Die Energiewende als moralisches Problem

Hinführung
Jochen Ostheimer und Markus Vogt

1 Risikowahrnehmung im Wandel

Seit 40 Jahren wird in Deutschland so leidenschaftlich wie in keinem anderen Land um die ethische Bewertung der Energie gestritten. Unter dem Eindruck der Fukushima-Katastrophe hat die Bundesregierung unumkehrbar den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Bis zum 31. Dezember 2022 sollen alle Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden. Zugleich will Deutschland die vereinbarten Klimaschutzziele erreichen. Deutschland steht vor der Herkules-Aufgabe, gleichzeitig den beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie und eine Reduktion der fossilen Energieversorgung von heute rund 80 % auf unter 20 % bis zum Jahre 2050 herbeizuführen. Um zu klären, ob und wie eine risikoethische Neubewertung der Atomenergie nach Fukushima nötig ist und wie eine sichere Energieversorgung umgesetzt werden kann, wurde von der Bundesregierung eine so genannte Ethikkommission einberufen.

In der öffentlichen Debatte um die Atomenergie sind in den letzten Jahren insbesondere zwei Argumente neu in den Vordergrund getreten. In einem ersten Schritt wurde, zumindest in der öffentlichen Diskussion, die Verbindung zwischen Atomausstieg und Klimaschutz hergestellt. Lassen sich die anspruchsvollen, aber angesichts der Dramatik des Klimawandels unabdingbar erforderlichen Klimaschutzziele der europäischen Länder erreichen, wenn zugleich zusätzliche, durch den Wegfall der Atomkraftwerke verursachte Stromlücken kompensiert werden müssen? Oder, so der Gegeneinwand, wie er insbesondere von Befürwortern von erneuerbarer Energie eingebracht wird, blockiert der Atomstrom nicht vielmehr den Ausbau der regenerativen Energie, weil die große Menge an Grundlaststrom nicht mit der hohen Volatilität von erneuerbarem Strom kompatibel ist? Erfahrungswerte können bei dieser Frage nicht zu Rate gezogen werden. Erweitert wird das (scheinbare) Dilemma von Klimaschutz und Vermeidung nuklearer Risiken mittlerweile verstärkt durch sozioökonomische Überlegungen: Lässt sich der Umstieg auf regenerative Stromerzeugung individuell und volkswirtschaftlich finanziell tragen, wenn der sehr günstige Atomstrom ausfällt? Ist Atomstrom sogar umso nötiger, um die höheren Gestehungskosten von Wind- und vor allem Solarstrom auszugleichen?

Schon die Frage, ob und inwiefern die friedliche Nutzung der Atomenergie gegen die Moral verstößt, wie manche behaupten, ist keineswegs ein triviales Problem. Die Ethik steht hier vor grundlegenden methodischen Problemen. Ungeklärt sind insbesondere der Umgang mit extremen Zeithorizonten, die Frage der Abwägbarkeit verschiedenartiger Risiken, die Einordnung und Bewertung subjektiver und objektiver Perspektiven in der Risikowahrnehmung. Einigkeit besteht lediglich darin, dass das klassische Versicherungsprinzip der Berechnung aus Schadenshöhe mal Eintrittswahrscheinlichkeit nicht mehr hinreichend ist und dass Risiken nicht nach naturwissenschaftlich objektivierbaren Quantifizierungen berechnet werden können. Die Definition des Schadens hängt auch von gesellschaftlichen Wertungen ab. Der ethisch notwendige Vergleich mit den relevanten Alternativen beruht auf höchst unsicheren Abschätzungen künftiger Energieszenarien. Die kulturellen Kontexte sind für die Bewertung und das Management der Risiken ein entscheidender Faktor, der in den bisherigen Modellen noch wenig systematische Beachtung findet. So begründete die deutsche Bundesregierung ihre erneute Kehre in der Atompolitik mit dem Ereignis von Fukushima, das die Sachlage völlig verändert habe. Doch hierzulande ist nicht mit einem Tsunami zu rechnen. Was ist also das Neue an diesem Unglück, das auch für die deutsche Atom- und Energiepolitik bedeutsam ist?

Auch 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl gibt es immer noch erhebliche Wissenslücken und methodische Differenzen in der Analyse und Bewertung der Folgen. Dies gilt nicht zuletzt für die Auswirkungen von bestehenden Energiestrukturen wie auch von Katastrophen auf die politische Ordnung – etwa mit Blick auf die Destabilisierung der Sowjetunion durch den GAU in Tschernobyl, die noch unabsehbaren Folgen der Havarie des AKW Fukushima oder die mit der Energiewende verbundenen Machtverschiebungen in Europa.

Aufgrund der vielschichtigen Zusammenhänge von Energieversorgung, Wohlstandsentwicklung und Sicherheit ist die Energiefrage auch für die normativen Sozialwissenschaften eine Herausforderung ersten Ranges. Bei dem sich abzeichnenden Wandel der Energieversorgung geht es nicht nur um einen technologischen Wechsel. Es genügt nicht, den einen Energieträger durch einen anderen zu ersetzen. Gefragt sind neue Muster in der Art des Wirtschaftens, Produzierens und Konsumierens, in der Mobilität und den Siedlungsstrukturen sowie in der gesellschaftlichen Kommunikation. Nachhaltige Energieversorgung braucht einen Struktur- und Kulturwandel, um die Potentiale von Effizienz- und Suffizienzstrategien sowie von erneuerbaren Energien zu entfalten. Vom Gelingen eines solchen Wandels wiederum hängt es ab, ob man die Atomenergie als das kleinere Übel einschätzen kann. Der kulturelle Wandel speist sich aus Erfahrungen: sowohl aus Katastrophen- als auch aus Aufbruchserfahrungen. Doch das kulturelle Gedächtnis ist oftmals sehr kurz. Der Reaktorunfall von Tschernobyl hat zwar eine große Verunsicherung erzeugt, die im öffentlichen Bewusstsein auch immer wieder aktiviert werden kann, letztlich aber waren die Gewohnheiten stärker. Selbst in der Ukraine hat die Erfahrung der AKW-Havarie kaum etwas an der gängigen Praxis der Energieverschwendung verändert.

Darüber hinaus ist die ethische Angemessenheit von Abwägung als Methode der Bewertung bei extremen Risiken kritisch zu prüfen. Der Umgang mit Energie ist also in gleicher Weise eine technisch-ökonomische, eine politische und ordnungsrechtliche sowie eine ethische Frage. Er fordert neue interdisziplinäre Methoden der Risikobewertung.

