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Zwei Eckpfeiler der Freundschaft

Für Álvaro Pombo, ein Meister und Freund der lachen kann.

Für Begoña Martínez Santos, eine sanfte und zugleich starke Frau wie Petra Delicado

ISBN 978-3-492-98227-6

März 2015

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2015

© 2009 Alicia Giménez-Bartlett

Titel der spanischen Originalausgabe:

»El Silencio de los Claustros«, Ediciones Destino, S.A. 2009

© Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2011

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Kutlayev Dmitry / shutterstock.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 2. Auflage 2011 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1

Ich fand sie auf dem Sofa. Das offene, zerzauste Haar hing ihr übers Gesicht. Ihr Kopf auf dem großen Kissen war unnatürlich verrenkt. Die ausgestreckten Beine ragten nackt und weiß nach oben. Der Rock hatte sich um ihre Hüften gelegt. Verblüfft rief ich: »Marina! Was, zum Teufel, machst du da?«

Daraufhin löste sich die neunjährige Tochter meines dritten Mannes und demzufolge meine Stieftochter aus der ungewöhnlichen Position, setzte sich aufrecht hin und erwiderte mit hochrotem Gesicht vom Kopfstand: »Ich habe alles verkehrt herum gesehen.«

»Ich finde es gar nicht witzig, dich in dieser Haltung vorzufinden.«

»Weil du dann an ermordete Leute denkst.«

Dieses kleine Mädchen verfügte über die erschreckende Gabe, mühelos zu erahnen, was in meinem Kopf vorging. Verschwiegen, scharfsinnig und intelligent wie sie war, brauchte sie mich nur mit ihren blauen Augen anzusehen und wusste sogleich, was ich gerade dachte. Das gefiel mir überhaupt nicht, denn es nötigte mich zu permanenter Verstellung und wie in diesem Fall auch noch zu der unverfrorenen Lüge: »Ermordete Leute? Auf was für Ideen du kommst! Ich habe überhaupt nicht an ermordete Leute gedacht.«

»Warum findest du’s dann nicht gut?«

Ich improvisierte rasch: »Du hast ausgesehen … wie ein Huhn am Haken in einer Metzgerei!«

Sie dachte darüber nach, welchen Reiz es haben könnte, ein Huhn am Haken zu sein, und musste zweifelsohne einen gefunden haben, denn sie manövrierte sich wortlos und ausgesprochen geschickt erneut in die Kopfüberposition.

Ich seufzte. Vor meiner dritten Ehe hatte ich nie mit Kindern zu tun gehabt, und ihr Verhalten faszinierte mich. Sie erschienen mir sonderbar und unbegreiflich, sie verfügten über die Beobachtungsgabe eines Psychologen und waren so ehrlich, wie es sonst nur Verrückte sein können. Wie dem auch sei, wenn ich fürchtete, von ihnen durchleuchtet zu werden, und mich angesichts ihrer Gabe, mich zu durchschauen, verstellte, lag das an meiner sprichwörtlichen Fähigkeit, mir das Leben schwer zu machen. Marcos, mein Mann, hatte mich nie darum gebeten, im Beisein seiner Kinder nicht über meine Polizeiarbeit zu sprechen. Natürlich war klar, dass ich beim Frühstück nicht detailliert von einer Obduktion berichtete, aber es war allein meine Entscheidung gewesen, die Kinder nicht zu viel über meine Arbeit im Kommissariat wissen zu lassen. Mein Fehler, denn mit dieser Vorsichtsmaßnahme erreichte ich lediglich, ihre Neugier erst richtig anzustacheln und ihre Phantasie wie Kometen am Himmel der Spekulationen kreisen zu lassen. Die Zwillinge Hugo und Teo zeigten großes Interesse daran, Hypothesen über meine Arbeit aufzustellen. Wenn sie eine Akte auf dem Tisch liegen sahen, kam sogleich die Frage, ob ich einen »tollen« Fall in Arbeit hätte. Ich brauchte ein Weilchen, bis ich begriff, dass sie unter »toll« ein möglichst blutiges Verbrechen mit verstümmelten und ausgeweideten Leichen verstanden. Ihre größte Hoffnung war, dass ich eines Tages einen grausamen Serienmörder verfolgen müsste. Ich erklärte ihnen vergeblich, dass Serienmörder nicht allzu häufig vorkamen und schon gar nicht in Spanien, doch sie waren immun gegen meine Argumente und hofften weiter.

Wirklich unangenehm war mir all das nicht. Marcos’ Kinder kamen nur an bestimmten Wochenenden zu uns, und ich muss einräumen, dass es mir im Grunde Spaß machte, ihre blutigen Luftschlösser mit meinen abschlägigen Antworten zum Einsturz zu bringen. Ansonsten hatte ich mich problemlos an mein neues Eheleben gewöhnt. In den ersten Monaten waren meine Alarmglocken ständig in Bereitschaft gewesen. Ich hegte die grundlose Angst, dass meine Macken der einsamen Steppenwölfin zutage treten und die eheliche Harmonie zunichte machen könnten. Außerdem erzählten mir meine Freundinnen mit haarsträubender Verbitterung immer wieder banale Vorfälle aus ihrem Ehealltag. Meist handelte es sich um Bagatellen, doch da gerade die das Zusammenleben durchaus erschweren können, war ich in Alarmbereitschaft. Eine von ihnen erzählte beispielsweise, dass die schlichte Tatsache, jeden Morgen die Zahnpastatube offen vorzufinden, wahre Mordgelüste in ihr weckte. Dergleichen konnte mir nicht passieren, denn ich hatte mir vorgenommen, kleine egoistische Marotten geflissentlich zu übergehen und meine dritte Ehe erfolgreich werden zu lassen. Wir waren schließlich keine blutigen Anfänger, sondern Veteranen in diesem Unternehmen, und das musste sich doch irgendwie bemerkbar machen. Inzwischen waren wir knapp ein Jahr verheiratet, und es funktionierte ziemlich gut.

