Gina Mayer & Frank M. Reifenberg

Mit Illustrationen von Gerda Raidt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2015 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Gina Mayer und Frank M. Reifenberg, vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, München

Lektorat: Malte Ritter

Cover- und Innenillustrationen: © Gerda Raidt,

vermittelt durch die Agentur Susanne Koppe, Hamburg,

www.auserlesen-ausgezeichnet.de

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Bildmaterial von © Getty Images/​Thinkstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3 - 8458 - 0602 - 0

ISBN Printausgabe 978 - 3 - 8458 - 0604 - 4

www.arsedition.de

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Schattenbande

1. Kapitel,

in dem Klara einen Fehler macht

2. Kapitel,

in dem es heiß hergeht

3. Kapitel,

in dem es zischt und knallt

4. Kapitel,

das für Otto viel zu hoch ist

5. Kapitel,

in dem Klara angst und bange wird

6. Kapitel,

in dem es ein Wiedersehen gibt

7. Kapitel,

in dem es ziemlich kalimbesisch wird

8. Kapitel,

in dem Klara abhebt

9. Kapitel,

in dem ein König zum Tellerwäscher wird

10. Kapitel,

das für Schätzchen ziemlich unangenehm wird

11. Kapitel,

in dem Klara die Mütze abnimmt

12. Kapitel,

in dem viel geweint wird

13. Kapitel,

in dem Klara auf den Zug wartet und Otto ins Schwimmen kommt

14. Kapitel,

das Klara nur mit Glück überlebt

15. Kapitel,

in dem Otto einen echten Wilden trifft

16. Kapitel,

in dem ein Hund Klara den Weg zeigt

17. Kapitel,

in dem ein paar Löwen ihr blaues Wunder erleben

18. Kapitel,

in dem Schätzchen eingreift

19. Kapitel,

in dem es Kakao, Buletten und fünf Orden gibt

Die Autoren

Die Illustratorin

Die Schattenbande

Schiebermütze, Knickerbocker und Dreck unter den Fingernägeln: Das ist Klara Schlapp. Dass sie ein Mädchen ist, ist geheim. Nur ihre Freunde wissen, dass sie blonde Zöpfe unter der Mütze versteckt. Klara ist eine begnadete Taschendiebin und die Anführerin der Schattenbande. Das Blöde ist nur: Otto will das einfach nicht einsehen.

Im Fassadenklettern nimmt es keiner so schnell mit Otto Karwuttke auf und auch im Pläneschmieden ist er große Klasse. Leider hat Klara oft schon Nägel mit Köpfen gemacht, bevor er sagen kann, wo es langgeht. Otto und Klara sind ein Superteam, das meinen alle. Aber Otto findet, dass sie noch besser wären, wenn Klara endlich einsehen würde, dass er der Chef ist.

Paule Kowalski ist ein genialer Panzerknacker und Erfinder. Aus Schrottteilen und Abfall baut er die erstaunlichsten Apparate, Maschinen und Sprengkörper. Wenn er einmal nicht an seinen Erfindungen tüftelt, stiehlt er Kohlen. Denn die Dampfmaschinen, mit denen er seine Apparate betreibt, wollen gefüttert werden. Paule träumt von einem eigenen Automobil – und von einer Weste aus Samt mit echten Perlmuttknöpfen.

Lina Kowalski ist Paules kleine Schwester und das jüngste Mitglied der Schattenbande. Sie ärgert sich furchtbar darüber, dass die anderen sie oft nicht ernst nehmen. Dabei könnte sie den Freunden nicht selten den Hals retten, wenn man sie nur mitmachen ließe. Lina hat nämlich einen sechsten Sinn. Sie wittert Gefahr und spürt Dinge, die anderen verborgen bleiben.

1. Kapitel,

in dem Klara einen Fehler macht

Es war verkehrt, dachte Klara. Völlig verkehrt und verboten und zu allem Überfluss auch noch dämlich. Aber sie konnte einfach nicht widerstehen. Sie musste sich ein Stück nach vorne fallen lassen, sodass sie gegen die Schulter des eleganten Herrn prallte, sie musste ihre Finger ausstrecken und sie blitzschnell in die Innentasche seines Jacketts gleiten lassen, wo sein Portemonnaie steckte.