Die öffentliche Meinung stellt die Akteure der Energiewende vor höchst vielfältige und widersprüchliche Herausforderungen. „Atomkraft – nein danke. Mein Strom kommt aus der Steckdose.“ Dieses Bonmot bringt die in der Gesellschaft weit verbreitete Haltung auf den Punkt, und es veranschaulicht den Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und niedrige Preise auf der einen und der Verdrängung von Produktionsbedingungen und negativen Nebenwirkungen auf der anderen Seite. Ebenso vielfältig wie die Meinungen in der Bevölkerung sind die wissenschaftlichen Positionen, die ökonomischen Interessen, die politischen Strategien sowie die moralischen Werte und Prinzipien, die hier ins Spiel gebracht werden. Die Energiewende ist in Anbetracht dieser heterogenen und teils widersprüchlichen Aspekte eine complexio oppositorum.

Der vorliegende Band beleuchtet die mannigfaltigen Facetten der moralischen Argumentationsmuster in der Energiedebatte in interdisziplinärer Zusammenschau. Dazu werden erstens die ethischen Methoden und Kriterien diskutiert, zweitens wird die Energiewende als wirtschaftliches und rechtliches Risiko kommentiert und drittens werden Muster des gesellschaftlichen Umgangs mit Risiken erschlossen.

2 Ethische Methoden und Kriterien

Mit der Energiewende sind erhebliche und ganz verschiedenartige Risiken verbunden, wie Markus Vogt in seinem Beitrag darlegt. Daher stellt sich die entscheidende methodologische Frage, nach welchen Kriterien sich die unterschiedlichen Risiken der Energieformen vergleichen und abwägen lassen. Das Gelingen der Energiewende erfordert eine Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Wissens- und Handlungsbereiche, um in angemessener Weise technischen, wirtschaftlichen, politischen und risikoethischen Sachverstand in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Über die analytischen Aspekte hinaus bedarf es eine Kultur des Erinnerns, damit die unterschiedlichen Gesellschaften und Akteursgruppen aus den AKW-Unfällen der Vergangenheit das Nötige für eine Risikomündigkeit im 21. Jahrhundert lernen können. Die ethischen Aspekte der Energiewende werden insbesondere dann virulent, wenn sich die Erkenntnis aufdrängt, dass alternative Formen der Energiegewinnung die gegenwärtigen Lebensstandards und deren inhärente Steigerungsdynamik nicht ohne erhebliche negative Nebenwirkungen gewährleisten können. So mündet die Energiedebatte in einen Diskurs über eine Weiterentwicklung des westlichen Wohlstandsmodells durch veränderte Prioritäten, Gerechtigkeitskonflikte und Wettbewerbschancen.

Julian Nida-Rümelin zeigt in seinem Beitrag, dass bei der Frage nach der Relevanz des Unglücks von Fukushima für Deutschland die relevanten Vergleichspunkte auf einer Ebene zweiter Ordnung zu suchen und zu finden sind. Neu und in den bisherigen Konzepten nicht ausreichend bedacht ist der Umstand, dass der Reaktorunfall in einem Hochtechnologieland stattfand und dass erkennbare Defizite vom Betreiber wie von den Kontrollbehörden schlicht ignoriert wurden. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der die Situation verändert: die stark angestiegene Ablehnung der Atomenergie in Deutschland. Diese ist als eine moralische Einstellung einzustufen, die bei der Risikoabwägung nicht vernachlässigt werden darf. Denn es ist aus moralischen Gründen verboten, jemanden gegen dessen Willen einer Gefährdung auszusetzen, was jedoch in den gängigen aggregativen Betrachtungsweisen zu wenig Berücksichtigung findet. Daher ist, so das Ergebnis der deontologisch-risikoethischen Reflexion, der Atomausstieg begründet.

Die faktische politische Entscheidung folgte hingegen nicht dem Modell einer deontologischen Risikoethik, sondern die Bundesregierung berief eine so genannte Ethik-Kommission mit dem Namen „Sichere Energieversorgung“ ein, die den Stand der Dinge multiperspektivisch beleuchtete und ethisch bewertete. Diese Art der angewandten Ethik weist gegenüber der theoretischen oder allgemeinen Ethik Besonderheiten gleichermaßen in methodologischer wie soziologischer Hinsicht auf, die die Art der Argumentation beeinflussen, so Jochen Ostheimer. Das Ziel derartiger Kommissionen ist (im Idealfall) die Erarbeitung eines umsetzbaren und wirksamen sowie zugleich moralisch legitimen Regelungsvorschlags, der die berechtigten Interessen aller Betroffenen berücksichtigt. Auch wenn die Ethik-Kommission ein weitgehend eindeutiges Ergebnis präsentierte, so zeigt sich doch, dass so mancher möglicher oder aktueller Konflikt eher übergangen als gelöst wurde, was auch daran liegt, dass die unterschiedlichen Konfliktdimensionen nicht ausreichend auseinandergehalten und dann methodisch reflektiert aufeinander bezogen wurden.

Die Entscheidung über die Art der Energieversorgung in der Gesellschaft hat immer auch Auswirkungen auf die Natur und damit stets eine naturethische Dimension. Eine in wissenschaftlichen wie politischen Diskussionen gängige Leitkategorie für die qualitativ neuen Herausforderungen in diesem Kontext ist das Konzept der Nachhaltigkeit. Dieses umfasst auch eine Wertdimension, insofern festzulegen ist, welche (ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen) Güter besonders schützens- bzw. verwirklichungswert und daher gegenüber anderen vorzuziehen sind. Einen Ausweg aus dem unfruchtbaren Gegenüber objektivistischer und subjektivistischer Werttheorien kann im Fähigkeitenansatz gesehen werden, wie er von Sen und Nussbaum entwickelt wurde. Auf diese Konzeption aufzubauen, könnte sich somit für technikethische Überlegungen als weiterführend erweisen, wie Rafaela Hillerbrand ausführt.

