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Nr. 2820

 

Der Geniferen-Krieg

 

Unterwegs in der Synchronie – sie bevölkern das Schiff des Atopen

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben Teile der Milchstraße besiedelt, Tausende Welten zählen zur Liga Freier Terraner. Man treibt Handel mit anderen Völkern der Milchstraße, es herrscht weitestgehend Frieden zwischen den Sternen.

Doch wirklich frei sind die Menschen nicht. Die Galaxis steht unter der Herrschaft des Atopischen Tribunals. Seine Gesandten behaupten, nur sie könnten den Frieden in der Milchstraße sichern.

Wollen Perry Rhodan und seine Gefährten gegen diese Macht vorgehen, müssen sie herausfinden, woher die Richter kommen. Ihr Ursprung liegt in den Jenzeitigen Landen, in einer Region des Universums, über die bislang niemand etwas weiß.

Dorthin unterwegs ist der unsterbliche Arkonide Atlan mit einem ehemaligen Richterschiff, der ATLANC, und seiner Besatzung. Es ist eine überaus seltsame Reise, und in deren Verlauf droht mittlerweile DER GENIFEREN-KRIEG ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide entdeckt das Unerwartete.

Vogel Ziellos – Der Singuläre will ein Genifer werden.

Virginie Ziellos – Die Geniferen-Mutter macht sich Sorgen.

Lua Virtanen – Die Unschläferin sorgt für Unruhe.

1.

Drachenflug

An Bord der ATLANC

 

Die Wellen des Meeres rollten lautlos an den Strand. Jede neue Woge schob grünen Schaum vor sich her, trieb ihn das Ufer hinauf und hinterließ glitzernde, feuchte Spuren. Die Sonne warf einen Lichtsteg über das aufgewühlte Wasser. Am Ende des Stegs, in rotes Glühen getaucht, stand ein Mann in weißem Anzug. Er erweckte den Eindruck, als wollte er geradewegs über den Weg aus Sonnenbalken hinaus auf den Ozean spazieren.

Virginie Ziellos presste eine Hand gegen die transparente Wand und starrte auf den Mann, von dem sie sich so viel erhoffte. Ihre Handfläche war vor Nervosität feucht, rutschte an der Scheibe herunter.

Hinter ihr verlagerte Shukard Ziellos sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. An seinem Armband läuteten Glöckchen. Im Gegensatz zu seinen Brüdern fiel es ihm schwer, still zu stehen. »Was ist, Mugi? Gehen wir rein?«

Virginie drehte sich zu ihren Söhnen um und betrachtete sie. In den Gesichtern der Drillinge fand sie die gleiche Aufregung, die auch sie gepackt hatte. Vogels Flaumfedern standen am Schnabel ab, Shukards Lippen klafften einen Spaltbreit auseinander, die Haut war gerötet, und der sonst immer gelassene Anassiou kaute auf seiner Unterlippe.

Es war ein großer Tag.

Der wichtigste ihres bisherigen Lebens.

»Noch nicht.« Sie nestelte an den Magnetverschlüssen der Tasche, die an einem schmalen silbernen Gürtel hing und ihre Hüfte rockartig umschloss. In einer der zahlreichen Taschen steckte der Plastwürfel mit den beiden Locken von Anassiou und Shukard sowie einer violetten Flaumfeder Vogels – ihr Glücksbringer.

Die Berührung beruhigte Virginie. »Ich möchte, dass ihr etwas versteht. Geniferen sind etwas Besonderes. Zwar braucht die ATLANC für den Betrieb in der Synchronie einen Piloten wie Atlan – jemanden, der hinter den Materiequellen war –, aber für den Alltagsbetrieb sind Geniferen von höchster Wichtigkeit. Sie tarieren das Schiff für Lebewesen aus, kontrollieren das Lebenserhaltungssystem, koordinieren die komplexen Subsysteme ...«

Sie hielt inne. Obwohl die Jungen aufmerksam zu ihr schauten, merkte sie, dass sie ungeduldig wurden. Alles, was Virginie bisher gesagt hatte, wussten ihre Kinder. Auch wenn sie erst zehn Jahre alt waren, kannten sie die Strukturen an Bord ebenso gut wie sie.

