Inhaltsverzeichnis

 

Gudrun Büchler, Unter dem Apfelbaum

E-Book

ISBN: 978-3-903061-06-4

 

© 2014, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Lektorat: Marianne Glaßer

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagfoto: Jan Drobny

 

Printversion: Hardcover Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-12-0

www.septime-verlag.at

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Gudrun Büchler

 

wurde 1967 in Mödling bei Wien geboren und lebt auch dort. Sie absolvierte 2008/09 die Leondinger Akademie für Literatur und veröffentlichte bislang zahlreiche Kurzgeschichten in Anthologien und Literaturzeitschriften.

Unter dem Apfelbaum ist ihr Romandebüt.

Im Herbst 2014 erhielt Gudrun Büchler für diesen Roman den Anerkennungspreis für Literatur des Landes Niederösterreich.

 

 

Klappentext

 

Magda, Mathilda, Marlies, Milla – vier Generationen von Frauen und deren Lebensgeschichten: Millas Urgroßmutter Magda wird 1902 im Alter von zehn Jahren auf einen reichen Hof gegeben, um zu arbeiten und die eigene Familie zu entlasten. Da Magda bei der Geburt ihrer Tochter Mathilda starb, schickt ihr Mann diese später auf das Internat einer Landwirtschaftsschule.

Der Krieg veranlasst Mathilda, die eigene Tochter Marlies vor der anrollenden Front fortzuschicken, während sie selbst auf dem Gut verbleibt.

Marlies’ Tochter Milla ist von Geburt an taub und stumm und wird schließlich in die Obhut einer Bäuerin gegeben, die ihr Haus als Heim für behinderte Jugendliche führt.

Dies ist der Beginn der Geschichte, wir schreiben das Jahr 1973.

 

Ein Jahrhundert, eine Familie, vier Schicksale, die auf dramatische Weise miteinander verbunden sind.

 

Gudrun Büchler

Unter dem Apfelbaum

Roman | Septime Verlag

 

 

Gefördert durch das Land Niederösterreich,

sowie der Stadtgemeinde Mödling

Bleibe ich hier, bleibe ich stehen.

Will ich weiter, muss ich hinein in die Welt mit diesem Körper, der ungelenk ist und sperrig. Mit diesen Ohren, die taub sind, wie die Zunge, damit die alten Zeiten, nun als Worte neu geboren, tatsächlich ungehört vergehen, nicht nur unbeachtet. Mutter heißt die Frau und Vater der Mann. Bin starr und stumm. Das Kind heißt Schwester.

Sie schaut mich an.

 

»Seid ihr alle taub?« Die Hinkende zerrte am Ärmel ihres Arbeitsmantels.

Weder war ich taub noch stumm oder blind, müde war ich nach diesem Spießrutenlauf, wie auch ein Mensch es wäre.

Sie zerrte und zog den Mantel über die Schulter, dann den zweiten Ärmel, schälte sich langsam aus ihrer Verkleidung. »In eure Zimmer, hab ich gesagt!«

Den ganzen Tag über hatte ich geahnt, dass heute wieder so ein Abend sein würde, noch eine Runde, wenn es sein musste, aber dem letzten dieser Abende näher als dem ersten und hoffentlich auch dem letzten der Mädchen, ich war nämlich nicht taub!

Als sie Millas Blick bemerkte, deutete sie den Gang entlang, dorthin, wo das Abendrot noch zu sehen war, auf unsere Tür mit dem aufgeklebten Marienkäfer. Zwei schwarze Punkte hatte er auf dem linken Flügel, drei auf dem rechten. Milla hatte einen auf der Stirn.

»Das gilt auch für dich«, sagte die Hinkende und deutete noch einmal, »geh.«

Milla schloss den Mund und wandte sich ab, beobachtete über die Schulter zurück jedoch weiterhin jede Bewegung an der Garderobe. Jetzt ahnte auch sie es. Ihre Hände waren kalt, die Füße sowieso. Mir blieb nicht viel Zeit.

Die Hinkende schüttelte den Arbeitsmantel aus und hängte ihn an den Haken. Aus der Tasche des grünen Jankers daneben zog sie das Kopftuch, das mit den grünblauen Schmetterlingen, ihr Ausgehtuch, unser Fortfliegtuch. Sie reckte das Kinn, verknotete die Enden vor dem faltigen Kehlkopf, stopfte Haarsträhnen unter das Tuch und schlüpfte in den Janker. »Der Heinz ist jeden Moment da.« Sie drückte die Hirschhornknöpfe durch die Löcher, strich den Rock glatt. »Dass mir dann keiner mehr herumläuft«, sagte sie noch und humpelte zur Tür. Eine Schlüsselumdrehung nur trennte sie vom Feierabend, sie sperrte auf, stemmte sich gegen die Tür, damit sie ja aufging, und drückte sich mit dem Ellbogen hinaus.

