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DAVID WONSCHEWSKI: „Zerteiltes Leid“
1. Auflage, Mai 2015, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2015 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Sarah Strehle
Autorenbild: Masha Potempa
Cover, Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-943876-85-7
epub ISBN: 978-3-943876-90-1
E-Book-Version: 1.2

David Wonschewski


ZERTEILTES

LEID


Liebesroman


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1

Dann, im nächsten Moment, war Daddy fort. Und ich habe mit ansehen müssen, wie er gegangen ist. Ich stand im ersten Stock, direkt am Fenster unseres Kinderzimmers und aus der Dunkelheit hinter mir flüsterte Alina mir zu, dass ich schnell ins Bett kommen solle, schnell, ganz schnell, da wir sonst Ärger von Daddy kriegen. Aber ich habe aus dem Fenster geschaut und Daddy dort stehen sehen, unten auf der Straße und mitten im Regen.

Er hat seinen großen Hut aufgehabt und über seinen Schultern hing die dünne grüne Regenjacke, die er auch bei unserem Urlaub in Holland immer angehabt hat. Am Strand von Katwijk hat er sie getragen, diese Regenjacke. Ja, so habe ich ihn in Erinnerung behalten, meinen Daddy. Nicht so wie er bei uns zu Hause war, sondern so wie er sich am Strand von Katwijk gegeben hat, so trage ich ihn bis zum heutigen Tage mit mir herum. Von hinten blies der Wind und eine steife Brise durchpflügte ihm das schüttere Haar. Aber Daddy wurde nicht sauer deswegen, im Gegenteil, er lächelte. Bereitwillig ließ er sich die Frisur zerzauseln, ging in die Hocke, klatschte in die Hände und rief mich zu sich. Und ich, ich rannte los. Am Strand von Katwijk lief ich mit meinen kurzen Beinen, so schnell ich konnte, direkt auf Daddy zu. Und ich war noch gar nicht richtig bei ihm angekommen, da schnappte er mich auch schon, griff mit seinen langen, starken Armen nach mir und hob mich in die Höhe. Hoch über seinen Kopf hob er mich, so dass ich auf den weiten niederländischen Ozean hinaus blicken konnte.

Ja, so war das gewesen mit Daddy und mir am Strand von Katwijk. Jetzt aber lachte Daddy nicht und er klatschte auch nicht in die Hände, sondern stand einfach nur da in seiner dünnen grünen Regenjacke und schaute so leblos und starr wie meine Actionfiguren. Auch Mummy war da, sie stand aber nicht bei ihm, sondern einige Meter entfernt, direkt unter meinem Fenster. Ich konnte ihr von oben auf den Kopf sehen, als ich mein Gesicht an die Scheibe presste und steil nach unten schaute.

Komm ins Bett, flüsterte Alina erneut, aber ich kam nicht ins Bett. Denn da war Daddy, er stand im Regen, schaute Mummy an, sagte aber nichts. Stand einfach da, mitten im Regen. Ich wollte auf ihn zulaufen, doch ich konnte es nicht. Ich wollte ihm zurufen, er solle aus dem Regen raus und in unser Haus kommen oder doch zumindest seine dünne grüne Regenjacke überziehen. Doch ich traute mich nicht. Und so stand ich dort, stumm und bewegungslos, betrachtete Mummy, betrachtete Daddy. Und sah eine große Ohnmacht sich ausbreiten, direkt über ihnen, direkt zwischen ihnen.

Und dann, dann kam ein Auto. Daddy stieg ein und das Auto fuhr fort. Und ich wusste sofort, dass er nicht wiederkommen würde. Dass ich meinen Daddy soeben zum allerletzten Mal gesehen hatte.

Nein, er hat mich nicht sehen können, wie ich dort oben am Fenster stand, meine kleinen Hände und mein kleines Gesicht an die kalte, dunkle Fensterscheibe presste. Ich habe ihn rufen wollen, habe ihn bitten wollen, nicht in dieses Auto zu steigen, nicht fortzufahren. Doch mir fehlten die Stimme und auch die Worte dazu. Mir stolperten die Konsonanten durcheinander, Satzbausteine verreckten in meiner Kehle. Als Daddy ging, gluckste und krächzte ich nur. Niemand konnte mich hören, niemand, nicht einmal Alina, die irgendwo hinter mir in ihrem Bett lag.

Red anständig, wenn du was willst, hat sie viele Monate später zu mir gesagt. Wenn du weiter so stammelst, rafft dich kein Aas.