An dem Tag, als Marina kopfüber auf dem Sofa stand, war sie außer der Reihe bei uns. Ihre Mutter hatte einen Taxifahrer beauftragt, sie von der Schule abzuholen und zu uns zu bringen. Ich hatte den Nachmittag frei und sollte bei ihr bleiben, bis ihr Vater heimkam und sie zum Zahnarzt begleitete. Sie verharrte in ihrer unnatürlichen Position, und ich ging duschen. Ich kam von der Arbeit und musste wieder munter werden.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, stand Marina noch immer mit dem Kopf nach unten.

»Hör auf damit, Marina. Das kann doch nicht gesund sein.«

Sie gehorchte und setzte sich. Dann sagte sie plötzlich wie nebenbei: »Die Mutter Oberin meiner Schule will mit dir sprechen.«

Was?, rief ich im Geiste. Das ging doch weit über meine Kompetenzen als Stiefmutter hinaus. Aber ich wollte nicht schroff sein zu dem Kind.

»Hast du ihr von mir erzählt?«

»Ja, schon öfter. Ich habe ihr gesagt, dass du Polizistin bist und all das.«

»Aber sie weiß schon, dass deine Eltern die Erziehungsberechtigten sind, nicht wahr?«

»Sicher.«

»Hast du eine Ahnung, was sie möchte?«

»Nein, aber sie hat mir gesagt, es sei dringend, du sollst sie gleich zurückrufen. Die Nummer liegt auf dem Tisch.«

»Willst du damit sagen, dass sie gerade eben erst angerufen hat?«

»Ja, als du unter der Dusche warst.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Du hast mich ja nicht gefragt …«

Das durchtriebende Mädchen hatte recht, doch das mochte ich nicht zugeben. Eher besorgt als neugierig (ich fragte mich, was, zum Teufel, eine Nonne von mir wollte), wählte ich besagte Nummer und wartete. Marina war so klug und flüsterte mir noch den Namen zu, nach dem zu fragen ich ganz vergessen hatte.

»Sie heißt Guillermina, Mutter Guillermina.«

Ich weiß nicht, ob dieses kleine Geschöpf perfekt war, auf jeden Fall war sie weniger zerstreut als ich. Es meldete sich eine Stimme mit eigenwilligem Singsang: »Hier ist das Kloster des Herz-Jesu-Ordens. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte mit Mutter Guillermina sprechen. Mein Name ist Petra Delicado, sie hat vorhin bei mir angerufen.«

»Ja, warten Sie bitte einen Augenblick.«

Marina starrte mich an. Sie war sehr neugierig, doch das kaschierte sie mit ihrem stoischen Verhalten ziemlich gut.

»Inspectora Delicado?«, fragte jemand mit tiefer Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ja, am Apparat.«

»Gott sei Dank, dass Sie anrufen!«

»Ist was passiert, Mutter Guillermina?«

»Ja, Inspectora, eine wahre Tragödie. Ich bitte Sie, so schnell wie möglich herzukommen.«

»Aber …«

»Ich möchte es Ihnen nicht am Telefon sagen, Inspectora, haben Sie bitte Verständnis dafür. Es ist besser, wenn Sie sofort herkommen.«

»In Ordnung, aber sagen Sie mir: Handelt es sich um eine Angelegenheit für die Polizei?«

»Ich fürchte, ja, unglücklicherweise.«

»Ich komme, geben Sie mir die Adresse.«

Kaum hatte ich sie notiert, fragte Marina, was passiert sei. Sie wirkte gleichmütig, tat aber nur so. Ich lächelte sie an.

»Ich weiß es nicht. Hast du den Nonnen erzählt, dass dein Vater eine Polizistin geheiratet hat?«

»Ja, sie waren platt.«

»Kann ich mir vorstellen. Aber das ist doch nicht deine normale Schule, oder?«

»Nein, dort muss ich einmal die Woche hin, weil meine Mutter will, dass ich Religionsunterricht bekomme, mein Vater mich aber nicht in die Klosterschule schicken wollte … Da lerne ich christliche Nächstenliebe und so.«

»Verstehe.«

Das Problem war nur, dass unsere neue Hausangestellte Jacinta Freitagnachmittag frei hatte; wenn ich also sofort losfuhr, müsste das Mädchen über eine Stunde allein bleiben, bis ihr Vater nach Hause kam. Ich ging ins Wohnzimmer zurück und betrachtete sie. Sie stand wieder kopfüber auf dem Sofa und streckte die rosafarbenen Strümpfe nach oben. Wie konnte ich beruhigt gehen? Wenn sie imstande war, den halben Nachmittag kopfüber zu verbringen, um die Welt verkehrt herum zu betrachten, könnte ihr auch noch Abwegigeres einfallen. Die Verantwortung dafür war mir zu groß, also rief ich Marcos an.

»Marina kann problemlos allein bleiben. Sie ist fast immer brav. Was macht sie gerade?«, fragte mein Mann beiläufig.

»Sie steht kopfüber auf dem Sofa.«

Er schwieg einen Augenblick, gewiss hatte er auch nicht damit gerechnet, dass sich seine Tochter derart ungewöhnlich die Zeit vertrieb.

»Geh ruhig, Petra, ich mache hier gleich Schluss. Es wird nicht lange dauern.«

Mit zugeknöpftem Mantel und der Tasche in der Hand baute ich mich vor ihr auf.

»Marina, kannst du die Welt mal kurz richtig herum ansehen?«

Sie drehte sich um und blickte mich mit hochrotem Gesicht und wirrem Haar an.

»Dein Vater kommt gleich, aber ich muss jetzt sofort los.«

»Ist eine Nonne ermordet worden?«

Ich seufzte geduldig.

»Im wirklichen Leben gibt es nicht so viele Morde wie im Fernsehen. Es ist eher die Ausnahme, dass jemand ermordet wird, normal ist, dass alle Welt weiterlebt, verstehst du?«

»Ja.«

»Glaubst du, du kannst ein Stündchen allein bleiben?«

»Ja.«

Ich gewöhnte mich allmählich an ihre kategorische Einsilbigkeit, auch wenn sie nicht sehr aufschlussreich war.