3 Die Energiewende als wirtschaftliches und rechtliches Risiko

Angesichts der von Deutschland beanspruchten internationalen Vorreiterrolle in Sachen Klimaschutz und Reduzierung der Staatsverschuldung befürchtet Reiner Kümmel, dass sich Deutschland mit der nach der Fukushima-Katastrophe 2011 überstürzt eingeleiteten Energiewende übernimmt. Denn die Energieumwandlung in Verbrennungsanlagen und Maschinen ist der wichtigste Faktor der materiellen Wohlstandsproduktion, und naturgesetzlich ist sie unvermeidbar mit umweltbelastenden Emissionen von Teilchen und Wärme verbunden. Zudem existieren absolute physikalische Grenzen für Effizienzsteigerungen der Energienutzung bei unveränderter Nachfrage nach Energiedienstleistungen. Die Energiedichte fossiler und nuklearer Energie ist deutlich höher als die regenerativer Energieträger. Es ist daher alles andere als klar, dass das westliche Produktions- und Wohlstandsniveau allein auf der Basis solarer Energie aufrechterhalten werden kann. Aus diesem Grund erfordert der Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien langfristig vorausschauend angelegte komplexe Energie-, Emissions- und Kosten-Optimierungen und geschmeidige Anpassungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen an identifizierte nachhaltige Entwicklungspfade. All dies hat Deutschland bei dem abrupten Schwenk seiner Energiepolitik versäumt und steuert nunmehr in schwere ökologische und soziale Probleme, die auch Auswirkungen auf andere Länder haben. Es war 2011 beim hastig gefassten Beschluss zum Abschalten der Kernkraftwerke keine Gefahr im Verzug. Denn die unzureichende Auslegung der Kernreaktoren von Fukushima gegen Erdbeben und Tsunamis stellte kein unterschätztes Restrisiko dar, sondern war ein wohlbekanntes, bewusst in Kauf genommenes Risiko. Auch ein Unfallverlauf wie im graphitmoderierten Tschernobyl-Reaktor kann sich in deutschen wassermoderierten Kernreaktoren aus physikalischen Gründen nicht ereignen. Die Risiken und Probleme deutscher Atomenergienutzung werden denjenigen der verfügbaren Energiequellen gegenübergestellt.

Dem ökologischen Nutzen, den man sich von der Energiewende verspricht und der ihre entscheidende Motivationsbasis ist, stehen erhebliche Kosten und Risiken gegenüber, die sich insbesondere aus der nahezu vollständigen Umgestaltung des in der Energieversorgung investierten Kapitalstocks und dem Vertrauen auf den (unsicheren) technischen Fortschritt in einem für entwickelte Volkswirtschaften zentralen Bereich ergeben. In der überblicksartigen Darstellung dieser Kosten und Risiken arbeiten Wolfgang Buchholz, Jonas Frank und Johannes Pfeiffer heraus, ob und inwieweit der Ausstieg aus der Kernenergie diese verschärft und welche Bedeutung angesichts starker Pfadabhängigkeiten im Energiebereich der Wahl des Ausstiegszeitpunkts zukommt. Im Anschluss diskutieren sie, was die Ökonomie im Rahmen ihres Paradigmas zum verantwortungsvollen Umgang mit den durch die Energiewende bedingten Herausforderungen beitragen kann. Dazu gehören insbesondere die Erörterung der aus ökonomischer Sicht moralisch relevanten Beurteilungskriterien (Effizienz auch unter Berücksichtigung von Risiko vs. Verteilungseffekte innerhalb und zwischen Generationen) sowie der Versuch einer näheren Bestimmung der Grenzen des ökonomischen Ansatzes bei Behandlung der moralischen Aspekte der Energiewende.

Welches Risiko erlaubt ist, ist für die (verfassungs-)rechtliche Betrachtung des Atomausstiegs eine entscheidende Frage. Im Beschluss der Bundesregierung springt eine große Diskrepanz ins Auge, wie Jens Kersten beobachtet: Die Nutzung von Atomkraftwerken soll aus Sicherheitsgründen beendet werden – aber erst Ende 2022. Der Widerspruch, dass der Atomausstieg eigentlich sofort erfolgen müsste, dies jedoch unmöglich ist, weil sich dann andere, ebenfalls nicht hinnehmbare Risiken ergäben, wird in der juristischen Debatte meist verschleiert. Zur Begründung des Atomausstiegs führt der Gesetzgeber eine neue Einschätzung des atomaren Risikos nach Fukushima an. Der Begriff des Restrisikos im Sinne einer politisch, ethisch und rechtlich zu vernachlässigenden Größe wird nicht mehr als plausibel erachtet. Aus dem Konzept des dynamischen Grundrechtsschutzes, dem zufolge das Risikowissen auf dem jeweils neuesten Forschungsstand zu berücksichtigen ist, ergibt sich möglicherweise die Pflicht, den Betrieb von Atomkraftwerken als grundrechtswidrig zu verbieten. Wie schwer dem Gesetzgeber dieser Wandel der juristischen Einschätzung gefallen sein mag, lässt sich ermessen, wenn man bedenkt, wie sehr sich die Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit mit der Atomtechnik identifiziert hat – was aus juristischer Perspektive stets problematisch ist.

Was ethisch oder im Sinne des internationalen, europäischen und nationalen Verfassungsrechts als „richtig“ zu gelten hat, lässt sich letztlich nur mit Hilfe einer Abwägungstheorie bestimmen, so Felix Ekardt. Die Abwägungstheorie beruht dabei ethisch-rechtlich auf den liberal-demokratischen Grundprinzipien sowie theoretisch-methodisch auf der Sein-Sollen-Scheidung und der (davon strikt zu unterscheidenden) Subjektiv-objektiv-Scheidung. Allgemeine Reden von „Gestaltungsspielräumen“ oder „radikaler Demokratie“, die Reduktion von Abwägung auf ökonomische Kosten-Nutzen-Analysen oder ein skeptischer Generalzweifel an der Entscheidbarkeit normativer und auch tatsachenbezogener Fragen sind hierzu aus einer Reihe von Gründen keine überzeugenden Alternativen. Methodisch wichtig für eine angemessene juristische Argumentation sind ein neues menschenrechtliches Verständnis von Vorsorge – im Sinne eines Schutzes vor zeitlich entfernten oder kausal unsicheren Gefährdungslagen –, adäquate Tatsachenerhebungsregeln und eine gerechte Verteilung der Darlegungs- und Beweislasten bei Tatsachenunsicherheiten. Damit werden sowohl gängige juristische Analysen als auch soziologische Risikotheorien modifiziert. Im Ping-Pong der legislativen, exekutiven und judikativen Gewalten begründet die Verletzung von Abwägungs-, Tatsachenerhebungs- und Verfahrensregeln eine Pflicht zur Neuentscheidung.

4 Muster des gesellschaftlichen Umgangs mit Risiken

Ein wichtiger Akteur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Atomkraft waren die Kirchen. Wie Michael Schürings Untersuchungen im Bereich der evangelischen Kirche zeigen, wurden dort mit Blick auf die gewalttätigen Proteste Parallelen zur NS-Diktatur gezogen, und in der Tradition der Bekennenden Kirche fühlten sich etliche Christen, Pastoren und Theologen verpflichtet, die Haltung zur Atomenergie im Sinne eines status confessionis aufzufassen und Farbe zu bekennen, auch durch aktives Engagement. Aus der Distanz der historischen Analyse wird erkennbar, dass die religiöse Codierung innerweltlicher Gefahren höchst effektiv Potenziale radikaler Gesellschaftskritik aktivieren und mit der Atomenergie verbundene Heilsversprechen entlarven konnte, gleichwohl des Öfteren zu kurz griff.