Und so stieg Daddy an diesem späten Abend in das Auto, mit einem Gesicht, das ich nie zuvor gesehen hatte an ihm. Er fuhr davon, entschwand aus meinem Leben. Nicht einmal tschüss hat er gesagt.

2

Endlich setzt es ein. Das Schwinden meiner Kräfte. Ich hocke an einem Tisch, starre auf ein weißes Blatt Papier und spüre, wie ich mein Leben aushauche, langsam, ganz langsam.

Wie lange du ihn herbeigesehnt hast. Diesen Augenblick, in dem ich bei lebendigem Leibe vergehe. Diesen Augenblick, in dem ich dir mein Einknicken vor dem Leben gestehe.

Noch immer suche ich nach Worten. Starre weiter auf das weiße Blatt Papier, halte die Feder bereit und hoffe auf die Eingebung aller Eingebungen.

Wo nimmt der Mann nur all seinen Starrsinn her?, so höre ich dich fragen.

Wo nimmt der Mann nur all seinen Starrsinn her?, so höre ich auch mich fragen.

Nun, ich werde sie nicht finden, diese richtigen, diese adäquaten Worte, die mich dir nach all den Jahren doch noch verständlich machen könnten. Es gibt sie nicht. Du weißt das. Ich weiß das. Eher wird es Heilmittel für Krebs, Aids und Cholera geben. Schließlich hört meine Krankheit auf den Namen Liebe. Und ist somit in jedem Falle todbringend.

Siechtum. Doch, doch, ganz sicher: Siechtum. Klebt an mir wie Pocken und Pest, dieses eiternde und Pusteln schlagende Geschwür einer Liebe, lässt mich keuchen und schwitzen, im Wahn daherfabulieren, wilde Laute ausstoßen. Und mein Gesicht zu einer entstellten Fratze werden. Ja, befallen von der Liebe bin ich ein hässlicher Mensch geworden. Ein Aussätziger. Einer, vor dem du dich zu hüten gelernt hast. Hat er doch nur noch ein einziges, ein letztes Lebensziel: So viele Menschen mit sich ins Verderben zu reißen wie nur irgend möglich.

Und so hocke ich mitsamt all diesen über mich gekommenen Widerwärtigkeiten an einem Tisch, versuche ein letztes Mal, meiner charakterlichen Ekelhaftigkeit Herr zu werden und erkenne, dass weder das gleißende Licht meiner Lampe, noch das fahle Licht des Mond es vermögen, meine Schreibstatt zu erhellen. Das weiße Blatt Papier, der Tisch, der Füllfederhalter, meine Gedanken – allenfalls noch Ahnungen.

Alles ist in Auflösung begriffen. Alles.

Mein Sturz in die Nacht steht unmittelbar bevor.

Du wirst sehen: Schon bald werde ich aufgehen in diesem Schwarz, das vor so vielen Jahren begonnen hat, nach mir zu greifen. Mich erst umfing, dann ummantelte. Und das mich nun, wo ich hier sitze und kaum noch über Gestalt, geschweige denn Kontur verfüge, mit Haut und Haar zu verschlingen beginnt.

Ich entschwinde. In einem dunklen Raume sitzend falle ich dem Verrinnen anheim.

Und so hocke ich hier, schaue auf das weiterhin leere, weiße Blatt Papier vor mir, mit dem ich dich seit fünfzehn Jahren zu besänftigen, zu umgarnen versuche. Und begegne dabei mit einem Male einer Ungeheuerlichkeit. Denn je länger ich über dich nachsinne, desto weniger Worte finde ich nicht nur an dich, desto weniger Worte finde ich auch für dich. Stattdessen immer mehr für mich.

Ja, es ist wahr. Allein in einem dunklen, abgeschotteten Raum sitzend, isoliert von der Gesellschaft, bin ich mir vor einigen Wochen zum ersten Male selbst begegnet. Bin mir selbst über den Weg gelaufen – und hätte um ein Haar die Straßenseite gewechselt vor lauter Entsetzen. Habe gesehen, was für ein zerschlissener, was für ein gegerbter Mensch ich geworden bin und habe mich sogleich ganz fürchterlich erschrocken ob meines Anblicks. Stand vor einem Spiegel und wurde einer Person ansichtig, die mir fremd und widerwärtig ist.

Eine große Verstörung hat sich nun unter meiner Schädelplatte eingenistet. Denn blickt ein Mensch in einen Spiegel und stößt anstatt auf einen Menschen auf eine Unerklärlichkeit, so markiert dies das Ende der Selbstverständlichkeit. Und den Beginn der Zersetzung.