Danach zog sie die Hand genauso schnell wieder zurück, zusammen mit dem Geldbeutel natürlich, und eine Sekunde später steckte er in ihrer Hosentasche, ohne dass der Mann auch nur die kleinste Ahnung hatte, dass er beklaut worden war.

»Entschuldigen Sie vielmals.« Klara verbeugte sich hastig. »Ich bin so ungeschickt. Aber es ist mein erster Tag hier.«

Der Mann nickte ungeduldig. Er war furchtbar bleich, das fiel Klara erst jetzt auf. Dabei war es ziemlich warm in der »Schwarzen Katze«, so warm, dass Klara der Schweiß auf der Stirn stand.

»Möchte der Herr etwas trinken?«, fragte Klara.

Aber der Mann beachtete sie gar nicht mehr, er starrte zur Tür, in der jetzt Gina Ginelli auftauchte. Die Schauspielerin hatte zwei Herren im Schlepptau, die wie Hündchen hinter ihr herdackelten. Sie stolzierte quer durch den ganzen Raum und ließ sich an einem runden Tischchen direkt neben dem bleichen Herrn nieder.

»Einen Martini!«, flötete sie in Klaras Richtung und schnippte dabei mit den Fingern. »Aber schnell.«

»Kommt sofort!« Klara hastete zur Getränkeausgabe.

Als sie mit einem Tablett und dem Martini zurückkam, war der bleiche Mann nicht mehr allein an seinem Tisch. Ihm gegenüber saß ein anderer Mann, der noch seltsamer aussah. Seine Haut war nicht bleich, sondern sonnengegerbt und runzlig. Sein Haar hatte er wohl noch nie im Leben geschnitten, genauso wenig wie den Bart. Lange weißlich gelbe Zotteln hingen über seine Schultern und fielen vom Kinn auf den Tisch. Die beiden unterhielten sich in einer fremden Sprache.

Klara servierte den Martini. Gina Ginellis Begleiter stritten sich eine Weile, wer den Drink bezahlen durfte. Der dickere der beiden gewann und reichte Klara ein paar Münzen. »Der Rest ist für dich«, erklärte er großzügig.

Klara starrte auf das Geld in ihrer Hand. Zwei Pfennige Trinkgeld hatte ihr der Geizkragen gegeben, und dabei machte er ein Gesicht, als habe er ihr gerade ein Schloss geschenkt. Am liebsten hätte sie auch seine Geldbörse gemopst, die er mit zufriedenem Grinsen zurück in die Tasche seines Jacketts steckte.

Aber das durfte sie nicht. Das hatte sie auch gerade eben nicht gedurft. Brieftaschen, Geldbeutel, Portemonnaies waren tabu, das hatte Madame Fatale ihr mindestens fünfmal erklärt, bevor sie Klara für den Abend engagiert hatte. »Alles andere kannst du stehlen«, hatte sie gesagt. »Taschenuhren, Schminkspiegel, Puderdosen, Monokel, Brillantohrringe, Gebisse, Unterhosen, Strumpfhalter. Aber keine Geldbörsen. Mit Geldbörsen gibt es immer Ärger.«

Klara übernahm heute Abend die Vertretung für Mademoiselle Popinet, die ein paar Tage Urlaub genommen hatte. Genau wie Fräulein Popinet sollte sie Getränke servieren – und ganz nebenbei die Gäste bestehlen.

»Warum darf ich denn keine Geldbörsen klauen?«, hatte sie Madame Fatale gefragt.

»Wenn du den Leuten das Geld wegnimmst, können sie ihre Getränke nicht mehr bezahlen. Außerdem behaupten sie hinterher, dass viel mehr Geld drin war.«

Denn alles, was Klara entwendete, wurde den Gästen später zurückgegeben. Madames Assistentin Yvette Lorraine bat die entsprechenden Besucher während der Vorstellung auf die Bühne und händigte ihnen ihre Uhren, Puderdosen, Notizbücher und allen anderen Schnickschnack wieder aus.