»Mach niemandem die Tür auf und kein Feuer in der Küche. Häng dich nicht zum Fenster raus. Und rühr kein elektrisches Kabel und keine Steckdose an.«

»So viel schaffe ich in einer Stunde eh nicht.«

»Gut. Du kannst ja ein Buch lesen, Musik hören und auch fernsehen, wenn du keine Angst hast, zu verblöden.«

»Kann ich einen Apfel essen?«

»Ja, aber nicht im Kopfstand, du könntest dich verschlucken.«

Ungerührt erwog sie die Risiken des Apfelessens mit den Beinen in der Luft und nickte schließlich. Im festen Vorsatz, nicht mehr an die unzähligen Gefahren zu denken, die in einem Haus lauerten, machte ich mich auf den Weg.

Das Kloster der Herz-Jesu-Schwestern befand sich in der Nähe der Plaza Sant Just i Pastor. In einer Nebenstraße überragte die ansatzweise barocke, im Grunde jedoch jeglichen Architekturstils bare Fassade die angrenzenden Altbauten und wirkte beunruhigend und friedlich zugleich, sollte das denn möglich sein. Eine geschickt versteckte Klingel stellte die Verbindung dieses Gemäuers zum modernen Leben her. Ich klingelte, und kaum eine Sekunde später fragte durch die rauschende Gegensprechanlage eine unangenehme Stimme, die eher auf eine erschöpfte Hausfrau als auf eine engelhafte Novizin schließen ließ, wer da sei. Als ich antwortete »Inspectora Petra Delicado«, fühlte ich mich plötzlich wie in einer Blase der Unwirklichkeit gefangen. Was, zum Teufel, hatte ich hier verloren? Was erwartete mich hinter diesen uralten Mauern? Was wollte eine Klostergemeinschaft von mir? Es konnte sich nur um etwas Belangloses handeln: Ein kleines Mädchen, das hier zur Schule ging, hatte sich einen Streich erlaubt, oder ein angeblich kulturbeflissener Tourist hatte einen mäßig wertvollen Kelch mitgehen lassen. Bestimmt brauchte ich die Angelegenheit nur den zuständigen Kollegen weiterzuleiten und freundlich zu sein, um keinen schlechten Eindruck von Marinas Familie zu hinterlassen.

Eine Nonne mit so vielen Dioptrien wie Jahren öffnete die Tür und musterte mich durch ihre altmodische Brille. Sie trug ein schwarzes Ordenskleid, in dem sie wie ein unheilvoller, hässlicher Vogel aussah. Um mich besser sehen zu können, reckte sie den Kopf und rümpfte die Nase.

»Sind Sie die Polizistin?«, vergewisserte sie sich. »Kommen Sie hier entlang. Mutter Guillermina wird Sie gleich empfangen.«

Sie brachte mich in einen schwach beleuchteten Raum. Es roch nach Ammoniak, Weihrauch und überraschenderweise auch nach Zigarettenrauch. Ich setzte mich auf ein Sofa aus der Zeit der Polka und ließ meinen Blick über die Heiligenbilder an den Wänden schweifen. Sie waren schrecklich: Engel so muskulös wie Schlägertypen vor Diskotheken und bewaffnet mit Flammen sprühenden Schwertern, Heilige mit geschmacklosen Girlanden um den Hals, die in unergründlicher Ekstase die Augen verdrehten … Doch am augenfälligsten in seinem schlechten Geschmack war das Bild eines unbezweifelbar übergewichtigen Jesuskindes, das von den Heiligen Drei Königen beehrt wird, die vom Karneval ausgeborgt schienen. Wenn in diesem Kloster ein Diebstahl begangen worden und das Diebesgut vom künstlerischen Wert dieser Scheußlichkeiten war, bräuchte ich nicht mal Verstärkung zu holen. Mit der Aufnahme einer Anzeige und dem sofortigen Vergessen des Vorfalls wäre Genüge getan. In dem Moment kam die Schwester Pförtnerin oder wie zum Teufel sie sich nannte, zurück und bat mich, sie zu begleiten.

»Wir gehen ins Büro der Mutter Oberin«, erklärte sie.

Ich folgte ihr durch lange, düstere Flure ohne Anzeichen von Leben. Beim Betreten des angekündigten Büros änderte sich das Bild. Es handelte sich um einen großen Raum, der funktional eingerichtet war und in dessen Mitte ein nagelneuer Computer auf einem Schreibtisch stand. Die Wärme machte die Atmosphäre weniger ungastlich, und es roch, da war ich mir absolut sicher, stark verraucht. Ich setzte mich auf einen gemütlichen Sessel und entspannte mich. Diese Mutter Guillermina ließ länger auf sich warten als ein Minister, was darauf hinwies, dass das Problem nicht so ernst sein konnte. Endlich ging in einer Nische eine Tür auf, und eine große und kräftige Nonne in den Fünfzigern mit hellen Augen hinter einer Brille betrat energischen Schritts den Raum und gab mir eine fast männliche Hand, deren Druck mir wehtat.

»Inspectora Delicado, danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich bin Guillermina de Arrinoaga, Mutter Oberin des Herz-Jesu-Ordens. Bleiben Sie bitte sitzen.«

Sie ließ sich schwerfällig nieder und seufzte. Ihr Blick durchbohrte mich, und sie seufzte erneut. Ich war noch immer beeindruckt von ihrem imposanten Auftritt und der Energie, die sie ausstrahlte.

»Petra, darf ich Sie Petra nennen? Marina erzählt uns oft von Ihnen. Sie mag Sie sehr, und sie sagt, Sie seien die beste Polizistin der Stadt.«

»Ich glaube kaum, dass sie noch andere kennt. Und ich bezweifle, dass es im Freundeskreis ihrer Mutter Polizisten gibt.«

Mutter Guillermina lachte kurz und trocken auf.