Ich will die Liebe nicht mehr. Ich ertrage die Liebe nicht mehr, halte sie im Kopf und auch in meinem Körper nicht mehr aus. Deswegen, nur deswegen habe ich mich schon im vergangenen Winter an diesen Brief an dich gemacht. Um dieser Verstörung in mir Herr zu werden. Um endgültig Ruhe einkehren zu lassen, in mir und dir und der Welt.

Unzählige Male habe ich ihn seitdem geschrieben, diesen Brief. Ihn verworfen, geschrieben und wieder verworfen. Um ihn dann, nach Stunden oder auch Tagen der Selbstkasteiung, erneut zu schreiben. Und während ich so ausgiebig schrieb und verwarf, wieder und wieder und wieder, sind sie unbemerkt an mir vorbei gerauscht, die vielen Wochen, die vielen Monate.

Eine große Lebensverwehung hat stattgefunden in diesem dunklen Raum, in dem sich nichts befindet außer einem Stuhl und einem Tisch. Ich schlafe auf dem harten Boden, trinke selten, esse nichts. Sitze bei halb heruntergelassen Jalousien da, schreibe mit einem Bleistift diesen Brief und verderbe mir die Augen dabei. Zerreiße einen Entwurf, zerreiße auch den nachfolgenden, wende mich ab und setze mich in die Ecke. Lausche in gekrümmter Haltung der Stille, blicke in die Finsternis, finde ein wenig Schlaf und mache mich nach einem plötzlichen, ruckartigen Erwachen erneut ans Schreiben. Seit November geht das schon so.

Ich habe Angst. Schreckliche, nie für möglich gehaltene Angst. Angst vor Taten, zu denen ich noch nicht fähig bin. Zu denen ich jedoch schon bald fähig sein könnte. Ich spüre eine Veränderung in mir. Es wird dich nicht weiter wundern, womöglich nicht einmal interessieren, doch ich habe in den vergangenen fünfzehn Jahren wieder und wieder daran gedacht, mir das Leben zu nehmen. Um dich und mich zu befreien, von mir. Bin unzählige Male in die Küche gegangen, habe die Schublade aufgerissen, ein Messer herausgeholt und in Gedanken bereits jenen schwungvollen Bogen beschrieben, der mir das Herz durchbohren könnte. Und es dann doch gelassen, kraftlos das Messer zurückgelegt, die Schublade wieder geschlossen, mich weiterleben lassen. Aus Angst, alles aus Angst.

Mir fehlt der Mut mich umzubringen, Uta. Ich bin kein Mann von Format. Niemand weiß so genau wie du, dass ich keinen Schneid besitze, keine Ehre im Leibe trage. Und so lebe ich immer noch, schiele nach all den Messern in all den vielen Schubladen meiner Wohnung und bin doch zur Untätigkeit verdammt. Ich habe Angst vor dem Leben und auch Angst vor dem Sterben.

Es ist ein Irrsinn. Während du von Panik ergriffen wirst, kaum dass ich in deiner Nähe auftauche, werde ich in deiner Gegenwart zur Stille, werde zu Starre. Bin mit einem Male zu keiner Bewegung mehr fähig.

Doch wir können so nicht weitermachen. Wir können nicht auf ewig diese Ängstlichkeit vor uns hertragen. Es muss dringend etwas geschehen mit unserer Angst, bevor noch die ganze Menschheit kaputt geht daran! Verstehst du, was ich meine? Jene Klinge, die ich schon so oft aus meiner Schublade hervorgezogen habe, sie muss endlich tief ins Fleisch dieser Menschheit gestoßen werden, muss Sehnen und Fleisch und sogar Knochen durchbohren, vorwärtsgetrieben werden, weiter, immer weiter. Ein Schmerz muss entstehen. Ein reißendes Gefühl muss entfacht werden. Ein Gefühl lauter als die Menschen und auch lauter als die Welt. Eine Lektion in Sachen Liebe muss den Menschen dringend erteilt werden. Auf dass sie endlich aufhören, Ammenmärchen zu erzählen und Lug und Trug im Namen eines reinen Herzens zu verbreiten.

Komm, geselle dich zu mir. Lass uns unsere Ängste in Schmerz ersticken. Lass uns einen Schrei entfachen, der dir und mir und dieser ganzen Farce ein Ende setzen wird. Alles, was wir dafür tun müssen, ist einander loszuwerden. Mehr nicht.

