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ABSCHIED

Der Mai 2014 war zumeist kalt und verregnet gewesen. Während sonst um diese Jahreszeit die Balkone der Häuser hier in den Tiroler Bergen beinahe überquollen von leuchtendroten Geranien, tauchte dieses Jahr nur spärlicher Pflanzenschmuck an Fenstern und Brüstungen auf. Der Frost war zu hartnäckig gewesen. Die Wolken wollten nicht weichen, hingen tief in die Täler herab, und die Sonne zeigte sich oft tagelang nicht.

Ich arbeitete bereits seit Monaten an meinem Buch, in dem ich mein Leben und die Spuren, die meine Eltern und Vorfahren darin hinterlassen hatten, aufzeichnen wollte. Vieles drängte schon seit langem an die Oberfläche, darunter manches Schöne, das ich gerne aus meiner Erinnerung hervorholte, aber auch anderes, das zu vergessen ich mich seit vielen Jahren vergeblich bemüht hatte.

Auch an diesem Donnerstag, dem 29. Mai, saß ich im Erker meines Wohnzimmers am Schreibtisch, umgeben von alten Aufzeichnungen, Bildern, Briefen und zahllosen Erinnerungsstücken, und wollte eben mit der Arbeit beginnen, als das Telefon läutete.

Almaz war dran, die äthiopische Ehefrau meines Vaters Karlheinz Böhm, die er 1991 in vierter Ehe geheiratet hatte. Er hatte die um 36 Jahre jüngere Agraringenieurin in Addis Abeba bei seiner Hilfsorganisation »Menschen für Menschen« kennengelernt, sie hatte ihm zwei Kinder geboren, und nun, da er seit geraumer Zeit schon bettlägerig war, lebte sie mit ihm in seinem Haus in Grödig bei Salzburg. Ich wusste, dass es ihm sehr schlecht ging, und instinktiv erschrak ich, als ich jetzt Almaz’ Stimme hörte.

»Dein Vater ist tot«, sagte sie und begann zu weinen. Ich holte Luft, um etwas zu sagen, und fühlte, wie mein Herz bis zum Hals klopfte. Obwohl ich auf diese Nachricht schon gefasst war, denn ich hatte immer wieder in Grödig angerufen, um mich nach seinem Zustand zu erkundigen, und die Antworten waren von Mal zu Mal ernster und zuletzt hoffnungslos ausgefallen, war es ein Schock für mich. Ich suchte nach Worten, aber brachte nur heraus: »Wann ist es passiert?«

»Knapp vor vier Uhr Nachmittag«, sagte Almaz, und dann: »Du bekommst Nachricht von mir, wann das Begräbnis ist.«

Benommen kehrte ich an den Schreibtisch zurück. In einer Ecke des Sofas lehnten die zwei Bambis, die Romy Schneider und mein Vater zur Premiere des ersten Sissi-Filmes von Margarethe Steiff und ­Aenne Burda bekommen hatten. Romy und mein Vater hatten sie wenig später an mich weitergeschenkt. Mein Blick fiel jetzt darauf, und auf den kleinen silbernen Becher mit der eingravierten Widmung »Meinem geliebten Schnurpsilein von deinem Papi«, den ich als Kind von Vater erhalten hatte und seit meiner Internatszeit als Zigarettenhalter verwendete. Es war also vorbei: mehr als dreißig Jahre Einsatz für Afrika durch »Menschen für Menschen« und eine fast ebenso lange Schauspielerkarriere mit dem frühen Erfolg der Sissi-Filme, einem Erfolg, den er als Schauspieler nicht wiederholen konnte, jedoch als Philanthrop im fernen Äthiopien noch übertroffen hatte.

Wenige Tage später kam ein Schreiben von Almaz, in dem sie mich und meinen Sohn Florian am 13. Juni zur Beerdigung und einem anschließenden Zusammensein im engsten Familien- und Freundeskreis bat. Die Einladung war förmlich gehalten. Der Landeshauptmann von Salzburg, Dr. Wilfried Haslauer, so stand darin, habe dem Verstorbenen ein Ehrengrab der Stadt Salzburg zugedacht und lade zu einem Empfang in die Salzburger Residenz.