»Und?«, fragte Shukard. Er zupfte am geflochtenen Lederband, das ihm einer seiner Freunde geschenkt hatte. Die Glöckchen bimmelten leise.

Virginie ging in die Knie, sodass sie den Jungen von unten in die Gesichter blickte. »Und es ist eine Ehre, dazuzugehören. Ein Genifer zu sein. Ihr habt sicher schon gehört, dass nur ein Viertel es schafft. Ich weiß, dass ihr euer Bestes geben werdet. Aber falls ihr scheitert ... bei der Prüfung oder später ... Oder falls ihr vorab von Koseki eine schlechte Prophezeiung erhaltet ...« Sie streckte die lackschwarze Hand aus. »Wir sind Ziellos. Eine Familie, die füreinander da ist. Egal was passiert und was die anderen sagen.«

Shukard legte seine Hand auf ihre, dann folgte die von Anassiou. Zuoberst kamen Vogels grünliche Finger, aus denen vereinzelt gelbe und blaue Federn sprossen.

»Familienbande«, sagte Virginie.

»Familienbande«, echoten zwei Münder und ein klappernder Schnabel.

Virginie zog ihre Hand zurück und stand auf. »Los.«

Gemeinsam traten sie in die Horizonthalle. Das Rauschen des Meeres schlug ihnen entgegen. Wind fuhr in Virginies rotes Haar und wehte es vor ihre Augen. Er brachte den Geruch von Salz mit.

Der Mann im weißen Anzug winkte ihnen zu.

Vogel legte den Kopf ruckartig schief. »Glaubst du echt daran, Mugi?«

»Ja.«

Anassiou und Vogel rannten Richtung Meer. Auch Shukard wollte zum Ufer, doch Virginie hielt ihn an der Schulter fest. »Du noch nicht.«

»Warum?« Er presste die Lippen zusammen.

»Gib mir den Antigravheber.«

»Mugi, ich weiß nicht, was ...«

»Den Antigravheber! Sofort. Ich werde nicht zulassen, dass du betrügst, damit dein Drachen am höchsten fliegt.«

»Wieso meinst du, ich hätte einen?«

»Weil SHUSU mir sagte, dass einer fehlt.«

»Du benutzt den MENT-Genius, um mir nachzuspionieren?« Die Entrüstung in Shukards Stimme klang echt. Weniger überzeugend war die aufgesetzte Unschuldsmiene.

Virginie streckte fordernd die Hand aus. »Ich zähle bis drei. Dir ist klar, was das heißt. Schlittenentzug. Eins, zwei ...«

Shukard machte ein finsteres Gesicht. Er zog den Antigravheber aus der Tasche, gab ihr das Gerät und stürmte den anderen nach.

»Ganz der Vater«, murmelte Virginie. Um Shukard machte sie sich die meisten Sorgen. Er war clever – und nutzte jede Chance, selbst wenn er die Regeln dafür beugen musste. Doch ein angehender Genifer musste sich mehr als jeder andere an die Regeln halten, um das gläserne Gefüge an Bord zu schützen.

Sie folgte den Jungen ein Stück und setzte sich in den Sand. Ihr Brustkorb fühlte sich eng an. Auch wenn sie immer zu ihren Söhnen stehen würde, egal welchen Weg sie an Bord einschlugen – sie wünschte sich so sehr, dass alle drei es schafften. Dass ihre Kinder Geniferen wurden. Wie sie. Wie ihre Mutter und deren Mutter zuvor.

Als hätte Koseki ihre Gedanken gelesen, zwinkerte er ihr zu.

Ja, sie glaubte daran. An Takeru Koseki, den Transterraner im weißen Anzug und seine Voraussagen. Viele an Bord waren überzeugt, dass Koseki eine Parafähigkeit hatte. Virginie war unsicher, doch Koseki hatte bisher immer richtig gelegen. So viel Zufall war unmöglich.

Falls es überhaupt Zufälle gab.

