identität von Frauen dieselbe ist, ganz gleich, ob es sich um weiße oder um schwarze Frauen handelt. Wenn Frauen nicht nur durch Gender, sondern auch durch ‚Rasse‘, Klasse, Heteronormativität, Imperialismus und andere Herrschaftsstrukturen bestimmt werden, dann ist es notwendig, eine kritische Analytik zu entwickeln, die das globale kulturelle Paradigma der „weißen Dame“ und die dadurch verkörperten Machtstrukturen dekonstruieren kann.

Wenn wir Gender als eine Praxis fassen, die durch ‚Rasse‘, Klasse, sexuelle Präferenz, Kultur, Religion, Alter und Nationalität modulierte Geschlechtsunterschiede erzeugt, dann wird erkennbar, dass individuelle Frauen nicht einfach nur durch Gender definiert sind. Vielmehr führen die Überschneidungen von ‚Rasse‘, Klasse, sexueller Orientierung, Nation und Religion dazu, dass die Antwort auf die Frage, was es bedeutet, eine Frau zu sein, je nach soziopolitischen und kulturellen Kontexten ganz unterschiedlich sein wird. Deshalb haben vielfältige feministische und postkoloniale Theorien sowie Ansätze kritischer ‚Rassen-Theory‘ gemeinsam die Analytik der Intersektionalität als ein Analyseinstrument entwickelt, um die komplexe Situation globaler Herrschaft analysieren und aufzuzeigen zu können, dass die Strukturen von Heteronormativität, Gender, ‚Rasse‘ und Klasse unentwirrbar miteinander verfilzt sind.9 Da diese Strukturen oft als parallel zueinander, aber nicht als sich überkreuzend und verknotet verstanden werden, müssen sie einer kritischen intersektionalen Analyse unterzogen werden.

Der Begriff Intersektionalität wurde von der Rechtswissenschaftlerin Kimberly Crenshaw geprägt und drückt die Theorie aus, „dass Subjektivität durch einander vervielfachende Vektoren wie ‚Rasse‘, Gender, Klasse, Sexualität und Imperialismus konstituiert wird.“10 Die Theorie der Intersektionalität liegt in dreifacher Formulierung vor: als Theorie des marginalisierten Subjekts, als Identitätstheorie und als Theorie einer Matrix von Unterdrückungen. Die erste Iteration der intersektionalen Theorie bezieht sich lediglich auf vielfacht marginalisierte Subjekte. In ihrer zweiten Iteration versucht die Theorie zu veranschaulichen, wie Identität an den Schnittpunkten von ‚Rasse‘, Gender, Klasse, Sexualität und Imperialismus konstituiert wird. In der dritten Iteration schließlich bezieht sich die intersektionale Theorie vor allem auf die Strukturen und Schauplätze von Unterdrückung. ‚Rasse‘, Geschlecht, Gender, Klasse und Imperialismus werden als Herrschafts- und Machtvektoren begriffen; sie lösen mit-konstituierende soziale Prozesse aus, die wiederum die differentielle Gleichzeitigkeit von Beherrschungen und Unterordnungen herbeiführen.

Intersektionalitätstheoretiker konzipieren solche soziale und ideologische Herrschaftsstrukturen gemeinhin als hierarchisch, um die konkurrierenden Statuspositionen verschiedener Frauen in ihrer ganzen Komplexität und Verwobenheit zu kartieren und sichtbar zu machen. Ich halte es allerdings für irreführend, ein solches pyramidales Herrschaftssystem als „hierarchisch“ zu bezeichnen, weil dieses Etikett nur auf eine ganz bestimmte Form der „Macht über“ abzielt, nämlich eine im religiösen Sinne geheiligte und für sakral erklärte Macht (Hierarchie stammt von den griechischen Wörtern hieros, „sakral/heilig“, und archein, „herrschen/regieren“). Daher habe ich vorgeschlagen, die Kategorien Patriarchat und Hierarchie durch den Neologismus Kyriarchat zu ersetzen,11 der von Beitragenden im vorliegenden Band aufgegriffen worden ist. Die verschiedenen emanzipatorischen Ausprägungen feministischer Interpretation können, so schlage ich vor, zusammenarbeiten, wenn sie eine kritisch-intersektionalen Analyse von Kyriarchat, verstandenen als globale Herrschaft, adoptieren würden.12

Eine kritische, intersektionale, entkolonialisierende, feministische Analytik versteht Herrschaft demnach nicht als essentialistisches, ahistorisches und hierarchisches dualistisches System. Vielmehr begreift sie Herrschaft als Kyriarchat, als ein heuristisches (abgeleitet vom griechischen Wort für „finden“) Konzept oder als diagnostisches, analytisches Instrument, mit dessen Hilfe sich die multiplikativen Interaktionen von Gender, ‚Rasse‘, Klasse und imperialen Strukturen ebenso erforschen lassen wie ihre diskursiven Ein- und ideologischen Fortschreibungen. Eine solche Analyse macht außerdem deutlich, dass Menschen in Schichtungen von ‚Rasse‘, Geschlecht, Gender, Klasse und Ethnizität zur gleichen Zeit mehrere, wechselnde strukturelle Standorte einnehmen können. Sobald eine Subjektposition im Herrschaftsdiskurs den Vorzug erhält, wird sie zum Knotenpunkt. Genauso, wie Klasse oder Imperialismus zu irgendeinem bestimmten historischen Zeitpunkt die vorrangigen Modalitäten darstellen können, durch die Klasse, Imperialismus, Gender und ‚Rasse‘ erfahren werden, kann unter anderen Umständen Gender die bevorzugte Position sein, durch die Sexualität, Imperialismus, ‚Rasse‘ und Klasse erfahren werden.

2.3        Kyriarchat13

Der Neologismus „Kyriarchat“ verstanden als abgestuftes System von Herrschaften ist zum einen vom griechischen Wort kyrios (lateinisch dominus) – für Kaiser, Herr, Sklavenhalter, Vater, Ehemann, kurz: den vermögenden, freigeborenen Mann, dem alle Mitglieder des Haushalts untergeordnet waren und von dem sie kontrolliert wurden – abgeleitet. Zum anderen ist es vom Verb archein – herrschen/dominieren – bestimmt. Im Altertum war das soziopolitische System des Kyriarchats entweder als Kaiserreich oder als demokratisch-politische Regierungsform institutionalisiert, die alle freigeborenen Frauen und alle SklavInnen von den vollen Bürgerrechten und von der Entscheidungsmacht ausschloss. Im 4. Jahrhundert v. Chr. vertrat der griechische Philosoph Aristoteles die Auffassung, der freigeborene, vermögende, gebildete griechische Mann ist das sittlich höchstgestellte Wesen und alle anderen Menschen werden über den Dienst definiert, den sie diesem zu leisten hatten. Kyriarchale Gesellschaften brauchen eine „dienende Klasse“ von Menschen. Die Existenz einer gendergeprägten „dienenden Klasse“ wird durch das Gesetz, das Bildungswesen, die Sozialisation und durch rohe Gewalt aufrechterhalten und von der Überzeugung gestützt, dass die Mitglieder einer solchen „dienenden Klasse“ den Menschen, denen sie dienen sollen, von Natur aus oder durch göttlichen Ratschluss unterlegen sind.

Darüberhinaus hat Hannah Arendt aufgezeigt, dass diese Form von Demokratie auf der Unterscheidung zwischen dem Haushalt und dem öffentlichen Raum der Polis beruht. Im Gegensatz zum Haushalt, der der Bedürfnislage und finanziellen Sachzwängen unterworfen war, war die Politik der Bereich der Freiheit.14 Mithin war der Haushalt als Bereich von Zwang und Notwendigkeit auch der Bereich von Herrschaft. Freiheit im klassischen, westlich-politischen Sinn wurde ausschließlich von freigeborenen vermögenden Männern ausgeübt. Nur der Kyrios/Dominus/Gentleman war ein freier Bürger. Die Demokratie im westlichen Stil ist dieser kyriarchalen Struktur der griechischen Demokratie nachgebildet, die auf der Unterordnung und Versklavung untergeordneter Mitglieder des Haushalts und des Staates aufbaut.

2.4        Eine entkolonisierende, kritisch-feministische Analytik

Der von Lynn Weber entwickelte intersektionale Analyserahmen und die Korrektur des Patriarchats mit Kyriarchat stellen der feministischen Bibelanalyse ein theoretisches Gerüst bereit.15 Während Weber nur von den Herrschaftsstrukturen ‚Rasse‘, Klasse, Sexualität und Gender spricht, möchte ich ihre Liste einerseits um die Kategorien Heteronormativität, Kultur und Religion erweitern und andererseits die Sexualität unter dem Begriff Körperlichkeit subsumieren, der auch andere körperliche Merkmale wie Alter oder Behinderung umfasst. Mithin lässt sich die Analytik des Kyriarchats wie folgt zusammenfassen:

•  Das Kyriarchat ist vom jeweiligen historischen und geographischen Kontext und von politischen Überschneidungen (Intersektionen) geprägt. Ein räumlich und zeitlich weit gefasster Blickwinkel macht es möglich, Veränderungen zu registrieren, die sich von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort ereignen. Das Kyriarchat ist nicht biologisch bestimmt, sondern sozial konstruiert.

•  Kyriarchale Beziehungen sind Machtbeziehungen von Herrschaft und Unterordnung. Hier spielt die Unterscheidung zwischen persönlicher und sozialer, institutionalisierter Macht eine zentrale Rolle. Es ist wichtig, zu fragen: Was bringt Menschen dazu, zu glauben und zu verinnerlichen, dass sie in bestimmten Situationen machtlos sind?

•  Kyriarchale intersektionale Systeme arbeiten sowohl auf der Makroebene von gesellschaftlichen Institutionen als auch auf der Mikroebene des individuellen Lebens. Bei der Analyse einer Situation ist es sehr viel einfacher, die psychologischen Manifestationen der Unterdrückung zu beobachten, als die breiten auf der Makroebene wirkenden Zwänge zu erkennen, die mehr weit weg und abstrakt sind.

•  Kyriarchale, sich überschneidende Strukturen sind verzahnte Achsen der Macht. Sie suchen auf unser Leben, Vorstellungen, Gemeinschaften und Gesellschaften einzuwirken. Deshalb gilt es nicht nur die offensichtlichsten Strukturen im Vordergrund (z. B. Gender), sondern alle Herrschaftsstrukturen gleichzeitig zu analysieren.

3.         Religiöse Symbolsysteme, biblische Imagination und neoliberale Globalisierung

Feministische Theologien und Genderforschung im Bereich Religion16 haben versucht, einen Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie Religion und religiöse Texte, Traditionen und Gemeinschaften gesehen und studiert werden, herbeizuführen. Um die Traditionen zu verändern und zu verwandeln, haben wir eine weitgefächerte Kritik an fachspezifischen Prämissen, Methoden und epistemologischen Ansätzen geübt und religiöse Diskurse und Institutionen kreativ umgestaltet und neu gedacht. Auf diese Weise versuchen wir das Subjektsein und die Handlungsmacht von Frauen in der Religionsgeschichte und in gegenwärtigen Religionsgemeinschaften wiederzuentdecken und bewusst zu machen. Insofern feministische Theorie deutlich gemacht hat, dass alles Wissen gendercodiert ist, konnten feministische Forschungsansätze in Religionswissenschaft und Theologie die Vergenderung auch des religiösen Wissens und der religiösen Institutionen nachweisen. Feministische ReligionswissenschaftlerInnen haben Theorien und Begriffe wie Gender,17 Intersektionalität und Kyriarchat genutzt, um den Zweite-Klasse-Status von Frauen in der Religion und ihren heiligen Texten zu verstehen.

In vielen Religionen werden Männer und Männlichkeit mit dem Göttlichen und Transzendenten assoziiert, während Frauen und Weiblichkeit als immanent, unrein, profan, böse und/oder sündig gelten. Viele religiöse Traditionen wie z. B. Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, oder Buddhismus konstruieren ihre symbolischen Welten auf dem Fundament binärer Gendergegensätze. Die Gottheit (Gott, Jahwe, Allah oder Christus) wird nicht nur als männlich, sondern als allmächtiger Herrscher und Richter gedacht, während Frauen (Eva, Lilith oder Kali) mit Sünde, Tod und Sexualität in Verbindung gebracht werden. Als Vertreter des Göttlichen und höchste Würdenträger der großen Weltreligionen haben Elite-Männer Frauen von der religiösen Führung, der offiziellen Lehrtätigkeit und dem sakralen Riten ausgeschlossen.

Weil religiöse Symbolsysteme stark maskulin vergendert sind, verstärken sie kulturelle Genderrollen und Genderbegriffe und legitimieren diese als von Gott oder der „Schöpfungsordnung“ gewollt. Wie Judith Plaskow gezeigt hat, haben männliche christliche Theologen ihre theologischen Konzepte in den Begriffen ihrer eigenen kulturellen Erfahrung formuliert und daher auf einer männlichen Sprache über Gott und auf einem symbolischen Universum bestanden, in dem Frauen nicht vorkommen.18 In anderen Weltreligionen lässt sich Ähnliches beobachten.

Seit der Industriellen Revolution in Europa und Amerika am Anfang des 19. Jahrhundert ist Religion aus dem öffentlichen Bereich herausgedrängt und in die private Sphäre individualistischer Frömmigkeit, Wohltätigkeit und gepflegter Häuslichkeit verbannt worden. Dadurch wurde Religion bei gleichzeitig überwiegend männlicher Führung in kultureller Hinsicht feminisiert. Dennoch waren sowohl Religion als auch Gender entscheidend daran beteiligt, westliche Identität zu formen. Als „missionarische Religion“ hatte das Christentum beispielsweise dieselbe Funktion wie die „weiße Dame“: Es sollte „die Wilden“ zivilisieren, die man als „ungezähmte Natur“ betrachtete.

Deshalb ist der Ansatz „Frau in der Bibel“ oder der „Frauenbibel“ zu vermeiden. Die intellektuelle Tradition, die Elizabeth Cady Stantons Woman’s Bible im 19. Jahrhundert begründet hat, verlangt nach der Korrektur, dass biblische Texte über Frauen nicht der Kontinuität, sondern der Unterbrechung bedürfen.19 Eine solche Fokussierung auf Frauen arbeitet bewusst oder unbewusst mit einem essentialistischen Frauenbegriff, der kulturell produziert und nach dem barbiepuppenhaften Bild der „weißen Dame“ geschaffen ist. Dieses Idealbild der Frau wird nicht nur in den westlichen Ländern, sondern überall auf der Welt von den Medien propagiert. Deshalb darf es nicht als Blickwinkel der Analyse übernommen, sondern muss selbst kritisch analysiert werden.

Feministische WissenschaftlerInnen betonen, dass religiöse Texte und Traditionen neu interpretiert werden müssen, damit Frauen und andere „Unpersonen“ in Religion und Gesellschaft volle BürgerInnenrechte und uneingeschränkte Entscheidungsmacht erlangen und lernen, ihr Gleichgestelltsein innerhalb ihrer religiösen Gemeinschaften radikal zu leben. Wir argumentieren, dass Unterschiede in puncto Geschlecht/Gender, ‚Rasse‘, Klasse und Ethnizität nicht gottgewollt, sondern soziokulturell hergestellt sind und deshalb nicht unkritisch hingenommen werden dürfen. Gott, die/der die Menschen nach göttlichem Bild geschaffen hat, hat jedes Individuum anders berufen. Die Göttliche Weisheit ist in und unter Menschen zu finden, die als Gleichgestellte erschaffen sind.

Da die Autorität der Bibel als des „Wortes G*ttes“ benutzt wurde und wird, um Unterordnung und Unterwerfung unter kyriarchale Macht anhand biblischer Texte einzuschärfen, ist es unbedingt wichtig, zu erforschen, wie Heilige Schriften auch heute noch eingesetzt werden, um Herrschaft und Ausbeutung zu unterstützen. Die Debatten um die reproduktiven Rechte von Frauen und die gleichgeschlechtliche Ehe verdeutlichen, inwiefern auch die Gegenwartsgesellschaften noch immer die Implikationen biblischer Texte und Unterordnungsgebote wahrnehmen und weiterentwickeln.

Wenn kyriarchale Macht und Voreingenommenheit den politischen Kontext von Bibelauslegung bereitstellen, können feministische WissenschaftlerInnen es sich weder leisten, sich auf rein apologetische oder positivistische Lesen der Bibel zu beschränken, oder die kritische Bibelinterpretation „bourgeoiser“ Wissenschaft, und ihrer Auseinandersetzung mit sekularen Problemstellungen zu überlassen. Vielmehr müssen feministische Bibelauslegungen und Theologien mit einer kritische Analyse arbeiten, die die den Heiligen Schriften eingeschriebene „Vorurteilspolitik“ offenlegt.

In den letzten vier Jahrzehnten haben christliche, jüdische, muslimische, postbiblische und Göttinnen-FeministInnen über Vorurteile diskutiert, theoretische strukturelle Analysen vorgelegt und sich für eine feministische Veränderung der biblischen Religionen eingesetzt. Dabei haben wir unterstrichen, dass die Heiligen Schriften und Überlieferungen in allen drei sogenannten abrahamitischen Religionen aus der Perspektive privilegierter Männer formuliert und ausgelegt worden sind und daher weder die Sichtweisen noch die Erfahrungen von Frauen, Armen oder versklavten Bevölkerungen widerspiegeln. Religiöse Verbote, Projektionen und fromme Praktiken dienten oft dem Zweck, Theologien und Bräuche zu legitimieren, die Frauen und andere als „untermenschlich“ kategorisierte Personen an den Rand gedrängt, zum Schweigen gebracht, ausgegrenzt und ausgebeutet haben. Deshalb muss die feministische Diskussion über Vorurteile fest in einer facettenreichen interreligiösen, postkolonialen und antirassistischen kritisch-feministischen Analyse verankert bleiben.

Solange Herrschaftsprache, in der biblische Texte nach wie vor verstrickt bleiben, nicht bewusst dekonstruiert wird, wird frauenfeindliche Sprache weiter verstärkt und fortgeschrieben. Defensive Argumentationen, die die Heiligen Schriften mit dem Hinweis auf ihre antiimperiale Ausrichtung zu retten suchen, übersehen weithin, dass die Sprache des Kyriarchats und die verschlüsselt in die Heiligen Schriften eingeschriebene Gewalt religiöses Selbstverständnis und kulturelles Ethos jahrhundertelang geprägt haben und bis heute noch prägen.