Klara hatte sich das Ganze eigentlich recht lustig vorgestellt: Ein bisschen bedienen, ein bisschen klauen, das war doch unterhaltsam. Aber nach einer halben Stunde hatte sie genug. Sie hasste es, wenn man sie herumkommandierte und durch die Gegend scheuchte. Denn genau das taten die Gäste in der »Schwarzen Katze«. Klara durfte sich ihren Ärger nicht anmerken lassen, sondern musste die ganze Zeit lächeln und sich verbeugen. Immerhin hatte sie sich erfolgreich dagegen gewehrt, das alberne Schürzenkleidchen anzuziehen, das Madame Fatale ihr hatte aufschwatzen wollen. Stattdessen trug sie schwarze Anzughosen und einen Frack wie die männlichen Kellner.

Die Kapelle spielte einen Tusch. Der rote Vorhang schwenkte auf, Yvette Lorraine betrat die Bühne und verbeugte sich, während das Publikum begeistert zu applaudieren begann. Die Assistentin von Madame Fatale sah einfach atemberaubend aus in ihrem engen, grün schillernden Kleid. »Guten Abend, guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren!«, rief sie laut.

Klara fühlte plötzlich einen Blick in ihrem Rücken, so klar und stechend, dass sie herumfuhr. Oben auf der Empore setzte sich Madame Fatale in die erste Reihe. Die Varietébesitzerin wirkte wie immer ein bisschen fehl am Platze in ihrem eigenen Theater. Ihre Haare waren zu einem festen Dutt gebunden, die weiße Bluse unter dem dunkelblauen Kostüm war bis oben hin zugeknöpft. Sie sah aus wie eine strenge Lehrerin und schaute mit scharfem Blick zu Klara herunter.

Klara hatte das unangenehme Gefühl, dass Madame Fatale durch ihre Hosentasche hindurchschauen und das gestohlene Portemonnaie sehen konnte. Ich muss es auf der Stelle zurückgeben, dachte sie, aber leider hörten ihre Füße nicht auf das, was ihr Kopf dachte. Ihre Füße flohen, ihre Füße rannten an der Getränkeausgabe vorbei, durch die schmale Tür in den Gang und dann die Treppe hoch in die Waschräume.

Sie schlüpfte in eine der Toilettenkabinen, schloss ab und zog das Portemonnaie hervor. Und schnappte nach Luft. Was für ein Fang! Als Erstes holte sie ein dickes Bündel Geldscheine heraus. Hundert, zweihundert, dreihundert … Klara kam ins Schwitzen … über tausend Reichsmark hatte der bleiche Mann in seinem Portemonnaie. Und dahinter steckten noch andere Scheine, die mit leuchtenden Farben bedruckt waren. Sie sahen aus wie Spielgeld. Klara versuchte gar nicht erst, die Buchstaben auf den fremdländischen Banknoten zu entziffern. Sie hatte schon mit den einfachsten deutschen Wörtern größte Schwierigkeiten, eine fremde Sprache war nun wirklich zu hoch für sie.

Für Lina wäre das kein Problem, dachte sie. Die kleine Lina hätte Klara die Worte nicht nur vorlesen können, sie hätte unter Garantie auch gewusst, wo das Land lag, aus dem die Scheine stammten, welche Sprache man dort sprach und wie viele Einwohner es hatte.

Aber Lina war nicht hier, sondern mit dem Rest der Schattenbande in ihrem Bandenversteck in der alten Schreinerei am Lützowufer. Dort lag sie im Bett und klapperte mit den Zähnen, obwohl draußen ein milder Sommerabend war. Sie plagten hohes Fieber und Schüttelfrost. Die Schatten hatten kein Fieberthermometer, um Linas Temperatur zu messen, aber jeden Morgen fühlte sich ihr kleiner Kopf ein bisschen heißer an als am Tag zuvor.