»Bitte«, flüsterte sie. »Beim ANC und allen verlorenen Welten. Lass die Drachen fliegen. Stolz und hoch.«

Ihr Blick fiel auf ein Symbol, das jemand ganz in ihrer Nähe mit Muscheln in den Sand gelegt hatte. Ein Genolutions-Zeichen. Angewidert wischte sie die sich verbreiternde Spirale auseinander. Verdammte Markleute. Mussten sie ihren Unrat überall hinterlassen?

Als Virginie aufsah, holte Koseki gerade die Drachen. Es waren stolze Gebilde, die anmuteten wie Papierfische. Kois hießen die Tiere, die dafür Vorbild gewesen waren. Auf den weißen Körpern leuchtete ein scharlachroter Punkt. Ob er auch eine Bedeutung haben mochte, ähnlich dem verhassten Zeichen der Genolution?

Virginie schob Sand über die Muscheln. Dieser Tag war zu wichtig, um an die Unstimmigkeiten an Bord zu denken.

Mit flachem Atem beobachtete sie Koseki, der den Kindern die Handhabung der Drachen erklärte. Kurz darauf jagten ihre Jungen los. Sie hielten die einen Meter langen Kois aus Kunsttuch hoch über die Köpfe und suchten sich einen Platz in der Halle.

Koseki hob beide Arme und zeigte zum Himmel. Der Ton eines langen Atemzugs vermischte sich mit dem Rauschen des Meeres. Es war Kosekis spezielles Lied. Eine Komposition aus alten Tagen, die an leibhaftige Drachen mit riesigen Lungen denken ließ.

Anassiou und Vogel schienen davon beeindruckt und zögerten. Shukard dagegen winkte heftig mit dem Drachen. Koseki kam zu ihm und half ihm, den Koi-Körper in den Wind zu bringen, während Shukard die Schnur festhielt.

Virginie zog die Knie an. Shukards Drachen strebte fort. Er stieg auf.

Ihr Sohn lachte, ganz vom Koi-Flug gefangen. Die Schwanzflosse zuckte in der Luft.

Virginie hätte eine Menge darum gegeben, sofort zu wissen, was Takeru Koseki in diesem Flug erkannte. Welche Zukunft las er aus der Bahn?

Nach Shukard kam Vogel an die Reihe. Sein Koi hatte einige Startschwierigkeiten, schwebte dann jedoch stolz und anmutig im Wind, die Barteln voraus.

Koseki sagte etwas zu Vogel, das Virginie nicht verstand.

An Anassious Drachen zerrte von Anfang an ein starker Wind. Er stieg rasch auf und flog Richtung Meer. Anassiou folgte ihm über die Wellen. Er rannte durch die Holoprojektion, als liefe er auf dem roten Lichtsteg, den die Sonne auf die Schaumkronen projizierte.

Virginie drückte ihre Fingernägel in die Handflächen. Irgendwo dort musste die Wand der Halle sein, in fünfzig, höchstens sechzig Metern. Sie wollte Anassiou zurückrufen, da bemerkte sie, wie blass Koseki wurde. Der Drachenmeister fixierte den Koi mit weit aufgerissenen Augen. Hätte ein Toloceste ihm eröffnet, dass es an Bord keinen Sauerstoff mehr gab – er hätte nicht entsetzter aussehen können.

Erschrocken stand Virginie auf. »Anassiou! Komm zurück!«

Der Junge hörte sie nicht. Inzwischen war er am anderen Ende der Halle. Ein Stück vor ihm zog sich ein hauchfeiner, dunkelsilbriger Faden durch die Luft, den Virginie nur erkannte, weil er im Licht aufleuchtete, als hätte er Substanz.

»Anassiou!«, rief nun auch Koseki. »Weg vom Dimensionsgarn!« Er eilte dem Jungen nach, gefolgt von Vogel und Shukard. Virginie lief erschrocken hinterher.

Der Drachen am Himmel wendete – ein treuer Diener, der den Befehlen seines Meisters folgte. Anassiou kam zurück. Der Koi glitt tiefer und tiefer, fiel schließlich leicht wie ein Blatt am Ufer in den Sand.

»Wie waren wir?«, fragte Shukard.