„Kernenergie – nein danke“ hat ausgedient, so die Leitthese von Ortwin Renn und Marion Dreyer in ihrer Analyse zur „diskursiven Risikobewältigung nach dem Atomausstieg“. Deutschland hat sich gegen diese Energiequelle entschieden und damit einer Protestbewegung politisch Recht gegeben. Was bedeutet das für den Umgang mit Risiken nach der Wende? Werden jetzt auch Windparks, Solar- und Biogasanlagen, Stromleitungen und Speicherkraftwerke in den Sog der Akzeptanzkrise geraten? Und wie sollte eine Gesellschaft mit diesen neuen Protestformen umgehen? Der Beitrag beleuchtet anhand des vom International Risk Governance Council entwickelten Risikosteuerungsmodells die Chancen und Grenzen diskursiver Formen der energiepolitischen Entscheidungsfindung und Umsetzung der Energiewende und führt die Bedingungen dafür aus, wie partizipative und deliberative Formen der Demokratie konfliktbewältigend wirken können.

Bei der Bewertung der aktuellen Entscheidung über das Ende der Atomkraft in Deutschland kann sich ein Blick zurück in die jüngere Umweltgeschichte als hilfreich erweisen, wie die Ausführungen von Frank Uekötter veranschaulichen. Denn manche gängigen Darstellungen lassen sich als bloß oft und gerne wiederholte Mythen entlarven. So mag es heute viele überraschen, dass die Entscheidung, in die zivile Nutzung der Atomenergie einzusteigen, von der Politik ausging, während die großen Stromerzeuger mit viel Nachdruck gleichsam erst zum Atom-Spalten getragen werden mussten. Unter unverzerrten Marktbedingungen hätte sich die Atomkraft niemals durchgesetzt. Nachdem die Atomkraftwerke aber erst einmal in Betrieb genommen waren und ihre Baukosten schon seit langem abgeschrieben sind, gab und gibt es für die Betreiber wenig Grund, sie (aus ihrer Sicht verfrüht) abzuschalten, da sie einer „Lizenz zum Gelddrucken“ gleichen – solange sich kein Unglück ereignet. Wenn ein solches passiert, werden die Hauptkosten kollektiviert, so etwa bei Tepco, dem Betreiber des AKW Fukushima, der vom japanischen Staat vor der Insolvenz gerettet werden musste. Doch in der öffentlichen Selbstdarstellung der Atomenergiebranche und ihrer Unterstützer könnte ein anderes Narrativ dominieren: Atomkraft als klimaneutrale Spitzentechnologie, die am Unverständnis der Bevölkerung gescheitert ist.

5 Die Moral der Energiewende

Die Energiewende ist ein moralisches Problem, insofern widersprüchliche, aber beachtenswerte Ansprüche aufeinander stoßen. Zu einem ethischen Problem, d. h. zu einem Problem für die Ethik, wird die Energiewende, weil die Methoden für die Identifizierung, Gewichtung und Abwägung der betreffenden Güter nicht eindeutig sind und zudem Erkenntnisse verschiedener Fachwissenschaften einbezogen werden müssen und daher die Begründung des Urteils Schwierigkeiten bereitet.

Zugleich ist die Energiewende ein politisches Problem, weil sie einen faktischen Regelungsbedarf erzeugt. Bei der Problembewältigung, bei der Sicherstellung einer zuverlässigen, bezahlbaren sowie natur- und gesundheitsverträglichen Energieversorgung der durch einen wachsenden Energiehunger geprägten Weltgesellschaft ist eine Kombination von technischer und kultureller Intelligenz erforderlich. In dieser Debatte um die Energiewende spielen moralische Argumente eine zentrale, häufig jedoch ambivalente Rolle. Problematisch ist insbesondere, dass sie bei weitem nicht immer hinreichend als solche identifiziert und benannt werden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass normative Urteile in diesem Anwendungskontext oft eng mit Tatsachen und Prognosen verwoben sind. Je nach gesellschaftlichem Kontext stehen andere Werte im Zentrum, so dass andere Bewertungen erfolgen; ihr moralischer Status bleibt dabei häufig im Vagen. Das komplexe Ineinander von moralischen, technischen, politischen und ökonomischen Aspekten sowie von empirischen und normativen Perspektiven macht die wissenschaftliche Reflexion methodisch anspruchsvoll und verlangt interdisziplinäre Zugänge. Dadurch wird die ethische Analyse der Argumentations- und Abwägungsmethoden zu einer nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wissenschaftstheoretisch höchst vielschichtigen Herausforderung.

Die Energiewende ist insofern Bewährungsfeld und Methodenmodernisierungsvehikel für komplexe gesellschaftliche Entscheidungsverfahren, bei denen es gilt, verschiedene und daher in unterschiedlicher Weise beachtenswerte Interessen angemessen zu bewerten.

I. Ethische Methoden und Kriterien

Zur ethischen Bewertung der Atomenergie nach Tschernobyl und Fukushima

Markus Vogt

1 Unterschiedliche Reaktionen auf Fukushima

Die Reaktorunfälle am 26. April 1986 in Tschernobyl und am 11. März 2011 in Fukushima sind bisher die beiden einzigen auf der Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES – International Nuclear Event Scale) mit „sieben“, also dem höchsten Wert, eingestuften Katastrophen. In Deutschland haben diese beiden Ereignisse zu erheblichen politischen Konsequenzen geführt: Wenige Wochen nach Tschernobyl wurde 1986 das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gegründet. Als Reaktion auf Fukushima hat die deutsche Bundesregierung eine Ethikkommission gegründet, um den Ausstieg aus der Atomenergie verbindlich zu regeln und Strategien für eine umfassende Energiewende zu erarbeiten (Die Bundesregierung 2011). Diese intensiven Reaktionen haben mit der Besonderheit der deutschen Atomdebatte als zivilgesellschaftlichem Mobilisierungsthema und Impulsgeber für die Umweltbewegung zu tun (vgl. Müller 1995, S. 177–815; Vogt und Ostheimer 2006, S. 13–17; zum internationalen Vergleich Radkau 2011, S. 209–229).

In der deutschen Umweltbewegung gilt die Atomenergie seit Mitte der 1970er Jahre als Symbol für die Ambivalenzen der Technik. Vor diesem Hintergrund sind Tschernobyl und Fukushima in besonderer Weise zu politisch wirksamen Referenzpunkten der ökologischen Kommunikation geworden. Die überwiegende Mehrheit der Länder hat die beiden Ereignisse anders wahrgenommen. Generell erschüttert ist der Glaube an die Sicherheit und Unverzichtbarkeit der Atomenergie keineswegs. Es gibt auch in Europa unterschiedliche Reaktionen (vgl. Konrad Adenauer Stiftung 2011; Fischer 2011, S. 15–22; http://www.eurotopics.net/de/home/debatten/links-2011-03-japan):

Vor diesem Hintergrund erscheint die Distanzierung von der Atomenergie nach Fukushima in Deutschland zwar herausgehoben, aber nicht völlig isoliert. Auch weltweit gibt es seit Jahrzehnten in vielen Ländern warnende Stimmen hinsichtlich ungelöster Risiken (vgl. Radkau 2011, S. 498–535). Zugleich ist jedoch der Energiehunger moderner Zivilisation so groß, dass die Mehrheit der gesellschaftlichen Verantwortungsträger in den Ländern, die Zugang zur energetischen Nutzung der Atomenergie haben, nicht auf diese verzichten zu können glaubt.

Fragt man nach rationalen Gründen für das Festhalten an der Atomenergie nach Tschernobyl und Fukushima, gibt es zwei mögliche Antworten: (1) Entweder wird das Restrisiko (zur Debatte um den Begriff „Restrisiko“ vgl. Kersten in diesem Band) weiterhin für so unwahrscheinlich gehalten, dass es vernachlässigt bzw. durch verbessertes Management hinreichend minimiert werden könne. Es wird darauf hingewiesen, dass die spezifischen Risiken von Japan nicht auf andere Länder übertragbar seien und sich somit nichts an der Risikoeinschätzung geändert habe. (2) Oder man bewertet die mit der Nutzung von Atomenergie verbundenen Risiken im Vergleich zu den möglichen Alternativen (Klimawandel durch fossile Energien, wirtschaftlicher Niedergang, energiepolitische Abhängigkeit etc.) als das kleinere Übel (vgl. Kümmel in diesem Band). Für die ethisch-wissenschaftliche Bewertung ist die entscheidende Frage, wie man die sehr unterschiedlich gearteten Risiken und Vorzüge der verschiedenen Energiesysteme gewichtet und ob man sie überhaupt gegeneinander verrechnen kann (Die Bundesregierung 2011, S. 29–34). Tschernobyl und Fukushima haben tief greifende Methodenprobleme der Technikfolgenabschätzung gezeigt. Sie fordern eine neue „Risikomündigkeit“ im Sinne umfassender Sicherheits- und Risikokonzepte für den Umgang mit komplexen, nicht linear berechenbaren „systemischen“ Entscheidungsproblemen (Renn 2008; Ostheimer und Vogt 2008; Renn 2011, S. 5 f.).

Für die gesellschaftlichen Präferenzen sind solche ethischen Argumente allerdings eher selten unmittelbar ausschlaggebend. Die Zukunft der Kernenergie ist deshalb nicht nur eine Frage der rationalen Bewertung von Risiken als vielmehr eine abhängige Variable der politischen Kontexte. So hat die Atomenergie beispielsweise in Russland seit den 1950er Jahren den Status eines Symbols von Fortschritt und Weltmachtstellung. Gerade weil der Glaube an die marxistische Ideologie Mitte der 1980er Jahre bereits erheblich verunsichert war, wirkte die Erschütterung des technischen Selbstbewusstseins in den sowjetischen Staaten durch die Ereignisse in Tschernobyl in hohem Maße destabilisierend: „Mochte man in den sowjetischen Betrieben noch so viel Schlendrian sehen, so glaubten Viele bis hinauf zu Gorbatschow noch lange an den befreienden Fortschritt durch Spitzentechnik. Es war vor allem dieser Glaube, der durch Tschernobyl im Kern getroffen wurde.“ (Radkau 2011, S. 512) Die entscheidenden Konsequenzen der Havarie von Tschernobyl in den osteuropäischen Ländern sind nach Radkaus Einschätzung nicht unmittelbar an der Energiepolitik zu messen, sondern liegen auf der Ebene des Vertrauensverlustes gegenüber dem politischen System insgesamt.

In je anderer Weise ist die Verknüpfung von Atomenergie mit Fortschrittssymbolik und Wirtschaftsmodellen auch in den USA, in Frankreich und anderen Industrienationen wirksam. Von daher scheint der Ausstieg aus ihrer Nutzung für die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Elite in diesen Ländern derzeit mehrheitlich undenkbar. In Deutschland dagegen ist die Atomenergie für viele Bürger zum Symbol der etablierten Macht und abgelehnter Fortschrittsmodelle geworden, an dem sich mit erstaunlicher Zähigkeit immer wieder massive zivilgesellschaftliche Proteste entzünden (vgl. dazu Uekötter in diesem Band).

2 Diskussionsfelder für eine Risikoethik nach Tschernobyl und Fukushima

2.1 Atomenergie und Klimaschutz

Ein Argument für Atomenergie, das seit einigen Jahren zunehmendes Gewicht in der ethischen Debatte gewonnen hat, ist ihr Beitrag zum Klimaschutz. Die Risiken des Klimawandels sind nicht weniger dramatisch als die der Atomenergie. Das besondere Gewicht der Klimaproblematik ergibt sich daraus, dass sie unabweisbar global ist und sie sich schon heute vor allem in Ländern des Südens für mehrere hundert Millionen Menschen als eine primäre Armutsursache erweist (Vogt 2010a).

Die Ethikkommission für sichere Energieversorgung lehnt die Vergleichbarkeit der beiden Risikokomplexe ab:

„Die Frage, ob das Klimaproblem größer oder kleiner ist als die Probleme in der Folge kerntechnischer Havarien, wird unterschiedlich beantwortet, aber im Grunde gibt es keine sinnvolle Vergleichsbasis. Es bleibt bei der ethischen Verantwortung, dem Klimawandel genauso ernsthaft entgegenzuwirken wie die Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten. Für den Zeitraum des Atomausstiegs stehen die klimapolitischen Ziele fest. Eine Vermutung, diese Ziele würden durch den Atomausstieg kompromittiert, ist nicht belegt“ (Die Bundesregierung 2011, S. 47).

Trotz aller methodischen Unzulänglichkeit der Versuche eines Vergleichs der Risiken von Atomenergie und fossilen Energien kann die normative Vernunft nicht völlig auf eine Gewichtung und damit die vergleichende Abwägung von Risiken und negativen Nebenwirkungen verzichten (Korff 1979, S. 44–48 und 78–97). Wendet man die umweltethischen Bewertungskriterien des Wissenschaftlichen Beirates Globale Umweltveränderungen (WBGU) der Bundesregierung auf den Vergleich fossiler und atomarer Energiesysteme an, ist der negative Befund bei fossilen Energiesystemen eindeutiger: Der WBGU fordert „Eingriffe, die die Existenz des Menschen gefährden, […] kategorisch zu unterlassen“ (WBGU 1999, S. 38). Eingriffe, die wichtige Stoff- und Energiekreisläufe auf globaler Ebene nennenswert beeinflussen, rechnet er ebenfalls zu den kategorisch abzulehnenden Handlungsweisen (WBGU 1999, S. 40). Alles Übrige sei nach kompensatorischen (und damit tausch- und verhandlungsfähigen) Verfahren zu entscheiden. Durch den exzessiven Gebrauch fossiler Energien sind unabweisbar „wichtige Stoff- und Energiekreisläufe auf globaler Ebene“ beeinträchtigt. Allerdings handelt es sich um eine graduelle und kollektive Risikosteigerung, so dass der Einzelne die Verantwortung auf andere abschiebt und die jeweilige Nutzung für sich genommen als harmlos ansieht.