Jene, die die Liebe zu kennen glauben, sagen, Liebe sei ein Gefühl, doch sie wissen, dass das nicht stimmt. Liebe ist ein Ergebnis der Evolution. Survival of the fittest, kampferprobt. Sie teilt ein in Starke und Schwache, Sieger und Besiegte, Teilhabende und vom Tellerrand aus mit sehnenden Augen Zuschauende. Eine einzige große Apartheid ist die Liebe, ein Unrechtssystem. Abgeschafft gehört die Liebe. Hinfort geweht vom Wind of Change. Verstehst du?

Lass sie uns bekämpfen, lass sie uns töten. Damit wir wieder atmen können.

3

Fassen wir zusammen, was meine Kollegen so weit rekonstruieren konnten: Am 07. März haben Sie, der gelernte, aber früh auf Abwege geratene Immobilienkaufmann, Janusz Jaroncek, sich kurz nach Mitternacht Zugang zu der Wohnung der ausnehmend hübschen und für einen Mann wie Sie komplett unerreichbaren Studienrätin Uta Wensch verschafft.

Abgedrifteter trifft Karrieristin – das konnte nicht gutgehen. Die Frage warum Sie dies getan, warum Sie Frau Wensch aufgesucht haben, ist schnell beantwortet: Wegen allem. Und wegen nichts. Alles ist Ihnen zu viel geworden. Und nichts haben Sie länger ertragen. Nicht die Welt, nicht die Menschen, nicht Frau Wensch. Und am allerwenigsten sich selbst.

Und so sind Sie von Ihrem Hotel im Stadtzentrum zu der Wohnung von Frau Wensch gelaufen. Auf direktem Wege und freilich ohne einen Gedanken an die Unstatthaftigkeit und Aussichtslosigkeit Ihrer Aktion zu verschwenden. Die Wohnung, über die wir hier sprechen, befindet sich im zweiten Geschoss eines Mehrfamilienhauses im sogenannten Blütenviertel, einer recht idyllisch gelegenen, sauberen und somit schönen Gegend unserer Stadt. Da unsere Untersuchungen Sie bereits einwandfrei als gehetzt zu benennenden Charakter klassifiziert haben, gehen wir davon aus, dass Sie eilenden Schrittes dorthin gegangen sind. Sie sind nicht geschlendert und auch nicht gerannt, sondern in jener abrupt stolpernden Geschwindigkeit gelaufen, wie sie uns seit jeher von Narren, Sternebeschauern und Hans Guckindieluft bekannt ist.

Am Haus angekommen sind Sie, Herr Jaroncek, dann die Regenrinne hinaufgeklettert. Sie wirken zwar nicht wie jemand, der Regenrinnen hinaufklettern könnte, doch Verzweiflung – und allen voran jene Verzweiflung, die vom Herzen kommt und die nicht selten eine toxikologische Verbindung mit der Umnachtung des Geistes eingeht – bewerkstelligt bekanntlich so einiges.

Unter uns gesagt, etwas mehr Sport und etwas weniger an Ecken herumlungern und fremde Passanten vollsabbeln, würde Ihnen und Ihrer desaströsen Verfassung sehr gut tun.

Dennoch sind Sie, Jaroncek, Ihrem trägen Körper zum Trotz um exakt 00.59 Uhr die Regenrinne hinaufgeklettert. Mit der Geschmeidigkeit einer etwas vertrottelten Dschungelkatze, wenn ich mir diesen in diesem Zusammenhang doch recht lustigen Kommentar erlauben darf. Wie, Sie lachen ja gar nicht, Jaroncek!

Wie dem auch sei, unsere Spurensicherung hat sich jedenfalls prächtig amüsiert, die Kollegen haben schon viele Gegenstände untersucht, aber die Regenrinne, die Sie sich da hochgewuchtet haben, die ist ein besonderes Unikat, genießt schon jetzt Kultstatus unter den Kollegen. Ihre Fingerabdrücke, Ihre Haare, Jeansfasern Ihrer Hose, das Profil Ihrer Gummibesohlung – alles dran an der Rinne, Jaroncek. Sie sind echt der Brüller. Sogar Schweiß und Tränen haben die Kollegen entdeckt!

Im zweiten Stock angelangt war es dann vorbei mit Dschungelkatze und vor allem mit geschmeidig, da war dann nur noch vertrottelt. Sie haben gewissermaßen Ihr wahres Gesicht gezeigt, Jaroncek. Denn Sie haben stante pede begonnen, kräftig, heftig und in schnellem Takt an die Balkontür von Frau Wensch zu klopfen. So in etwa, Jaroncek, ich mache es Ihnen hier auf der Tischplatte einmal nach: Klopf. Klopf-Klopf-Klopf. Klopf-Klopf.

