Inhaltsverzeichnis

Corinna Antelmann, VIER

E-Book

ISBN: 978-3-903061-10-1

 

© 2014, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Lektorat: Gloria Hoppe

Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagfoto: © konradbak – Fotolia.com

 

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

Gedruckt mit der freundlichen Unterstützung von Land Oberösterreich

ISBN: 978-3-902711-28-1

www.septime-verlag.at

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Corinna Antelmann

 

geboren 1969 in Bremen, lebt heute mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Linz. Nach ihrem Studium (Film, Literatur, Musik) hat sie in der Theaterwerkstatt Hannover und der Trickcompany Hamburg gearbeitet. Inzwischen ist sie als freie Autorin und Dozentin für Storytelling tätig. 2013 wurde Corinna Antelmann der „Frau-Ava-Literaturpreis“ verliehen. VIER ist bereits ihr dritter Roman.

 

 

Klappentext

 

Nach zehn glücklichen Ehejahren mit Bengt verliebt sich die Klavierlehrerin Maria unverhofft in einen anderen Mann: André. Drei Monate lang lebt sie zwischen Glück und Schuld, doch nun will sie der Heimlichkeit ein Ende setzen und einen möglichen Ausweg aus ihrem Konflikt finden.

Jenseits der zu erwartenden Tragödie und jenseits tradierter Vorstellungen, begibt sich Maria in ein Gedankenspiel mit Variationen ihrer Situation, in der Hoffnung, die Starre im Kopf zu durchbrechen.

Ständig auf der Suche nach einem positiven Ende dreht Maria vier Mal das Rad der Zeit zurück und beginnt ihre Geschichte von Neuem.

 

Was mit einem Seitensprung begann, führt Maria in eine emotionale Sackgasse, aus der es scheinbar kein Zurück gibt.

 

 

Corinna Antelmann

VIER

Variationen über ein Thema

 

Roman | Septime Verlag

 

 

 

 

 

 

Variation: [v-, latein. variatio »Abwandlung«, »Veränderung«], in einem allgemeinen Sinne jede abwandelnde Veränderung […] Bei der kontrapunktischen Variation werden […] zu einer mehrfach unverändert wiederholten Stimme (Cantus firmus) oder zu einem gleich bleibenden Thema (Subjekt) jeweils neue, kontrapunktierende Stimmen gesetzt.

 

Der Brockhaus, Musik, Mannheim 2001, S. 825f.

 

EINS

 

 

Die Tür öffnet sich und Licht fällt ans Ende der Welt. Es ist Bengt, der fragt, ob ich etwas brauche. Nein, alles okay, danke, sage ich, nur, dass ich gerade ersticke, aber das verschweige ich. Kommst du, fragt er und ich sage: Gleich, noch einen Augenblick.

Ich liege auf dem Rücken und kann mich nicht rühren,

denn meine Lungenflügel schmerzen, die Luft ist zu dünn, die Decke in meinem Zimmer zu weit, gibt es das: eine gezerrte Lunge oder ist es die von Träumen beschwerte Brust, die mich daran hindert, das Bett zu verlassen? Aber sie hält absichtlich die Luft an, meine Lunge, verstehst du? Sie hat genug vom Atmenmüssen. Es ist ihr zuwider, dieses Weitermachen, und sie gibt dem Drang nach dem Weiter und nach dem Mehr die Schuld, an was, warum? Ich widerspreche nicht, womöglich hat sie recht, und dann wieder weiß ich: Nein, hat sie nicht,

denn auch wenn sie den Atem in uns hinein- und hinauslässt: Was versteht eine Lunge vom Leben? Wenig, vermute ich, so wenig wie ein Fuß von den Richtungen, die das Leben nimmt. Er kennt nur das, wohin der Körper oder der Geist oder das Herz ihn dirigiert, mal hierhin, mal dorthin, in deine Arme hinein und wieder hinaus.

 

Ich schiebe die Vorhänge beiseite und als ich in die Küche trete, steht der Kaffee bereits auf dem Tisch.

Ich liebe dich, Bengt, das weißt du, und nicht nur für den Kaffee, den du mir seit zehn Jahren aufbrühst, wann immer du dienstfrei hast im Krankenhaus. Und gleichzeitig ist es noch immer wahr, was ich nur zu träumen gemeint hatte: der Körper von André unter meinen Händen, seine Hüften, sein Bauch, seine Brust, die weiche Kuhle seines Nackens zwischen Wirbel und Haaransatz. Seit einigen Wochen hat der Klang sich in die Wirklichkeit verirrt, eine Wirklichkeit, die sich im Verborgenen hält, stolz bin ich darauf nicht, nein.

Ich gebe Bengt einen abwesenden Kuss, er tut mir leid, dieser Kuss, also wiederhole ich den Vorgang und schließe dabei die Augen, um zu spüren, wie sich die Lippen tatsächlich anfühlen, die mir vertraut sind, seit Jahren so vertraut, dass ich sie zu spüren vergessen habe. Nachdem ich meinen Mund wieder gelöst habe, setze ich mich Bengt gegenüber, gieße den Kaffee aus der Thermoskanne in meine Tasse und gebe ein wenig Milch hinzu, aber nur so viel, dass der Kaffee noch heiß bleibt. Ich nehme einen Schluck, Bengt beobachtet mich dabei, und ich denke, glaub nicht, dass ich feige bin, mein Lieber, ich würde reden, wenn ich nur wüsste, ob es gescheit ist, jemandem diese Wahrheit ins Gesicht zu blasen, der meine Freude nicht zu teilen vermögen wird, die relativ ist, sprich, sich beschränkt auf das Setting des Doppelzimmers im Hotel Meyer und auf nur zwei Protagonisten.

Für dich ist keine Rolle vorgesehen, Bengt, und, ja, du hast richtig gehört: Hotel Meyer. Eine heilige Stunde im Hotel Meyer, ein Mal in der Woche oder auch drei Mal.

Obwohl wir jetzt schon so lange hier wohnen, beinahe sieben Jahre schätze ich, kannte auch ich das Hotel bisher nicht. Schön grün ist es dort, weil es an den Friedhof grenzt und praktisch liegt es außerdem: nicht weit vom Gemeindehaus entfernt. Und nachdem wir uns beinahe zu Tode gesungen hatten, André und ich, an diesem einen Freitag vor vierundachtzig Tagen und vierundachtzig Nächten, konnten wir den Kodex nicht länger aufrechterhalten, der mir doch immer heilig gewesen war. Wir konnten es nicht länger über die Lippen bringen, dieses Salut: Salut, Maria. – Salut, André. – Mach es gut. – Au revoir. – Bis bald. Konnten nicht länger unserer Wege gehen, wie wir sie immer gegangen waren, und sie verliefen getrennt. Wir standen voreinander, gezögert habe ich erst, aber bald schon nicht mehr, dann sind wir wortlos durch die Straßen gelaufen bis vor den leicht versteckten Eingang zu eben dem Hotel Meyer, das Schild sahen André und ich gleichzeitig.