Festhalten lässt sich: Aufgrund der global höheren Dringlichkeit des Klimaproblems darf der Ausstieg aus der Atomenergie nicht dauerhaft zu einer vermehrten Nutzung von Kohle, Öl und Gas führen. Da die Risiken jedoch nicht direkt vergleichbar sind, lässt sich aus der Klimaproblematik kein „Rabatt“ für die ethischen Anforderungen an die Sicherheit der Atomenergienutzung ableiten.

Darüber hinaus gibt es ein gewichtiges quantitatives Argument: Derzeit (2012) stammen weltweit ca. 13,5 % der Stromerzeugung aus Atomkraftwerken. Gemessen am weltweiten kommerziellen Einsatz von Primärenergie entspricht das etwa 5 % (Schneider 2011, S. 5; zu aktualisierten Daten vgl. http://www.world-nuclear.org/info/inf01.html). Nach einer umfangreichen OECD-Studie wird die Zahl der Atomkraftwerke trotz der Planungen von Zubauten in einigen Ländern mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren weiter abnehmen, da es an Expertise, Kapital und Planungssicherheit fehle (Deutsch et al. 2009, S. 42–59). Um nur ein Zehntel der fossilen Energie zu ersetzen, bräuchte man nach diesen Berechnungen mindestens 1.000 zusätzliche Atomkraftwerke (Schneider 2010, S. 5). Atomenergie kann demnach schon aus quantitativen Gründen keinen entscheidenden Beitrag zur globalen CO2-Reduktion leisten.

2.2 Verstoß gegen intergenerationelle Gerechtigkeit?

Das Problem der Endlagerung der radioaktiven Abfälle ist ungelöst. Solange die verbrauchten Brennstäbe nicht sicher und unzugänglich gelagert sind, setzt der verantwortliche Umgang mit ihnen eine stabile Gesellschaft voraus. Eine solche Stabilität müsste über mindestens 10.000 Jahre garantiert werden. Ein solches Versprechen widerspricht jeder historischen Erfahrung.

Unsere wissenschaftlich-technische Zivilisation ist eine labile und gefährdete Ausnahmeerscheinung auf diesem Planeten. Es ist frivol, in sie für unsere späten Nachkommen Gefahrenquellen einzubauen, die […] von unseren Nachfahren möglicherweise nicht beherrschbar sein werden (Spaemann 2011, S. 87).

Es sei Hybris, die Welt so zu „möblieren“, dass sie nur dann bewohnbar bleibt, wenn alle Menschen gut sind.

Die starken Worte von Spaemann sind umstritten. Moderne Zivilisation hat es häufig mit Prozessen und Risiken zu tun, deren Beherrschbarkeit wir nicht sicher vorhersagen können. Die Angemessenheit der Vokabeln „frivol“ und „Hybris“ hängt davon ab, ob man hier in einer unvergleichlichen Weise jedes Maß des Verantwortlichen überschritten sieht. In zeitlicher Hinsicht ist diese Annahme nicht unbegründet. Ebenso begründet ist die Ablehnung der Prämisse, dass „alle Menschen gut sind“. Die Aussage ist jedoch sehr pauschal und sollte anthropologisch wie ethisch differenziert werden, sonst ist die nicht mehr als ein nichtssagender Gemeinplatz. Zu beantworten wäre die Frage, welche Art von Gestaltungsverantwortung man auch dem moralisch gefährdeten Menschen im Kontext von Technik und Risikomanagement zutraut. Eine freiheitliche und technisch leistungsfähige Gesellschaft ist nicht ohne ein Grundvertrauen in individuelle Verantwortungsbereitschaft sowie gesellschaftliche Problemlösungsfähigkeit denkbar. Dieses Vertrauen muss jedoch immer wieder neu erworben werden.

Die 2008 bekannt gewordenen Probleme mit Wassereinlagerung und Einsturzgefahr im niedersächsischen Zwischenlager Asse II haben in Deutschland das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheitszusagen von Wissenschaftlern, Politikern und Kraftwerksbetreibern tief erschüttert. Auch auf internationaler Ebene zeigt sich die Problematik der Endlagerung von radioaktivem Abfall. Berichte über die Entsorgung von chinesischem Nuklear-Abfall in Tibet (vgl. Heischmidt 2010) haben für internationale Empörung gesorgt. Schweden fordert Aufklärung über die Entsorgung von sowjetischem Nuklearmaterial, das in der Ostsee versenkt wurde und nun eine Bedrohung für das natürliche Gleichgewicht des Binnenmeeres darstellt (BBC News vom 5.2.2010: Sweden wants explanation for Baltic nuclear „dumping“, http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/8499762.stm).

Solange das Problem der Endlagerung der radioaktiven Abfälle nicht gelöst ist, verstößt die Nutzung der Atomenergie gegen das Prinzip der Vorsorge. Vor diesem Hintergrund erscheint die rechtliche Genehmigung der Anlagen aus ethischer Sicht fragwürdig. Das Vorsorgeprinzip fehlt bisher beispielsweise weitgehend im Umweltrecht der USA (Radkau 2011, S. 518 f.). Darüber hinaus kann man in der Nutzung der Atomenergie eine Verletzung des Prinzips intergenerationeller Verantwortung, wie es in Deutschland und vielen anderen Ländern in der Verfassung verankert ist (GG Art. 20a, seit 1994), sehen. Hier ergeben sich allerdings große Interpretationsspielräume. Manche beurteilen gerade die Vernachlässigung weiterer Nutzung und Forschung als Verletzung dieses Prinzips (vgl. Riesenhuber 1984, S. 16 f.; Rauscher 2000, S. 13–15).