Oh, und gerufen haben Sie! Nein, leugnen Sie nicht, Jaroncek, ganz verzweifelt haben Sie dagestanden und Utas Namen in die Nacht gerufen. Exakt so, wie es in Schlagern und verbrauchten Gedichten immer erzählt wird. Aber kein Grund sich zu schämen, Jaroncek, besser des Nachts auf einem Balkon stehen und Utaaaaa brüllen, als unter diesem Balkon singend mit einer Ukulele in der Hand zu stehen. Diese Art von Liebesirren haben wir sonst hier sitzen. Ist Ihnen noch gar nicht aufgefallen, was, Jaroncek? Ganz vollgestopft ist diese Stadt mit unglücklich verliebten Ukulelisten! Verstellen uns die Straßen und die Wege mit ihrer unglücklichen Verliebtheit und zupfen und plärren sich die Seele aus dem Leib. Bis es ihnen zu viel wird, sie bemerken, dass da nichts ist, was sie unternehmen können gegen ihr Herzensleid. Und sie entweder direkt auf dem Zentralfriedhof landen oder aber auf exakt dem Stuhl, auf dem Sie nun sitzen, Jaroncek. Mit dem Unterschied, dass wir bei denen immer nur befugt sind, den Kopf wieder gerade zu drehen, während wir Ihren abreißen sollen.

Tja, was soll ich sagen, Sie haben es nun einmal ein wenig übertrieben mit Ihrer Liebe, Jaroncek. Und das tut man nicht, niemand übertreibt ungestraft die Liebe. Womit wir wieder beim Thema wären. Sie standen also auf dem Balkon, klopften – Klopf, Klopf-Klopf-Klopf, Klopf-Klopf – und brüllten – Utaaaaaaaa! – sich die Seele aus dem Leib. Und erreichten damit, lassen Sie mich kurz noch einmal in der Akte nachsehen – nichts. Gar nichts. Viel Aufwand, wenig Ertrag. Ein durchaus gängiges Erfolgsschema bei intuitiv handelnden Menschen wie Ihnen, Jaroncek. Wollen und riskieren alles, erreichen und erhalten nichts. So wie ich es eingangs erwähnte, das Alles und das Nichts, das ist Ihr großes Lebensproblem.

Ich fahre fort: Frau Wensch hat, wie jeder mental aufgeräumte, um nicht zu sagen, erwachsene Mensch, um die benannte Uhrzeit bereits in ihrem Schlafzimmer gelegen und geschlafen, was zu der peinlichen Situation führte, dass Sie eine ganze Weile dort stehen und klopfen mussten. Ein ganz hübscher Gedanke, so in der Nachbetrachtung, finden Sie nicht auch, Jaroncek? Sie stehen da, klopfen und brüllen – und nach und nach gehen im ganzen Blütenviertel die Lichter in den Wohnungen an, die Leute treten hinaus auf ihre Balkone, manche gar mit Getränken und Chips ausstaffiert, wie wir bei unseren Befragungen herausgefunden haben. Und alle haben Sie beobachtet, Jaroncek, haben in aller Ruhe auf ihren eigenen Balkonen gestanden, sich an ihre Brüstungen gelehnt und sich an Ihrem Schauspiel erfreut, das, auch das haben unsere psychologischen Untersuchungen ergeben, Jaroncek, von Anbeginn an nichts anderes, als eben ein Schauspiel gewesen sein kann. Ihr Schauspiel. Zeugen sind somit nicht unser Problem, Sie waren dämlich genug, voll einzusteigen in Ihre Rolle als liebestoller Idiot, Jaroncek. So sehr einzusteigen, dass wir mehr Zeugen für Ihre grausame Tat haben, als unsere Aktenordner erfassen können. Sie als Täter auszumachen, Jaroncek, hat uns ein müdes Husten gekostet, zehn Minuten Ermittlungsarbeit, eher weniger als mehr.

Die Aufnahme der Zeugenaussagen aber, Jaroncek, dafür könnte ich Sie jetzt noch ohrfeigen. Zwanzig Beamte haben sich drei Tage lang durch das Blütenviertel geschlagen und protokolliert, protokolliert, protokolliert. Und am Ende doch die Hälfte der aufgenommenen Zeugenaussagen in den Schredder gegeben, da uns der Richter gewiss einen Vogel zeigen würde, wenn wir an dem Tag, an dem wir Sie zum Schafott führen, mit unseren Rollkoffern und den Aktenbergen im Gerichtssaal erscheinen. Was denn das für ein bescheuertes Verbrechen sein soll, wird uns der Richter fragen, Jaroncek! So viele Zeugen, alles eindeutig, alles klar, nichts auf der Kippe, nichts abzuwägen – da kann so ein Richter schon einmal unleidlich werden, wenn ein Verbrecher nicht verbrecherisch vorgeht. Doch das soll nicht mein Problem sein, zurück zur Tat.