»Ja, Polizisten und Nonnen haben keinen guten Ruf in bürgerlichen Kreisen. Uns fehlt das, was man heute glamour nennt. Rauchen Sie, Inspectora?«

»Nicht unbedingt. Ich kann warten.«

»Gut, bei dem, was Sie hier noch zu sehen bekommen, glaube ich nicht, dass es Sie aufregen wird, wenn ich eine rauche. Ich habe fünfzehn Jahre in Miami gelebt und dort eine Gemeinde aufgebaut, alle Nonnen waren natürlich Kubanerinnen. Davon sind mir zwei Schwächen geblieben: Ich ertrage die Kälte nicht mehr, und ich rauche, was soll man da machen! In der Öffentlichkeit pflege ich mich zurückzuhalten, aber heute bin ich so durcheinander …«

Sie zog eine Schublade auf und bot mir eine Zigarette aus ihrem Päckchen an. Ich griff zu. Ich wollte nicht drängen, sondern sie reden lassen. Wir bliesen den Rauch aus, sie wie ein Fabrikschlot.

»Sind Sie Baskin, Mutter Oberin?«

»Aus Pamplona.«

»Schöner Ort.«

»Eigentlich hat eine Nonne keinen Ort, keine Familie, nicht einmal einen Vornamen, wir bekommen neue. Das ist schwerer, als man denkt. Aber man wird entschädigt, und wissen Sie, wodurch man dafür entschädigt wird?«

»Durch den Glauben?«

»Ganz genau. Durch den Glauben und den Frieden. Im Innern von Klöstern herrscht Frieden, Inspectora. Ich will nicht behaupten, dass es keine Arbeit gäbe, viel Papierkram und dazu der Kampf, das Kloster am Leben zu erhalten, aber vor den Stürmen da draußen bleiben wir verschont. Sie verstehen mich doch, nicht wahr?«

»Ich verstehe Sie sehr gut.«

»Deshalb habe ich Sie angerufen. Es ist etwas Schreckliches passiert, was uns zur Beute einer öffentlichen Hetzjagd machen könnte, und das würde unser Leben und unseren Status zunichte machen. Deshalb ist Diskretion unerlässlich, absolute Diskretion.«

»Wovon reden Sie?«

Wir drückten unsere Zigaretten in einem dicken Glasaschenbecher aus und standen auf. Ich folgte ihr und passte mich ihrem athletischen Schritt an. Inzwischen hatte ich aufgehört, Mutmaßungen anzustellen, ich verstand gar nichts mehr, doch mein Herz klopfte wie vor einem Infarkt, so groß war die Neugier, die ihre Worte in mir geweckt hatten. Abrupt blieb die Oberin vor einer zweiflügeligen Tür aus edlem Holz stehen, die geschichtsträchtiger wirkte als alle anderen, an denen wir vorbeigekommen waren. Sie griff in die Tasche ihres Ordenskleides und suchte hektisch etwas.

»Dieser verflixte Schlüssel!«

Ich glaubte, sie würde gleich fluchen, aber sie hatte ihn schon gefunden. Es war ein großer, alter schmiedeeiserner Schlüssel. Sie schloss auf, und wir traten ein. Schwaches Licht fiel in eine kleine, aber in ihrer Schlichtheit wunderschöne gotische Kapelle.

»Kommen Sie, hier entlang.«

Ihr energischer Schritt wurde gemessener, als wir um den Altar herumgingen. Dahinter blieb Mutter Guillermina unvermittelt stehen und zeigte auf ein unförmiges Häuflein auf dem Boden. Ich konnte es nicht richtig erkennen und sah sie inquisitorisch an.

»Gehen Sie näher, ich habe schon genug gesehen.«

Ich trat in das Halbdunkel und sah jetzt deutlich, worum es sich handelte. Es war ein Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Ich ging näher. Er war zweifelsohne tot, um ihn herum hatte sich eine dunkle Blutlache gebildet, die von einer Wunde oder einem Loch in seinem Schädel zu stammen schien. Mehr konnte ich nicht erkennen, die Verblüffung hinderte mich daran, professionell zu reagieren. Ich ging zur Oberin zurück und wies sie absurderweise scharf zurecht: »Wissen Sie, dass der Mann tot ist?«

»Was glauben Sie, warum ich Sie angerufen habe? Natürlich ist er tot, er ist ermordet worden!«

»Seit wann wissen Sie das?«

»Die Schwester, die sauber macht, hat ihn im Morgengrauen gefunden.«

»Wie … Wissen Sie, wie lange das her ist?«

»Natürlich weiß ich das, ich kann genauso gut rechnen wie Sie!«

Wir waren beide wütend und schrien uns an. Ich fuhr mir übers Gesicht, als wollte ich mich aus einem schlechten Traum zurück in die Realität holen, das konnte einfach nicht wahr sein!

»Wissen Sie, dass Sie sofort die Polizei hätten rufen müssen? Wissen Sie …«

Empört brach ich ab und holte mein Handy heraus.

»Was tun Sie da?«, erkundigte sich die Nonne ziemlich barsch. »Wenn wir so lange mit dem Anruf gewartet und schließlich beschlossen haben, Sie anzurufen, dann deshalb, weil wir äußerst diskret sein wollen. Wir können bei so einem Vorfall im Kloster nicht die Totenglocken läuten.«

»Was schlagen Sie vor? Dass wir ihn in der Krypta beerdigen und die Spuren verwischen?«

»Reden Sie keinen Unsinn und werden Sie nicht unverschämt. Das hier ist ein Kloster, und hier befehle ich! Haben Sie eine Ahnung, wer dieser Mann ist? Das ist Bruder Cristóbal del Espíritu Santo, Mönch vom Heilig-Geist-Orden in Poblet! Wollen Sie einen Skandal provozieren, in den gleich zwei Orden verwickelt sind?«

Die Lippen zusammengekniffen, sah ich sie wütend an und stieß dann hervor: »Sie können die Oberin dieses Klosters und siebzehn weiterer sein und dieser Mann der zerstückelte Papst von Rom, das ist mir wurscht; wir leben in einem Land, in dem Gesetze gelten, von denen niemand ausgeschlossen ist.«

Ich spürte, wie sie innerlich kochte, wie sie ausholte, um mir die nächste Breitseite zu verpassen, aber bevor sie noch den Mund aufmachen konnte, redete ich weiter.