Am Morgen des 13. Juni fuhren Florian und ich los, mit einem riesigen Trauerbukett, einem Herz aus lauter weißen Rosen, im Kofferraum meines VW Beetle.

Als wir in der Residenz, dem ehemaligen Sitz der Salzburger Fürsterzbischöfe, eintrafen, warteten dort schon meine Halbgeschwister Michael und Daniela, die Kinder aus der zweiten Ehe meines Vaters mit Gudula Blau. Ihre Schwester Kristina befand sich noch mit Almaz hinter der Bühne und stieß erst später zu uns. Man hatte uns allen einen Platz vorne in der rechten Bankreihe zugewiesen. Katharina, die Tochter aus Vaters dritter Ehe mit Barbara Lass, war nicht gekommen. Vor den Sitzreihen liefen Kameraleute hektisch hin und her, um uns zu fotografieren: die ältesten Kinder der verstorbenen Wohltäter-Ikone.

Langsam füllte sich hinter uns der Saal. Rund eine Stunde verging, ohne dass etwas geschah, dann war plötzlich Gemurmel und Geraune zu hören, kurz darauf wurde es still, und alle Blicke richteten sich nach vorne.

Almaz kam langsam über die Stiege herab, die an der Stirnseite des Saales zur Bühne führte, gestützt von ihren beiden Kinder Nicolas und Aida. Ihre äthiopischen Verwandten sowie Gäste, die sie zum Begräbnis hatte einfliegen lassen, folgten. Auch Repräsentanten der äthiopischen Regierung waren darunter. Vor den Sitzreihen angelangt, hielt die Gruppe sekundenlang inne, mit den Gesichtern zu den Gästen im Saal. Dann nahmen alle Platz, auf der linken Seite der Stuhlreihen, getrennt von uns anderen durch den Mittelgang.

So war es immer, schoss es mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Wir hatten immer ein separates Leben geführt. Hier Karlheinz und Almaz mit Nicolas und Aida und der weitverzweigten äthiopischen Verwandtschaft, und da die Kinder aus den früheren Ehen. Nur Katharina war davon ausgenommen. Kathi hatte bei meinem Vater eine Sonderstellung, an der konnte auch Almaz nicht rütteln. Kathi lebte mit ihrem Sohn immer noch in Baldham bei München, im Hause der Eltern. Sie hatte mit ihrer Mutter Barbara und den Großeltern Böhm sogar so etwas wie ein Böhm’sches Familien­leben genossen. Heute bin ich davon überzeugt, nach allem, was ich von meiner Großmutter mütterlicherseits weiß, dass Barbara Lass, die Mutter von Kathi, die einzige seiner Frauen war, die Karlheinz Böhm wirklich geliebt hatte. Ich hatte Kathi zuletzt vor fünf Jahren gesehen, als ich meinen Vater einmal um Unterstützung für meine Firma gebeten und er mich an Almaz verwiesen hatte, die seine finanziellen Angelegenheiten regelte. Almaz hatte mich daraufhin in das Büro des Vermögensverwalters Andreas Seck bestellt. Dort war ganz unvermittelt auch Kathi aufgetaucht.

»Ich habe Katharina gebeten, dabei zu sein«, hatte Almaz erklärt, »weil ich dich nicht kenne.«

»Ich hätte das ja auch lieber mit meinem Vater selbst besprochen«, hatte ich geantwortet.

Und darauf Almaz: »Erwartest du jetzt in Gegenwart deiner Schwester, dass sich dein Vater bei dir entschuldigt, dass er nie für dich da war?«

Daran fühlte ich mich in diesem Augenblick erinnert, angesichts der »Kluft«, die uns von Almaz und den Ihren trennte.