Der Körper dirigiert die Füße dorthin, wo er sie haben will.

Unsere Stimmen waren tonlos, unsere Körper haben es so gewollt, das und nichts anderes. Auch an der Rezeption haben wir nicht miteinander gesprochen, nicht im Fahrstuhl und nicht, als André den Schlüssel in das Schloss steckte, die Tür öffnete und wieder hinter uns zuzog. Da war ohnehin alles zu spät, nur kurz fragte ich mich, warum ich richtig finde, was ich tue, dann dachte ich an nichts mehr, höchstens, dass ich ja morgen wieder denken könnte.

Es war nichts dabei,

denn ich kannte ihn bereits so gut, dass die Nacktheit nur ein logischer Folgeschluss zu sein schien. Was für ein Unsinn, von Logik zu reden, obwohl die Regeln es logischerweise anders von uns verlangt hätten. Gesellschaft funktioniert ähnlich klar wie die Musik, das ist das Schöne daran: Intimität in der Form.

So gesehen hat der Verrat mehrere Dimensionen.

 

Bengt lächelt. Ich bin aus dem Spalt hinausgeklettert an die Sonne, die sich durch den trüben Novembertag kämpft, aber der Abgrund zeigt sich noch immer als Abgrund, in den hinein ich erneut zu stürzen wünsche, damit ich nichts überdenken muss. Noch hangele ich mich einen schmalen Grat entlang. Je chante, mais la faim qui me poursuit, tourmente mon appétit. – Ich singe, aber der Hunger verfolgt mich und trübt den Appetit, so heißt es in einem Lied von Charles Trenet.

Ich nippe abermals an meinem Kaffee, auch ohne Milch ist er bereits kalt gewesen. Ohnehin würde mir ein Martini besser schmecken, aber wenn ich schon zugrunde gehen werde, dann nicht an einem Klischee, wobei der Alkohol durchaus helfen könnte, sich der Wirklichkeit zu entziehen und in eine Welt abzutauchen, die der Formlosigkeit am ehesten gerecht wird, der Auflösung im Guten: der Musik.

Schreien, leiden, weinen, sich betrinken und Schluss.

Ich schütte den Kaffee in den Ausguss. Als ich mich zur Tür drehe, sieht Bengt, wie ich mir an die Brust fasse. Er fragt, ob ich Schmerzen habe, und als ich nicke, schlägt er vor, es doch lieber sein zu lassen, das Proben heute Abend, um mich zu schonen. Auf keinen Fall, sage ich. Meine Stimme klingt belegt, das darf nicht sein. Ich räuspere mich. Muss los, füge ich hinzu, Schüler quälen, dann durchschreite ich den Flur und ziehe dabei die Lungenflügel zusammen, sie sind mir untreu geworden. Aber wie kann ich von Untreue reden, wie könnte ich?

Es steht mir nicht zu, dir nicht, André, und uns nicht. Ich greife mit den Händen in die Luft, nur Luft, mir fehlt sie, deine Hand, dein Nacken auch. Wenn ich klein wäre und du hieltest mich im Arm und wögest mich ganz leis’. Aber singen kann ich dich hören,

denn du bist da, in meinem Kopf, nur meine Hände sind leer. Immerzu suchen sie nach der Berührung, doch sie darf nicht sein und das habe ich bereits gewusst, als wir einander das erste Mal wie zufällig berührten, beinahe zwei Jahre ist das jetzt her, auf dem Biertisch im Azul, das gleich um die Ecke zum Gemeindehaus liegt, schräg gegenüber vom Dom. Weißt du noch, erinnerst du dich? Geliebter.

Nur leicht habe ich meine Hand an deinen Arm gelegt, doch es reichte aus, um deine Muskulatur zu erspüren, später die Sehnen deiner Finger und manchmal deinen Oberschenkel, wenn wir nebeneinandersaßen und zufällig ein bisschen dichter zusammenrutschen mussten, um Platz zu machen für die anderen. Zufällig. Mit meinem Mund habe ich dich ohnehin berührt, über den Abstand von drei Frauen und zwei Männern hinweg, während wir gesungen haben.

Schubert ist es gewesen, der mich in eure Reihen aufgenommen hat. Das Ave Maria von Schubert. Die Textzeilen sind längst Bestandteil meiner Zungenspitze geworden, über die sie in die Außenwelt gelangen, wenn sie die Stimmbänder passieren und das Denken überwinden.

Ave Maria! Reine Magd! Der Erde und der Luft Dämonen, von deines Auges Huld verjagt, sie können hier nicht bei uns wohnen, wir wollen uns still dem Schicksal beugen, da uns dein heiliger Trost anweht.

Immerzu gesungen haben wir, so lange und so oft, bis meine Stimme wusste, wie du auf sie reagierst. Beim Singen, erst einmal nur da, und später …, ja, später dann … Die Sehnsucht trieb die Töne aus mir heraus, seither ist sie ein Teil meiner selbst. Sie komponiert ihre eigene Melodie und musiziert sich durch meinen Körper, vom kleinen Zeh bis zum Scheitel und wieder zurück.

Sehnsucht, wonach, hast du einmal gefragt, nach was sehnst du dich, Maria? Wonach ich mich sehne? Ach, wenn ich das wüsste, wenn ich das nur wüsste, André. Aber das habe ich natürlich nicht gesagt,

denn damals habe ich deinen Namen noch nicht gekannt und die Sehnsucht nicht wahrhaben wollen. Stattdessen nahm ich meinen Platz ein, rechts außen, beim Sopran. Augenblicklich wanderte meine Stimme zu dir, in deinen Bass hinein, um bei dir zu sein, und wir wurden zu dem einen Klang, wie es manchmal geschieht beim gemeinsamen Singen, wenngleich nicht immer. Die Töne drehten sich ineinander und nahmen die Form einer Kugel an, die durch den Himmel rollt, statt als Hälfte von einem Ganzen, das einmal zerschnitten wurde, über steinigen Grund wanken zu müssen.