»Mutter Guillermina, wenn Sie mich noch eine Sekunde länger daran hindern, meiner Pflicht als Polizistin nachzukommen, oder die notwendigen Ermittlungen weiter hinauszögern, dann versichere ich Ihnen, dass ich Sie wegen Behinderung der Staatsgewalt festnehmen lasse.«

Sie schwieg, obwohl sie mich noch immer mit dem Blick eines wütenden Kampfhundes ansah, dem ich standhielt. Dann wandte sie die Augen ab und knurrte: »Tun Sie, was Sie tun müssen, aber ich bitte Sie, diskret zu sein.«

Ich wollte mich nicht an meinem Sieg berauschen und wählte Garzóns Nummer, wobei ich ihr zuraunte: »Keine Sorge, das werde ich.«

Der Subinspector musste auf einer Feier sein, denn im Hintergrund war unglaublicher Lärm.

»Hallo, Petra! Ich kann nicht glauben, dass Sie mich anrufen, wir haben heute Nachmittag frei, erinnern Sie sich?«

»Es handelt sich um etwas Ernstes, Subinspector. Ich will, dass Sie die Spurensicherung benachrichtigen, wir haben eine Leiche. Schicken Sie sie zum Kloster der Herz-Jesu-Schwestern an der Plaza Sant Just i Pastor. Und kommen Sie auch, so schnell wie möglich.«

»Ha! Ich schätze Ihren Sinn für Humor ja sehr. Sie erwarten mich also im Kloster, als wären Sie Tenorio und ich Doña Inés, wie?«

Ich entfernte mich ein paar Schritte von der Ordensschwester und senkte die Stimme.

»Subinspector Garzón, stellen Sie das Glas beiseite, und trinken Sie einen Kaffee. Ich will Sie augenblicklich hier haben, verstanden?«

»Aber … Meine Frau hat heute Geburtstag!«

»Augenblicklich!«

Ich legte auf. In Mutter Guillerminas vielsagendem Blick blitzte Bewunderung auf. Führungspersönlichkeiten treffen gern andere, die aus demselben Holz geschnitzt sind. Ich ging auf sie zu.

»Und bis meine Kollegen, der Gerichtsmediziner und der Richter eintreffen, erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Aber Sie haben noch gar nicht alles gesehen.«

Meine Knie wurden weich.

»Sie wollen doch nicht sagen, dass es noch einen Toten gibt?«

Sie ging zu einer Nische und zeigte auf einen großen leeren Sarkophag.

»Im Gegenteil, es gibt einen Toten weniger. Unser Heiliger ist verschwunden.«

»Also noch mal, Mutter Oberin, beginnen wir von vorn, oder ich werde verrückt.«

»Es ist ganz einfach, werden Sie nicht nervös. Bruder Cristóbal war seit Tagen mit der Restaurierung und Erhaltung unseres Heiligen, Bruder Asercio de Montcada, beschäftigt, einer mittelalterlichen Mumie, damit Sie besser verstehen.«

»Ja, langsam begreife ich. Also, heute Morgen haben Sie Bruder Cristóbal tot aufgefunden, und die Mumie von Bruder Asercio war verschwunden.«

»Genau. Sie werden doch verstehen, Inspectora, dass ich mir zunächst persönlich ein Bild vom Ausmaß der Geschehnisse machen musste, bevor ich entschied, die Polizei einzuschalten.«

»Zumindest hoffe ich, dass niemand etwas angerührt hat.«

»Mitnichten. Ich selbst habe den Schlüssel geholt und die Tür abgeschlossen, damit niemand hinein kann.«

»Soll heißen, wäre jemand hier drin gewesen, hätte derjenige, nachdem Sie gegangen waren, auch nicht hinaus gekonnt.«

»Hier drin war niemand, das kann ich Ihnen versichern.«

»Wenn es so war, wie Sie sagen …«

»Schwester Marcela kam zum Putzen, fand Bruder Cristóbal tot auf dem Boden und hat mich sofort informiert.«

»In der Zeit hätte jemand hinausgehen können.«

»Und wer sollte hier gewesen sein?«

»Wenn wir diese Frage beantworten können, haben wir auch gleich die Erklärung dafür, Mutter Oberin. War die Kapelle abgeschlossen?«

»Das ist sie nie. Wir beten zu bestimmten Zeiten, aber es kommt immer wieder vor, dass eine Schwester die Kapelle zu einem anderen Zeitpunkt für eine persönliche Andacht aufsucht.«

»Aha. Und die Tür zum Kloster? Ist sie nachts verschlossen?«

»Selbstverständlich, immer! Außerdem hat Bruder Cristóbal abgeschlossen, wenn er ging. Solange er hier war, konnte niemand von draußen herein, aber sehr wohl hinaus. Schlecht ist nur, dass letzte Nacht die Kapellentür zur Straße nicht abgeschlossen war. Entweder hat er seinem Mörder aufgemacht, oder er hat die Tür aus irgendeinem Grund offen gelassen.«

»Ansonsten ist die Tür immer verschlossen.«

»Sie wird nur sonntags für die Touristen aufgeschlossen.«

»Und wer hat den Schlüssel?«

»Das ist kein Geheimnis. Er hängt dort hinten«, sagte sie und zeigte in einen Winkel.

Nach wenigen Minuten, in denen ich mir jede Kleinigkeit genau ansah, tauchte die Schwester Pförtnerin auf, die mir noch hässlicher vorkam als zuvor.

»Mutter Oberin, die Polizei ist da und jede Menge Leute mit ihr.«

Die Oberin seufzte, holte Luft, bekreuzigte sich und sagte resigniert: »Lassen Sie sie herein.«

Garzón war verblüfft, und seine Verblüffung bewirkte, dass er viel langsamer begriff als sonst. Nachdem er sich endlich ein genaues Bild gemacht hatte, kam sofort seine praktische Seite zum Tragen.