Eigentlich hätten sie Lina längst ins Krankenhaus bringen müssen. Aber dort würde man sie sofort nach ihren Eltern ausquetschen. Und wenn Lina den Krankenschwestern erzählte, dass sie eine Waise war, würden sie wissen wollen, wo sie wohnte und wer sich um sie kümmerte. Die Antwort »Klara, Otto und mein Bruder Paule« würde die Schwestern ganz bestimmt nicht überzeugen.

Dabei war es die Wahrheit. Klara, Otto und Paule kümmerten sich hervorragend um Lina. Seit die vier Schatten vor eineinhalb Jahren aus dem Waisenhaus der schrecklichen Tante Elfie ausgebrochen waren, sorgten sie füreinander.

Aber das nahm ihnen kein Erwachsener ab. Nein, ein Krankenhaus war zu riskant, das kam nicht infrage. Wenn das Fieberbis morgen immer noch nicht gesunken war, mussten sie Lina eben zu Dr. Murke bringen, der über dem Schusterladen in den Hackeschen Höfen wohnte und nicht so neugierig war wie seine Kollegen in der Charité, dem großen Berliner Krankenhaus. Dr. Murke verkaufte Hustensaft, renkte Schultern ein, zog Zähne und säuberte und verband sogar Schusswunden, ohne Fragen zu stellen. Vorausgesetzt, man hatte Geld.

Klara wog das Bündel Geldscheine in der Hand. Mehr als tausend Reichsmark. Dem bleichen Mann würde es doch gar nicht auffallen, wenn da fünfzig oder sechzig Mark fehlten. Nein, dachte Klara dann. Es war nicht richtig, sie hatte Madame Fatale ihr Wort gegeben.

Sie stopfte die Scheine zurück ins Portemonnaie. Dabei fiel ein kleiner blauer Zettel aus dem Bündel und segelte zu Boden. Klara hob ihn auf. Da stand etwas geschrieben, in einer winzigen, krakeligen Handschrift. Ein paar Worte, die Klara natürlich nicht entziffern konnte.

Kopfschüttelnd schob sie dann auch den Zettel wieder zurück.

Aus dem Saal drang ein Tusch nach oben. Klara fuhr erschrocken zusammen. Was tat sie hier? Sie musste den Geldbeutel zurückstecken, bevor der bleiche Mann den Verlust bemerkte und Alarm schlug. Wenn Madame Fatale mitbekam, dass Klara sie hintergangen hatte … Klara schauderte und hastete aus der Toilette.

Als sie den Zuschauerraum betrat, hatte die Show gerade begonnen. Auf der Bühne standen die siebenundzwanzig Miller-Girls und warfen ihre langen Beine in die Höhe, als wären es Luftschlangen. Die Kapelle spielte und das Publikum klatschte vergnügt im Takt mit. Klara bahnte sich einen Weg nach vorn, sie sah, wie Gina Ginelli ihr zuwinkte und dabei ihr leeres Glas hob, dann blieb sie abrupt stehen. Der Tisch neben der Schauspielerin war leer. Die beiden Männer waren weg.

»Fräulein«, schrie die Ginelli. »Bedienung!« Ihre Stimme übertönte mühelos die Kapelle, aber Klara achtete nicht auf sie. Sie eilte zum Ausgang. Sie musste den bleichen Mann finden.

Als sie aus dem Saal rannte, stieß sie mit einem Zigarettenmädchen zusammen, das prompt den Inhalt seines Bauchladens verschüttete. Süßigkeiten, Zigarillos und Seidenblumen verteilten sich auf dem Boden.

»Hoppla! Pass doch auf, dummer Tölpel!«, schimpfte das Mädchen.