Sie klopften, sie brüllten, die halbe Welt schaute zu. Und: Sie hatten Erfolg. Frau Wensch erwachte, kam in einem Negligé ins Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. Erinnern Sie sich noch an diesen Hauch von Negligé, Jaroncek? Lecker, lecker, sage ich da nur. Ich kenne nur die Fotos der toten, geschundenen Frau Wensch, doch selbst da ist sie noch wunderschön. Wie eine Moorleiche, nur röter und noch nicht so angegangen. Hier, schauen Sie sich ruhig noch einmal die Fotos an, Jaroncek. Auf diesem Bild ganz besonders, die Augen geschlossen, die nassen Haare bringen ihr Porzellangesicht wunderbar zur Geltung – da liegt sie, in der Badewanne, das Wasser umspielt sanft ihre Formen und hier, Jaroncek, so schauen Sie doch, auf diesem Foto hebt das Wasser ihr Negligé und ihre Hände ein wenig an. Es sieht fast aus, als würde sie schweben, oder Jaroncek? Wie Kylie Minogue in Where The Wild Roses Grow sieht das aus.

Das ist ein Foto, das mir erklärt, warum Sie so vernarrt gewesen sind in Frau Wensch. Nicht verliebt, wären Sie verliebt gewesen, Jaroncek, Frau Wensch wäre Ihnen nicht zum Opfer gefallen. Sie waren vernarrt und warum das so gewesen ist, das erkennt jeder Mensch mit einem kurzen Blick auf dieses Foto. Zum Anbeißen schön, diese Uta Wensch. Ein weiterer kurzer Blick auf eine zerlumpte Gestalt wie Sie, Jaroncek, reicht aus, um sofort zu wissen, warum einer wie Sie eine Frau wie die Wensch niemals bekommen kann. Aber das muss ich Ihnen nicht erklären, das wissen und spüren Sie selbst. Mit jedem neuen Tag, an dem Sie erwachen, ins Badezimmer trotten und sich vor den Spiegel stellen, ahnen Sie, dass Sie eine Frau wie die Wensch niemals erreichen werden.

Zwei Leben im Eimer, Jaroncek, Ihres und das der Wensch. Aber zwei kurze Blicke reichen aus, um die ganze Geschichte zu erkennen, alles zu wissen.

Sagen Sie, ist das nicht bedrückend, Jaroncek, da erfährt einer so viel Leid wie Sie und verursacht daraufhin doppelt so viel Leid – und am Ende werden zwei kurze Blicke und zehn Minuten Gerichtsverfahren ausreichen, einen Deckel auf die ganze Angelegenheit zu machen.

Gut … wo waren wir stehengeblieben? Dort, an der Schwelle zwischen Wohnzimmer und Balkon, kam es sofort zu einem kurzen Wortgefecht, welches Sie, Jaroncek, ziemlich klar verloren. Wie Sie immer verlieren, wenn Sie sich mit Frauen anzulegen versuchen. Schauen Sie mich nicht so an. Ich bin eine Frau und mit einem kurzen Blick sehe ich, warum Sie nie eine Chance gehabt haben bei Frau Wensch und sehe dazu, dass Sie, was Diskussionen mit Frauen angeht, der geborene Loser sind. Kanonenfutter, Jaroncek.

Ich vermute, dass Sie genau deswegen dieses belästigende Labersyndrom entwickelt haben, das Sie auf Marktplätzen und an Ecken stehen und laut mit sich selbst reden, fluchen, abstruse Dinge deklamieren lässt. Eine ganz traurige Figur sind Sie, Jaroncek, aber immerhin eine in sich geschlossene, eine logische traurige Figur. Einer der in aller Öffentlichkeit laut mich selbst redet, sich beständig über die Menschen und ihr Sein und den unaufhaltbaren Untergang der Welt beschwert. Und über Frauen, vor allem über die.