»Hören Sie, Inspectora, das müssen wir sofort Comisario Coronas melden. Höchstwahrscheinlich fällt die Sache nicht in unsere Zuständigkeit, also müssen wir uns nicht wirklich den Kopf zerbrechen.«

»Sind Sie gar nicht neugierig? Es ist doch ein Hammer, an solch einem Ort einen Mönch umzubringen, und ein noch größerer Hammer, einen jahrhundertealten Leichnam zu stehlen.«

»Neigen Sie zum Wunderglauben, oder was?«

Die Mutter Oberin kam zu uns. Sie war schneeweiß und sichtlich irritiert angesichts des ganzen Trubels, den wir veranstalteten. Um uns herum wimmelten der Pathologe, der Untersuchungsrichter, die Spurensicherung, der Fotograf … Ich verstand, dass sie das nervös machte.

»Wie lange dauert das alles, Inspectora?«

»Kommt darauf an. Ich würde sagen, noch eine ganze Weile.«

»Und Sie beginnen inzwischen nicht zu ermitteln?«

»Wir wissen noch nicht einmal, ob wir den Fall übertragen bekommen, denn es ist wahrscheinlicher, dass er in die Zuständigkeit der Mossos d’Esquadra, der katalanischen Kollegen, fällt.«

»O nein! Ich habe Sie angerufen, weil ich möchte, dass Sie sich um diese schreckliche Sache kümmern. Ich werde nicht zulassen, dass noch mehr Polizisten ihre Nase in unser Kloster stecken.«

»Mutter Guillermina, ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, obwohl Sie mich gar nicht kennen, aber ich bin keine Privatdetektivin. Ich unterstehe meinen Vorgesetzten und kann Ihnen versichern, dass die Polizei eigene interne Richtlinien und Vorgehensweisen hat.«

»Mag sein, aber … Haben Sie noch nie von der Hartnäckigkeit einer Nonne gehört? Sie ist sprichwörtlich, und ich beabsichtige, mich höchst energisch durchzusetzen, also …«

»Das werden wir ja sehen, es ist absurd, dass ich mich mit Ihnen herumstreite.«

Eine Stunde später traf Coronas ein. Er stellte Fragen und wollte rundum informiert werden.

»Wie es aussieht, ist der Mann seit über zehn Stunden tot, Petra. Was ist hier passiert, verdammt noch mal?«

»Die Mutter Oberin hat mich aus Gründen der Diskretion so spät angerufen.«

»Es ist zum Auswachsen.«

»Sie müssen berücksichtigen, was so etwas für eine Gemeinschaft bedeutet, die gewöhnlich keinen Umgang mit Außenstehenden hat.«

»Wovon leben sie?«

»Sie geben Religionsunterricht. Sie erledigen Büroarbeiten für Firmen außerhalb des Klosters, erhalten Subventionen von der Diözese und private Spenden. Sonntagmorgens lassen sie Touristen ihre unversehrte Heiligenmumie besichtigen und verlangen Eintritt dafür.«

»Du lieber Gott, dann hat man ihnen ja einen Teil der Einkünfte geklaut!«

»Sollen wir uns in der Nachbarschaft umhören, Señor? Es muss doch jemand gesehen haben, wie die Mumie weggeschafft wurde.«

»Nein, nein, kommt nicht infrage. Es müssen gleich die von der Policía Autónoma da sein. Damit haben wir nichts zu schaffen. Sie können gehen, wenn Sie wollen. Ich bleibe bis zur Übergabe der Befugnisse und Schluss.«

Wir stahlen uns regelrecht davon, denn ich wusste, wenn ich mich von der Mutter Oberin verabschiedete, würde sie mich erneut in eine endlose Diskussion verwickeln.

»Tut mir leid, Sie gestört zu haben, Garzón.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich fahre gleich zurück.«

»Richten Sie Emilia meinen herzlichsten Glückwunsch aus?«

»Selbstverständlich, klar doch.«

Im Wagen war mein Kopf mit dem beschäftigt, was mich nichts anging. Wer ermordet einen Mumienrestaurator, der dem Kloster von Poblet und demzufolge dem Zisterzienserorden angehört? Und vor allem, wer riskiert seine Haut und schleppt im Morgengrauen eine Mumie aus dem Kloster und wozu? Wenn sie gestohlen worden war, konnte das heißen, dass sie für etwas benötigt wurde. Ist eine Mumie zerbrechlich? Vermutlich schon. Sie muss höchst vorsichtig transportiert werden. Hat eine Mumie auf dem Antiquitätenmarkt einen Wert? Um ehrlich zu sein, fiel es mir schwer, das zu glauben, es sei denn, sie trägt ein wertvolles Totenhemd, einen mit Edelsteinen besetzten Mantel oder eine besondere Reliquie. Doch wäre es in dem Falle nicht einfacher gewesen, den armen Heiligen auszuziehen, seine Gewänder mitzunehmen und ihn traurig und nackt zurückzulassen? Wenn zudem das Motiv Diebstahl war, warum musste dann der arme Mönch sterben? Hatte er so spät noch gearbeitet und die Leichenfledderer überrascht? In meiner Polizeikarriere hatte ich mir zu Beginn eines Falles selten so viele Fragen gestellt. Selbst wenn die Ermittlungsbefunde uns später auf andere Wege führten, erscheint das Verbrechen zunächst normalerweise mehr oder weniger logisch, wenn man sich damit auseinandersetzt. Meistens gibt es mehr Hypothesen als Fragen, und alles verweist auf ein nicht sonderlich variables Strickmuster. Aber egal, von jetzt an war mir lediglich erlaubt, neugierig bei der Policía Autónoma nachzufragen, wie sie in dem Fall vorankam, sollten die Kollegen denn gewillt sein, mir etwas zu erzählen.

Als ich nach Hause kam, war Marina bereits von ihrer Mutter abgeholt worden, und Marcos wartete lesend auf mich.