Vogel verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei kniff er ein Auge zu, was das Vogelartige in seinem Gesicht verstärkte. Er schien nicht recht an Kosekis Gabe zu glauben.

»Oh!« Koseki lächelte. »Großartig. Alle drei. Ihr werdet Geniferen werden und eurer Mutter viel Freude machen.«

Die Jungen jubelten. Shukard sprang in die Höhe und stieß die Faust in die Luft. »Wir machen die anderen Sektoren fertig! Drei Geniferen aus Sektor Z! Die Markleute und Schiffsbürger werden sich in die Hintern beißen vor Neid!«

»Was ist mit Anassiou?«, fragte Virginie.

Der Drachenmeister strich den Jackensaum umständlich glatt. »Er wird einen großen Aufstieg innerhalb der kommenden Gruppe der Geniferen erleben.«

»Klar!«, Shukard boxte seinem Bruder in die Rippen, dass der ächzte. »Unser Star. Wie immer. Wir machen die anderen platt!«

Normalerweise hätte Virginie Shukard zurechtgewiesen. Zu viel Konkurrenz unter der nachfolgenden Generation schadete, besonders, weil die Situation an Bord angespannt war. Aber sie war in Gedanken ganz bei Kosekis entsetzter Reaktion auf Anassious Drachenflug.

Was verbarg er vor ihr? Warum mied er ihren Blick?

»Holt die Drachen!«, wies sie ihre Söhne an.

Sobald die drei davongestoben waren, trat sie zu Koseki. »Was hast du wirklich gesehen, Drachenmeister? Warum bist du erschrocken, als wäre alles Wasser an Bord verdampft?«

»Ich ... Was ich schon sagte. Anassiou wird einen großen Aufstieg ...«

»Lüg nicht! Ich habe die drei Väter der Drillinge allesamt verloren. Ich bin Kummer gewohnt.«

Koseki nickte langsam. Die Falten in seinem Gesicht schienen sich in den letzten Sekunden vertieft zu haben. Dunkle Schatten lagen unter den schmalen Augen. Er berührte Virginies lackschwarze Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, da Virginie den Arm zurückzog.

»Anassiou wird sterben. Bald, viel zu früh für ihn. Nicht sofort, nicht in den nächsten Monaten, aber auch nicht erst als Erwachsener.«

»Sterben? Was genau hast du erkannt?«

»Mehr weiß ich nicht. Es tut mir leid. Ich hätte dir gerne bessere Nachrichten überbracht.«

»Ist ... ist es abzuwenden?«

»Wer versteht schon die Zeit und ihre Gesetze? Besonders da, wo wir sind?«

Virginie war, als hätte der Sand sich geöffnet und einen Schacht bis zur Synchronie gebildet, in den sie haltlos stürzte.

Schwerfällig wandte sie sich ihren Söhnen zu. Sie mussten weiter, zu ihrer Prüfung.

Es war ein großer Tag.

Der wichtigste ihres bisherigen Lebens.

Shukard und Vogel hielten ihre Kois wie Kämpfer voreinander, die bereit waren, aufeinander loszugehen.

Virginie hatte Mühe, ihre Stimme zu beherrschen. »Kinder, gebt Koseki die Drachen zurück.«

»Nein«, sagte Koseki. »Ihr dürft sie behalten.«

2.

Kuhlengang

 

Vogel folgte seiner Mutter und den Brüdern durch den Gang, der in die Zentrale führte. Sein Magen war ein Klumpen aus Eis, der Schnabel fühlte sich gefroren an.

Takeru Koseki war ein Scharlatan. Er sagte allen, was sie hören wollten. Mit jedem Schritt, den Vogel näher an den Prüfungsort machte, wurde er überzeugter, dass er versagen würde.

Anassiou fiel alles zu. Shukard gewann auf seine Weise, wenn es sein musste mit Tricks. Aber er? Er hatte weder das Talent des einen noch den Mut des anderen, weder das Charisma noch den Charme.

Vor ihnen glitt ein Teil der Wand zur Seite und gab den Weg in das Herz des Sektors frei – in die Zentrale der ATLANC.