Wie immer man hier entscheidet, unabweisbar ist, dass die Begriffe Risiko, Wohlstand und Versorgungssicherheit, auf denen die Bewertung der Atomenergie wesentlich aufbaut, Werturteile implizieren und in substantieller Weise die „Metrik der Gerechtigkeit“ betreffen (vgl. Korff 1992; Hillerbrand 2011, S. 44–47; Renn 2011, S. 7). Die nachgeschaltete ethische Bewertung der Atomenergie, wie sie in Deutschland mit der von der Reaktor-Sicherheitskommission getrennten „Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung“ vorgenommen wurde, ist problematisch und hat zu einer verzerrten Diskussion geführt (Hillerbrand et al. 2011, S. 16). Wir brauchen generell eine engere Verzahnung von naturwissenschaftlich-technischer und ethisch-normativer Forschung (vgl. dazu im Blick auf Politikberatung Altenburg 2010, S. 270–289).

2.3 Unterschätzung des Risikofaktors Mensch

Der „Überschuss der kausalen Wirkungsgewalt über das Vorwissen“ (Jonas 1984, S. 20) erzeugt ein strukturell neues Verantwortungsproblem. Verantwortung muss sich in der technologisch geprägten Zivilisation angesichts komplexer Szenarien bewähren. Kennzeichnend für die entscheidungstheoretische Komplexität im Kontext der Atomenergie ist der hohe Grad an Nichtwissen über extrem geringe Wahrscheinlichkeiten und extrem hohe Schadensausmaße. Gängige Modelle von Zurechnung und Prognosen sind wegen der kontextabhängigen Wechselwirkungen zwischen Technik und ihrer gesellschaftlichen Einbettung kaum verwendbar. Eine Ethik der Verantwortung gewinnt unter den Bedingungen moderner Technologie die Züge einer Risikoethik, deren Logik nicht auf linearen Kausalketten beruht, sondern auf einem Rationalitätstyp des komplexen und systemischen Denkens (vgl. Ostheimer und Vogt 2008, S. 185–219; Renn 2011).

Der entscheidende Fehler der bisherigen Modelle ist – wie Tschernobyl gezeigt hat –, dass der Risikofaktor Mensch systematisch unterschätzt wurde: „Ursache des Unfalls war nicht das Versagen technischer Komponenten, sondern die falsche Einschätzung bei der Bedienung des Reaktors, also menschliches Versagen“ (Frenzel und Lengfelder 2011, S. 9). Man kann das menschliche Versagen in Tschernobyl auch politisch als Systemproblem mangelnder Transparenz und Reaktionsfähigkeit deuten: „Tschernobyl […] warf ein scharfes Licht auf die Schwächen eines ohnehin bröckelnden Systems“ (Radkau 2011, S. 502; zur Analyse der geradezu abenteuerlichen Vernachlässigung von Sicherheitsstandards im Kontext des Tschernobyl-Unfalls vgl. auch Dörner 1992). Auch in Fukushima war menschliches Versagen ganz wesentlich im Spiel, z. B. die mangelnde Wartung der Notkühlung mit Dieselmotoren oder die verzögerte Inanspruchnahme von professioneller Hilfe im Katastrophenmanagement.

2.4 Gefahr militärischen Missbrauchs

Terroristen oder Kriegsparteien können AKWs, die meist in Ballungsräumen stehen, zu Angriffszielen machen und damit die Wirkung ihrer Waffen exponentiell steigern. In den falschen Händen kann der Energielieferant Uran zur tödlichen Waffe werden. Selbst in Deutschland gibt es Lücken hinsichtlich der Frage nach Herkunft und Verbleib von Uran (vgl. z. B. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/034/1703448.pdf). Insbesondere bei Plutonium lässt sich der Brennstoffzyklus nur schwer vollständig kontrollieren.

Zudem ist es nicht ausgeschlossen, dass Staaten die zunächst friedliche Atomenergienutzung mit militärischen Zwecken verbinden. Die nicht zu Ruhe kommende Diskussion um die nuklearen Ambitionen des Iran ist hier als exemplarischer Fall zu sehen. Je problematischer die Sicherheitslage ist, desto stärker scheint das Interesse vieler Regierungen, ihr militärisch-politisches Gewicht durch Atomwaffen zu steigern (vgl. Heinrich Böll Stiftung 2011).

Diese Faktoren sind vor dem Hintergrund der „Enthegung des Krieges“ im frühen 21. Jahrhundert zu sehen. Die Terroranschläge des 11. September 2001, die die weltpolitische Situation tief greifend verändert haben, sind kein isoliert militärisches Problem, sondern Menetekel einer global veränderten Sicherheitslage. Die Vulnerabilität westlicher Gesellschaften durch ihre Energieversorgungssysteme sowie die unzureichende Kontrolle der Brennstoffzyklen sind sicherheitspolitische Grundprobleme, die in der Öffentlichkeit nicht hinreichend bewusst sind. Der Bau von Kernkraftwerken in politisch instabilen Ländern sollte grundsätzlich vermieden werden (vgl. Riesenhuber 1984, S. 16.21).

2.5 Perspektiven christlicher Ethik

In den christlichen Kirchen hat die kritische Betrachtung der Kernenergie eine starke Tradition: So fasste die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 4. November 1987 unter dem Eindruck von Tschernobyl den Beschluss: „Die nicht mit Sicherheit beherrschbaren Gefahren der gegenwärtigen Kernenergiegewinnung haben zu der verbreiteten Einsicht geführt, dass diese Art der Energiegewinnung mit dem biblischen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, nicht vereinbar ist.“ (zu Hintergründen und weiteren Äußerungen der Kirchen vgl. Vogt 2010b, S. 48–53; Schneider 2010b, S. 31–35; Forschungsinstitut für Philosophie Hannover 2010 sowie den Beitrag von Schüring in diesem Band). Die EKD hat ihre prinzipielle Ablehnung der Kernenergie mehrfach bestätigt. Ethische Stellungnahmen von katholischer Seite haben sich bis Fukushima mehrheitlich auf die Benennung von Bedingungen für eine verantwortbare Nutzung der Kernenergie beschränkt und betont, dass der schöpfungstheologische Gestaltungsauftrag nicht einseitig hinter dem der Bewahrung der Schöpfung zurücktreten dürfe (Feldhaus 1992, S. 287–347; Korff 1997, S. 78–84).

Monografische Auseinandersetzungen mit der Bewertung der Kernenergie finden sich auf katholischer Seite bei Wilhelm Korff (vgl. Korff 1979) sowie auf der Ebene des Kommissariates (Arbeitskreis Umwelt im Kommissariat der Deutschen Bischöfe 1996). Die recht differenzierte Broschüre des Kommissariates hat den Begriff „Brückentechnologie“ ins Spiel gebracht, womit gemeint war, dass die Atomenergie nicht mehr Hoffnungsträger künftiger Energieversorgung sei, sondern lediglich eine Übergangslösung auf dem langfristig notwendigen Weg zur vollständigen Versorgung mit erneuerbaren Energien. Dies war eine deutliche Distanzierung von den Einschätzungen der damaligen Bundesregierung. In dem elf Jahre später publizierten Expertentext „Klimawandel: Brennpunkt globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit“ wird die Kernenergie als Verstoß „gegen die Grundsätze der Vorsorge und der Verhältnismäßigkeit“ bewertet (DBK 2007, Nr. 54).