»Entschuldigung«, keuchte Klara. »Hast du zwei Männer gesehen, die hier raus sind? Einer war sehr bleich und der andere hatte einen Bart bis zu den Knien …«

»Nichts hab ich gesehen. Los, heb mal die Sachen auf. Ich kann mich mit dem Ding hier nicht bücken.«

»Jetzt nicht. Ich …«

»Was ist denn hier geschehen?« Hinter Klara stand Madame Fatale, dunkelblau und drohend. Ihr Blick durchbohrte Klara. Sie weiß alles, dachte Klara und wollte schon nach dem Portemonnaie greifen, um es herauszurücken, als die Varietébesitzerin den Kopf schüttelte. »Nun? Willst du das Durcheinander nicht aufräumen, das du hier angerichtet hast?«

Klara ging in die Knie, sammelte die Zigarettenpackungen, Schokoladentafeln und Seidenrosen ein und warf sie zurück in den Bauchladen des Mädchens.

»Wo wolltest du denn hin?«, fragte Madame Fatale, als sie fertig war. »Nach Hause? Deine Schicht endet erst um elf.«

»Ich … äh … wollte nur kurz … frische Luft schnappen«, stammelte Klara.

»Später«, sagte Madame Fatale. »Zuerst wirst du die Leute bedienen. Einige sind kurz vor dem Verdursten.«

»Und vor dem Verhungern!«, dröhnte eine Stimme direkt hinter Klara. Als sie sich umdrehte, stand da Kommissar Trettoff und zwinkerte Klara aus seinen kleinen Schweinsäuglein an. Der Chef der Berliner Mordkommission war so dick wie ein Omnibus. Seinen unglaublichen Körperumfang verdankte er seiner Leidenschaft für Kuchen, Torten und Süßigkeiten aller Art. Von den Berlinern wurde der Kommissar nur Hundert-Prozent-Heinrich genannt, weil er so gut wie jeden Fall aufklärte. Egal wie.

»Klara Schlapp«, sagte Trettoff. »Na, das nenn ich aber eine Überraschung. Verdienst du dein Geld etwa mit ehrlicher Arbeit?«

Madame Fatale räusperte sich. »Einen schönen guten Abend, Herr Kommissar.«

»Gleichfalls, gleichfalls, gnädige Frau. Ich bin in dienstlicher Mission hier.«

In dienstlicher Mission? Klara hatte plötzlich das Gefühl, dass sich die Geldbörse in ihrer Hosentasche in ein glühendes Stück Kohle verwandelte. Dabei konnte der Kommissar unmöglich wissen, dass sie … Oder doch?

»Ach?« Madame Fatale hob ihre Augenbrauen so hoch, dass sie fast in ihrem Haaransatz verschwanden. »Worum geht es, wenn ich fragen darf?«

»Sie dürfen«, schnaufte Trettoff. »Aber eine Antwort bekommen Sie nicht.« Er lachte rasselnd, sodass sein Bauch gefährlich ins Wackeln kam. Dann beugte er sich vertrauensvoll zu der Varietébesitzerin. »Ist leider geheim.«

Eine geheime Mission in ihrem Theater? Das gefiel Madame Fatale nicht, das war ihr deutlich anzusehen. Aber gegen den Chef der Kriminalpolizei konnte selbst sie nichts ausrichten.

»Bitte schön.« Sie wich einen Schritt zurück und gab den Weg frei. Bevor Trettoff in den Saal walzte, grapschte er noch ein paar Schokoladentafeln und eine Zigarre aus dem Bauchladen des Zigarettenmädchens. »Rechnung geht ans Kommissariat«, rief er über die Schulter.

2. Kapitel,

in dem es heiß hergeht

Dass Lina immer alles übertreiben musste, dachte Otto verzweifelt. Wo andere nur eine Gänsehaut bekamen, standen ihr gleich alle Haare zu Berge. Wenn sie ein Buch durchblätterte, dann lernte sie es sofort auswendig. Jetzt hatte sie hohes Fieber und ihr Körper glühte wie Muttchen Piepers gusseiserner Herd um die Mittagszeit.

Normalerweise verflogen Linas Krankheiten genauso schnell, wie sie kamen. Aber diesmal nicht. Seit einer Woche ging es ihr schlecht und mit jedem Tag wurde sie kraftloser und schwächer. Paule tigerte seit Stunden unaufhörlich um ihr Bett.

»Sach doch ma wat, Lina«, flehte er seine kleine Schwester an. »Jeht’s dir jetzt besser, oder wat? Wenigstens een bisken?«

Lina antwortete nicht. Sie lag auf ihrer Matratze, unter sämtlichen Decken, die die Schatten in der alten Schreinerei gefunden hatten, und klapperte mit den Zähnen. Schüttelfrost war ein Zeichen dafür, dass das Fieber noch weiter steigen würde, das wusste Otto. Aber damit war er mit seinem medizinischen Fachwissen auch schon am Ende. Er hatte keine Ahnung, welche Krankheit Lina sich eingefangen hatte.

»Schwestachen«, begann Paule von Neuem. »Sach ma …« Weiter kam er nicht, weil im selben Moment die Blechdose auf dem Fensterbrett explodierte. Mit einem ohrenbetäubenden Knall flog sie in die Luft und rollte dann scheppernd über den Boden. Otto fuhr erschrocken zusammen, Paule schrie auf, sogar Lina stöhnte leise.

»Verflixt«, schimpfte Otto. »Kannst du das Ding nicht endlich mal reparieren, Paule?«

Die Dose auf dem Fensterbrett war eine von Paules Erfindungen. Wenn Freunde der Schattenbande Nachrichten zukommen lassen wollten, steckten sie die Zettel zusammengefaltet zwischen die Latten, die den Eingang zur Schreinerei verbarrikadierten, seit der Betrieb vor ein paar Jahren geschlossen hatte. Paule hatte das Ganze mit einem elektrischen Kontakt versehen und diesen mit einer Büchse auf dem Fensterbrett verbunden. Der Briefkastenmelder war allerdings »noch nicht ganz ausgereift«, wie Paule das ausdrückte. Wenn er losging, flog ihnen immer eine Büchse um die Ohren.

»Ick kiek ma nach, wattet jibt.« Paule ging zum Fenster und kletterte über die Brüstung in den Hinterhof. Das war der einzige Ausgang aus der Schreinerei. Und das war gut so, denn niemand sollte wissen, dass die Schattenbande hier ihr Versteck hatte.

Sekunden später tauchte er auf der anderen Seite des Fensters wieder auf. »Kein Brief. Billy Barrakuda will mit dir sprechen, Otto.«

»Billy? Ist er da?«

»Nee, nur sein Jeist is erschienen.« Paule verzog das Gesicht. »Natürlich isser da!«

Otto kletterte nach draußen. Zusammen eilten sie auf die Straße. Billy Barrakuda war der Starreporter des Berliner Lokal-Anzeigers und einer der wenigen, die das Versteck der Schattenbande kannten.

Billy arbeitete gerne mit den Schatten zusammen – das hieß: Er nutzte ihre Kontakte zur Unterwelt und gab ihnen dafür Geld und manchen hilfreichen Tipp. Allerdings versuchte der Reporter jedes Mal, so viel wie möglich aus seinen jungen Freunden herauszuholen – und selbst so wenig wie möglich zu geben.

Billy Barrakuda stand vor seinem neuen Automobil und rauchte. Er war heute besonders elegant angezogen: Er trug einen Frack zu schwarzen Hosen und auf seinem Kopf saß ein Zylinder.

»Da seid ihr ja endlich«, sagte er vorwurfsvoll, als hätte er schon Stunden auf sie gewartet.

»Was gibt’s denn?«

»Du musst mir einen Gefallen tun, Otto. Lauf mal eben zum Palast-Hotel und bestell der Dame in Zimmer 201, dass ich heute leider …«

Otto schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Ich kann hier nicht weg.«

»Un ick ooch nich«, sagte Paule.