Es war das erste Mal, dass Vogel das Zentrum betrat. Die schwarze Kommandosphäre hing wie eine zwanzig Meter durchmessende Drohung in der Luft über der Pilotengrube. Vogel duckte sich unwillkürlich beim Anblick des gewaltigen, dunklen Monstrums. Er wollte nach Mugis Hand greifen, sie bitten, ihn wegzubringen.

Das war ein Irrtum.

Er gehörte nicht hierher.

»Sucht euch einen Platz«, sagte seine Mutter. Sie zeigte zu den Sitzgruppen an der Wand des runden Raums. Vor ihnen wuchsen je vier Stühle aus dem Boden wie eine Pilzformation auf der Pflanzanlage in Sektor A. Über ihnen, entlang der Wände, ragten drei galerieartige Plattformen in den Raum unter der alles dominierenden Kugel.

Dort würden die Ehrengäste und nächsten Angehörigen der Zeremonie beiwohnen.

Andere Kinder waren bereits dabei, Plätze anzusteuern.

»Da lang!« Shukard schoss vor. Er stürmte auf eine Sitzgruppe zu, neben der ein hell schimmernder Bereich auf dem Boden markiert war. Vogel kannte den besonderen Abschnitt aus Holos. In diesem Areal stellte Guineva Sternenwaag bei ihren seltenen Avatar-Besuchen den Schlitten ab, in dem sie residierte. Eine schwebende Maschine aus Technik, die den Klausen der Tolocesten nachempfunden war.

Eben dieser Schlitten faszinierte die Brüder, allen voran Shukard, der selbst an einem einfachen Modell ohne Antigrav baute. Natürlich fehlte der Arbeit seines Bruders das wesentlichste Element – die Orientierung in den Synkavernen, die niemand außer den Pionieren und Tolocesten betrat.

»Es ist bloß ein Holo-Avatar«, sagte Anassiou. »Sie wird nicht persönlich kommen, das ist ihm klar, oder?«

Vogel hob die Schultern und blieb die Antwort schuldig. Auch ihn begeisterte Sternenwaag. Sie war das Inbild einer Pionierin – eine CyboGen-Transterranerin und ein großes Rätsel.

Der silberne Zeremonienanzug kratzte auf der Haut. Er fühlte sich falsch an.

Shukard setzte sich auf den Stuhl, der dem schimmernden Bereich am nächsten stand. Noch war kein Holo-Schlitten dort geparkt, doch Guineva Sternenwaag würde in Form eines Avatars kommen.

Sie würden alle da sein. Vertreter aus jedem Sektor – persönlich oder als Holoprojektion. Transterraner, Pioniere, Ladenhüter und die autonomen Schiffsbürger.

Zwei bullige Jungen näherten sich von der anderen Seite. Vogel kannte sie flüchtig. Tertius und Quintus Schattenriss. Ihr Oheim Mars Schattenriss flog eben auf einem Schwebesessel zur Plattform der Angehörigen und steuerte auf Mugi zu.

Tertius baute sich vor Shukard auf. Seine Statur erinnerte an ein Quadrat. »Das ist mein Platz. Verschwinde!«

Shukard verschränkte die Arme vor der Brust. »Vergiss es, Schattenriss! Ich war zuerst da.«

Quintus schob sich Schulter an Schulter neben seinen Bruder. Beide hatten fein ausgeformte Gesichtszüge, die im Kontrast zu ihren bulligen Körpern standen. Sie trugen die langen, schwarzen Haare zur Feier des Tages zurückgebunden.

»Wir sind zu zweit«, sagte Quintus drohend. »Hau schon ab!«

»Und wir sind drei«, mischte Anassiou sich ein. Seine Stimme klang heiter. »Einer mehr als ihr, wenn man zählen kann. Wie wäre es, wenn ihr abhaut?«

Tertius' braune Augen verengten sich. Er wollte etwas entgegnen, doch in diesem Moment glitt die Tür der Zentrale auf, und eine Frau erschien auf der Schwelle.