Im Konflikt zwischen den Risiken von Klimawandel und Kernkraft hat sich das Zentralkomitee der Katholiken (ZdK) deutlich positioniert:

Die Gewinnung von Kernenergie ist zwar im Gesamtzyklus emissionsärmer als die Energieerzeugung durch Kohlekraftwerke. Angesichts der Risiken, der ungelösten Problematik der Endlagerung und der Gefahr der Verbreitung von Atomwaffen stellt die Kernenergie jedoch längerfristig keine verantwortungsvolle Möglichkeit dar, die Probleme des Klimawandels zu lösen. Eine Verlängerung der Laufzeiten ist deswegen nicht zu befürworten (ZdK 2008).

Auch die EKD hat sich in der Synodenkundgebung „Klimawandel – Wasserwandel – Lebenswandel“ vom 5. November 2008 eindeutig gen eine klimapolitisch motivierte Neubewertung der Atomenergie ausgesprochen:

Kernenergie ist kein verantwortlicher Beitrag zum Klimaschutz und behindert den notwendigen Umbau der Energieversorgung. Vor allem sind ihre Risiken – insbesondere die nicht geklärte Endlagerung und das hohe Schadenspotential – nach wie vor ungelöst (www.ekd.de/presse/pm²76_2008_synode.html).

Als Reaktion auf das Reaktorunglück 2011 hat sich die Bayerische Bischofskonferenz rasch und entschieden zu Wort gemeldet:

Die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima hat einmal mehr eindringlich die Grenzen der menschlichen Macht aufgezeigt. Das Restrisiko der Atomenergie ist unkalkulierbar, die Frage der Endlagerung ist ungeklärt und darf den nachfolgenden Generationen nicht aufgebürdet werden. Die bayerischen Bischöfe sehen in der Atomkraft keine dauerhafte Perspektive für die Energieversorgung. Der Ausstieg aus dieser Technologie muss so schnell als möglich vollzogen werden, die Phase des Einsatzes von Nuklearenergie als so genannte Brückentechnologie muss so kurz als möglich sein (vgl. http://www.erzbistum-muenchen.de/page007538.aspx?newsid=21484).

Die Päpstliche Akademie der Wissenschaften befürwortet hingegen seit vielen Jahren die friedliche Nutzung der Atomenergie und hat dies auch nach Fukushima bekräftigt.

Als Resümee ist festzuhalten: Es gibt in den Kirchen unterschiedliche Positionen, insgesamt überwiegt jedoch bei weitem die kritische Sichtweise. Diese hat – beispielsweise über die Verbindung mit der Friedensbewegung bis hin zur Ethikkommission der Bundesregierung nach Fukushima – erhebliche zivilgesellschaftliche Wirkung entfaltet (Radkau 2011, S. 209–229). Dabei ist christliche Ethik keinesfalls mit einer prinzipiellen Risikoscheu gleichzusetzen (vgl. Ostheimer und Vogt 2008, S. 212–216). Zumindest für die biblische Tradition sind – wie etwa die Erzählung von Abraham exemplarisch verdeutlicht – eher die Option für Entwicklung und das Wagnis des Aufbruchs zu neuen Ufern typisch. Kontrovers wird in den Kirchen diskutiert, welchen Stellenwert die Bereitschaft zum Kompromiss für die Ethik und insbesondere für die Bewertung der Kernenergie haben soll (vgl. Korff 1979; Feldhaus 1992; Schneider 2010b). In der Ethikkommission, die von Bundeskanzlerin Angela Merkel als Reaktion auf Fukushima im Frühjahr 2011 gegründet wurde und in der die Kirchen stark vertreten waren (vgl. Die Bundesregierung 2011), legte der Vorsitzende Klaus Töpfer Wert auf die Feststellung, dass diese nicht grundsätzlich zu entscheiden habe, ob sie Atomenergie für verantwortbar halte oder nicht, sondern sehr viel begrenzter, wann und wie Deutschland mit den geringsten negativen Nebenwirkungen aus ihr aussteigen könne (im Gespräch mit M. Vogt, dokumentiert im Film zum Expertengespräch: www.acatech.de/energiedialog). Dies ist für die Anwendbarkeit der ethischen Methode der Güterabwägung insofern maßgeblich, als ihre Notwendigkeit für Ausstiegsszenarien unabweisbar ist.

Das ethische Dilemma zwischen den negativen Nebenwirkungen von Kernenergie und fossilen Energien wird von den Vertretern christlicher Ethik mehrheitlich nach keiner Seite hin aufgelöst, sondern mit einem Verweis auf die Notwendigkeit, das globale Wohlstandsmodell insgesamt zu hinterfragen, beantwortet (vgl. Vogt 2010b; Forschungsinstitut für Philosophie Hannover 2010, S. 2–4.9 f.). Die Bewertung der Kernenergie hängt letztlich davon ab, wie man Wohlstand und damit die Leitziele gesellschaftlicher Entwicklung denkt (vgl. Hillerbrand 2011 sowie den Beitrag von Hillerbrand in diesem Band). Darum soll es im Folgenden gehen.

2.6 Abhängigkeit der Bewertung von Wohlstandsmodellen

Ein klimaverträglicher Ausstieg aus der Atomenergie ist nur möglich, wenn man das Konzept von Wohlstand modifiziert und die ökonomisch-gesellschaftliche Entwicklung rechzeitig daran anpasst. Energie und Geld sind die beiden Schlüsselfaktoren für einen Entwicklungspfad, der schon heute eher den Umsatz als Lebensqualität für alle steigert. Eine Transformation unseres Wohlstandsmodells ist die Voraussetzung für nachhaltige Lösungen der Energiefrage. Billige Energie ist – ähnlich wie billiges Geld (Vogt 2011, 77 f.) – ein Mittel, um kurzfristiges und schnelles Wachstum zu ermöglichen. In beiden Bereichen sind damit jedoch vielfältige Ambivalenzen verbunden. Maßhalten fällt den Menschen der modernen westlichen Zivilisation allerdings schwer. Es wird erst dann Akzeptanz finden, wenn deutlich wird, dass mit ihm auch substantiell neue Chancen von Lebensqualität und Entwicklung verbunden sind (vgl. Jackson 2011). Die „Ethikkommission sichere Energieversorgung“ hat diese Debatte fast vollständig ausgeblendet (Die Bundesregierung 2011). Künftige Aufträge für Politikberatung zur Energiewende sollten hier auf eine Horizonterweiterung achten (Altenburg 2010, S. 281–289).