Das wundert aber niemanden, denn ein wild vor sich hinbrabbelnder Irrer braucht nicht damit rechnen, in Gespräche verwickelt zu werden, kann sich sicher sein, über aber eben nicht mit Frauen zu sprechen. Sie haben sich die beste aller Positionen erwählt, um nur keinen Widerspruch zu ernten, um nicht täglich platt gemacht zu werden von all den Frauen dort draußen, Sie schlauer Fuchs! Man muss nur zum stadtbekannten Zausel mutieren und schon besteht keinerlei Gefahr mehr, dass eine daherkommt und Ihnen widerspricht, Sie in Ihre armseligen Bestandteile zerlegt oder aber Sie über Jahre hinweg zerreibt und zerbröselt, so wie Frau Wensch es in Perfektion betrieben hat.

Von schöner Frau zur Unkenntlichkeit zerbröselter Zausel erklimmt Regenrinne – was für eine wunderbare Schlagzeile, finden Sie nicht auch? Unsere Presse hat Sie eh auf dem Kieker und fragt mich, wenn ich abends dieses Gebäude verlasse, dauernd nach Insider-Geschichten, nach Interna. Bisher habe ich das Geld abgelehnt, das mir diese Meute bietet, Jaroncek. Irgendein dummer Amtseid hindert mich daran, sie in ihrer Schlagzeilensuche zu unterstützen und mich dafür prächtig entlohnen zu lassen. Aber Ihnen, der hier nicht mehr raus kann und gewiss schon bald am Galgen baumeln wird, kann ich es ja sagen: Ich spiele mit dem Gedanken, ihre lukrativen Angebote anzunehmen.

Abendessen, Fernreisen, ein neues Auto – und alles auf Ihren Schultern, alles auf Ihre Kosten, Jaroncek. Vielleicht werde ich meine geheimen Hintergrundinformationen sogar ausschmücken, um der Presse eine Freude zu machen. Ich nehme an, als stadtbekannter Laberzausel werden Sie nichts dagegen haben, oder? Etwas Dramatisierung, etwas Zuspitzung, ein paar clever gelegte Fährten, die in die falsche Richtung laufen und vor allem eine Menge Pointen. Dann erscheint Ihre Tat nicht mehr so trostlos, wie sie tatsächlich gewesen ist. Was meinen Sie, Jaroncek, hm?

Wie dem auch sei, Sie standen also in all Ihrer Jämmerlichkeit gegen Mitternacht auf diesem Balkon im Blütenviertel und flennten und winselten, was Ihr verzauseltes Naturell an Flennen und Winseln hergab. Aber Frau Wensch ließ Ihnen im Disput keine Chance, lachte Sie vermutlich sogar aus und machte einige intelligent-pointierte Bemerkungen über Ihre Jämmerlichkeit. Kommen Sie, geben Sie es zu, in ihrer Gegenwart hat Ihnen Ihr jahrelanges an Ecken stehen und vor sich hin labern gar nichts gebracht, Ihre Quatscherfahrung verpuffte angesichts Frau Wenschs Schönheit und Intelligenz, die es fraglos drauf gehabt hat, Ihre Jämmerlichkeit in amüsant-pointierte Sätze zu packen. Woher ich weiß, dass Frau Wensch das drauf hatte? Nun, ganz einfach, Jaroncek: Die Wensch liegt niedergemetzelt und abgeschlachtet in der KTU und Sie sind Ihr Mörder. Spricht nicht gerade für einen rhetorischen Schlagabtausch auf Augenhöhe zwischen Ihnen und der Wensch, meinen Sie nicht auch?

Sich an eine Straßenecke oder auf einen Marktplatz stellen und sich über andere Menschen auskotzen, das können Sie. Aber wenn mal jemand kommt und sich über sie auskotzt, Ihnen zeigt, was für ein armseliger Idiot Sie sind, dann wird es ganz schnell düster in Ihrem Schädel. Und so konnten Sie die vielen witzig-intelligenten Giftpfeile von Frau Wensch natürlich nicht ertragen. Also drängten Sie sie in ihr Wohnzimmer, überwältigten sie, schnitten ihr mit einem Teppichmesser die Pulsadern auf, schleppten sie ins Bad, legten sie in die Badewanne und sahen ihr beim Verbluten zu. Anschließend versuchten Sie mit diversen ungelenken Aktionen, Ihre Tat wie einen Selbstmord aussehen zu lassen, ließen es dabei jedoch an Kreativität und Kenntnis vermissen. Was bemerkenswert ist, wenn man sich die vielen Briefe, die Sie an Frau Wensch geschrieben haben beschaut. Die wimmeln ja nur so vor Selbstmordankündigungen, regelrecht peinlich ist das. Wir sind einiges gewohnt, wie Sie sich denken können, so fremdgeschämt wie beim Lesen Ihrer Briefe, Jaroncek, haben wir uns aber selten. Wie kann ein einzelner Mann nur derart inflationär mit dem Begriff Suizid umgehen wie Sie, hm? Haben Sie wirklich gedacht, die Wensch lässt sich von diesem armseligen Geheule doch noch erweichen und erhebt Sie so mir nichts, dir nichts aus dem Stand eines Trottels in den Stand eines Prinzen? Ha, das haben Sie doch nicht wirklich geglaubt!