»Komm!«, zischte Quintus. »Die Alte ist da.«

Vogel rieb die Schnabelhälften aneinander, dass es knirschte. »Die Alte?«, echote er ungläubig.

Nie hätte er gewagt, Thora Hwang derart abschätzig zu bezeichnen. Sicher, die Geniferin war alt: mindestens hundertzwanzig Standardjahre. Aber sie war die Beste, die die ATLANC zu bieten hatte, genialer noch als Mugi – und das bedeutete etwas.

Anassiou stieß ihm warnend den Ellbogen in die Rippen. Vogel setzte sich und starrte auf die siebenköpfige Kommission, die soeben Einzug hielt, angeführt von der weißhaarigen Thora Hwang. Sie trug ein weites, silbernes Gewand und wirkte größer, als sie tatsächlich war. Ihr haftete ein beinahe arkonidischer Stolz an. Hieß es nicht, sie wäre mit Atlan da Gonozal verwandt?

Sicherlich war das Gerede so leer wie Takeru Kosekis Voraussagen.

Hinter Hwang ging, einem Zerrbild gleich, die Gen-Architektin Oona Fahrenhayd. Sie war jung, schlank und hochgewachsen. Mit der lackschwarzen Haut und den runden Ohren hatte sie Ähnlichkeiten mit Mugi. Ein verkümmertes Emot saß auf ihrer Stirn über den goldenen Augen.

Diese Augen.

Einen Moment vergaß Vogel seine Furcht. In Oona Fahrenhayds Iris schien flüssiges Metall zu wallen.

Hinter ihr folgten fünf weitere Kommissionsmitglieder, Männer und Frauen. Sie bezogen Stellung um die Pilotengrube mit den drei Liegen, die auf dem Boden der Kuhle auf die Prüflinge warteten. Drei der Geniferen würden die Plätze wieder einnehmen, wenn die Zeremonie beendet war.

Sobald die Kommission dort wie eine Gruppe aus Kommandantenstatuen stand, öffnete sich der Zentralezugang erneut und die Hohen traten ein. Sie waren zu dritt: Tycho Boltsman, Deena Ledoyen und Atlan da Gonozal.

Vogel schluckte. Während Deena Ledoyen wie das blühende Leben aussah, war Atlan da Gonozal ein weißhaariges Gespenst, in dessen Augen es loderte. Die ausgezehrte, hagere Gestalt schien von einem unbeugsamen Willen gelenkt zu werden, der vermutlich auch ein Skelett vorangetrieben hätte.

Obwohl Tycho Boltsman muskulös und deutlich breiter als der Kommandant der ATLANC war, war es Atlan da Gonozal, der das Bild der drei Neuankömmlinge durch seine Ausstrahlung dominierte und seine Begleiter zum Verblassen brachte.

»Wo ist Sternenwaags Avatar?«, flüsterte Shukard. »Und was treiben die Hängeköpfe?«

»Still!«, sagte Anassiou.

Vogel reckte den Kopf, den er weiter drehen konnte als die meisten Lebewesen an Bord. Er suchte nach den Hängeköpfen, den Tolocesten. Zu den letzten Zeremonien und Feiern war je einer von ihnen gekommen. Wie Shukard hätte Vogel sie gerne leibhaftig gesehen.

Die Tür öffnete sich ein drittes Mal, und der silberne Holo-Schlitten Guineva Sternenwaags schoss auf die Kommandosphäre zu, als wollte er sie rammen. Erst wenige Zentimeter vor dem Hindernis stoppte die Projektion und wendete elegant in der Luft.

Was für ein Auftritt!

»Ja!«, jubelte Shukard.

Mehrere Kinder sprangen auf.

Der Schlitten schimmerte in kaltem Blau. Dunkelsilbrige Fäden wehten hinter ihm her und vergingen zu Nebel, der sich auflöste. Sie waren dem Dimensionsgarn nachempfunden, das sich überall auf der ATLANC fand. Das Gerät selbst umschloss Guineva Sternenwaag wie eine Kapsel aus leichtem Gestänge und Instrumenten. Lichter blitzten im Inneren auf. Der Schlitten senkte sich, steuerte den Platz neben Shukards Sitz an.