»Warum bist du nicht ins Bett gegangen?«

»Ich wollte dich sehen.«

Wir umarmten uns. Sein Körper verströmte Wärme, und er roch nach einem dezenten Parfüm, nach trockener Kleidung. Ich hatte Lust, ohne ein weiteres Wort sofort ins Bett zu gehen. Plötzlich war ich müde. Die Wissbegier, die mich bisher wach gehalten hatte, war schlagartig verschwunden.

»Ich habe dir einen Salat gemacht, damit du wenigstens etwas isst.«

Ich hatte wirklich keinen Appetit, wollte meinen Mann aber nicht kränken. Also zog ich meinen Mantel aus, wusch mir die Hände und ging in die Küche. Er hatte schon den Tisch gedeckt und nahm einen appetitlich aussehenden Thunfischsalat und Bier aus dem Kühlschrank.

»Du hättest dir nicht so viel Mühe machen müssen.«

»Du bist doch viel später von der Arbeit gekommen als ich. Wäre es anders herum gewesen, hättest du bestimmt das Gleiche getan.«

»Na schön!«, rief ich. »Es ist immer gut zu wissen, dass zu Hause jemand auf einen wartet.«

Ich küsste ihn lachend.

»Mal im Ernst, du solltest mir nichts zu essen machen.«

»Darf man erfahren, warum nicht?

»Manchmal lässt sich nicht absehen, wann ich gehen kann, es gibt Komplikationen, die Arbeit zieht sich hin, und wenn du dann daran denkst, dass im Kühlschrank dein Salat vor sich hinwelkt, macht es das noch schwieriger.«

»Also gut, in dem Fall kündige ich meine Stelle als Mitternachtskoch.«

»Verdammt! Hast du dich nicht ein bisschen zu schnell überreden lassen?«

Er machte Anstalten, mich zu erwürgen, und umarmte mich dann.

Beim Essen kam der Appetit. Natürlich wollte Marcos wissen, warum mich die Oberin der Herz-Jesu-Schwestern hatte sprechen wollen. Ich erzählte es ihm, und er zeigte sich ebenso neugierig wie ich. Er stellte Fragen, die ich mir auch gestellt hatte.

»Das ist alles sehr merkwürdig, Petra! Und wenn es sich um eine geheimnisvolle Sekte handelt? Oder um einen Fluch der Mumie wie aus diesem alten Film? Ich weiß nicht, das klingt alles unglaublich.«

»Also wirklich, du bist schlimmer als deine Kinder!«

»Ich fürchte, dass in diesem Fall auch ich dich mit Fragen löchern werde.«

»Da wirst du nicht viel von haben. Der Mord fällt in die Zuständigkeit der Mossos d’Esquadra, wir werden ihn also nicht untersuchen. Ich muss dir gestehen, ein bisschen frustriert bin ich schon, denn ich würde nur zu gern meine Nase in diesen Sumpf stecken. Das Geheimnis ist bestimmt viel logischer und irdischer, als es scheint.«

»Du beklagst dich zwar ständig, aber es ist nicht zu übersehen, dass du deinen Beruf gern ausübst.«

»Manchmal ist er ganz unterhaltsam. Weißt du, was Marina dieser Nonne erzählt hat? Ich sei die beste Polizistin in Barcelona.«

»Das bezweifle ich keinen Moment, obwohl es auch eine Tatsache ist, dass meine Tochter dich sehr liebt.«

»Warum geht sie einmal die Woche in dieses Kloster?«

»Weil ihre Mutter glaubt, eine nicht konfessionelle Schule könne ihr gewisse christliche Werte, die sie für unverzichtbar hält, nicht vermitteln. Die Teilnahme am Religionsunterricht ergänzt ihre Erziehung. Obwohl ich eigentlich der Meinung bin, sie schickt sie nur da hin, weil ich dagegen bin. Du hast auch zwei Scheidungen hinter dir, aber das Glück, aus keiner deiner Ehen Kinder zu haben. Wenn es Kinder gibt, trennt man sich selten friedlich.«

»Wie schade. Weißt du, die Oberin war mir sympathisch. Sie scheint eine Frau mit sehr klaren Vorstellungen zu sein und wollte auf Biegen und Brechen, dass ich den Fall übernehme.«

»Da wird sie aber enttäuscht sein!«

»Bei dem Trubel, der auf sie zukommt, wird ihr nicht viel Zeit bleiben, an mich zu denken.«

»Mir schon, ich habe alle Zeit der Welt, um an dich zu denken. Gehen wir ins Bett?«

Ich folgte ihm die Treppe hinauf. Marcos war wirklich ein eigenartiger Mann: Er stritt nicht, er wurde nicht ärgerlich, er sorgte sich aufrichtig um mein Wohlbefinden … Vielleicht hatte ich den Prototyp des idealen Ehemannes erwischt und maß diesem Glücksfund nicht genügend Wert bei. Ganz schlecht. Vielleicht wäre es meine Pflicht, ihn auf einer Website auszustellen, damit Hunderte anderer Frauen nicht ihr Vertrauen in das Schicksal verlören.

Ich schlief die Nacht durch. Als ich erwachte, war es neun Uhr samstagmorgens, und Marcos lag nicht mehr neben mir. Die Kinder mussten schon da sein. Ich ging im Morgenmantel in die Küche, wo er mit den dreien am Tisch saß und frühstückte. Marcos küsste mich, alle küssten mich. Dann stand er auf.

»Petra, mach dir einen Kaffee. Ich werde ein paar Stunden in meinem Arbeitszimmer verschwinden, ich bin mit meinem Projekt etwas in Zeitdruck.«

Ich füllte lächelnd die Espressokanne. Die Kinder waren extrem schweigsam. Noch immer war ich irgendwie auf der Hut, wenn ich mit ihnen allein blieb. Ich fürchtete ihre Fragen mehr als einen bewölkten Himmel, besonders die von Hugo und Teo, die beide nicht auf den Mund gefallen waren. Insgeheim hoffte ich, dass Marina ihnen nichts von dem Anruf aus dem Kloster erzählt hatte. Ich schenkte mir Kaffee ein und setzte mich zu ihnen. Zu diesem Zeitpunkt unseres gelegentlichen Zusammenlebens hatte ich noch immer nicht den richtigen Ton im Umgang mit ihnen gefunden. Immer fürchtete ich, mich zu kindisch oder zu erwachsen zu verhalten. Diesmal versuchte ich es mit aufgesetzter Freude.