Seither habe ich dich kaum mehr losgelassen, wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte, dich mit Tönen zu umklammern, im Gemeindehaus, in unserer Kirche, außerdem im Azul, wo einige von uns anschließend Bier trinken oder auch eine Kleinigkeit essen. Singen macht hungrig nach mehr. Stets saßen wir dort nebeneinander, wie festgewachsen klebten wir in unserer Bank, obwohl du anfangs nicht mit ins Azul kommen wolltest und erst gegangen bist, als du wusstest, dass auch ich da sein würde. Ma belle chanteuse, sagtest du in reinstem Pariser Französisch, wenn du noch ins Azul gehst, muss ich auch kommen. Seit du hier aufgekreuzt bist, besteht der Chor aus achtzig Prozent Maria, findest du das schlimm? Und ich habe gelacht und gesagt: Warum sollte das schlimm sein, du weißt, ich bin verheiratet, somit ist doch alles klar. Nein, er fühlt sich einfach gut an, unser Gesang, und zu fürchten gibt es nichts.

Was sollte es zu fürchten geben? Was denn?

 

Bis später, Bengt, ich wünsche dir einen schönen Tag, rufe ich von der Haustür aus. Das Atmen fällt mir schwer. Dann ziehe ich die Tür hinter mir zu und taumle hinaus.

Der Himmel trägt einen grauen Vorhang und was dahinter liegt, habe ich vergessen. Ein Spalt hat sich aufgetan und mich verschluckt, mich irgendwohin katapultiert, ans Ende der Welt. Aber wer sagt, dass es sich hier unten nicht herrlich aushalten ließe? Es lässt sich gut leben in der Dunkelheit, oder was meinst du?

André?

Bengt?

Wenn nur die Lunge nicht so wehtäte.

 

Die Straßenbahn schont mir den Atem. Die Menschen auf den Sitzbänken stieren vor Angst und lächeln vor Glück und irgendwo zwischen diesen beiden Polen bewege auch ich mich. Zwei Jugendliche küssen sich, sie haben es leicht: Die Jugend ist die Zeit der Liebe, so heißt es, aber das Schöne ist ja, dass die Liebe nie aufhört, sondern wächst. Ich habe es immer gemocht, älter zu werden, weil mit der Tiefe der Zeit auch die Liebe tiefer wird, ebenso wie das Verständnis von dem, was zwei Menschen einander zu geben imstande sind. Weil diese sinnlose Koketterie aufhört und man sich stattdessen nahe sein kann und sich zeigen.

So wie wir miteinander reden, André, mit dieser Offenheit und Innigkeit, so wie wir miteinander leben, Bengt, das kann niemand, der noch mit den Gefühlen spielt, um die Regeln auf diese Art begreifen zu lernen.

Ich spiele auf eine andere Art. Ein Spiel mit den kleinen Steinchen, die sich natürlicherweise in meinem Kopf befinden, nur, wenn sie hinunterfallen, landen sie Bengt auf dem Haupt und schlagen eine Beule in seine makellos hohe Stirn. Oder sie durchschlagen Andrés Kehlkopf und verbannen ihn somit ins ewige Schweigen.

Das ist die höchste Strafe, die es geben könnte für dich, wenn ich mich nicht täusche, André,

denn neben deiner Leidenschaft für den Gesang ist deine Stimme auch sonst immer und überall. Da bist du wie die Darsteller in den französischen Filmen, die ich so gern sehe: beredt. Du redest dich in mich hinein und hältst dabei deine blauen Filterlosen auf eine Art, als säßest du in Gedanken statt auf dem profanen Friedhof neben dem Hotel auf dem Père-Lachaîse in einem Paris, das es so nicht gibt. Du inhalierst den Rauch und schiltst dich gleichzeitig einen Idioten, weil du auf diese Weise deiner Stimme den Klang abgraben wirst. Also drückst du die angerauchte Zigarette mit deinen grobschlächtigen Fingern auf der Bank aus und küsst mich mit dem Geschmack von Tabak auf den Lippen. Ich schmecke das Nikotin, sage ich, und du errötest, aber das ist nicht nötig. Im Gegenteil, es schmeckt mir,

denn der Geschmack erinnert mich an eine Zeit in der Vergangenheit, die noch keine Grenzen für mich bereithielt, in keinster Weise, verstehst du, André, in keinster Weise. Aber ich bin keine zwanzig mehr, keine vingt ans und keine belle chanteuse, seien wir ehrlich: vielmehr eine vieille chanteuse. Da lachst du, André, alt findest du mich nicht, sondern jung und erotisch und schön. Deine Begierde schafft es, den Weg über die Wiese zurück ins Hotel auf die Länge eines Taktes zusammenzustauchen, auf einen der Takte aus unserem Lied ohne Worte. Symphonie möchte ich nicht sagen, es wäre ein zu großes Wort. Oder gar Pathétique, das schmerzt mir in der Seele.

Oh, Bengt.

Ein Spiel mit den Steinchen, ja, das ist wahr. Ich verrücke sie, ohne sie jemandem zu zeigen. Schiebe sie allein in meinem Kopf hin und her,

denn dort drinnen gibt es kleine Ausbuchtungen, sie nennen sich Erfahrung, und in jede dieser Ausbuchtungen passt eines der Steinchen hinein. Es purzeln bereits einige von ihnen in meinem Gehirn herum und immer habe ich bemerkt, wenn ein neuer hinzugekommen ist in meinem langen, kurzen Leben, das sich ungefähr in seiner Mitte befindet, so hoffe ich zumindest. Aber meine Angst geht doch woanders hin,

denn wenn ich so weitermache, kann das nur schiefgehen, das lehren mich die Bücher und auch die Liedertexte und die geliebten französischen Filme sowieso. Dort sterben sie allesamt, die Frauen, die ihren Männern untreu werden, ja, das tun sie. Sie werden krank oder saufen sich zu Tode oder fahren gegen einen Baum. Manchmal springen sie von einer Klippe oder schneiden sich die Pulsadern auf, als Strafe für das Glück. Als Strafe für das Unglück, das sie dem anderen bringen, dem, der von dem Glück nichts hat oder nichts wissen darf oder wenn doch, die Pistole zieht. Oder so traurig wird, dass jemand ihn von dieser Traurigkeit erlösen sollte, durch den eigenen Tod, vermute ich,

denn wie sonst könnte das Leid, das wir jemandem zufügen, gesühnt werden? Auch das habe ich gelernt, auch dafür gibt es einen passenden Stein. Da reicht ein einziger Film, der dich darin unterweist, was Unmoral zu bedeuten hat und was mit denen geschieht, die sich dem allgemeinen Benimm widersetzen: bums, aus.

Alles, was du in deinen Kopf lässt, bleibt dort, habe ich einmal gelesen und ich stelle mir das so vor, dass die Erfahrung zu einem Klumpen wird. Sie verdichtet sich zu eben diesen Steinen, von denen ich erzähle, sucht sich die Kuhle im Kopf oder schlägt sie dort hinein, und bei der nächsten passenden Gelegenheit brauchst du nicht erst neue Erfahrungen machen, sondern du lässt das Steinchen einfach in seine passende Form rollen. Da liegt es dann und weiß Bescheid, immer schon Bescheid. So ist das, also fang bloß nicht an, nachzudenken oder anders zu denken oder gar Unerprobtes probieren zu wollen, Unbekanntes, nur das nicht. Vorgaben erleichtern das Leben, das weiß doch jeder Mensch und all jene, die sich einmal am Komponieren versucht haben. Eine Frau sollte die Finger von der Komposition lassen, hat irgendein Idiot einmal gesagt, ich aber sage: Eine Frau sollte die Finger von den Männern lassen, dies zuallererst.

Erst recht, wenn sie verheiratet ist.

Ave Maria. Unbefleckt! Wenn wir auf diesen Fels hinsinken, zum Schlaf, und uns dein Schutz bedeckt, wird weich der harte Fels uns dünken, du lächelst, Rosendüfte wehen, in dieser dumpfen Felsenkluft.

Mich beschweren meine Kopfsteine nur in dem Maße, dass ich morgens am liebsten im Bett liegen bliebe und mir selbst leidtäte, und das wiederum ist noch pubertärer, als Affären zu haben und stolz darauf zu sein.

 

Die Straßenbahn hält nur hundert Meter von der Musikschule entfernt. Als sich die Türen öffnen, zucke ich kurz zusammen, weil ich denke, da stehst du, André, mit deinem Notenmäppchen unterm Arm, aber ich sehe dich überall und tatsächlich schlurft nur ein weiterer Jugendlicher in die Bahn.

Ich sollte nicht zucken, wenn ich dich zu sehen glaube.

Ich steige aus, draußen scheint es mir zu hell dafür, dass wir November haben, und auch in der Musikschule ist es zu hell. Ich bin verstimmt, das Klavier ebenso, aber das ist nicht möglich, Haller ist zu korrekt, um etwaige Verstimmungen zu übersehen.

 

Während Justinian eine Prélude von Chopin herunterschlampt, sehne ich mich nach der Pause,

denn die Sehnsucht ist immer ein Anderes. Also gebe ich Justinian lieber ein Menuett auf, das passt besser zu ihm. Ein Menuett, winzig in seiner demütigen Form, so wie auch der Junge winzig ist, beinahe ein wenig zu klein für seine elf Jahre. Joscha ist größer, obwohl er erst zehn ist. Begabter außerdem, aber das sagen sie alle, die Lehrerinnen von ihren Lieblingsschülern, und schließlich ist es Joscha gewesen, der mir die erste dieser Préludes um die Ohren gehauen hat, als ich sie ihm zum Spielen geben wollte. Nachdem ich mir anschließend die Noten aus den Gehörgängen geklaubt hatte, die verflixten Triolen bei wechselndem Vorzeichen, erinnerte ich mich, dass auch mir diese erste Prélude als Kind immer zu schwer gewesen ist. Daran hat sich im Übrigen nichts geändert, weil sie noch immer so leicht davonfliegt, agitato nennt sich das: erregt und getrieben. Dagegen meine Finger, wie sie bleiern auf die Tasten sinken, das geht nicht zusammen, aber wer oder was passt schon zusammen?

 

Eine schwebende Fee bist du nicht gerade, Maria, hat Jovanovic immer gesagt, wenn er neben mir saß, während ich mich plagte, um später einmal eine verhinderte Konzertpianistin zu werden. Und ich fühlte die Schwere meines Körpers wie die meiner Hände, dabei habe ich nie viel gewogen im Vergleich zu den anderen Mädchen, gerade in der Pubertät nicht.

Das Gewicht kam von innen.

Agitato fühle ich mich erst seit vierundachtzig Tagen und vierundachtzig Nächten, aber das Gewicht lastet dennoch weiterhin auf mir, weil ich mir den Luxus der Erstarrung leiste, mich nicht entscheiden zu wollen, sondern einfach weiterzugleiten in meinem Begehren nach André, ohne mich hinauszubewegen aus der Klemme. Das bringt nicht nur die Finger in die Klemme, nein, es lässt auch den Körper beklemmt, sobald er aus der Traumwirklichkeit ins Leben zurückkehrt, schwer, wie er am Morgen danach brachliegt, auf dem Bett, aus dem ich nicht mehr hochkomme in der Früh.

Vielleicht sollte ich meinen Hut nehmen, Bengt zuliebe,

denn wie könnte ich jemanden verletzen, den ich liebe? Wie könnte ich aufhören, auch dich zu lieben, André?

Das Ausmaß unserer Liebe übersteigt den Mut nach mehr.

 

Ich hefte das Menuett in Justinians Mappe und stecke mir die Préludes sonst wohin. Salut, Justinian, sage, nein, krächze ich, sie klingt miserabel, meine Stimme, vergiss das Üben nicht. Ohne Üben kein Meister, hat Jovanovic immer gesagt und ich zog die Vorhänge zu, damit mich niemand hörte, was natürlich absurd war, schob mich auf den verhassten Klavierhocker und spielte Tonleitern und die Goldberg-Variationen von Bach. Aber geflogen sind sie trotzdem nicht, meine Finger, und eine Meisterin bin ich nie geworden, auch wenn Haller so viel von mir hält. Nicht wahr, Mariechen, höre ich ihn sagen, einen Konzertabend bestreiten, das könntest du wie nichts, aber ich bin ja so froh, dass du hier bei uns unterrichtest und nicht auf einer der großen Bühnen sitzt, womöglich in New York. Weit weg von Zuhause. Stell dir nur vor, wie einsam du dann wärst.

Einsamer ist es zu dritt,

denn auch wenn mich alle lieben, so bleibe ich doch allein, solange ich den Kontakt zur Welt nicht mehr herzustellen vermag, nicht mit Kaffee und nicht mit Martini. In mich hineingetreten lebe ich in einem Kokon aus Angst vor der Katastrophe, die sich am Horizont abzeichnet und unausweichlich scheint.

 

Ich gehe zum Automaten auf dem Flur, um mir einen schäbigen Cappuccino zu ziehen, der sich so nennt, ohne einer zu sein, aber ich rege mich nicht auf,

denn wer von sich behauptet, eine Pianistin zu sein, aber im Herzen eine Sängerin ist, sollte hübsch zurückhaltend bleiben und niemanden dafür schelten, der einem falsche Tatsachen vorgaukelt. Überhaupt wäre Zurückhaltung das Gebot der Stunde und ich meine nicht die zwangsläufige Zurückhaltung, die mir meine nicht selbst gemachten Erfahrungen verordnen, sondern die aus eigener Kraft gelingende.

Mein Portemonnaie offenbart fehlendes Kleingeld, aber das ist nicht das Einzige, was mir fehlt.

Wonach sehnst du dich, Maria, hm, wonach?

Ich frage die Putzfrau, ob sie Geld wechseln könne, und mit der Frage höre ich meine Stimme, die kurz vor dem Versagen steht, weil sich das Versagen der einfachen Lebensaufgaben und ihrer Bewältigung nur in einer versagenden Stimme niederschlagen kann. Eine versiegende Quelle, die nicht mehr sprudeln mag, weil sie sich nicht länger dem Heiligen zu widmen verspricht, dem Unsterblichen, sondern dem sterblich Trivialen.

Ave Maria, Jungfrau mild, erhöre einer Jungfrau Flehen, aus diesem Felsen starr und wild.

Die Reinigungskraft gibt mir zwei Fünfzigcentstücke, ich versuche einen zaghaften Dank, aber heraus kommt lediglich heiße Luft. Meine Stimme stellt die Probe am Abend in zweierlei Hinsicht infrage.

Was tun?

Ich könnte André anrufen, ihm sagen, dass es heute nichts wird mit dem Singen, wir uns aber stattdessen treffen könnten, im Hotel Meyer. Nur so, zum Beispiel,

denn uns ineinander verdrehen, geht so oder so, aber ein heimliches Treffen während der Probenzeit wäre womöglich der Lüge zuviel. Tatsächlich gehen wir immer zu unserer Probe, wenn sie stattfindet, so machten wir uns nach den ersten drei Wochen erstaunt klar: dass wir die Probe niemals dem temporären Stillen unserer Lust zuliebe ausfallen lassen würden.

Mit heißen Händen, in denen der Plastikbecher mit dem Aufdruck Achtung Verbrennungsgefahr mir die Finger verbrennt, konkret und nicht symbolisch, setze ich mich an einen der Resopaltische im Besprechungszimmer der Musikschule, das gebaut wurde, um den Beweis zu führen, dass es ein Leben ohne Leidenschaft gibt. Die Wände treiben sie dir ein für alle Mal aus und tun dabei noch so, als würden sie dich nur schützen wollen. Vor wem oder was? Einem Zuviel an Gefühl, vermute ich. Die Schule erhebt den Anspruch, Musik vermitteln zu wollen, klammert jedoch die Qualität dessen aus, was Musik zu erzeugen imstande ist.

Ja, André, sie geht unter die Haut, wir beide wissen das, aber die Wände aus Gipsbauplatten bleiben stumm und verschweigen, was die Mauern unserer Kirche sehr wohl verstanden haben,

denn neben aller Heiligkeit können die Wände im Chorraum sprechen: Sie hören uns und hörten andere zuvor, sie beantworten das Feuer und sind nicht so schnell zu erschüttern.

 

Einmal, als die Probe in der Kirche stattfand, blieben wir im Anschluss einfach zurück. André zog mich hinter den Bau und weiter, hinter die Stütze, die aus dem Mauerwerk herausragt, ein toter Winkel, von außen nicht einsehbar. Dann küsste er mich, und obwohl es nicht das erste Mal war, dass mich ein Mann küsste, fühlte es sich doch an, als wäre es das. In diesem Moment floss so viel Liebe, dass sie meinen ganzen Körper ausfüllte, von meinem Mund bis in den kleinen Zeh und wieder hinauf und von meinem Mund in den deinen und durch deinen Hals bis zu deinem kleinen Zeh.

Als wir uns wieder voneinander lösten, um die anderen einzuholen, bevor ihnen unser Fortbleiben auffallen würde, zitterten wir beide, also hielten wir uns im Schutz der Kirchenmauern noch einen Moment aneinander fest, um nicht zu erfrieren und die Ruhe kehrte zurück.

Beschwingt gingen wir um die Kirche herum, um zur Straße zu gelangen, und als ich seine Hand nahm, kurz nur, um sie zu halten, spürte ich tiefes Glück, bis André mir die Hand entzog. Die anderen könnten uns sehen, sagte er, dann grinste er und fügte hinzu, dass die Kirchen neben dem Singen anscheinend doch noch für etwas gut seien, und ich stimmte zu und meinte: Ja, sehr gut sogar, aber dafür sollten sie schließlich auch da sein: für die Liebe, und dass der Gedanke irgendwie unangebracht sein könnte angesichts meines Verheiratetseins oder sonst etwas, kam mir nicht einmal kurz in den Sinn. Im Moment der Liebe gibt es nur Wahrheit und die Wahrheit ist einfach genug. Als wir weitergingen, warf ich einen Blick zurück, auf diese Kirche, die nun auf immer mit André verknüpft sein würde und flüsterte: Und dicke Mauern haben sie auch, die Kirchen, denen können wir getrost alles anvertrauen.

 

Hier, in der Musikschule, aber fürchten sich die Wände vor dem Abgrund, der sich auftun könnte, zu wacklig sind sie und brandgefährdet. Niemals würdest du ein solches Gebäude entwerfen wie diese Schule, André, das weiß ich. Du baust Häuser aus Luft, auf denen ich balanciere, ohne stürzen zu müssen.

Hoffe ich.

Ich nehme ein Blatt Papier, um meiner Sehnsucht ein Ventil zu geben, setze den Stift an und versuche, André in Worten zu begegnen. Das ist harmlos und tut niemandem weh. Und schön ist es außerdem,

denn die Vorstellung von ihm lässt mich seinen Körper erahnen, erahnen, wie er sich anfühlt, dieser Körper, wann immer wir beieinander liegen. Zusätzlich gibt sie mir das Gefühl von Glück, nach einem kurzen Schlaf nackt in zerwühlten Laken zu erwachen, draußen singt eine Nachtigall und dann klaube ich meine Klamotten zusammen, um wenig später verschlafen über die Straßen hinüber zur Bahn zu laufen, die um diese Zeit nicht mehr fährt, selbst das gehört zu dieser Art Glück: Sich mit dem noch weichen und erfüllten Körper davonzustehlen und bereits jetzt erneut die Sehnsucht zu empfinden, ihn, André, wiederzusehen und zu fühlen. In meinem Bauch sammeln sich die Töne und hüpfen hinauf in den Rachenraum bis zur Zungenspitze, federleicht passieren sie dabei die Stimmbänder.

Ich singe, wo ich auch gehe und stehe. Ich singe, singe auf meinem Weg. – Je chante! Je chante soir et matin, je chante sur mon chemin. Ich bin glücklich, ich habe alles und habe nichts, ich singe auf meinem Weg. – Je suis heureux, j’ai tout et j’ai rien, je chante sur mon chemin.

Ja, so fühlt sich das Glück an, ist es nicht so, André? Dieses Singen, das geht nur im Zusammenklang mit der Erinnerung an zerwühlte Laken.

 

Auf dem Papier steht: Ich liebe dich, drei rote Wörter, zwölf rote Buchstaben. Ich schreibe den Satz noch einmal in Blau und versuche, eine der beiden Zeilen anschließend auszustreichen: Rot oder Blau? Ich setze den Stift an und wieder ab, bis Haller hereinkommt, um mir seinen Hüftschwung ins Gesicht zu drücken, mit dem er mich erobern will, nur, dass ich ja bereits erobert worden bin.

Mein Glanz, mein Streben, mein Begehr: vergeben, vergeben.

 

Den restlichen Arbeitstag lasse ich routiniert über mich ergehen: Bettina, Juana, zuletzt Joscha, das immerhin ist erfreulich, er allein lehrt den Wänden Lebendigkeit. Es gefällt mir, ihn zu beobachten, wie er sich auf den Klavierhocker schiebt und dabei seine Haltung überprüft. Erst lässt er die Schultern fallen, dann bringt er seine Hände in Position, mit einer Präzision, als sei der Unterricht hier eine ernste Angelegenheit, und das ist er ja auch. Oder sollte es sein. Mich veranlasst allein unser Chor dazu, mir die Mühe zu machen, meine Schultern auf ihren Grad von Verspanntheit hin zu überprüfen,

denn die Töne sind beim Singen so unmittelbar in mir, dass sie meiner bedürfen, während sie beim Klavier immer im Außen erzeugt werden und dort auch bleiben, und die Töne ohne innere Beteiligung vom Instrument produziert zu werden scheinen. Dass das so nicht stimmen kann, weiß ich natürlich, zumindest theoretisch, aber eben nur in der Theorie, wie so vieles, was ich im Leben tue, der Theorie entnommen ist. Theoretisch ist es richtig, endlich mit der Heimlichtuerei aufzuhören, theoretisch ist es falsch, keine Entscheidung treffen zu wollen, aber …, aber …

Wenn ich Joscha betrachte, dann scheine ich Theorie insofern vermitteln zu können, dass sie zumindest diesen einen kleinen Menschen hier auf gute Art erreicht, auf richtige Art, indem sie ihn dazu bringt, das Klavier und seinen Körper zusammenzufassen zu Musik.

Nach dem Reinfall mit Chopin hatte ich Joscha ein Stück für vier Hände geben wollen, aber die vier Hände, die momentan auf mir herumtanzen, sind bereits ein Paar Hände zuviel, auch wenn ein Frauenkörper niemals mit einem Instrument verglichen werden sollte. Andrés Hände sind ohnehin überall und gefühlt viertausend an der Zahl.

Also gab ich Joscha stattdessen einen Kabalevski für zwei Hände zum Spielen, vielleicht weil ich dachte, jemand mit dem Namen Joscha freut sich über einen russischen Komponisten, auch wenn Joscha in Wirklichkeit hebräischen Ursprungs ist. Und tatsächlich spielt er das Stück von innen heraus, heißt: Ich höre Joschas Wollen, sich dort hinein zu begeben und nicht beim Reproduzieren von Tönen steckenzubleiben. Seine Sehnsucht klingt nach der Sehnsucht eines Zehnjährigen,

denn er spielt seinen Wunsch nach Anerkennung mit hinein.

Die Sehnsucht ist in jedem Alter eine andere, nur manchmal bleibt sie ein Leben lang gleich.

Er spielt mir vor, was er sich wünscht und wer er zu sein glaubt, und das ist genug und mehr als ich auf dem Klavier je zu spielen imstande sein werde, solange man mir das Instrument nicht implantiert.

 

Oh Mutter, hör ein bittend Kind, heißt es bei Schubert und ich stellte mir während der Proben immer Joscha vor, weil er das einzige Kind ist, das mich interessiert und das ich aus diesem Grund im Kopf behalte über die Dauer der Unterrichtsstunde hinaus. Wenn ich sicher sein könnte, dass ich einen solchen Sohn bekommen würde, dann hätten wir vielleicht Kinder, Bengt und ich. Aber ich habe Angst davor, dass da jemand aus mir herausfällt, der so lustlos dreinblickt wie Justinian, was es mir unmöglich machen würde, diesen Jemand zu lieben. Ebenso groß ist die Angst davor, dass ich das Kind stattdessen zutiefst und von Herzen lieben würde, so wie ich dich liebe, Bengt, oder dich, André, aber dieses Thema lasse ich in diesem Fall lieber beiseite. Ich würde das Kind also herzlich lieben, aber dann käme irgendwann später noch ein anderes und stellte diese Herzensliebe infrage: Wen liebst du mehr?

Was dann?

Der Zweifel an der Einzigartigkeit der Liebe ist für niemanden zu ertragen, nicht für den, der liebt, und nicht für den, der geliebt wird, ist doch so, Bengt. Deshalb schweige ich mich auch über die gegenwärtige Situation aus, ich meine über die Frage, ob ich einen anderen liebe, womöglich sogar mehr als dich. Ich beabsichtige nicht, dir das zuzumuten, gleichgültig, ob es so aussehen könnte, als schützte ich dabei nur mich selbst, mag sein, dass Letzteres der Wahrheit entspricht. Ich habe nie behauptet, mutig zu sein, schon gar nicht in Hinsicht auf etwaige zu fällende Entscheidungen: Kind, ja oder nein. Reden, ja oder nein? Alter Mann, neuer Mann, ja oder nein? Entscheidung an sich, ja oder nein? Nenn also ruhig meine Feigheit als Ursache, aus der heraus ich die Entscheidung verweigern werde, bis dass der Tod uns scheidet. Wessen Tod auch immer. Es ist mir egal, auch wenn ich tatsächlich nicht stolz darauf bin, das kannst du mir glauben. Nur dass der Stolz es mir nicht wert ist, über meinen begrenzten Schatten zu springen, da siehst du mal.

Immer habe ich mich vor Entscheidungen gedrückt. Bei allen, mit denen ich je zusammen war, schluderte ich so lange herum, bis die Lösung von selbst kam, und das war nicht immer die Beste, aber zumindest eine, die ich nicht selbst herbeiführte und die es mir daher erlaubte, mich nicht für sie verantwortlich fühlen zu müssen. Willentlich führe ich stattdessen solche Situationen herbei, wie André über das Kinn zu streichen, mit ihm den Schritt ins Hotel Meyer zu setzen und weiterzugehen, immer weiter und nicht innezuhalten, bis die Reue zu spät kommt, so sie überhaupt kommt.

Wir haben häufig darüber gesprochen, ob wir nicht doch noch ein Kind bekommen sollten, bevor wir zu alt dafür sein werden, Bengt. Selbst einen Arbeitstitel hat es gegeben für unser mögliches Kind, so nannten wir das: Arbeitstitel. So lange haben wir über das Projekt Tito gesprochen und so lange habe ich gezögert, dass es nun zu spät geworden ist dafür, denke ich zumindest. Auch hier ließ ich mir die Entscheidung aus lauter Angst einfach durch Mutter Natur abnehmen und bin damit recht gut gefahren,

denn es geht uns ja nicht schlecht als Double-income-no-kids-Paar. Und dass wir so gut miteinander zurechtkommen, Bengt, uns nach wie vor lieben, auch wenn es gerade anders aussehen mag, verdanken wir vielleicht gerade diesem Umstand, dass wir einander immer Mann und Frau sein konnten, Mann und Frau und Frau und Mann, nicht Mutti und Vati, sondern ein Liebespaar, das in den Urlaub fährt und Campari am Strand trinkt, wenn es das gerade will.

Und es will.

Verpasst ist verpasst, tick, tick, tick, die Uhr läuft weiter und irgendwann ist es zu spät, so ist das und Punkt.

Auch unsere Zeit läuft mir davon, die Stunden, die ich mit dir verbringe, André, irgendwann werden sie vorbei sein, wie sonst soll das gehen, die Frühstücke mit dir, Bengt, irgendwann können sie keinen selbstverständlichen Teil meines Alltags mehr darstellen, fürchte ich.

Tick, tick, tick, ich lasse es geschehen und warte.

 

Die Angst vor Entscheidungen trägt einen Namen, sie heißt Decidophobie. Das Wort habe ich gelesen und es ist sofort in meinen Kopf gewandert, weil es dort mehrere Kuhlen gefunden hat, in die es sich gut hineinrollen ließ. Ja, ich glaube, die Decidophobie ist der eigentliche Grund, aus dem heraus wir nie ernsthaft erwogen haben, Nachwuchs zu zeugen, Bengt, um uns in ihm zu verewigen, nicht mangelnde Liebe, wie Juli mir einmal attestiert hat mit ihrem Halbwissen aus Psychologie heute: Weißt du, Maria, wenn du Bengt wirklich lieben würdest, dann gäbe es für dich nichts Schöneres, als mit ihm zu verschmelzen und etwas zu erschaffen, was die Gestalt eurer Liebe trägt.

Ja, ja, und dann aussieht wie Justinian. Was dann, meine Liebe? Sie hat gut reden,

denn da sie keine Sehnsucht nach einem Leben links oder rechts der Spur kennt, war für sie immer klar, wo es langgeht: Haus, Garten, Kinder. Sie tollt mit den Kleinen draußen herum, ohne die Sorge, dass ihr dieses Leben einmal nicht mehr genügen könnte, und ja, verdammt, natürlich beneide ich all jene, die sich zufriedengeben können, das Gute akzeptieren und sich nicht mit ihrer Sehnsucht dorthin verirren, wo sie nichts zu suchen hat. Dann wieder beneide ich niemanden, dem das treibende Verlangen fern ist,

denn das Streben nach dem Himmel, die Nähe der Glückseligkeit erlebt nur, wer der Sehnsucht seine Stimme leiht.

Glaube ich.

Keine Ahnung, warum mir plötzlich dieses Kind-Thema im Kopf herumspukt, von dem ich doch längst gemeint hatte, es abgeschlossen zu haben. Vielleicht aus der Sehnsucht heraus, etwas Bleibendes schaffen zu wollen, für den Fall, dass ich gehen muss. Wieso gehen?

Augen zu und Kopf unter Wasser.

 

Ich freue mich schon auf das Schwimmen nachher und während Joscha noch seine Seele von den Fingern auf das Klavier überträgt, bezogen auf sein Spiel wäre ich sogar versucht zu sagen: in das Klavier, schaue ich bereits heimlich auf die Armbanduhr. Untreu bin ich nun auch ihm, meinem Liebling, im Geiste.

Da ich keine Kinder habe, kann ich nicht sagen, ob in dem Moment, in dem die Sorge für einen anderen da ist, die eigene Sehnsucht Erfüllung findet, wie du mir glauben machen willst, Juli, aber vielleicht redest du auch nur so viel, um mit deiner Geschwätzigkeit den stillen Drang nach dem Mehr zu übertönen. Wer weiß, vielleicht sehnst du dich doch nach dem Anderen: einen Campari am Strand zum Beispiel, ohne Schwimmflügel auf dem Schoß und schwer beladener Badetasche zu deinen Füßen und der Furcht, eines deiner gescheiten Kinder könnte in einem Augenblick der Unachtsamkeit ertrinken und dich mit dem Schmerz alleinlassen und dem Vorwurf, einmal nur abwesend gewesen zu sein, um deiner Sehnsucht wenigstens mit einem Campari Ausdruck zu verleihen. Oder warum nicht gleich Martini? Mit dem kannst du dich dann anschließend zugrunde richten.

Obwohl, wer weiß, vielleicht wäre es in meinem Fall doch besser, ein Kind zu haben. Womöglich wäre ich als Mutter jetzt zu beschäftigt, um noch in der Lage zu sein, irgendwelche Dummheiten zu begehen, so würdest du es nennen, oder Bengt? Dummheit. Nein, du würdest das Wort nicht gebrauchen, sondern sagen: Was tust du, Maria, was machst du bloß? So einfach würdest du es mir nicht machen, mich mit Zuschreibungen wie Dummheit zu diskreditieren. Vielleicht wünschte ich mir, dass du so reagiertest, wenn ich von André erzählte, dann hätte ich wenigstens einen Grund, dich guten Gewissens verlassen zu können,

denn wer so daherredete und mich dadurch in die Position des kleinen, dummen Mädchens setzte, bewiese damit nur, dass er mich nicht wirklich liebte, was immer wirklich in diesem Zusammenhang meinen könnte. Die Wahrheit aber ist, dass die Ehemänner nur in den Romanen und Filmen schlecht wegkommen, in denen die Sympathie innerhalb einer Geschichte auf die Frau gelenkt werden soll, welche, um diesen Vorgang der positiven Identifizierung überhaupt möglich zu machen, moralisch entlastet werden muss. Wenn sie sich schon sträflicherweise einen Neuen sucht, so muss es zumindest jemand sein, der besser ist, netter, liebender oder insgesamt zurechnungsfähiger, derweil der Ehemann als Säufer daherkommt, als Schläger und Missachter der betreffenden Person. In der Literatur fällt mir Anna Karenina ein, der die Absolution der gesammelten Leserschaft für ihr Tun gewährt wird, aus eben diesem Grund, dass der Mann ihr Gefühlsleben ignoriert, und zwar über Jahre hinweg. Obwohl der Liebhaber … na ja. Annas Sohn wird im Übrigen auch Joscha genannt oder so ähnlich, vielleicht glaube ich aus diesem Grund, dass der Name meines besten Klavierschülers russischen Ursprungs ist, weil ich bei seinem Klang immer schon an Tolstoi habe denken müssen. Die obligatorische Strafe, den Tod, bekommt Anna Karenina am Ende dennoch, das schon, aber zumindest sind alle auf ihrer Seite, weil sie ja vor einem Idioten flieht. Ich jedoch habe einen Mann zum Lieben.

Und einen Geliebten.

Würde ich ein Kind mit dir haben wollen, André? Nur mal so dahergesponnen, verstehst du,

denn keine Angst: Mit über vierzig werde ich mich nicht mehr mit einer Schwangerschaft beschweren. Ich habe ausreichend an dem Gewicht meines schweren Herzens zu tragen, das zwischen zwei Männern in die Tiefe taumelt und irgendwo in der Kniekehle hängen bleibt oder im Knöchel, natürlich. Oder denkst du, es ist Zufall, dass ich neben einer krächzenden Stimme einen humpelnden Fuß hinter mir herschleppe? Niemandem fällt das auf, mir schon. Ja, ja, ich weiß: Es ist nicht länger zu ertragen, das Selbstmitleid, dieses Zwischen-den-Stühlen-Sitzen, ich bin schließlich nicht die Erste, die dort Platz genommen hat. Wenn es dich langweilt, dann könntest du einfach weiterblättern. Ich werde ein zweites Kapitel in meinem Leben aufschlagen, das die Möglichkeit eruiert, was geschehen würde, wenn ich die Erstarrung lösen könnte, womöglich noch ein drittes und viertes, der Möglichkeiten sind viele und nur eine davon ist der Tod.

Aber nun wartet genau dieser Tod auf mich, wenn ich munter so weitermache und mir zwar vieles dabei denke, nur nicht in den Momenten, in denen ich tatsächlich denken statt handeln sollte,

denn trotz aller Starre setze ich weiterhin den Fuß, humpelnd oder nicht, über die Schwelle zum Hotel Meyer und sinke an deine Brust, André, und weiter in dich hinein.

Der Tod, höre ich Juli sagen, mach dich nicht lächerlich, Maria. Vom Tod redest du nur, um dich interessant zu machen, nimm dich nicht so wichtig, du bist nicht die Erste und gewiss nicht die Einzige, die an der Sehnsucht festhält. Es könnte auch einfach nichts geschehen und davor hast du wohl am meisten Angst.

 

Weißt du noch, wie wir auf dem Rückweg von unserem ergaunerten Ausflug am Jahrmarkt vorbeigekommen sind, André? Kurzentschlossen habe ich vorgeschlagen, in eines der Höllengeräte zu steigen, Spinnenfrau hieß es oder so ähnlich, glaube ich, nur eine Runde Karussellfahren, aus Gründen der Lust und aus nichts anderem, und du hast sofort zugestimmt, so ist es immer schon zwischen uns gewesen. Und die Entschlossenheit, mit der du meinen Vorschlägen folgst, untergräbt den Zweifel, der sich bei mir nach jeder Entscheidung gewöhnlich einschleicht und sie rückgängig zu machen sucht. Sollen wir ein Kind zeugen, Bengt? – Ja, Maria. – Oder lieber doch nicht? – Vielleicht hast du recht, Maria, lieber nicht. – Wollen wir uns durch die Luft schleudern lassen, André? – Ja, Maria. – Oder lieber doch nicht? Aber da bist du schon losgezogen und kommst mit zwei Fahrkarten zurück. Ich lache und nehme dich bei der Hand, um gemeinsam die Planke hinaufzurennen. Dann schiebe ich mich neben dich, ziehe den Bügel über den Kopf und wir lassen uns durch die Luft schleudern, kopfüber und -unter und zur Seite, keine Ahnung, wie oft und was noch, aber es ist berauschend und erschreckend und aufregend auf eine todesmutige Art.

Hat es dir gefallen, Maria, hast du gefragt, kaum, dass wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten, und ich nickte. Knapp dem Tod entronnen, meintest du und wurdest ungewöhnlich stumm und ich lachte ein weiteres Mal und sagte, das wäre ja das eigentlich Schöne an diesen Fahrgeschäften. Im Falle, dass jemand Todessehnsucht verspürt, magst du recht haben, Maria, hast du geflüstert und mich auf eine Weise an dich gedrückt, als wärest du heilfroh, dass es mich noch gab. Damals, und nur in diesem einen Augenblick, hast du dich für die Länge der glücklichen Umarmung ausnahmsweise einmal nicht darum gekümmert, ob uns jemand sehen könnte. Ansonsten sind wir stets so vorsichtig, wie es nur zwei Menschen sein können, die über das Ausmaß des Verbotenen Klarheit erlangt haben.

Die Angst, das Leben von einem einzigen Bügel abhängig zu machen, ist unvergleichbar aufregender als die Angst vor einem falschen Ton.

 

Genug für heute, sage ich zu Joscha,