Vollkommen egal, denn am nächsten Morgen fand die Nachbarin Irmgard Porthe den leblosen, aber noch immer begehrenswert schönen Körper von Frau Wensch und rief die Polizei, die vor Ort zu der Gewissheit gelangte, dass ein Massaker stattgefunden haben musste, ein Schlachtfest, eine Orgie. Ausgeführt vom stadtbekannten Eckenplauderer Janusz Jaroncek. Weitere Verdächtige: keine. Zeugen: einhundertvierunddreißig.

Ich zitiere aus dem Polizeibericht des ersten diensthabenden Offiziers Joachim Huber: Ich kam da rein, sah das Gemetzel – und war mir sofort sicher, an irgendeiner Wand so eine mit Blut hingeschmierte Nachricht zu finden. Was weiß ich, Helter Skelter wie bei Charles Manson damals. Oder Habgier, Wollust und andere Todsünden, wie in diesem Brad Pitt-Film aus den Neunzigern. Aber nichts, an keiner Wand hat er eine wirre Botschaft hinterlassen. So blöd muss man erst einmal sein, eine Frau massakrieren und dann keinen Teufelsgruß hinterlassen. Jetzt wird er nicht einmal auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren können. Vollpfosten.

Ja, das ist im Groben und Ganzen der Tatbestand, Jaroncek. Wobei mich eine Sache schon noch interessiert, so von Frau zu Zausel: Haben Sie Frau Wensch, als sie dort so wehrlos und schön in der Badewanne lag, unter das Negligé gelangt? Sind Sie mit den Händen ihre Brüste entlanggefahren oder haben sich mit Ihren Fingern zwischen ihren Beinen auf Tauchgang begeben?

Kommen Sie schon, Jaroncek, eine derart attraktive Frau! Ich kann gut verstehen, dass Sie über fünfzehn Jahre hilflos in sie verliebt gewesen sind. Und plötzlich liegt Frau Wensch wehrlos – nein – sogar tot vor Ihnen. In einem Negligé, einem Hauch von Nichts! Und Sie sind doch ein richtiger Mann, wenn auch auf Ihre eigene, verkappte Art, da lassen Sie sich eine solche Chance doch gewiss nicht entgehen!

Ach herrje, nun sind Sie ganz rot angelaufen. Habe ich Sie erregt mit meinem Gerede über Frau Wensch? Das tut mir leid, das wollte ich nicht. Sie haben wahrlich genug unter ihrer Schönheit gelitten, Sie Armer! Gut, belassen wir es dabei.

Alles, was wir soeben besprochen haben, steht nun auf diesem Papier. Lesen Sie es sich in aller Ruhe durch, holen Sie sich meinetwegen auch gerne noch mal einen runter, wenn Sie in Ihrem kranken Kopf sämtliche Details Ihrer Tat erneut durchgehen. Während Sie lesen und alles vollsauen, werde ich einen Kaffee trinken gehen. Und wenn ich zurück bin, Jaroncek, dann will ich auf diesem Papier Ihre Unterschrift sehen. Ist das klar?

Ich warne Sie, im Gegensatz zu Ihnen habe ich ein funktionierendes Privatleben. Und so verständnisvoll wie meine männlichen Kollegen, die sich bisher mit Ihnen abgeben mussten, bin ich, wie Sie sich denken können, sicher nicht. Wenn sich wegen einer Made wie Ihnen mein Feierabend nur um eine Sekunde verschiebt, ich schwöre, dann werde ich Ihren reichhaltig vorhandenen Frauentraumata noch einige weitere hinzufügen. Sie wissen, dass ich das kann. Also seien Sie ein braver Verkorkster und unterzeichnen hurtig. Denn genau das ist unser Deal, Jaroncek: Sie geben alles zu. Und ich werde mich nicht in Ihrem Gehirn einnisten. Sie fahren für viele – für sehr viele Jahre ein. Und ich komme pünktlich zu meinem Mann und meinen Kindern. Geben und nehmen. Alle werden zufrieden sein. Sogar Sie, Jaroncek. Sogar Sie.