»Wie geht’s, Kinder, wie war eure Woche?«

Sie sahen einander an, als entbehre diese Frage jeglichen Sinns. Teo ließ sich gnädig zu einer Antwort herab: »Jeden Tag Unterricht.« Er sagte es in einem Ton, der alle Nöte sowie die Langeweile des Schuldaseins zum Ausdruck brachte.

»Na wunderbar, oder?«, beendete ich meinen eindeutig gescheiterten Versuch.

»Und bei dir?«, hakte daraufhin Hugo sichtlich interessiert nach. Es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass Marina ihnen von dem Anruf aus dem Kloster erzählt hatte.

»Jeden Tag im Kommissariat«, erwiderte ich in seiner Manier.

»Und, alles gut im Kommissariat?«, versuchte es nun Teo.

»Gut, normal, Routine eben.«

»Und, das, obwohl du solche Probleme hast, oder?« Hugo testete die Grenzen aus. Doch ich war bereit standzuhalten.

»Nicht mehr als sonst.«

Daraufhin sagte Marina, die bisher geschwiegen hatte, mit der größten Natürlichkeit: »Sie wollen etwas über das Verbrechen im Kloster wissen.«

Dieser Gongschlag löste einen Platzregen aus mühsam zurückgehaltenen Fragen aus.

»Ist eine Nonne ermordet worden?«, fragte Hugo.

»War es ein Psychopath?«, fragte Teo.

»Habt ihr viele Spuren?«, wieder Hugo.

»Habt ihr ein Phantombild von dem Mörder gemacht?«, wieder Teo.

»Von Psychopathen werden keine Phantombilder gemacht, sondern ein psychologisches Profil!«, rief Marina dazwischen.

Ich schoss buchstäblich vom Stuhl.

»Was, zum Teufel, redet ihr denn da? Seid ihr verrückt geworden?«

»Marina hat uns erzählt, dass du gestern angerufen worden bist, und Papa hat uns gesagt, dass ein Toter gefunden wurde. Wir haben ihn gefragt, wer, und er hat gesagt, er wüsste es nicht; mit anderen Worten, er weiß es bestimmt und wollte nichts rauslassen.«

»Eins nach dem anderen. Erstens müsst ihr das glauben, was euch gesagt wird, denn wenn ihr das nicht tut, braucht ihr auch gar nicht weiter zu fragen.«

Sie nickten halb zustimmend und halb skeptisch. Ich redete weiter, eine Selbstbeherrschung vortäuschend, die ich bei Weitem nicht besaß.

»Es stimmt, es gibt einen Toten im Kloster der Herz-Jesu-Schwestern, einen Mönch. Aber mehr weiß ich nicht und werde es auch nicht erfahren, weil die Mossos d’Esquadra für den Fall zuständig sind.«

»Das wissen wir schon aus dem Fernsehen«, kommentierte Teo geringschätzig.

»Ich glaube nicht, dass ihr eure Zeit mit solchen Dingen verschwenden solltet. Aber gut, das ist eure Sache.«

»Du weißt bestimmt viel mehr als die in der Glotze. Können wir dir ein paar Fragen stellen?«

»Nein, könnt ihr nicht, und wenn ihr es versucht, werde ich nicht antworten, denn höchstwahrscheinlich weiß ich es nicht.«

»Also wirklich!«, rief Hugo enttäuscht.

»Ich werde dich nichts fragen«, sagte Marina, und ich dankte ihr die Absichtserklärung mit einem Lächeln. Doch sie brachte es sofort zum Erlöschen.

»Sag mir nur eins: Es stimmt doch, dass man von Psychopathen ein psychologisches Profil erstellt?«

»Ja, das stimmt, dafür wird ein Psychiater herangezogen.«

»Siehst du?« Marinas Augen blitzten ihren Bruder an.

»Du bist doof«, lautete dessen Antwort.

»Bitte, streitet euch nicht!«, rief ich mit gespielter Autorität. In dem Moment kam Marcos herein.

»Ihr seid immer noch beim Frühstück? Geht euch duschen und anziehen. Dann bringe ich euch zu eurem Fußballspiel.«

»Ich will auch mit«, bettelte das Mädchen.

»Fein, du kommst auch mit. Ach, ich habe ganz vergessen, euch zu sagen, dass Petra und ich heute Abend zu einem Essen müssen, Sandra wird auf euch aufpassen.«

»Sandra ist eine Schlaftablette«, unterstrich Teo.

»Ja, ich weiß, wenn ich gewollt hätte, dass jemand Lustigerer auf euch aufpasst, hätte ich einen Trupp Majoretten bestellt.«

Hugo lachte laut auf. Teo fletschte wie ein tollwütiger Hund die Zähne, und ich begriff, dass man viel kaltblütiger sein musste, wenn man Kinder hatte, als wenn man einen Mörder stellen wollte.

Als die drei das Feld geräumt hatten, fragte ich Marcos:

»Was war das mit dem Abendessen?«

»Also wirklich, Petra, ich habe es dir doch gesagt, es ist das jährliche Essen der Architektur-Fakultät.«

»Davon höre ich zum ersten Mal.«

»Stimmt nicht, ich hab’s dir gesagt, ich bin mir sicher.«

»Und ich bin mir sicher, dass du es nicht gesagt hast.«

»Wollen wir uns deshalb streiten?«

»Scheint mir ein guter Grund.«

»Warum?«

»Ist ja gut, lassen wir das. Du solltest nicht so zerstreut sein.«

»Und du nicht immer so geistesabwesend, wenn ich mit dir rede.«

Ich blieb allein mit meinem kalten Kaffee. Wie zerbrechlich die häusliche Harmonie sein kann, dachte ich, und fragte mich als Nächstes, was ich am Abend anziehen sollte.