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Die Namen der betroffenen Personen wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.


1. Auflage, März 2013 (basiert auf der durchgesehenen 1. Druck-Auflage 2001: ISBN 978-3-86153-230-9)

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Covergestaltung unter Verwendung eines Fotos von fotolia / Andrey Burmakin

Satz: Kerstin Ortscheid, Berlin


ISBN 978-3-86284-214-8



Inhaltsverzeichnis


Ein Akt der Verzweiflung


Nur ein böser Traum?


Tausend und keine Nacht


Der Liebes-Deal


Rien ne va plus


Der tiefe Sturz der Gabriele Moll


Die Heiratsschwindlerin


Das Geld andrer Leute


Eine (fast) unendliche Geschichte


Der unheilschwangere Tag X


Ein ganzes Dorf hat weggeschaut


In tödlicher Obhut


Suff, Sex und Schläge


Die Gangsterbraut


Wie eine antike Tragödie


Ende einer Affäre


Der Muttermord


Bauernopfer


Sterbestunde im Altenheim


Kaltblütig


Begriffe aus dem Gerichtsalltag


Frauenkriminalität im Blick der Fachwelt


Ein Akt der Verzweiflung

Tatvorwurf: Mord

Alter der Täterin: 37 Jahre

Verhandlungsdauer: 4 Tage


Am Tag vor der Hochzeit trat Hartmut Grahm seiner Braut Martina vor versammelter Verwandtschaft und Bekanntschaft in den Hintern, weil ihm irgendwas mit dem Kuchen nicht paßte. Das war sofort Gesprächsstoff im Dorf.

17 Jahre später erschlug Martina Grahm ihren Mann mit einer Axt, weil sie seine Demütigungen, Drohungen, sexuellen Nötigungen nicht mehr ertragen konnte.

Sie ist 37 Jahre alt, und vor ihr liegen laut Urteil des Schwurgerichts Ravensburg zwölf Jahre Haft.

»Jetzt, in der Vollzugsanstalt, fühle ich mich frei. Es gibt niemanden mehr, für den ich die Beine breit machen muß, niemanden, der mich beschimpft. Der Einzige, den ich vermisse, ist mein Junge.«

Das zitiert der Vorsitzende Richter in der Hauptverhandlung aus einem Brief der Angeklagten. Und er fragt Martina Grahms’ Schwester Dagmar Leibold, die als Zeugin auftritt: »Warum hat sie diesen Mann überhaupt geheiratet?«

»Weil sie immer Probleme mit ihrem Aussehen hatte, mit ihrer krummen Nase, den vorstehenden Zähnen, den Sommersprossen. Ich hab ihr gleich von Grahm abgeraten, hab ihr gesagt, du kriegst immer einen. Aber sie hatte Torschlußpanik.«

Martina Grahm sitzt im Gerichtssaal ohne Anzeichen von Anspannung oder gar Müdigkeit, sechs, sieben Stunden lang. Sie ist gewohnt zu tun, was von ihr verlangt wird. Sie gibt sachlich Auskunft, spricht ein schnelles, für Zugereiste schwer verständliches Schwäbisch.

»Meine Leute sind sehr nette Menschen, es gab zwar wenig Geld, aber wir hatten ein harmonisches Familienleben«, schildert sie ihr Elternhaus. Sie ist das jüngste von vier Kindern. Pferdewirtin wollte sie werden, Textilverkäuferin wurde sie. Eine andere Lehrstelle gab es nicht. Mit 18 lernte sie den zwei Jahre älteren Hartmut Grahm kennen, »ein gestandenes Mannsbild«, gebaut wie ein Schrank, Automateneinrichter. Die Ehe war von Anfang an ein Desaster. Das sagt sie zwar nicht, sie ist weit entfernt von Larmoyanz oder Selbstmitleid, doch die Zeichen sind nicht zu überhören.

»Zwei Kinder konnte ich nicht austragen«, sagt sie. Nicht der Hauch eines Vorwurfs an den toten Mann, der sie behandelt hat wie seine Magd. Selbst als sie schwanger war, ließ er sie schwere Arbeiten in Haus und Wald verrichten. Sie wollte kein Kind mehr mit ihm, doch dann bekam sie Sebastian.

Weiblichen Prozeßbeobachtern krampft sich das Herz zusammen angesichts der Zärtlichkeit, mit der Martina Grahm und ihr Sohn während der Verhandlungspausen miteinander schmusen. Die verständnis­vollen Justizbeamten lassen die beiden gewähren. Daß ein 14-Jähriger in aller Öffentlichkeit derart an seiner Mutter klebt, macht seine emotionalen Defi­zite überdeutlich.

Der schmale Junge sagt unter Ausschluß der Öffentlichkeit aus. Aber von Dagmar Leibold, in deren Familie er jetzt lebt, hört man: »Warum soll er seinen Vater vermissen? Der hat ihn doch ebenso schlecht behandelt und beschimpft wie seine Mutter: Sie war die Drecksau, die Schlampe, er der Depp, der Wichser, ein blöder Mensch ...«

In einer kurzen Affäre mit dem Mann ihrer Schwägerin erlebte Martina Grahm einen hauch von Zuwendung und Zärtlichkeit. »Als Petko zurück ist zu seiner Frau, wollte ich mich umbringen, ich konnte das kaum verkraften. Meine Schwägerin liebt ihn über alles, hat ihm Briefe geschrieben, wie ich sie von Hartmut nie bekommen habe«, sagt sie.

Petko mag sich vor Gericht nicht erinnern. Nicht an die Prügel von seinem Schwager Grahm, nicht an die dabei zu Bruch gegangene Lampe. »Hartmut war immer fair, hat mir die Geschichte nie nachgetragen.«

Martina Grahm erinnert sich umso besser. An das Messer in der Hand ihres Mannes und an sein Getöse, er würde »ihr damit die Unterwäsche am Leib zerfetzen und da unten alles wegschneiden.«

Sie floh mit ihrem damals vierjährigen Sohn in ein Frauenhaus. Beantragte die Scheidung. Ihre Verwandten boten Hilfe an bei Wohnungs- und Arbeitssuche.

»Warum haben Sie Martina nicht bei sich aufgenommen?« fragt der Vorsitzende Richter Dagmar Leibold.

»Weil unsere Wohnung zu klein ist. So sehr ich meine Schwester liebe – hätt’ der Grahm die Hand gehoben, wär’ ich an die Wand geflogen. Ich hatte auch Angst um meine beiden kleinen Kinder«, sagt die couragiert wirkende Vierzigjährige. »Der hätte Martina nie gehen lassen«, setzt sie nach, »sie war sein Eigentum.«

Hartmut Grahm hatte Frau und Kind im Frauenhaus ausfindig gemacht und sie angefleht zurückzukommen, er würde sich ändern. Bestimmt. Martina sah keine Chance. »Er hätte uns überall gefunden. Und er hat oft genug gedroht, ich könne abhauen, aber ohne Sebastian.«

Also kehrte sie zurück zu ihm. »Die erste Zeit war das okay, ich konnte sogar mal eine Freundin besuchen. Aber bald kontrollierte er mich wieder, tauchte im Café auf, in dem ich mit Kolleginnen saß. Er wuß­te immer, wo ich war.«

Das Paar kaufte ein altes Bauernhaus, setzte es in der Freizeit selbst instand. Bald war »sein Haus« das schönste im Dorf. Martina Grahm arbeitete als Aushilfe bei einem Metzger, bediente sonntags in einer Gaststätte, schlug Holz im Wald, »half beim Bauen schwer mit«, wie ein Zeuge bestätigt. Und mußte allabendlich ihrem Mann zur Verfügung liegen. Einmal hat sie sich bei ihrer Schwester ausgeheult.

»Stell dir vor, du bist ne Nutte und laß ihn halt rüberrutschen«, hat die ihr geraten.

Sie suchte eine Eheberatung auf. Hartmut Grahm kam mit. Nicht, um zu erfahren, was er zur Verbesserung der Ehe beitragen könne, sondern »er wollte hören, was ich sage.« Sie sagte wenig.

Ob er sie geschlagen habe, fragt der Richter.

»Hab mal ’nen Arschtritt oder eine geklatscht gekriegt, aber zugeschlagen hat er nie.« Als ob eine Ohrfeige kein Schlag wäre.

Ein einziges Mal hat sie sich nach so einem Tritt umgedreht und ihm eine gescheuert – und die Welt drehte sich weiter. Aber kaum, daß sich beide von ­ihrem Erstaunen erholt hatten, fielen sie zurück in ihr gewohntes Rollenmuster. Hartmut Grahm pumpte sich nach dieser Niederlage wortlos wieder auf; und Martina Grahm wußte mit ihrer kurzen Herrenrolle nichts anzufangen. Es passe wieder wie der Schlüssel ins Schloß.

Im Sommer vor dem Ende erlebte sie noch einmal so etwas wie eine zarte Liebe. Ein Kumpel ihres Mannes, Wolfgang Born, arbeitete oft allein mit ihr im Wald. Dabei kamen sie sich näher. Einmal schenkte er ihr eine selbstgebrannte CD.

Er geht zum Zeugenstuhl, ein schlanker Arbeiter Mitte Vierzig, nicht der Schnellste im Denken, aber gutmütig.

»Sie hat nie geklagt, doch ich hab mitgekriegt, wie er sie behandelt hat«, sagt er langsam. »Wie den letzten Dreck. Das hat mir halt immer weh getan.«

Es dauerte Wochen, bis Martina und der Wolfi sich küßten, bis sie miteinander Sex hatten. Wolfgang Born bot ihr an, zu ihr zu ziehen. Da war sie schon so müde, »psychisch und physisch fertig, ganz unten«, sagt ihre Schwester.

Noch einmal suchte Martina Grahm professionelle Hilfe. Der Psychologe baute sie auf: Lassen Sie sich nicht alles gefallen. Sie sind eine Frau mit Rechten!

»Ich bin da rausgegangen und war drei Meter groß«, erzählt sie. »Bin zu Wolfi gefahren, habe mein Auto frech vor seinem Haus geparkt, hab zu Wolfi gesagt: Ich pack das jetzt, ich laß mich scheiden.« Ihr Sohn war in einem Zeltlager, ihn würde sie später holen.

Kaum zu Hause, schrumpfte sie auf die gewohnte Dackelgröße. Hartmut, dem bei seiner Kontrollfahrt ihr geparktes Auto nicht entgangen war, brüllte, daß die Wände wackelten: »Du bleibst jetzt ein halbes Jahr im Haus, danach kannst du machen, was du willst!« Wieder fuchtelte er mit einem Messer herum. Es flogen Flaschen und die Salatschüssel, er holte die Kettensäge, ließ den Motor dröhnen und brüllte: »Wolfgang, diesen Penner, werde ich filetieren und dann mich umbringen, damit du siehst, was du wieder angerichtet hast!«

Martina Grahm rief ihren Geliebten an: »Wir müssen Schluß machen. Du hast genug Probleme durch mich.« Ihre Selbstachtung war in den Minusbereich gerutscht.

Wolfgang Born sagt aus, er habe gefühlt, daß Hartmut mit einem Messer neben ihr stand. »Ich hab damit gelebt, daß ich irgendwann fällig bin.« ­Hatte Grahm ihm doch schon »jesusmäßig einen eingeschenkt, als noch gar nix war mit Martina«.

In den drei langen Zuschauerreihen sitzen, Schenkel an Schenkel, die Vertreter beider Familien und des Dorfes – mit zwei sehr klaren Meinungen. Die Aussagen von Bruder, Kumpel und einstigem Vorgesetzten des Ermordeten klingen wie ein Refrain: Ja, der Hartmut Grahm habe seine Ziele gehabt im Leben. Ja, er habe seine Meinung durchgesetzt. Nein, er sei nie gewalttätig geworden. Ja, er habe seiner Frau häufig Aufträge gegeben. Habe sie auch angeschrien, aber nicht beleidigend. Er habe sie ja geliebt.

»Mein Gott, sag doch endlich, was los war und sitz nicht da wie ein Wicht!« Dagmar Leibold hält das Schweigen nicht mehr länger aus. Und der Vorsit­zende Richter fragt diesen Zeugen: »Es ehrt Sie, daß Sie einem Toten nichts Schlechtes nachsagen. Aber haben Sie sich nicht auch mal gestritten?«

»Nein. Er war doch halt größer und stärker.«

Die Mutter des Toten, eine einfach gekleidete Frau mit weißen Haaren, sitzt in der ersten Reihe wie eine indianische Squaw – unbewegt, mit starrem Blick, ohne Minenspiel. Es geht das Gerücht, Hartmut, ihr Ältester, sei sehr nach ihrem verstorbenen Mann geraten. Auch sie habe es nicht gut gehabt.

Jener Sommerabend nahm seinen Lauf wie ungezählte Abende davor. Nach Martina Grahms’ Telefonat mit Wolfgang Born wünschte ihr Mann, mit ihr zu baden, im Wohnzimmer ein Porno-Video zu sehen, mit ihr Sex zu haben. Er trank dazu ein paar Bier, rauchte Marihuana. Danach schlief er auf der Couch ein.

Und da saß sie nun, aufgewühlt, hoffnungslos, verzweifelt. Sie holte sich ein Bier, rauchte eine Ziga­rette und dachte im Kreis. Sie hatte total versagt. War ihm wieder zu Willen gewesen aus Angst vor seinem Ge­töse. Wenn nicht endlich was passierte, würde es ewig so weitergehen. Nein, schlimmer als bisher. Es mußte aufhören. Er ließ sie nicht weg. Also mußte er weg. Erwürgen? Da lag noch das Messer. Aber was, wenn er aufwacht und sich wehrt? Sie streifte durchs Haus, sah die Axt. Setzte sich damit hin, rauchte noch eine Zigarette. Dann packte sie die Axt, stand auf und schlug zu. Mit der stumpfen Seite. Lieber Gott, verzeih mir!

»Aber sie brachte nicht die nötige Brutalität auf, ihm den Schädel mit einem Schlag zu spalten«, räumt der Richter in seiner Urteilsbegründung ein.

Sie sagt: »Dann hat er gezuckt. Da nahm ich doch das Messer, stach zu, zwei, drei Mal. Ich wollte ihn doch nicht leiden lassen.«

Nur dieses eine Mal, als sie das erzählt, fallen Tränen in ihren Schoß.

Dann rief sie die Polizei an, bat: »Können Sie es einrichten, ohne Blaulicht zu kommen?«

Es war Samstagmorgen, fünf Uhr, das Dorf schlief. Sie glaubte tatsächlich, bald wieder zu Hause zu sein, schließlich sei sie keine »gewöhnliche Mörderin«.

Das sehen der Staatsanwalt und die Kammer anders. Für sie ist das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Ein fataler Aspekt für weibliche Täterinnen. Wie hätte sich Martina Grahm gegen einen Mann, der fünfzehn Zentimeter größer und dreißig Kilogramm schwerer war als sie, anders als »heimtückisch« wehren können?

Der Vorsitzende sagt in seiner Urteilsbegründung: »Die Kammer und der Staatsanwalt haben bereits vor der Hauptverhandlung festgestellt, daß hier ein Mord vorliegt, für den lebenslange, also fünfzehn Jahre, Haft das richtige Strafmaß ist. Daran ist die Angeklagte haarscharf vorbeigeschrammt.« Er bleibt mit dem Urteil nur drei Jahre darunter.

Obwohl der psychiatrische Gutachter von einer »hochpathologischen Rollenverteilung von Herrscher und Leibeigener « spricht, in der das Opfer binnen Minuten zur Täterin wurde. Der Sachverstän­dige be­schreibt diesen endlosen Kreislauf von Scham und Druck, von Haß und Selbsthaß nach jedem Geschlechtsakt samt Pornofilmen und ­Pornoaufnahmen, den sie fast allabendlich hat über sich ergehen lassen. »Damit wollte der Mann ihr die Lust auf andere Männer nehmen und zeigen, wer der Herr im Haus ist.« Er spricht von der Desensibilisierung für Gewalt, indem Grahm ständig von Umbringen, Abstechen, Filetieren tönte.« Und er unterstreicht das »außergewöhnliche Mitgefühl der Angeklagten bei der Tat. So etwas habe ich in 25 Jahren Praxis nicht erlebt.«

»Es geht niemals allein um die Situation, sondern immer auch darum, wer die Situation erlebt«, plädiert der Verteidiger. Der Charakter seiner Mandantin sei geprägt von Minderwertigkeit, Ängstlichkeit und Gehemmtheit. »Außerdem ist die erlittene psychische Gewalt viel schwerwiegender, weil subtiler als die physische Gewalt, die sie erlitten hat. Die Schrammen der Seele sind allemal schlimmer. Und nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, daß auch die unterschiedlichen Formen sexueller Nötigung nunmehr strafrechtlich relevant sind«, so der Anwalt, der aussieht wie Charles Laughton in »Zeugin der Anklage«. Er spricht so eindringlich in diesem weichen »Honoratioren-Schwäbisch«, daß sich viele der Zuhörerinnen verstohlen die Augen wischen. Die beisitzende Richterin, einzige Frau der Kammer, gähnt.

»Eine Beziehung ohne Zuneigung, Zärtlichkeit, Liebe ist auf Dauer bestenfalls gegenseitige Onanie«, fährt der Verteidiger fort. »Diese Beziehung war kalt und lieblos. Ihr hat Wesentliches gefehlt: Das Angenommensein, was eine Familie ausmacht. Es ist erschütternd zu hören, daß sich Frau Grahm in der Haftanstalt respektvoller behandelt fühlt als in ihrer Ehe.« Er appelliert an das Gericht, diesen Fall wie einen Totschlag zu beurteilen, das hieße eine Gefängnisstrafe von höchstens zehn Jahren. Denn »Strafe soll befrieden, nicht zerschmettern.«

Doch das Gericht bleibt hart. Außerdem »trägt die Angeklagte die Kosten des Verfahrens und die den Nebenklägern entstandenen notwendigen Auslagen«, von den Anwalts- bis hin zu den Beerdigungskosten.

Nur ein böser Traum?

Tatvorwurf: Versuchter Mord

Alter der Täterin: 65 Jahre

Verhandlungsdauer: 1 Tag


Gerlinde Böhm trägt einen flauschigen Pelzmantel, der ihr Schutz und Schild sein mag, aber nicht darüber hinwegtäuscht, daß sie eine überaus zarte, kleine Person ist. Ein einfühlsamer Richter hat ihr Verschonung von der Untersuchungshaft gewährt, und so kommt sie am Arm ihres Mannes angestöckelt. Harry Böhm streichelt zuweilen ihre Hand, dann lächelt sie dankbar zu ihm auf. Er führt sie behutsam zu ihrem Platz im Saal des Landgerichts Hildesheim, der viel zu weitläufig bemessen ist für dieses Kammerstück.

Gerlinde Böhm, 65, steht unter Mordanklage. Der Staatsanwalt legt ihr zur Last, »mit einem Küchen­messer, dessen Klinge 15 cm lang ist, mehrfach auf ihren schlafenden Ehemann eingestochen zu haben«. Wobei sie, so der junge Ankläger, »seine Tötung billigend in Kauf genommen hat«. Die kleine Frau mit der rötlichblonden Dauerwelle lauscht der Anklage mit bänglichem Blick und gefalteten Händen, die Daumen rotieren pausenlos umeinander.

Die Böhms haben vor 32 Jahren geheiratet und eine gute Ehe geführt. Was aber ist eine gute Ehe? Sie trafen alle Entscheidungen gemeinsam. Nie knallten Türen, nie flogen Fetzen, nie nervte Geschrei. Herr und Frau Böhm schienen stets wohltemperiert. Als einen »gleichmäßigen, langweiligen, farblosen Fluß« beschreibt der Psychologe ihr Leben in seinem Gutachten.

»Die Ehe wurde natürlich ruhiger«, sagt Gerlinde Böhm. Unabhängig von seiner Frau gebraucht Harry Böhm später fast ihre Worte: »Eine sehr harmonische Ehe, die im Laufe der Jahre ein bißchen eingeschlafen ist.« Zwanzig Mark Taschengeld pro Woche habe er sich zugestanden, nie sei er allein weggegangen, gehörte keinem Verein an. Brach nie aus.

Bis auf ein einziges Mal. Das war 1987, als er wäh­rend einer Kur einer anderen Frau nahekam. »Aber die Sache war bald vorbei, die Gefühle für meine Frau waren stärker.« Was sagt Gerlinde Böhm dazu? »Er mag eben Frauen, und er ist so viel fröhlicher als ich, nimmt alles viel leichter – mit ihm habe ich die schönste Zeit meines Lebens erlebt!«

Mit tonloser Stimme beschreibt sie ihre Kindheit: Ein winziges Dorf im Mecklenburgischen, der Vater trank und neigte zu Wutausbrüchen, die Mutter litt leise und traurig vor sich hin; sieben Kinder, Gerlinde die Jüngste – Landarbeiterarmut, Unfrieden, Enge, Be­drückung. Gerlinde ging sechs Jahre zur Volksschule, folgte bald danach ihrer Schwester in die Groß­stadt. Sie war Friseuse, bis sie mit 47 Jahren den Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgab.

Vorsichtig fragt der Richter, ob es für sie schwierig gewesen sei, sich mit Männern anzufreunden. Da faltet sie ihre Hände so fest, daß neben den zartrosa lackierten Nägeln weiß die Knöchel leuchten. »Als ich 14 war, 1945, kamen die Russen ins Dorf und ... Es waren mehrere ... Ich kann darüber nicht sprechen ... Ich war dann sehr krank, habe das nie verarbeitet.« Ihre Stimme versickert.

Und später?

Spätere Bekanntschaften seien nicht sehr glücklich verlaufen. Einmal war sie verlobt, wurde schwanger. Aber der Verlobte wollte das Kind nicht, verlangte eine Abtreibung.

Dann aber kam er, der Sonnyboy, der Fürsorgliche, einer, der ihr Zeit ließ: Harry Böhm, nicht sehr groß, etwa 1,70, schlank, smart, gewandt, akkurat gekleidet und frisiert. Harry Böhm ist zwei Jahre jünger als seine Frau und Maschinenschlosser. Jetzt bezieht er Rente wie sie. Ein Leben ohne diesen Mann, dessen Umsicht sie in Unselbständigkeit fallen ließ, dessen Frohsinn sie mitriß – ein Leben ohne ihn lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens.

Vor einem Jahr reiste Gerlinde Böhm zu ihrer Schwester, die einen Schlaganfall erlitten hatte, in die Schweiz, um sie zu pflegen. Als sie nach knapp fünf Wochen heimkam, fand sie ihren Mann verändert vor – zurückhaltend, verschlossen und ohne Lachen. Nach einigen Tagen gestand er, eine Frau kennengelernt zu haben. Er habe sich gegen die Beziehung gewehrt, denn nach dieser langen harmonischen Ehe wolle er seine Frau nicht verlassen. »Aber mit dieser Frau erlebe ich, was ich noch nie mit einer Frau empfunden habe. Es könnte sein, daß wir uns trennen.« Das sagte er Gerlinde, und das sagt er dem Gericht. Er bat sie um Zeit, sie schluckte stumm runter, was an Enttäuschung, Trauer, Angst in ihr hochstieg.

Etwa zwei Wochen nach dieser Eröffnung reisten die Böhms zu einem verwandten Ehepaar in die Nähe Oldenburgs. Von dort aus wollte Harry Böhm seine Freundin besuchen, die in der Gegend zur Kur war. Zu­nächst aber saß man auf der Terasse von Nichte und Neffe, trank Kaffee, plauderte, bis die Männer ins Haus gingen, um die Tagesschau zu sehen. Gerlinde Böhm hörte, wie ihr Mann begeistert von seiner neuen Liebe sprach. Sie brach in Tränen aus, ihre Nichte ging mit ihr spazieren, und nun erzählte auch Gerlinde von der möglichen Trennung. Die Verwandten hielten sich raus aus der Geschichte. Nach dem Abendbrot zeigte Harry Böhm einen Videofilm von einem ihrer unbe­schwerten Urlaube. Gegen 23 Uhr ging man zu Bett.

Nie schliefen Gerlinde und Harry Böhm in all den Jahren ein, ohne sich an den Händen zu halten. »An diesem Abend stieß er meine Hand zurück«, sagt Gerlinde Böhm. »Ich habe sehr schlecht geschlafen und schlecht geträumt. Ich war, glaube ich, auch mal im Bad.«

»Was erinnern Sie von der weiteren Nacht?« fragt der Richter.

»Nichts. Irgendwann war ich im Bad und habe Blut gesehen auf meinem Nachthemd. Oder an den Hän­den. Erst am nächsten Nachmittag wurde ich im Kran­kenhaus wach. Ich wußte nicht, warum ich dort war.«

»Erinnern Sie sich, in dieser Nacht Ihren Mann blut­überströmt gesehen zu haben?«

»Nein. Ich war fast sechs Wochen lang in der Psychiatrie. Habe Tagebuch geführt, es hat nichts gebracht.«

Sie weiß nicht, daß sie ein Messer aus der Küche geholt hat, weiß nicht, wie sie auf den schlafenden Mann eingestochen, weiß nicht, wie er – ­blutüberströmt, aber endlich Herr der Lage – sich ihrer erwehrt hat. Auch nicht, daß ihre Nichte sie im Bad eingesperrt, Polizei und Krankenwagen alarmiert hat.

»Wann haben Sie Ihren Mann gesehen?«

»Er hat mich im Krankenhaus besucht. Nein, er hat mir keine Vorwürfe gemacht. Nach der Entlassung ging ich zu Freunden. Schon nach zwei Tagen hat er mich geholt, bat mich sogar, wieder das Schlafzimmer mit ihm zu teilen.«

Wo es so gemütlich zugehen muß wie auf einem Minenfeld, denken wohl alle im Gerichtssaal. Laut sagt der Vorsitzende Richter nur:

»Bemerkenswert, nach den Verletzungen – zeigte er keine Bitterkeit?«

»Er gab mir zu verstehen, daß er sich nach dieser Verhandlung entscheiden wird. Ich möchte, daß er zurückkommt.« Und dann, ganz leise: »Oder ich muß mich von ihm trennen.«

Harry Böhm bestätigt die Schilderung seiner Frau: »Ja, ich habe an jenem Abend gespürt, daß sie ziemlich erregt war. Sie wollte wohl mehr reden, aber ich war zu müde. Ja, ich habe ihre Hand zurückgewiesen – ich hoffte, daß sie Schlaf findet.«

Worte können verletzen, kränken, vernichten. Diese Sprachlosigkeit aber, das empfinden die wenigen Zuschauer im Saal, ist verheerend. »Stummfilmcharakter« habe diese Ehe, sagt der Psychologe.

Gerlinde Böhm hat nur Tränen, sie weint und weint, während ihr Mann vor dem Gericht jenen Abend wieder aufleben läßt. »Und dann erwachte ich von einem stechenden Schmerz, das Blut lief mir über die Augen, ich war benommen – aber dann sah ich meine Frau, das heißt, das war nicht meine Frau, so hab ich sie noch nie gesehen. Sie hat laut gejammert, und auf ihrem total entstellten, verzerrten Gesicht sah ich Verzweiflung. Nein, keinen Haß, keine Wut. Umbringen? Nein, hätte sie das gewollt, hätte sie nicht das Brotmesser genommen, im selben Fach lagen ja die Fleischermesser.«

Was selten in einer Gerichtsverhandlung zu beob­achten ist: Es gibt keine Widersprüche. Täterin und Opfer, Zeugen – die Verwandten der Böhms, in jener Nacht ihre Gastgeber, Polizisten, Ärzte – jeder fügt dem Mosaik ein Steinchen hinzu, das haargenau paßt. Nur der Rechtsmediziner, der Harry Böhm begutachtete, hält die Verletzungen keineswegs für Lappalien, hätte doch der massive Blutverlust zu schockbedingtem Herz-Kreislauf-Versagen führen können.

Harry Böhm litt eine Zeitlang an Doppelbildern, auf einem Auge sieht er jetzt etwas schlechter. Nach einer Woche stationärer Behandlung waren die Schnittwunden an Kopf, Hals, Armen, Brust und Unterschenkel fast geheilt.

Der Richter fragt nach dem Verhältnis zu der anderen Frau, ob es noch bestehe.

»Ja«, sagt Harry Böhm, »die Beziehung ist sehr stark, ich komme so schwer davon los. Aber ich hoffe, daß meine Frau bei Ihnen Milde findet. Sie ist ein sehr guter Mensch. Sie hilft jedem, der ihre Hilfe braucht. Wenn das hier alles vorbei ist, möchte ich mit ihr eine lange Reise unternehmen – ich hoffe, dann wird alles wieder so, wie es war.«

»Was aber, wenn Ihre Frau ins Gefängnis muß?«

»Dann stehe ich hundertprozentig an ihrer Seite.«

In einer Verhandlungspause sitzt das Ehepaar gemein­sam in der Kantine, er holt ihr, was sie möchte, um dann längere Zeit zu verschwinden. Er telefoniert wohl mit seiner Freundin, mutmaßt sie, scheinbar emo­tionslos.

Für Liebesverrat und seine Folgen gibt es ungezählte Beispiele in der Literatur und in den Gerichtssälen dieser Welt. So banal die Geschichte ist, die Betroffenen erfahren sie mit voller Wucht. Als ein klassisches Beziehungs- und Affektdelikt beschreibt es der psychiatrische Gutachter, »wobei sich das Tatgeschehen zwischen Tötungsabsicht und Denkzettel-Motivation zu bewegen schien«. Der Professor mit dem schlohweißen Haar bestätigt auch die »psychogene – also ausgestanzte – Amnesie« der Täterin, von der alle Zeugen sprachen. »Die Tat passierte keineswegs aus heiterem Himmel. Sie war der Schlußpunkt eines übersteigerten Besitz- und Verlustdenkens«, gepaart mit Gekränktheit und Vergeltungsstreben. »Das Ver­halten gegenüber ihrem Ehemann ist als Ausdruck einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung anzusehen. Woraus folgt, daß Frau Böhms Fähigkeit zum ein­sichtsgemäßen Handeln als erheblich vermindert zu beurteilen ist.« Der Rehabilitationsgedanke sollte im Vordergrund stehen, nicht eine Verurteilung. Für eine Wiederholung sehe er keine Indikation.

Als der Staatsanwalt sein Plädoyer beginnt, atmet Gerlinde Böhm so laut, daß alle besorgt zu ihr hin-­ sehen: starrer Blick, nun auch die Finger der gefalteten Hände blutleer-weiß. Der Jurist beruft sich auf eine Entscheidung mit vergleichbarem Sachverhalt und fragt das Gericht: »Können wir nach all den Zeugen­aussagen und Gutachten noch Zweifel daran haben, daß die Angeklagte wußte, was geschieht? Sie war nicht in der Lage, einen Vorsatz zu fassen, sie war schuldunfähig. Für mich ein glasklarer Fall: Frei­spruch.«

Gerlinde Böhms Starre löst sich auf in Schluchzen. Alles atmet auf. Auch der Verteidiger.

Das sieht auch der Richter so, der Gerlinde Böhm freispricht. Aber er appelliert an das Ehepaar: »Suchen Sie eine Therapiemöglichkeit. Wir können Ihnen nicht helfen, Ihren Konflikt zu lösen. Tun Sie etwas für Ihre Zukunft. Ich wünsche Ihnen, daß Sie es packen.«

Tausend und keine Nacht

Tatvorwurf: Mordversuch, Einbruch, schwerer Raub

Alter der Täterin: 22 Jahre

Verhandlungsdauer: 4 Tage


Mordversuch, Einbruch, schwerer Raub lautet die Anklage. Vor dem Potsdamer Landgericht steht Annette Bienwald, 23, gemeinsam mit dem 43jährigen Libanesen Ali El-Dib. Sie stammt aus der kleinen Stadt Brandenburg, die seit der Wende noch lethargischer im märkischen Sand dämmert als in den Jahren davor. Als Annette 17 war, hatte die Mutter ihr Zimmer an einen fremden Mann vermietet und ihr Entsetzen mit der Bemerkung abgetan: »Vielleicht wird aus euch ja ein Paar.« Nach einigen mit dem Untermieter verbrachten Nächten voller Angst und Abscheu verließ Annette ihr trostloses Elternhaus und ihre beiden jüngeren Geschwister. Zwei ältere waren längst auf und davon. Ausgestattet mit einer Reisetasche und der Telefonnummer eines flüchtigen Bekannten, zog sie los in die Hauptstadt.

»Sie kam vom Regen in die Traufe«, sagt ihr Verteidiger jetzt dem Schwurgericht, »und das eine ist so erschütternd wie das andere.«

Die Traufe begann in Berlin-Charlottenburg, früher mal einer sehr feinen Gegend, bei Mustafa Hammud. Der tritt als Zeuge auf, in buntem Jogginganzug, abgewetzten Turnschuhen, die Lesebrille hält ein Gummiband. Auf die Routinefrage des Vorsitzenden Richters: »Sind Sie mit den hier anwesenden Angeklagten verwandt oder verschwägert?« antwortet er zum Erstaunen aller: »Ich bin verheiratet mit Annette Bienwald, mein Herr.«

»Wo wurde die Ehe geschlossen?«

»Bei Herrn Hassan, einem Privat-Scheich in Spandau, im dritten Stock.«