Nun begannen schon die Ansprachen: Der deutsche Ex-Bundespräsident Horst Köhler ergriff das Wort, dann die Vizepremierministerin von Äthiopien, Vertreter von »Menschen für Menschen«, Salzburgs Landeshauptmann Haslinger und die ehemalige Landeshauptfrau Gabi Burgstaller als Freundin der Familie.

Dann trat Almaz’ Tochter Aida auf die Bühne und sang Leonard Cohens »Hallelujah«.

Weiter ging’s in den Trauer­reden, die alle wortreich den Wohltäter Karlheinz Böhm und sein Lebenswerk »Menschen für Menschen« lobten, welches Almaz als Schirmherrin weiterführen würde.

Unter den Trauergästen hatte ich Bully Herbig entdeckt, der die Stiftung seit längerem unterstützt. Dass Sara Nuru, die Gewinnerin von Germany’s Next Topmodel mit äthiopischen Wurzeln auch anwesend war, entnahm ich erst später den Zeitungen. Frank Elstner, in dessen Sendung »Wetten dass…« der Grundstein für »Menschen für Menschen« gelegt worden war, fehlte, auch Blacky Fuchsberger. Aber der gehörte sowieso der Schauspieler-Vergangenheit meines Vaters an, um die es hier nicht ging. Der Wohltäter hatte den Schauspieler längst an Ansehen übertroffen.

Auf die Feier im Carabinieri-Saal der Residenz folgte das Begräbnis auf dem Salzburger Kommunalfriedhof. Die Trauergemeinde war nun geschmolzen, Almaz hatte eine Bestattung im engsten Familien- und Freundeskreis geplant. Eine evangelische Pfarrerin hielt die Grabrede, das hatte mein Vater sich gewünscht. Fast musste ich lächeln, als ich daran dachte, wie streng katholisch Thea und Karl Böhm ihren Sohn Karlheinz erzogen hatten. Dass jetzt eine evangelische Pfarrerin die Grabrede hielt, wirkte wie ein später Protest des Sohnes gegen die übermächtigen Eltern.

Dann begann das Trauerdefilee. Langsam bewegte sich der Zug hin zum Grab, vor dem zwei Holzkästen aufgestellt waren. Einer gefüllt mit Erde aus Äthiopien, der andere mit österreichischer Erde. Mein Vater hatte sich einmal vor Jahren gewünscht, in Äthiopien begraben zu werden, deshalb hatte Almaz äthiopische Erde einfliegen lassen.

Äthiopien. In Äthiopien wusste man gar nicht, dass ich existierte, oder Daniela oder Michael oder Kristina. Daniela, Michael und ich hatten einander überhaupt erst beim Begräbnis unseres Großvaters Karl Böhm im Jahr 1981 zum ersten Mal gesehen, Kristina war ich einmal kurz in Wien begegnet. Und jetzt waren wir vor dem Grab unseres leiblichen Vaters wieder zusammengekommen. Immer nur vor Gräbern. Ich konnte eine gewisse Bitterkeit nicht unterdrücken, als ich mich bückte, um die Schaufel mit Erde aufzunehmen. In einiger Entfernung erblickte ich eine Schar einheitlich gewandeter Männer, sie trugen schwarze Anzüge mit schwarzen Pelerinen über die Schultern – die Freimaurer-Brüder meines Vaters. Und auch Katharina war auf dem Friedhof aufgetaucht. Sie stand abseits mit ihrem Sohn Samuel.

Und da war noch jemand, den ich unter den Trauernden entdeckt hatte. Eva Hess. Die Geliebte meines Vaters, die ihn zuerst nach Afrika begleitet hatte. Mit ihr hatte Vaters Engagement damals in Äthiopien angefangen.

Als wir uns danach in Vaters Lieblingsgasthof wieder versammelten, teilten sich Daniela und Kristina mit Eva einen Tisch. Michael mit seinen beiden Söhnen, mein Sohn Florian und ich saßen gleich daneben. Natürlich tauschten wir Erinnerungen aus, denn alle hatten wir ja unsere Geschichte, die uns mit dem Verstorbenen verband.

Die meine ging so: