cover.jpg

Das Buch

 

Einst verbannten die Götter alles Böse in die Schattenwelt und gaben den Menschen die Chance, Frieden zu schließen und sich des Lebens in der Oberwelt als würdig zu erweisen. Doch auch 998 Jahre später erschüttern noch heftige Kriege die Länder. Egoistisch versucht jeder Herrscher, das Beste für sich herauszuholen. Doch was kaum jemand weiß: Die Zeit läuft langsam ab, denn die Götter setzten den Menschen damals eine Frist. Herrscht auch nach tausend Jahren keine Einigkeit, werden sich Oberwelt und Schattenwelt umkehren.

 

Die Kriegerin Scarabea Phoenix und ihr Widersacher Titan von Malyx werden unfreiwillig zu Spielfiguren in der großen Schlacht um das Schicksal aller Menschen. Bald müssen sie sich nicht nur den Göttern stellen, sondern auch fremden Herrschern, Geistern und der Schattenwelt selbst.

 

 

 

Die Autorin

 

Nika S. Daveron wurde 1985 in Köln geboren. Die Pferdenärrin entdeckte bereits als Kind ihre Liebe zum geschriebenen Wort und eiferte früh ihren Autorenvorbildern nach, indem sie die Handlung ihrer liebsten Bücher weiter erzählte. Mittlerweile veröffentlicht sie eigene Geschichten bei verschiedenen Verlagen und baut darin Welten, deren Komplexität und Schönheit andere zum Weitererzählen animieren.

Nika S. Daveron

 


 

HOURGLASS WARS

 

Jahr der Flamme

(Band 1)

 

 

Roman

 

 

 

 

img1.png

Originalveröffentlichung

 

© 2015 Verlag in Farbe und Bunt

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Cover-Gestaltung: Stefanie Kurt

E-Book-Satz: Winfried Brand

verantwortlicher Redakteur: Bettina Petrik

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Kathrin Böttcher

 

Herstellung und Verlag:

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100

45145 Essen

 

www.ifub-verlag.de

 

ISBN Taschenbuch: 978-3-941864-55-9

ISBN E-Book: 978-3-941864-56-6

ISBN Audiobuch: 978-3-941864-57-3

WIDMUNG

 

 

Für Vanessa –

weil Schokolade eine ausgezeichnete Deckenverzierung abgibt.

998 IM JAHR DER FLAMME

 

Die Nacht war sternenlos und windstill. Die Flaggen von Coronia hingen schlaff an ihren Masten und jede Bewegung verursachte heftige Schweißausbrüche. Der Wachhabende, Trippissa, hatte selten eine solche Nacht erlebt. Normalerweise kühlte es bei Sonnenuntergang merklich ab, doch heute braute sich etwas zusammen, das nur Unheil verkündete. Er konnte es beinahe schmecken. Die Luft war erfüllt von einem säuerlichen Gestank und dem öligen Geruch der Fackeln.

Zwei seiner Männer salutierten vor ihm – sie hatten ihre Runde über den großen Wall des Wüstenforts beendet.

»Keine besonderen Vorkommnisse«, verkündeten sie synchron.

Trippissa schickte sie mit einem Brummen auf ihren nächsten Gang, bevor er sich wieder dem Anblick jenseits des Walls widmete. Irgendetwas war dort draußen. Ein sich anbahnender Sandsturm konnte es kaum sein, außerdem waren die nicht so beunruhigend – jedenfalls nicht, so lange man die Rüstung der coronianischen Armee trug: doppelt gehärtetes, kerelinisches Glas. So gut wie unzerstörbar.

Seine Armbrust lag neben ihm auf den Zinnen, der Helm auf dem Boden, so wie jeden Abend. Er sah keine Notwendigkeit darin, ihn die ganze Zeit zu tragen, schon gar nicht bei einer solchen Hitze, obwohl die Vorschrift etwas anderes besagte. Aber es war niemand hier, der sie hätte durchsetzen können; Trippissa war der ranghöchste Offizier der königlichen Garde. Jedenfalls vor Ort.

»Mein Lord«, sagte seine Sprengmeisterin Fennica von Unia hinter ihm. Er drehte sich um und sah, dass sie ebenfalls salutierte.

»Lass den Unsinn, Fennica, und komm zu mir«, herrschte er sie an. Seit man ihn in den Ritterstand erhoben hatte, sprach alle Welt so mit ihm und er mochte es nicht. Die Sprengmeisterin trat an seine Seite und schob mit ihrem Stiefel den Helm beiseite.

»Und? Was gibt es?« Die Worte fielen ihr sichtlich schwer.

Elendes Klassendenken, schoss es Trippissa durch den Kopf. Sie beide kamen aus derselben Gegend und er kannte sie schon eine Ewigkeit. Was änderte sich denn, wenn man ihn zum Lord machte? Streng genommen nichts. Nicht an ihm als Person.

»Was siehst du dort draußen? Du hattest schon immer bessere Augen als ich.« Und auch ein besseres Gefühl für sich anbahnende Gefahr. Eigentlich hätte sie seinen Posten erhalten sollen, doch sie hatte sich geweigert, denn das hätte bedeutet, sie müsste auf ihre heißgeliebten Chemikalien verzichten. Sprengmeister waren in der Regel mit ihren Substanzen und Bomben verheiratet.

Fennica lehnte sich vor. Ihre Nasenflügel weiteten sich. Sie schnüffelte wie ein Hund.

»Das ist …«, begann sie, doch hielt dann wieder inne, um erneut zu schnuppern. »Nein … doch nicht.«

»Sprich gerade heraus«, befahl Trippissa ihr. »Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn du etwas für dich behältst.«

»Mag sein, aber das … das habe ich noch nie gerochen. Es hat einen Hauch von Sulfur, aber es ist keins. Welchen Nutzen bringt dir diese Information?«

»Gar keinen …«, brummte er schließlich. Warum hatte das Weib auch immer Recht?

Fennica richtete ihren Helm, der im Fackelschein ein Eigenleben zu entwickeln schien. Bei Tageslicht hatte das Glas eine feine, bläuliche Färbung, mit einem Hang zum Violett. Bei Nacht wurde es schwarz, doch das Feuer hauchte ihm Leben ein. Ein furchteinflößender Anblick für jeden Feind, der es wagte, sich mit der coronianischen Garde anzulegen.

»Darf ich offen sprechen?«, fragte sie.

»Bitte.«

»In der Wüste geht etwas vor sich. Und ich behaupte, es sind Sandräuber. Fragt sich nur, was sich diese hässlichen Gestalten jetzt schon wieder ausgedacht haben.«

»Sandräuber? Die haben wir schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier gesehen. Das Fort steht so nah an der Hauptstadt. Hier hat es noch nie Überfälle gegeben«, widersprach Trippissa aufs Heftigste. »Wer erzählt denn solche Geschichten?«

»Niemand. Doch du wolltest eine Antwort und ich habe dir eine gegeben. Was kann ich dafür, wenn sie dir nicht gefällt?«

»Sandräuber«, schnaubte er erneut. »Wollen wir gleich von den Geistern der wiedergekehrten Krieger anfangen?«

Fennica antwortete nicht. Doch ihr Körper verspannte sich merklich.

»Was ist?«, grollte er. Angestrengt starrte Trippissa in die undurchdringbare Dunkelheit, bis er glaubte zu wissen, was sie sah.

»Mach die verdammten Sprengladungen klar«, fluchte er und griff nach seinem Helm.

»Ja, mein Lord.«

Trippissa hatte keine Zeit, sich über die Wortwahl zu ärgern. Mit der einen Hand packte er nach der Armbrust, mit der anderen nach der Fackel. Die Glocke war zu schwach, niemand im Gläsernen Herzen würde sie hören. Aber die Signalfeuer … Es würde ihn wertvolle Sekunden kosten, wenn er einmal den Rundgang überqueren musste, doch das war die einzige Möglichkeit.

So schnell seine Beine ihn trugen, hastete Trippissa hinunter in den Innenhof. Schwer atmend erreichte er die andere Seite, wo er sich die Strickleiter hinaufzog und seine Fackel in das grüne Pulver stieß. Beinahe lautlos verdoppelte sich die Menge der Wachen auf dem Wall, er konnte ihre Armbrüste im Licht glänzen sehen.

»Fennica?«, raunte er in die Nacht hinein.

Sie tauchte aus dem Nichts auf, eine Laterne, frisch entzündet, in der einen Hand, ihren Schild in der anderen. »Sprengladungen sind scharf, mein Lord.«

»Lass das«, zischte er und packte sie beim Arm, um sie hinauf zum Wall zu zerren, von wo er das Geschehen in der Wüste wieder verfolgen konnte. Ihre kupferfarbene Haut wirkte in der Schwärze grau, nur ihre hellen Augen, beinahe golden, zeichneten sich dazu im starken Kontrast ab.

Als Trippissa den Wall erreichte, packte ihn das nackte Grauen. Was sich eben noch angekündigt hatte, wie die Morgenröte, zeichnete sich nun deutlich ab: Lichter. Sie tanzten auf und nieder; noch in weiter Ferne, aber sie bewegten sich stetig auf das Fort zu. Und es waren tausende davon. Tausende und abertausende!

»Dumarion, steh uns bei«, wisperte er und legte seine Hand auf sein Herz.

»Das dachte ich mir auch gerade«, flüsterte Fennica und berührte ebenfalls ihre Brust.

Trippissa reckte seine Armbrust in die Höhe. Es wurde sehr still auf dem Wall. »Läutet die Glocke«, befahl er mit klarer Stimme. »Wenn Patrouillen in der Nähe sind, können sie das Gläserne Herz vielleicht warnen.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Wer weiß, ob wir noch davon erzählen können.«

Im Hintergrund hörte er den Gleichschritt seiner Männer. Das Dröhnen der Glocke verschluckte ihre Bewegungen auf dem sandigen Lehmboden und das vielstimmige Scharren erstarb mit dem ersten Schlag. Auf dem Wall machten sich die übrigen Männer bereit zum Feuern.

Fennicas Künste würden heute Nacht das sein, was dem Fort Zeit verschaffte. Als Sprengmeisterin war sie legendär. Aber Trippissa gab sich nicht der Illusion hin, dass er auch nur irgendeine Chance gegen das hatte, was sich da draußen auf sie zubewegte. Nicht bei dieser Masse. Er konnte nur dafür beten, dass man ihre Notlage im Gläsernen Herz rechtzeitig bemerkte.

»Fennica …«, sagte er leise.

Sie nickte lediglich und griff in ihren Köcher. Wo andere Gardisten Pfeile oder Armbrustbolzen aufbewahrten, trug die Sprengmeisterin ein Dutzend Raketen mit sich. »Ich glaube, jetzt ist der Augenblick gekommen.«

Sie lächelte ihn auf eine sehr merkwürdige Weise an, nickte leicht und lehnte die Rakete an die Brüstung des Walls. »Bereit?«

»Wer behauptet, er sei zum Sterben bereit, ist ein elender Lügner«, erwiderte Trippissa langsam und entsicherte die Armbrust.

SCARABEA

 

Die Nacht hatte kaum begonnen, als Kriegsherrin Scarabea Phoenix die Spelunke im hintersten Teil des Gläsernen Herzens betreten hatte. Hier, am Rand der Stadt, konnte man beinahe vergessen, wie wohlhabend die Hauptstadt des Königreichs Coronia war. Es gab riesige Ratten auf den Straßen, Bettler an jeder Straßenecke und mehr Taschendiebe, als sie Gold besaß.

Sie hatte einen der Tische weit hinten nahe des Tresens vorgezogen, ohne ein Fenster, ohne eine Aussicht, was nur allzu gut zu diesem Moment passte.

Noch war sie Kriegsherrin. Dem Namen nach. Jedoch hatte man die Suspendierung ausgesprochen und ihr Abzeichen zurückverlangt, das sie sich ehrlich verdient hatte. Wegen nichts, wegen einer Lappalie. Pah! Ärgerlich gab sie dem Tischbein einen Tritt und fing sich einen missbilligenden Blick des Schankwirts. Zähnefletschend erwiderte sie ihn und der Alte verschwand.

Wütend leerte Scarabea ihr siebtes Bier und starrte an die Decke. Das Sonnensegel war zugezogen, sodass sie auf den schwarzen Stoff blickte, der den Sternenhimmel vor ihr verbarg.

In den Slums war natürlich nichts mehr von der Pracht des Gläsernen Herzens zu spüren, obwohl die meisten Bauten in der Nähe der Vorstadt bereits aus Glas bestanden, und der Königspalast sowieso. Er funkelte kalt im Sonnenlicht, ließ sich nicht erhitzen und spendete jederzeit angenehme Kühle, obwohl er keinen richtigen Schatten warf.

Doch hier, am Ende der Welt, da gab es keine angenehme Kühle. Nur die stinkende, dicke Luft der Schänke, die mit jedem Bier weniger schäbig aussah.

»Darf ich Euch kurz stören, Lady?«, fragte der schmächtige Schankjunge. Sein sehniger Körper war übersät von Narben in verschiedenen Heilungsstadien, sodass Scarabea sich unwillkürlich fragen musste, woher ein so junger Bursche solche Verletzungen hatte. Seine kurze Hose reichte bis knapp über die Knie, der Rest von ihm war nackt.

»Was ist denn?«, fragte sie unwirsch. Er erinnerte sie auf ungute Weise an die Sache gestern. Die Sache, die sie vielleicht ihren Titel kosten konnte.

»Stört es Euch, wenn ich das Verdeck öffne?«

Scarabea besann sich ihrer guten Manieren. »Nein, Kleiner, darfst du. Ich bin ganz froh um ein wenig Nachtluft.«

Der Junge nickte erleichtert und griff nach einer großen Stange, mit der er sich am Sonnensegel zu schaffen machte.

Sie wartete, bis er fertig war, bevor sie noch ein weiteres Bier orderte. Sie hätte nicht so viel trinken dürfen … Aber was tat man sonst, wenn kein Mensch den eigenen Worten Gehör schenken wollte? Ja, gewiss, man ging heim zu der Familie – die Scarabea nicht besaß. Oder zu Freunden – auch das gestaltete sich schwierig. Die königliche Garde war ihr Leben! Und man hatte es ihr gerade genommen. »Suspendierung …«, schnaubte sie übellaunig, bis sie bemerkte, dass sie mit sich selber sprach. Erbärmlich …

Seufzend lehnte sie sich auf der unbequemen Holzbank zurück und starrte in den Himmel. Ein paar einsame Sterne hatten sich hervorgewagt und Scarabea schloss für einen Moment die Augen.

Morgen würde sie eine Audienz bei der Königin beantragen. Förmlich. Das stand ihr zu, als Kriegsherrin ihrer Streitmacht. Auch wenn gerade sie die Person war, die an alledem Schuld trug. Ein Geräusch ließ sie aufspringen. Es klang nach einem fernen Donner. Nur einmal. Ganz leise. Hatte sie sich das eingebildet? Scarabea warf einen vorsichtigen Blick in den Schankraum. Nur wenige Gäste hatten sich überhaupt hierher verirrt. Und keiner von ihnen schien es bemerkt zu haben.

Am Nachthimmel glänzte ein grüner Schimmer. Sie brauchte einen Moment, den Alkohol und ihre Gedanken in Einklang zu bringen. Grün … grün! Verdammtes Grün!

Hastig sprang sie auf, stieß sich den Kopf an der herabbaumelnden Öllampe, ließ einen deftigen Fluch los und warf dabei gleichzeitig einen Beutel voller Münzen auf den Tresen.

»Behalt den Rest«, rief sie dem zahnlosen Wirt zu und stürmte hinaus in die viel zu warme Nacht.

Ihr Pferd stand immer noch angebunden vor der Schänke. Ihre Waffen baumelten lose an seiner Flanke, als sie mit zitternden Fingern seine Zügel losband, sich auf den Rücken ihres Wallachs schwang und ihn in den Galopp jagte.

Grün! Elendes Grün! Grün bedeutete das Schlimmste! Hoffentlich hatte sie sich geirrt. Vielleicht hatte sie einfach nur zu viel getrunken und sich alles eingebildet.

Ihr Pferd fand seinen Weg in den Straßen des Gläsernen Herzens beinahe blind, den Weg zur Kaserne hätte es auch mit einer Augenklappe zurücklegen können. Schon alleine deswegen hatte sie Camstra ausgewählt und er begleitete sie jetzt über vier Jahre.

Schneller und schneller wurde sein mächtiger Leib. Die wenigen Passanten sprangen verängstigt zur Seite, doch Scarabea konnte sich jetzt nicht um solche Dinge scheren.

Die Kaserne kam in Sicht, das Gebäude war noch hell erleuchtet, während die restlichen Straßenlaternen bereits gelöscht wurden. Die wachhabenden Gardisten salutierten vor ihr, auch ohne ihr Abzeichen.

Scarabea sprang noch vor dem großen Tor aus dem Sattel, griff nach dem Seil der mächtigen Bronzeglocke und ließ das ohrenbetäubende Geläut hören, das die Garde zu den Pferden rief.

Dumarion sei Dank; bisher hatte die Geschichte ihrer Suspendierung noch keine Runde gemacht, denn die Gardisten, die eilig herausstürmten, salutierten alle anstandslos vor ihr. Sie blickte in ratlose Gesichter.

Ihre tiefe Stimme hallte in die Nacht hinaus, als sie die Männer knapp über die Sichtung des Notsignals informierte.

»Das Jamora Fort hat seine Leuchtfeuer entzündet. Wir wissen nicht, was uns dort erwarten wird, doch ich glaube an das Schlimmste. Macht euch bereit! Wir reiten noch vor Sonnenaufgang.«

Die Gardisten verstreuten sich, nur einer nicht. Cato Cashere. Natürlich … der wusste sicher schon von ihrer Suspendierung.

»Solltet Ihr nicht ganz woanders sein, Lady Phoenix?«

»Solltet Ihr nicht meinen Befehlen folgen, Lord Cashere?«, gab sie eisig zurück.

Sein athletischer Körper spannte sich einen Moment unter der Glasuniform. Seine dunklen Locken machten ihn zum Frauenschwarm, aber bei Scarabea zog das nicht. Cato war ein widerwärtiger Hund. Schlimmer noch, er war eine Hyäne, und die labten sich ja bekanntlich an Aas. Ganz eindeutig sah er in ihr genau das und versuchte nun, sich an ihrem verwesenden Fleisch gütlich zu tun. Wer hatte ihn überhaupt zum Lord erhoben?

»Ich wüsste nicht, warum ich die Befehle einer suspendierten Kriegsherrin entgegennehmen sollte.«

»Weil ich immer noch die Kriegsherrin bin. Und weil die Kriegsherrin die Garde befehligt«, blaffte sie. »Geht mir aus den Augen, sonst vergesse ich mich. Wartet nicht darauf, dass meine Suspendierung amtlich wird. Das wird nämlich nie geschehen. Kümmert Euch lieber darum, dass Ihr nicht neben den Schakalen im Wind baumelt.«

Cato warf ihr einen geringschätzigen Blick zu, doch er verschwand in den Stallungen. In Gedanken machte sich Scarabea dennoch eine Notiz: Cato fressen! So nannten ihre Gardisten das, wenn sie sich ein Opfer auserkoren hatte und es systematisch auseinandernahm.

Ihre Rüstung lag in ihrer Kammer, achtlos auf den Boden geworfen, so wie sie sie selbst in ihrer Wut zurückgelassen hatte. Das kühle, kerelinische Glas schmiegte sich an ihren Körper, die Rüstung war extra für sie gegossen worden und passte ihr wie eine zweite Haut.

In der Dunkelheit der Kammer tastete sie nach ihrem Helm und trat dann lautlos nach draußen, wo sich bereits die ersten Gardisten versammelt hatten.

»Aufsitzen«, befahl sie und erklomm Camstras Sattel. Das Tier tänzelte nervös von einer Seite zur anderen, es bemerkte die Unruhe seiner Reiterin. »Schneller!«, dröhnte ihre Stimme durch die Kasernenhöfe. »Ihr habt nur noch wenige Minuten. Wer nicht fertig ist, reitet meinetwegen nackt nach Jamora.«

Das umgebende Glas zeigte verschwommen im Fackelschein ihr spitzes Kinn und stechende schwarze Augen. Scarabea schob das Ende ihres Zopfes über die Schulter, der dicht geflochten über ihrem Scheitel entlanglief. Der Rest ihres Schädels war vollkommen kahl.

Cato war der Letzte ihrer Truppe, der auf sein Pferd stieg. Natürlich. Warte nur, dachte sie bei sich. Dreckige Hyäne. Deinen hässlichen Schwanz werde ich als Trophäe behalten.

Scarabea griff nach den Zügeln und lenkte ihr Pferd hinter den anderen her, in einem flotten Trab. Hoffentlich hatte sie sich das nur eingebildet, betete sie immer wieder, während sie durch die Straßen des Gläsernen Herzens ritt. Vor ihr trabte das Pferd ihres ersten Offiziers, sein Sattel war dicht bepackt mit allerlei Sprengstoff, dem Stolz der coronianischen Armee. Nirgends gab es Vergleichbares, nicht einmal in den fernen Bergen von Phare, wo man angeblich Schätze fand, sobald man tiefer als einen Meter grub.

»Beeilt euch«, befahl sie ihrer Meute und ließ Camstra beschleunigen.

VAZARINA

 

»Nein, nein, nein!« Aufgebracht schmetterte Königin Vazarina Arestos einen gläsernen Kelch auf den Boden ihres Thronsaals.

Im Schatten der Säulen erhaschte sie einen Blick auf ihre jüngere Schwester, die sich hastig zurückzog, als sich ihre Blicke trafen. Gut so! Yavelin sollte es nicht wagen, sich einzumischen.

»Mit Verlaub, Euer Hoheit …«, begann ihr Leibwächter, doch Vazarina schnitt ihm das Wort ab.

»Wage es ja nicht, zu widersprechen.« Zitternd vor Wut ließ sie sich auf ihren Thron fallen und atmete tief durch. Scarabea widersetzte sich! Wie konnte das sein? Sie hatte ihre oberste Kriegsherrin nicht für so dumm gehalten. Und jetzt? Jetzt musste sie demonstrieren, wer in Coronia das Sagen hatte. Das elende Weib hatte sie in die Enge getrieben.

»Wann sind sie aufgebrochen?«, verlangte Vazarina zu wissen und massierte sich die Schläfen.

»Vor ein paar Stunden«, assistierte ihr Leibwächter Lonado.

Vazarina musterte den Mann. Lonado war ihr an der Wiege gegeben worden, kaum dass er vier Jahre alt war. Sein einziger Lebenszweck bestand darin, sie zu schützen, und er nahm diese Aufgabe sehr ernst, wenn man mal davon absah, dass er sich entfernt hatte, um ihr diese Nachricht zu überbringen. Seine grauen Augen suchten die ihren, als er sagte: »Meine Königin, soll ich sie zurückholen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Lass gut sein. Es nützt nichts, sie sind vermutlich schon viel zu weit. Und dein Platz ist an meiner Seite, das weißt du zu gut.«

»Natürlich.« Er trat beiseite und nahm seinen unauffälligen Platz im Schatten ihrer Schleier ein.

Dafür, dass sie einander beinahe ein Leben lang kannten, wahrte Lonado ständig eine unüberbrückbare Distanz zwischen ihnen. Manchmal machte es Vazarina Spaß, ihn aus der Reserve zu locken. Heute nicht.

»Informiere Lord Cashere darüber, dass sie, sobald sie ins Gläserne Herz zurückkehrt, unter Arrest gestellt werden muss. Anschließend bringt man sie hierhin. Sieh zu, dass du den Falken beim ersten Sonnenstrahl schickst.«

»Jawohl«, antwortete er leise.

Stöhnend sank sie in ihrem Thron zusammen. Obwohl Lonado keine Gefühlsregung gezeigt hatte, so war ihr doch völlig klar, dass er ihr Handeln missbilligte. Er stand eindeutig auf Scarabeas Seite. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Yavelin immer noch da war.

»Komm nur her, Kleines«, sagte sie schließlich. »Ich weiß doch, dass du gelauscht hast, obwohl du es nicht solltest.«

Yavelins Glockenlachen ertönte hinter einer der Säulen und sie trat ins Licht. Ihre Launen waren derzeit unberechenbar. Vazarina und sie waren Schwestern, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, und die Königin hatte auch den Verdacht, dass sie beide nicht vom selben Vater stammten. Durchaus nicht ungewöhnlich für die Königslinie von Coronia. Die Königin heiratete nie, sie borgte sich nur den Samen eines Mannes und hoffte auf eine Tochter. Wurde ein Sohn geboren, gab man ihn fort – wurde eine Tochter geboren, nahm man sie in die Thronlinie auf. So war es seit 300 Jahren, seitdem die Arestos über Coronia herrschten.

»Was ist denn nur, dass du so wütend bist?«, neckte ihre Schwester sie und steckte sich ein paar Trauben in den Mund. »Deine Kriegsherrin ist eben ein wenig ungezogen. Na und? Das bin ich auch. Außerdem hast du selbst dich für sie entschieden.«

Vazarina seufzte abermals. »Das ist alles richtig und gleichzeitig auch nicht, Yavelin. Sie hat mich in eine missliche Lage gebracht. Ich muss handeln und es gefällt mir nicht.«

»Was hat sie denn überhaupt getan?«, fragte ihre Schwester und verzog das Gesicht. »Mir sagt niemals jemand irgendwas und ich muss immer horchen, als wäre ich eines der Klatschweiber aus der Wäscherei.«

»Eine Prinzessin lauscht nicht«, mahnte die Königin.

Yavelin war erst fünfzehn. Vazarina hatte den Thron seit drei Jahren inne und war dreißig. Momentan kam ihr der Altersunterschied wie eine unüberbrückbare Kluft vor. Hatte sie sich mit fünfzehn auch so sorglos benommen?

»Yavelin, ich musste sie suspendieren, weil sie gegen die Gesetze verstoßen hat. So einfach ist das.«

»Jeder verstößt mal dagegen.«

»Eine Kriegsherrin muss als gutes Beispiel voran gehen«, erklärte Vazarina ihr halbwegs geduldig, auch wenn sie innerlich am liebsten geschrien hätte. Mach doch die Augen auf, du dummes Kind! Dumarion, in seiner Gnade, hatte Yavelin zum Glück nicht zum Herrschen ausgewählt. Sie wollte gar nicht daran denken, was geschah, wenn sie selbst frühzeitig verstarb. Yavelins Launen waren unberechenbar, ihr Verstand flatterhaft wie ein Vogel und sie schenkte den wichtigen Dingen nicht die rechte Aufmerksamkeit.

Vielleicht war es an der Zeit, sich auch einmal einen Mann zu nehmen. In ihrem Alter hatte ihre Mutter immerhin schon zwei Söhne gehabt. Gute Jungen, die beide in der königlichen Garde dienten, aber sie niemals »Schwester« nennen durften.

»Sie wird sich sicher etwas dabei gedacht haben«, erwiderte Yavelin sorglos und schwang neckisch ihre blonden Locken. »Komm schon, wir sehen einander so selten. Erzähl mir wieder Geschichten, schöne Geschichten, nicht dieses tieftraurige Zeugs, das du in letzter Zeit von dir gibst. Nichts über tausend Jahre Krieg. Erzähl mir von den Königinnen der Arestos. Schöne Frauen, verwegene Helden, so wie früher.«

»Yavelin, du bist doch kein Kind mehr. Du bist eine Frau, wenn auch eine junge. Also benimm dich und warte nicht darauf, dass ich dich auf meinen Schoß setze und mit dir wildes Pferdchen spiele.«

Schmollend verzog Yavelin ihre rosigen Lippen und klimperte mit den großen braunen Augen. Das tat sie immer, wenn sie nicht das bekam, was sie wollte.

»Frag einen Gardisten, ob er dir vorliest. Ich habe dafür jetzt wirklich keine Zeit.«

Wütend stampfte Yavelin mit dem Fuß auf und rauschte von dannen, ihr weißes Kleid bauschte sich im Nachtwind, der durch den Säulengang fuhr – heiß und sandig.

»Grandios«, knurrte sie. »Jetzt lehnt sich auch noch meine eigene Schwester gegen mich auf.«

Aber da war niemand zum Reden. »Lonado …«, sagte sie zaghaft. »Wie ist deine Meinung zu der Sache mit Kriegsherrin Scarabea?«

»Meine Königin, es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen.«

Vazarina sprang auf. Plötzlich war die Wut wieder da. »Dann befehle ich dir, deine Meinung zu sagen, Lonado!«

Er nickte leicht und beugte das Knie vor ihr.

»Hör sofort auf damit!«, rief sie. »Ich will eine ehrliche Meinung. Von jemandem, der mir nicht nach dem Mund redet! Ist das denn zu viel verlangt? Und hör auch damit auf, ständig ›meine Königin‹ zu sagen.« Sie äffte ihn ziemlich treffend nach. »Vazarina! Mehr nicht. Wenn irgendjemand diesen Namen benutzen darf, dann bist das du. Ich verdanke dir mein Leben. Und zwar jeden Tag aufs Neue.«

»Ihr habt wohl Recht«, stimmte er zu. Aber es war ihm unangenehm, das merkte sie sofort. Er schien sich einen Moment sammeln zu müssen. »Ich glaube, dass Lady Phoenix nicht ohne Grund zuwidergehandelt hat. Vielleicht waren Sandräuber der Grund … kendorische Überfallkommandos. Was immer es ist, es hat sie aufgeschreckt und sie dazu gezwungen, Euren Befehl zu missachten.«

»Das tut sie doch ständig«, zeterte Vazarina, auch wenn sie merkte, dass sich das überhaupt nicht ziemte. Sie war die Königin. Keine versnobte kleine Lady, die ihren Willen nicht bekam. »Was war das heute Morgen?«

Lonado lächelte schief. »Gewiss, sie hat Eure Gesetze missachtet. Aber war das ein Fehler? Diese Männer wären sowieso gestorben. Sie waren Deserteure. Hättet Ihr anders entschieden?«

»Nein«, gab sie zu. »Dennoch liegt das nicht in ihrem eigenen Ermessensspielraum. Jeder meiner Untertanen verdient das Recht auf einen Prozess. Was immer das Urteil sein mag.«

»Sie kennt jedoch auch Eure Haltung gegenüber Deserteuren.«

»Lonado!«, tobte Vazarina. »Es ist nicht das erste Mal. Muss ich um deine Loyalität fürchten? Bist du Scarabea so sehr zugetan, dass du für sie Partei ergreifst, selbst wenn sie Unrecht hat?«

»Ihr habt um meine Meinung gebeten. Obwohl ich sie Euch nicht anvertrauen wollte«, entgegnete er höflich und wandte seinen Blick ab.

Die Königin hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Sie hatte Zuspruch gewollt. Verständnis für ihre Lage. Und alles, was sie bekam, war ein schlechtes Gewissen, das Lonado ihr auf dem Silbertablett präsentierte. Und jetzt musste sie es herunterschlucken.

Misstrauisch beobachtete sie ihren Leibwächter. Sein schlanker, gestählter Körper zeichnete sich gut sichtbar unter der gläsernen Rüstung ab, die er nie ablegte, jedenfalls nicht in ihrem Beisein. Seine langen, braunen Haare hatte er zu einem dichten Zopf geflochten – auch das erinnerte sie auf unangenehme Weise an ihre oberste Kriegsherrin und an die wollte sie jetzt nicht mehr denken. Vazarina hatte ihre Befehle erteilt. Jetzt lag Scarabeas Schicksal in anderen Händen. Zumindest so lange, bis man sie ihr vorgeführt hatte. Also warum sollte sie sich weiter damit beschäftigen? Sie schob den Gedanken schnell beiseite, um sich die Konsequenzen nicht ausmalen zu müssen.

»Ihr habt sie selbst erwählt, denkt daran«, mahnte Lonado.

»Es reicht«, zischte sie böse und er verstummte. Ja, hatte sie. Das gab Scarabea trotzdem nicht das Recht, sich zu benehmen, als wäre sie die Königin.

CATO

 

Der Morgen dämmerte bereits, als sich in der Ferne die braunen Zinnen des Forts abzeichneten. Jamora war eine der kleinen Wüstenfestungen, die dem Gläsernen Herz am nächsten lagen und damit eigentlich ziemlich schlecht gesichert waren, weil ständig Nachschub aus der Hauptstadt erwartet werden konnte. Die Forts direkt am Meer beherbergten erheblich mehr Gardisten und allerlei Kriegsmaschinen, von denen man hier nie eine sah.

So dicht an der Hauptstadt war das bisher nie nötig gewesen und das Gläserne Herz selbst verfügte über perfideste Verteidigungsstrategien, an denen bisher noch jede Armee gescheitert war. Das Herz war die eigentliche Festung, nicht dieser lächerliche, kleine Vorposten, der noch aus einer Ära stammte, als tägliche Überfälle durch feindliche Nomadenstämme an der Tagesordnung gewesen waren.

Cato zügelte sein Pferd. Er war der Vorhut zugeteilt worden und erreichte als einer der ersten Jamora. Das Tor war verschlossen, doch die Wehrmauer unbewacht. Die Gräben voller Fallen, aber keine davon ausgelöst. Er erhaschte einen Blick auf eine der Zündschnüre, die die Sprengmeister verwendeten. Nicht berührt.

Merkwürdig, dachte er bei sich und suchte die Zinnen des Forts mit seiner Armbrust ab. Nichts und niemand war hier. Drinnen wieherte kein Pferd, er hörte keinen Falken rufen. Sämtliche Stimmen waren verstummt. Cato war sich nicht sicher, ob sie hinter den Toren nur Sand und Staub oder aber einen Leichenhaufen vorfinden würden.

»Absitzen!«, befahl er seiner Vorhut und blickte zurück. Die Morgensonne hatte bereits die ersten Sanddünen erreicht und tauchte sie in ein loderndes Gelb. Der Rest der Garde befand sich hinter ihnen, etwa eine knappe Meile entfernt.

Dem Befehl, vorauszureiten, war er nur zähneknirschend nachgekommen, aber noch war sie seine Vorgesetzte. Nein, sie war jedermanns Vorgesetzte, und egal wie er es drehte und wendete, man konnte ihm eine Befehlsverweigerung als Meuterei auslegen und er war nicht scharf darauf, am Galgen zu landen.

Er reichte seinem Rittführer die Zügel des Pferdes, der es ein wenig abseits an ein paar verkrüppelten Ästen eines Dornbusches anband.

Vorsichtig schritt er über die Planken der kleinen Brücke, die über den Wehrgraben führte, und berührte das grüne Tor. Nichts deutete auf einen Angriff hin, aber er machte sich nicht die Mühe, einmal außen herumzulaufen und das zweite Tor zu überprüfen. Er würde gleich erfahren, ob es noch stand.

»Öffnen!«, kommandierte er und zwei riesige Männer leisteten dem Befehl folge. Beide waren Hammerschwinger und ihre Hämmer verfehlten ihre Wirkung nicht, als sie die großen Scharniere des Tors bearbeiteten.

Cato trat ein paar Schritte zurück und befahl auch den restlichen Männern, sich in Sicherheit zu bringen, dann krachten die grünen Torflügel in den Graben hinab.

So weit, wie er den Innenhof des Forts sehen konnte, war er leer. Aber das musste nichts heißen.

In der Ferne hörte er den Hufschlag vieler Pferde. Das Herzstück der Truppe war da. Einen kurzen Moment wandte er sich um, aber als er Scarabea auf ihrem großen Fuchs entdeckte, blickte er schnell wieder nach vorne. Dieses Miststück von Kriegsherrin. Wenn es nach ihm ging, trug sie den Titel schon viel zu lang.

Er wartete schweigend, bis sie das Fort erreicht hatte. Ihre Rüstung klirrte, als sie aus dem Sattel stieg und ihren Gaul einfach stehenließ. Das hätte sich mal jemand wagen sollen; Scarabea hasste nichts mehr als Männer, die schlecht ritten oder sich nachlässig um ihre Pferde kümmerten.

»Habt ihr die Tore öffnen lassen?«, verlangte sie von niemand bestimmtem zu wissen. Der Speer auf ihrem Rücken schimmerte in der aufgehenden Sonne, ihre Armbrust baumelte lose an ihrer Hüfte herab.

»Das habe ich«, bestätigte er.

Sie schnaubte verächtlich. »Wirklich klug, Lord Cashere. Von Sprengfallen habt Ihr auch noch nie gehört, oder?«

Cato sagte nichts – kein Wort. Diese Frau war eine miese Hexe und eines Tages … ja, das schwor er sich immer wieder, würde sie dafür brennen.

Er beobachtete Scarabea, wie sie den zwei Hammerschwingern befahl, sie ins Innere des Forts zu begleiten, bis schließlich seine Neugierde siegte und Cato der Vorhut das Zeichen gab, ihm zu folgen.

Als sie das Rund des Innenhofs erreichten, sah das Fort kaum anders aus als andere Exemplare, die er bereits besucht hatte. Die Palmhölzer bildeten einen dicken Wall mit kleinen Aussichtspunkten und Schützenposten, die durch Planken verbunden waren und einem erlaubten, das Fort einmal komplett zu umrunden. Zwei Türme ragten in der Mitte des Innenhofs über seinem Kopf auf und das Banner von Coronia hing schlaff am Mast.

Ein Katapult nahm einen großen Teil des Walls ein, doch das war auch die einzige Kriegsmaschine, die es hier gab.

»Durchsucht das Fort!«, befahl die Kriegsherrin.

Cato gehorchte mechanisch, allerdings aus eigenen Gründen. Vielleicht fand er etwas, das ihr entging – womit er sich einen Vorsprung erkaufen könnte. Denn nach dem, was er hier sah, rückte ihre Suspendierung in weite Ferne. Das elende Weibsbild hatte Recht gehabt – jemand musste hier die Notfallrakete gezündet haben. Nur war von demjenigen nichts mehr da.

Vorsichtig betrat er die Leiter und stieg hinauf. Oben auf dem Wall hatte er freien Blick über die Wüste, von der das Gläserne Herz umgeben war. Nichts. Keine Spuren im Sand, keine Leichen. Das rote Tor, auf der anderen Seite des Forts, war ebenfalls fest verschlossen.

»Und?«, wollte Scarabea von unten wissen. Sie lehnte an einer Wasserpumpe und ließ das kostbare flüssige Gut achtlos auf den Boden tropfen. Das Miststück hatte ja keine Ahnung, was Durst war. Cato warf ihr einen bösen Blick zu und setzte seinen Weg auf dem Wall fort.

Etwas knirschte unter seinen Füßen. Cato machte einen Schritt zurück und beugte sich hinab. Feine Glassplitter glänzten dort im Licht der Morgensonne. Erstaunt hob er einen davon hoch und hielt ihn näher an sein Gesicht. Das war unmöglich: Kerelinisches Glas konnte nicht splittern. Es war unzerstörbar. Und doch – das hier waren die Splitter einer Rüstung; wenn er genau hinsah, konnte er die feinen Gravuren der Glasbläser erkennen, die ihr Werk stets signierten. Ein M und ein A. Jedes Rüstungsteil trug eine solche Inschrift, kaum größer als der Fingerabdruck eines Säuglings. Fassungslos starrte Cato darauf hinab. Wie konnte das sein?

Für einen Moment rang er mit sich und seinem Hass auf Scarabea, dann packte er die restlichen Scherben – viele waren es nicht – und eilte die Treppe hinunter.

»Kriegsherrin«, rief er, auch wenn das Wort ihn, beinahe schon körperlich, schmerzte.

Scarabea kam herbei und musterte ihn streng. »Was gibt es?«

Zornig hielt Cato ihr seine Hände vor die Nase. Zunächst starrte sie nur verwirrt darauf hinab, dann schien sie zu begreifen.

»Das ist unmöglich«, wisperte sie.

»Offensichtlich nicht«, knurrte Cato.

Ihre schwarzen Augen musterten ihn streng, aber sie sagte kein Wort. Stattdessen winkte sie einen ihrer räudigen Hunde herbei, der die Scherben nun ebenfalls in Augenschein nahm. »Stellt das Fort auf den Kopf«, befahl sie. »Ich will Beweise. Durchkämmt jeden Winkel.«

»Jawohl, Kriegsherrin!«, dröhnte es vielstimmig in Catos Ohren.

»Wo habt Ihr das her?«, verlangte sie von ihm zu wissen.

»Vom Wall«, entgegnete er.

Sie seufzte. »Es ist vermutlich überflüssig, Euch zu fragen, ob da noch mehr war. Ihr würdet es mir ja doch nicht sagen, stimmt’s?«

»Ich weiß, wie ich mich in Zeiten wie diesen zu verhalten habe«, knurrte Cato. Er durfte das hässliche Weib nicht unterschätzen. Diesen Fehler hatte er einmal gemacht und ihn bitter bezahlt.

Dumarion sei Dank – sie stellte keine weiteren Fragen, sondern wandte sich von ihm ab und kehrte zurück zur Pumpe.

Überall waren Gardisten, die jeden Winkel des Forts in Augenschein nahmen. Es blieb nicht bei den Scherben, die er gefunden hatte. Immer mehr tauchten auf, funkelten höhnisch in der emporkletternden Sonne und warfen ihr schillerndes Licht auf die Palmstämme.

»Verflucht, was ist hier geschehen?«, brüllte Scarabea durch den Innenhof. Keiner der Gardisten gab ihr eine Antwort darauf, bis ein junger Gardist sagte: »Kriegsherrin, ich habe eine Stimme gehört.«

Cato schnaubte verächtlich. »Ja, deine eigene, Dummkopf. Hier ist niemand.«

Der Bursche trat vor. Seinen Namen kannte Cato nicht, was bedeutete, dass dieser Jungspund sich niemals durch etwas hervorgetan hatte. »Doch, mein Lord. Ich habe es deutlich gehört. Es kam … von unten.«

»Unten?«, äffte Cato ihn nach. »Es gibt kein Unten, das ist ein Fort.«

Scarabea hob gebieterisch die Hand und lauschte. Keiner der Gardisten rührte sich. Es war, als habe die Kriegsherrin sie dazu gezwungen, die Luft anzuhalten. Er räusperte sich leise. »Lady Phoenix, ich glaube nicht …«

»Still jetzt!«, herrschte sie ihn an.

Cato versuchte das zu hören, was Scarabea hörte, nahm aber nichts wahr, außer dem Rauschen des Bluts in seinen Ohren.

»Unter der Pumpe«, rief die Kriegsherrin plötzlich und deutete auf den Punkt wo sie stand. Die zwei Hammerschwinger kamen herbeigeeilt. »Eine Schaufel, verdammt noch mal!«, tobte sie.

Einige weitere Gardisten kamen ihr zu Hilfe, Dumarion allein wusste, woher sie die Spaten hatten, doch sie schaufelten Schippe um Schippe an Sand fort.

Cato stand abseits und beobachtete sie bloß, während er seinen Tabakbeutel hervorholte und seelenruhig seine Pfeife stopfte. »Sucht Ihr Gold?«, höhnte er.

Ein paar der Gardisten warfen ihm warnende Blicke zu, aber er ließ sich nicht beirren. Mochten sie permanent vor der Kriegsherrin kuschen – er nicht. Als Meuterei konnte sie ihm das wohl kaum auslegen.

Der rostrote Rauch seiner Pfeife kräuselte sich gen Himmel, als plötzlich Bewegung in die ganze Truppe kam – Cato erhaschte einen Blick auf einen Arm, dann folgte ein Körper, schlaff und leblos.

»Schafft sie hierher«, brüllte jemand, ein Tumult brach aus, als man die Heiler herbeirief und ihnen Platz schaffte.

Das Emblem auf dem Arm der Frau stach Cato ins Auge: die rote, blutige Hand auf schwarzem Grund. »Ist das …?«, fragte er erstaunt.

»Eine Sprengmeisterin, Lord Cashere«, gab einer der Gardisten zurück. »Das ist die Sprengmeisterin von Fort Jamora.«

TITAN

 

»Ich hoffe, Ihr wurdet nicht enttäuscht, Herr.«

Titan von Malyx winkte den taktlosen Gecken beiseite, der sich verzeihungsheischend vor ihm in den Staub geworfen hatte.

Achtlos ließ er seinen Helm auf den Boden plumpsen und nahm auf seinem erhöhten Sitz Platz. Natürlich wurde er nicht enttäuscht. Einen von Malyx enttäuschte man in der Regel nur einmal; das war dann das Letzte, was man tat.

Er ließ seinen Blick im Zelt umherschweifen. Der säuerliche Geruch des Betäubungsmittels war noch nicht vollständig verflogen, doch Titan war, so wie der Rest der kendorischen Armee, dagegen immun. Die Coronianer allerdings nicht. Die Alchemisten hatten ihm zwar prophezeit, dass das Mittel stark war, doch mit diesem Ergebnis übertraf die Wirkung alles Vorhergesagte. 57 gefangene Gardisten! Eine hübsche Sklavenschar, die er seinem Regenten heimbrachte. Die Unnützen hatte er im Sand vergraben lassen. Lebendig. Mochten sie aus ihren Löchern kriechen, falls sie es schafften. Nur das Langersehnte war nicht dabei gewesen: die Wasserläufer. Und er hatte keine Ahnung, wie lange Theinval das noch hinnehmen würde, gleichgültig, wie viele Sklaven er nach Kendor brachte.

»Mein Herr.« Der Wurm war wieder da und sprach. Ein dicklicher, kleiner Soldat, zum ersten Mal im Feindesland, eine Klette in seinem Haar. Wer hatte ihm den noch gleich mitgegeben? »Wie lauten Eure Befehle?«

»Hinsichtlich was?«, fragte Titan. Das fette Schweinchen fragte wirklich nach seinen Befehlen? »Glaubst du, du müsstest mich daran erinnern, dass ich welche erteilen sollte?«

Schweinchen zitterte. »Nein, mein Herr. Aber ich dachte nur …«

»Lass das auf der Stelle und verschwinde.« Titan schaute zu, wie der fette Kerl augenblicklich aus seinem Zelt stürmte, bevor er sich nach seinem Helm bückte. Der Jaguarkopf starrte ihn aus seinen rubinroten Augen an. Das Metall war angenehm kühl und brachte ihm ein wenig Linderung von der Hitze.

Was war Coronia nur für ein Land? Wo Kendor aus einer Felsenwüste bestand, da hatte Coronia seinen immerwährenden Sand, der an einem haftete wie eine zweite Haut. Er ließ sich von seinem Sklaven ein Tuch reichen und reinigte seine Armschienen gründlich, bevor er sie auf den kleinen Tisch legte. Sklavenhänden vertraute er nicht, sofern sie auf seiner Rüstung herumpatschten.

Er nickte einem von ihnen leicht zu, einem hageren Surrcostaner, woraufhin der Sklave verschwand. Der Mann verstand ihn ohne Worte. Eine gute Investition. Für ihn hatte er einige Rubine bezahlt. Titan wusste nicht, wie er hieß, und nannte ihn Brava.

Sein Sklave kehrte bald zurück, mit ihm trat Titans Hauptmann Bayargal Ivestar ein. An einer Leine führte er einen übel aussehenden coronianischen Gardisten. Die Hälfte seiner Rüstung war aufgeplatzt, sein Gesicht geschwollen und er blutete aus zahllosen Wunden.

»Das ist unser Mann?«, fragte Titan.

Bayargal nickte und stieß den Mann mit dem stumpfen Knauf seines Schwertes zu Boden. Der Gardist fiel einfach vornüber, als hätte jemand die Strippen gelöst, die ihn hielten.

Titan bemühte sich, ein akzentfreies Coronianisch zu sprechen: »Könnt Ihr mich verstehen?«

Der Mann im Sand nickte leicht und versuchte sich hochzustemmen, aber seine Arme gaben nach.

»Helft ihm auf«, befahl er und wartete, bis man den Mann endlich hochgeschafft hatte. »Wie ist Euer Name?«

Dem Gardisten fehlten einige Zähne und die scharfen Kanten seiner Glasrüstung schnitten ihm ins Fleisch, aber er antwortete, wenn auch kaum hörbar: »Trippissa Nerello.«

»Und Euer Rang?«

»Oberkommandeur von Fort Jamora.« Seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern.

»Bayargal!«, schimpfte Titan ungehalten. »Wer hat den so zerbeult? Der hätte einen guten Preis abgegeben!« Der Oberkommandeur musste einstmals eine stattliche Erscheinung gewesen sein. Er war so groß wie Titan, aber wesentlich muskulöser, und ein hübsches Gesicht hatte er auch gehabt. Jetzt nicht mehr. Die Narben würden bleiben und die Zähne ließen sich nicht ersetzen.

»Mein Herr, er hat Widerstand geleistet, nachdem er im Lager erwacht ist.«

Titan schnaubte verärgert und ließ sich wieder auf seinen Lehnstuhl sinken. »Nun gut, jetzt ist er eh hinüber.« Desinteressiert wandte er sich dem knienden Gardisten zu. »Also, Oberkommandeur – Ihr habt jetzt genau zwei Möglichkeiten. Ihr verratet mir, wo in dieser gottverlassenen Wüste sich die anderen Forts befinden, oder aber Ihr sterbt. Ganz einfach, oder?«

Der Mann kam zu Atem, blickte zu ihm empor, verwirrt, als sei er nicht mehr Herr seiner Sinne. »Ihr marschiert auf die Hauptstadt?«, krächzte er.

Titan schüttelte missbilligend den Kopf. Der Stümper hörte einfach nicht zu! »Spreche ich undeutlich? Mir ist Euer Dialekt nicht geläufig, daher bitte ich um Verzeihung, falls Ihr mich falsch verstanden habt. Mich interessiert Eure grässliche Hauptstadt nicht … und wisst Ihr«, er seufzte theatralisch, »Ihr könnt es sowieso niemandem mehr erzählen, wenn wir hier fertig sind. Also warum verkürzt Ihr nicht Euer Leiden und zeigt mir, wo die Forts sind? Das macht alles viel einfacher.«

Der Oberkommandeur stützte sich auf seine Arme, doch Titan gab ihm einen Tritt, der ihn zurück auf den Boden beförderte. »Zum letzten Mal: Wo ist das nächste Fort? Eure räudigen Gardisten sind wie elende Sandwürmer, die sich eingraben – ich will wissen, wo sie sind«, fauchte er.

Als der Mann sein Schweigen nicht brach, nickte Titan seinem Hauptmann zu. »Verscharrt ihn im Sand. Gleich hier im Lager. Er hat keinen Nutzen mehr.«

Er beobachtete lächelnd, wie die Gesichtszüge des Mannes entgleisten, seine Lippen begannen zu beben und seine Hände zuckten unkontrolliert. Titan genoss das Schauspiel, das sich zu seinen Füßen bot.

»Keine Sorge, die Skorpione fressen Euch ganz schnell.«

Endlich erwachte der Gardist aus seiner Starre, er fing an zu schreien, wehrte sich gegen Bayargals Griff, der ihn jedoch unbarmherzig nach draußen schleifte, hinaus in die heißeste Wüste, die es in der bekannten Welt gab.

Titan lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Schreie wurden leiser – ein Jammer. Er mochte das Schreien der Verzweifelten.

Es dauerte eine ganze Weile bis Bayargal zurückkehrte, über und über mit Sand bedeckt. Titan hieß ihm Platz zu nehmen und wartete, bis sein Hauptmann sich ein wenig gereinigt hatte.

»Haben wir noch ein paar, die wir zum Sprechen bringen können?«, fragte er schließlich.

»Nein, mein Herr. Die anderen sind zu kostbar, die Preise, die sie erzielen könnten, sind zu verlockend und es würde unsere Beute erheblich schmälern.«

Titan winkte Brava herbei und reichte ihm seinen Helm. »Gib Acht, dass du ihn nicht schon wieder verschmierst.« Zu Bayargal gewandt sagte er: »Dir steht die Gier unverhohlen ins Gesicht geschrieben. Vergiss nicht, wie der Auftrag lautet – beschafft Wasserläufer. Keine Sklaven.«

Bayargal erbleichte. »Mein Herr … ich …«

»Ich wusste, dass du es abstreitest. Aber das hat keinen Zweck. Und ich zürne dir auch nicht – es ist nur natürlich, dass ein Mann den Rubinen nicht widerstehen kann. Doch ich möchte ungern meinem Herrn ohne einen Wasserläufer gegenübertreten, der sein Handwerk versteht. Ich möchte keinen Stümper, sondern einen von der Garde. Das sollen die Besten sein. Nimm das ernst, Bayargal.«

»Jawohl, mein Herr«, sagte er ein wenig zu hastig.

Titan musterte den alten Recken. Sein schwarzes Haar war von einem feinen Grau durchzogen, die blauen Adleraugen waren stets wachsam und seine wulstigen Lippen ließen ihn irgendwie grotesk aussehen, doch ihn konnte er damit nicht täuschen. Bayargal Ivestar war ein habgieriger Mann, der für ein paar Rubine so ziemlich alles tat, was man sich vorstellen konnte. Und darüber hinaus auch das, was man sich nicht vorstellen wollte.

»Ihr dürft wegtreten«, sagte er schließlich und sein Hauptmann verließ lautlos das Zelt.

Eine ganze Weile blieb er auf seinem Lehnstuhl sitzen und ließ seine Gedanken hierhin und dorthin streifen. »Spiegel«, befahl Titan seinem Leibsklaven Brava schließlich.

Der Surrcostaner reichte ihm das Gewünschte. Er musterte sich eine ganze Weile. Sein altersloses Gesicht blinzelte zu ihm herauf. Titan war eine merkwürdige Erscheinung, das wusste er seit jeher. Und woher dieses Äußere kam, war ihm ein unerklärliches Rätsel, das er wohl nie lösen würde, auch wenn sich darum einige Gerüchte rankten. Sein faltenloses, aber nicht wirklich junges Antlitz war zumindest bei den Damen nicht unbeliebt. Dass er keinen Ansatz eines Bartes zeigte, war ungewöhnlich für sein Alter, aber die stechend grünen Augen, die beinahe im Dunkeln zu leuchten schienen, hatte bisher noch jeder gefürchtet. Sein haselnussfarbenes Haar war an den Schläfen bereits ergraut, die einzige Veränderung, die sich in den letzten Jahren zugetragen hatte. Und natürlich die Zeichen. Symbole, deren Bedeutung niemand kannte, vom Kinn an, die rechte Wange hinauf, hoch zu seinem Auge und dann bis zur Stirn. Titan hatte versucht, sie zu entziffern, Schriftgelehrte aus den verschiedensten Ländern befragt. Niemand hatte auch nur ein einziges Wort davon übersetzen können – sofern es überhaupt Worte waren.

Er sah oft in den Spiegel. Manchmal nur, um sich zu vergewissern, dass er noch da war und zwar so, wie er immer aussah. Oft beschlich ihn die unbestimmte Angst, dass sich irgendetwas an ihm änderte, mit jeder Entscheidung, die er traf. Es war ihm unheimlich. Titan von Malyx fürchtete nichts mehr als das.

YAVELIN

 

Yavelin hasste es, wenn ihre Schwester sie so bevormundete. Heute hatte das Miststück sie in ihre Räume verbannt und angewiesen, bis zum Morgengrauen des nächsten Tages dort zu bleiben. Dabei war ihr nichts so sehr zuwider wie die Einsamkeit. Wenn sie sich allein fühlte, kamen ihr stets merkwürdige Gedanken. Sie waren düster, grob, brutal und morbid. Yavelin ließ sich manchmal von ihnen übermannen.

Sie lächelte diese Gedanken einfach fort, wenn sie ihrer Schwester davon erzählen wollte. Sie hörte ihr ohnehin nie zu, also hatte sie es aufgegeben. Überhaupt hatte sie das Gefühl, ihrer königlichen Schwester kaum mehr zu bedeuten als ein paar Staubflusen auf ihrem Fußabtreter.

Schweigend saß Yavelin auf ihrer Terrasse und lauschte dem Krächzen der Wüstenvögel, die ihre Kreise über die königlichen Gärten zogen. Nicht, dass diese besonders prunkvoll waren. Die Springbrunnen waren schon seit einer Ewigkeit versiegt. Sie erinnerte sich nur noch vage daran, dass es einmal Wasser darin gegeben hatte, aber da war sie noch ein Kind auf dem Arm ihrer anbetungswürdigen Mutter gewesen.

»Mutter«, seufzte sie leise. Wäre die doch nur da. Dann könnte Vazarina nicht mehr so hässlich zu ihr sein; ihre Mutter hätte sie gezwungen, sich ihr gegenüber angemessen zu benehmen. Und sie hätte sie ganz sicher nicht eingesperrt wie ein Tier, auf das man gerade keine Lust hatte.

Sie erwachte aus ihren Tagträumen, als sie den leichten Trab eines Pferdes in den Gärten hörte. Yavelin sprang auf und trat an die Brüstung heran, um Ausschau zu halten. Es war bereits nach der Mittagszeit und in der Ferne hörte sie die Tempelpriester ihr Gebet anstimmen.

»Lady Yavelin?«

Ihr Herz schlug höher, als sie die vertraute Stimme des Mannes hörte. »Ich bin hier«, rief sie.

Die eisenbeschlagenen Hufe des Pferdes näherten sich ihrem Balkon, bis Lord Cashere endlich heran war.

»Mein Lord«, lachte sie. »Ich dachte schon, Ihr kämt nie.«

»Wir hatten eine unschöne Begegnung in der Wüste. Es hat ein wenig länger gedauert.«