»Dann soll Klara gehen.«

»Die ist in der ›Schwarzen Katze‹. Und wir müssen bei Lina bleiben. Sie ist krank.« Während Otto sprach, fiel sein Blick auf Billys Automobil. Natürlich, das war die Idee! »Hör mal, Billy, du musst uns einen Gefallen tun! Lina muss heute Nacht noch zum Arzt. Es geht ihr wirklich übel.«

Der Reporter zog die Brauen zusammen. »Was hat sie denn?«

»Hohes Fieber, schon seit einer Woche.«

»Das ist schlecht.«

»Du weißt doch, was los ist, wenn Paule und ich Lina ins Krankenhaus bringen. Sobald sie wieder auf den Beinen ist, stecken sie die Kleine ins Heim.« Otto schauderte. Vor ein paar Monaten hatte Tante Elfie Lina schon einmal in ihre Fänge bekommen und in einen finsteren Verschlag gesperrt. Das durfte nicht noch einmal geschehen.

Billy Barrakuda runzelte die Stirn. »Ich würd euch gerne helfen«, sagte er. »Aber ich kann nicht. Ich muss zu einem Galadiner ins Hotel Adlon. Abendessen in piekfeiner Gesellschaft. Der Kollege, der das eigentlich machen sollte, ist krank.«

»Was ist wichtiger: Linas Leben oder ein blödes Galadiner?«, fragte Otto empört.

Billy fischte eine neue Zigarette aus seinem Etui und zündete sie an, während er nachdachte.

»Palast-Hotel«, flüsterte Paule in verschwörerischem Ton. »Zimmer 201. Denk doch ma daran, Billy. Du bringst Lina eben ins Hospital und hintaher haste frei und kannst tun und lassen, wat …«

»Also gut«, sagte Billy. »Aber dann musst du für mich ins Adlon, Otto.«

»Du machst Witze«, erklärte Otto. »Die feine Gesellschaft wirft mich doch sofort hochkant wieder raus.«

Billy legte den Kopf schräg, sein Blick glitt über Ottos schlaksige Gestalt, über seine zerrissenen Knickerbocker und das uralte, verschossene Hemd. »Bist groß geworden im letzten Jahr. Das müsste doch alles passen«, murmelte er.

Eine halbe Stunde später steckte Otto in Billys Frack und hatte dessen Hut tief in die Stirn gezogen. Der Saum der Hosenbeine war mit Stecknadeln hochgesteckt, ganz so lange Beine wie der Reporter hatte Otto nun doch noch nicht.

Billy trug jetzt eine Lederjacke und beige Hosen – glücklicherweise hatte er seine Fliegerkleidung im Kofferraum gehabt. Der Reporter verbrachte jede freie Minute im Flugverein Tempelhof.

Lina lag, in Decken gewickelt, auf der Rückbank des Automobils und klapperte mit den Zähnen. Paule hatte sich neben sie gequetscht und hielt den Kopf seiner Schwester im Schoß.

»Das Hotel liegt auf dem Weg zur Charité«, sagte Barrakuda, nachdem er den Wagen angekurbelt hatte und hinter dem Steuer saß. »Wir setzen Otto dort ab und fahren direkt weiter.«

»Was wirst du den Ärzten erzählen, wenn sie fragen, wer Lina ist?«, wollte Otto wissen.

»Mach dir mal keine Sorgen darüber. Ich kenn den Chefarzt persönlich, der fragt nicht lange. Wirst schon sehen, der kriegt Lina im Handumdrehen wieder hin.«

»Keine Spritze«, wimmerte Lina auf der Rückbank.

»Bestimmt nicht,« beruhigte sie Billy. »Aber nun zu dir, Otto. Du weißt doch, was ich von dir erwarte?«

»Dass ich schön meinen Teller leer esse?«, feixte Otto.

»Du spinnst wohl. Für dich gibt es nichts zu essen. Du sollst die Herrschaften nur interviewen und fotografieren und dann verschwindest du wieder.«

»Ach schade«, sagte Otto, aber in Wirklichkeit war er sehr erleichtert. Er hatte noch nie in einem feinen Restaurant gespeist, er kannte sich mit den Tischsitten überhaupt nicht aus.

»Hier sind die Fragen.« Billy griff an Otto vorbei zum Handschuhfach und zog einen Zettel heraus. »Du stellst sie genau so, wie sie da draufstehen. Und dann schreibst du die Antworten mit, verstanden? Und zwar alles haargenau. Am Ende machst du ein Foto von allen. Die Leser wollen schließlich wissen, wie die Herrschaften aussehen. Ich muss den Artikel gleich morgen früh schreiben, er soll in die Abendausgabe.«

Mitschreiben, das war gut. Otto kratzte sich in seinem pechschwarzen Haarwirbel. Wenn Billy geahnt hätte, dass er kaum lesen und so gut wie gar nicht schreiben konnte, hätte er ihren Deal auf der Stelle rückgängig gemacht.

»Mach ich«, beteuerte Otto. »Und wer sind diese Gäste?«

»Ach ja, gut dass du nachfragst. Fast hätt ich’s vergessen. Es dinieren König Buhert der Achtzehnte mit dem Außenminister Gustav Stresemann und seiner Gattin. Vermutlich sind noch eine Handvoll Staatssekretäre und Minister dabei, aber die sind nicht so wichtig. Konzentrier dich auf den Außenminister und den König.«

»König Buhert«, murmelte Lina von der Rückbank. »Aus Kalimbesien. Eine Inselgruppe im Karibischen Meer. Dreitausendachthundertfünfzig Einwohner, die hauptsächlich vom Fischfang leben. Die Insulaner sind berühmt für ihre Hautfarbe, die ist nämlich …«

»Ruhig, Lina«, unterbrach sie Paule. »Dit is doch viel zu anstrengend für dia.«

»Der Außenminister Stresemann?«, fragte Otto schwitzend. »Das ist ein Scherz, Billy, oder?«

»Das ist mein bitterer Ernst«, sagte der Reporter. »Wenn du das Ding vermasselst, Otto, dann reiß ich dir den Kopf ab. Und das ist auch kein Scherz.«

»Gustav Stresemann«, flüsterte Lina. »Ehemaliger Reichskanzler und nunmehr Außenminister des Deutschen Reiches. Seine Frau heißt Käte.«

Reichskanzler, Außenminister, König, Käte, Kalimbesien. »Was soll ich die Herrschaften denn fragen?«, erkundigte sich Otto nervös.

»Steht alles auf dem Zettel.« Billy drückte auf die Hupe, weil ihm ein Radfahrer in die Quere gekommen war. »Du machst das schon. Einfach ablesen und aufschreiben. Kinderleicht. Sogar die kleine Lina würde das hinkriegen.«

Wenn Otto nicht so verzweifelt gewesen wäre, hätte er laut gelacht.

Das Adlon wimmelte vor Dienstboten: Liftboys, Pagen, Zimmermädchen, Oberkellner im eleganten Frack, Hilfskellner mit Tabletts und Serviermädchen mit blütenweißen Spitzenhäubchen. Sie nahmen den Gästen den Hut ab, hielten ihnen die Tür auf, rückten Stühle zurecht, reichten Speisekarten.

Otto atmete tief durch und versuchte, ein Gesicht zu machen, als ginge er tagtäglich in Nobelhotels ein und aus. Mit entschlossenen Schritten marschierte er durch die Empfangshalle zu dem Tresen, hinter dem ein dicker Portier in Livree stand.

»Karwuttke, mein Name«, sagte Otto. »Vom Berliner Lokal-Anzeiger. Ich soll den Herrn Außenminister und seinen Besuch …«

»Sehr wohl, der Herr«, säuselte der Portier und schnippte mit den Fingern. Ein Page eilte quer durch die Halle auf den Tresen zu. »Der junge Mann ist von der Zeitung«, sagte der Portier. »Bring ihn zu den Herrschaften im Grünen Salon.«

Die Gesellschaft war noch beim Essen und durfte nicht gestört werden. Otto musste eine geschlagene Dreiviertelstunde im Vorraum warten. Mit knurrendem Magen saß er auf einem zierlichen Samtsofa und betrachtete die Kellner, die alle paar Minuten mit Schüsseln, Terrinen und Flaschen in den Raum eilten und dann mit dem schmutzigen Geschirr wieder herauskamen.