Kaum gelandet, glitt ein Teil des Gestänges zur Seite. Guineva Sternenwaag sprang heraus, als wäre sie leibhaftig vor Ort. Sie war größer als Atlan und schloss kurz vor der Schwebeplattform zu den Hohen auf. Ihr Körper war komplett mit Kunstmetall umhüllt, wie es bei vielen der Pioniere üblich war. Statt eines Gesichts trug sie eine bronzefarbene Maske.

Atlan da Gonozal trennte sich von der Gruppe. Mit erstaunlich kräftig wirkenden Schritten steuerte er auf das Antigravfeld zu, das ihn zur Kommandosphäre trug. Während sein ausgezehrter Körper hinaufschwebte, veränderte die Kugel ihre Farbe und wurde transparent.

Für Vogel war es eine ungeheure Erleichterung. Das Gefühl der Bedrückung wich. Er suchte Blickkontakt zu seiner Mutter, die ihm aufmunternd zunickte.

Nachdem alle ihre Plätze eingenommen hatten, ergriff die alte Geniferin Thora Hwang das Wort. »Seid willkommen zu dieser Prüfung, die nach fünf Jahren wieder stattfinden kann. Jeder, der sie besteht, wird künftig in Sektor Z leben, im Geniferenhorst. Dort sollt ihr ausgebildet werden, damit unsere Reise weitergeht. Ich könnte euch viel über die Wichtigkeit eurer Aufgabe erzählen, doch ich weiß, wie nervös ihr seid. Deshalb wollen wir beginnen. Ich rufe die Namen der Kinder auf, die geprüft werden. Begebt euch nach der Nennung unmittelbar zu mir und legt euch auf eine der Liegen.«

Die Nervosität erreichte einen neuen Höhepunkt. Vogel zitterte.

Gleich würden die Ersten den Kuhlengang antreten, die alles entscheidende Prüfung. Sie würden hinunter in die Vertiefung müssen. Hoffentlich gehörte er zu den Letzten. Er brauchte Zeit, sich zu sammeln.

»Matren Gendoren«, sagte Thora Hwang. »Lua Virtanen und Vogel Ziellos.«

Nein. Nicht sein Name.

Vogels Füße klebten am Boden. Seine Flaumfedern spreizten sich, standen senkrecht vom Gesicht ab.

Tertius Schattenriss kicherte gehässig. »Hast du in eine Energiezufuhr gegriffen?«

Gehetzt schaute Vogel zum Ausgang. Er überlegte wegzurennen, sich im Quartier zu verstecken.

»Nimm!« Shukard rollte sich das lederne Bändchen vom Handgelenk und hielt es Vogel hin. »Du schaffst das.«

Die oberste Geniferin winkte ungeduldig.

Vogels Hand umschloss das Leder. Die Glöckchen bimmelten leise und tröstlich. »Danke«, flüsterte er. Ihm war, als strömte Wärme aus dem Band.

Stockend ging er auf die Grube zu, stieg hinein und legte sich wie die anderen beiden Kinder auf eine der viel zu großen Liegen.

Thora Hwang reichte ihm die Haube.

Sein Kuhlengang begann.

 

*

 

Vogel setzte die Haube auf. Sie kratzte sogar unangenehmer als der silberne Anzug. Das grobe Gewebe war zu weit, ein Fremdkörper, der ihm über die Stirn bis zum Schnabel fiel und seine Federn auszureißen drohte. Allmählich zog sich das Gebilde behutsam zusammen, passte sich der Kopfform an, ohne ihm eine einzige Feder auszuzupfen.

Die Haube verband ihn mit dem Hauptrechner der ATLANC. Sie zeigte ihm ein Bild, das ihn verwirrte: Impulse aus Licht, Tunnel und flimmernde Schächte. Gleichzeitig vermittelte sie ihm den Eindruck, körperlich vorhanden zu sein. Es war, als hätte das Schiff sich unendlich vergrößert, während Vogel klein geblieben wäre. So konnte er durch schmalste Ritzen kriechen oder sogar wie ein Funkimpuls durch die Luft jagen, wenn er das wollte.