Milla kniff die Augen zusammen, als sie an ihr vorbei den Hasen erspähte. Nur ein braungrauer Schatten auf der Wiese, der einen Haken schlug, einen zweiten, keinen dritten. Schonzeit herrschte draußen.

»Der Heinz, der Heinz«, kreischte die Glatzköpfige, die dazugekommen war. Sie wippte auf und ab, vollführte ihren Zehen-Ballen-Zehentanz. Hinter uns drängte sich der Kichernde vorbei zur Toilette.

Milla senkte den Kopf und summte.

Die Hinkende sperrte von außen zu.

»Schnell, schnell, der Heinz«, half mir die Glatzköpfige und schob Milla zum Marienkäfer hin. Mit jedem Schritt, der uns dem Gangfenster näher brachte, wichen die Tannen ein wenig zurück und machten Platz für den Himmel und die beiden Viehweiden. Auf der einen verschwammen Kuhflecken in der Abenddämmerung, auf der anderen Hahnenfuß und Disteln. Zwischen den Weiden hindurch führte eine asphaltierte Traktor- und Krankenwagenbreite zum Haus herüber, breit genug auch für den Lieferwagen des Metzgers, für seinen Kadett sowieso, wenn er ohne Fleisch kam, und für den Opel Senator des Bürgermeisters einmal im Monat.

Für den neuen Datsun ihres Onkels war die Straße erst recht breit genug, hatte er sie doch angeregt im Gemeinderat, so die Hinkende, nach dem Winter vor drei Jahren. Sie selbst tauchte jetzt auf dem Fahrrad im Fenster auf, ein hagerer Rücken über wehendem Rock. Dazwischen leuchtete das Rücklicht. Langsam schaukelte es zwischen den Weiden hindurch auf die Tannen zu.

Die Glatzköpfige lehnte die Stirn an die Scheibe und hauchte sie an. Mit der Nasenspitze tupfte sie in den beschlagenen Kreis, leckte über das Glas, während sie mit dem Nagel ihres Ringfingers in einem der leeren Bohrlöcher für den Fensterriegel kratzte und der Hinkenden nachschaute. Milla beobachtete die Glatzköpfige.

Scheinwerferlicht traf matt auf die Weidenzäune.

»Der Heinz.« Die Glatzköpfige stellte sich auf die Zehenspitzen. Jedes Auto erkannte sie, egal ob bei Tag oder bei Nacht. Über fünf Jahre lang hatte sie mehr in der Werkstattgrube ihres Großvaters gelebt, so die Hinkende, als in seinem Haus. Drei Männer habe es gebraucht, sie aus der Grube zu zerren, als der Großvater gestorben war und seine Autowerkstatt geschlossen wurde, drüben, irgendwo über der Donau, man habe sie dort doch nicht alleine lassen können. »Geh jetzt!« Die Glatzköpfige boxte Milla in den Oberarm und wandte sich ab.

Milla summte und zeigte zum Himmel hinauf. Blass war die Sichel des Mondes zu sehen, er nahm ab. Auch er bemühte sich Monat für Monat ganz zu verschwinden, wie der Kichernde und Milla, wie alle hier, aber immer blieb ein dünner Rest vom Mond am Himmel stehen, wie von Milla auf dem Gang oder im Gemeinschaftsbad, wenn ich und die Glatzköpfige nicht aufpassten, aber selbst im Bett, es war egal, wo sie sich verbarg: Wenn ein Mensch auch den letzten Rest von dir finden will, findet er ihn.

Das Scheinwerferlicht blendete durchs Fenster, Milla blinzelte. Mit der Hand auf der Türklinke stand sie einen Moment und betrachtete die dunklen Wipfel der Bäume, als zähle sie alle durch.

Autoreifen knirschten auf dem Schotter in der Auffahrt, der Motor wurde abgestellt.

Endlich drückte Milla die Klinke hinunter. Der rechte Fühler des Marienkäfers löste sich ab. Mochte sich der Klebstoff nach all den Jahren zwischen Käfer und Tür so alt fühlen wie ich? Wollte der Käfer heute mitfliegen?

Ich hörte den Schlüssel die Haustür sperren. Zwei Atemzüge später fiel sie ins Schloss.

Milla zog unsere zu.

»Guten Abend, meine Lieben«, hörte ich den Heinz rufen, hörte ihn mit dem Schlüsselbund rasseln.

In der Toilette wurde das Kichern laut und lauter, höher und schrill.

Milla setzte sich auf das Bett und schnürte die Schuhe auf. Ihre Fingerknöchel waren weiß, die Lippen vor Anstrengung gespitzt, auch sie ganz hell. Sie summte und hummte, zog am falschen Ende des Schnürsenkels, zog einen Knoten, stampfte auf.

Der Kichernde schrie inzwischen und spülte, was die Wasserkästen hergaben, als hoffte er, die Böden fluten zu können, bis das Wasser irgendwann durch die Holzdielen drückte und ihn davonwirbelte, den Heinz, diesen Rassler.

Milla ließ vom Knoten ab und wand den Fuß heraus, schleuderte den Schuh in die Ecke neben dem Heizkörper und deutete ihm, still zu sein, leise. Sie deutete auch dem Kleiderschrank und dem Fenster und der Welt dort draußen, die, wenn sie schon nicht half, wenigstens ruhig sein sollte, sie nicht verraten, damit es dauerte, bis der Rassler sie fand. Sie schlüpfte aus der Wollstrumpfhose, dem Rock, dem Pullover. Die Unterwäsche ließ sie an, drohte mit dem Finger zur Tür, legte sich auf den Rücken und zog die Bettdecke bis zum Haaransatz.

Gleichmäßig klopfte es dumpf gegen die Wand aus dem Nachbarzimmer. Die Glatzköpfige morste wieder. Manchmal war ich überzeugt, sie wusste von mir und meinem Dilemma.

In der Toilette war es still geworden.

Was wusste die Hinkende? Saß sie nun in der Abendandacht und betete, der Heinz möge es heute nicht zu bunt treiben? Noch einen Rosenkranz, Herr, versprach sie das, wenn bei ihrer Heimkehr nur alles aussähe, wie sie es hinterlassen hatte? In Deine Hände lege ich es, betete sie so, dass jeder nur tatsächlich bekommt, was er verdient, wie der Herr Pfarrer es sagt? Und vor Gott sind alle gleich, wenigstens dann, beruhigte sie sich und hoffte, nur der Kichernde hätte sich vielleicht wieder die Windel heruntergerissen, wenn sie zurückkäme, und säße mit all dem Malheur neben der Toilette statt auf ihr? Wenn es weiter nichts war, ein Ave Maria dafür, dass die Glatzköpfige sich nicht wieder den Kopf an der Wand blutig geschlagen hatte, ja? Und danke Dir, Herr, für die Summende, für ihr Schweigen, ihren Blick aus dem Fenster oder an die Decke, aber niemals mir ins Gesicht, nachdem der Heinz da gewesen ist, betete sie so, die Hinkende, wenn sie nach der monatlichen Beichte in der Bank kniete und den Knoten ihres Schmetterlingstuchs lockerte?

Millas Summen wurde lauter.

Den Versuch, ihr einmal mehr zu erklären, dass sie selbst sich verriet, unterließ ich. Es war höchste Zeit, fortzufliegen.

Ich hörte noch den Seufzer aus der Toilette, das Wimmern, das ihm folgte, Erleichterung, es hinter sich zu haben, das Rasseln hörte ich und die Schritte, die Füße auf den Holzdielen. Den Drachen hörte ich, seine Flügel, die ihn aus der Nacht zu uns herabbremsten, um Milla abzuholen. Manchmal kicherte auch er. Wenn er mit dem Bauch über die Tannenwipfel streifte, dieses andere Kichern dann, das einlud, aufzuschauen, mitzukommen.

Milla lächelte sich aus dem Körper, freute sich auf die Wiese, auf die der Drache sie fliegen würde, auf die Kirschblüten und den Bach mit den Libellen und den Schmetterlingen. Nur Hinkende brauchen Kopftücher, um von Schmetterlingen umtanzt zu werden.

Wir ließen den Schuh hinter uns, der neben der Heizung lag und schwieg, und den Marienkäfer, der mit dem Fühler nickte, als die Tür geöffnet wurde. Längst hatte ich sie über die Tannenwipfel hinweg begleitet, als das Rasseln durch das Zimmer kroch und die Decke erreichte.

Auf der Wiese war es ruhig. Wie in Ohren, denen Friede geschenkt worden war, und feines Summen nur durchzog die Welt. Ob es der Wind in den Zweigen war oder die Hummeln zwischen den Blüten, das Wasser, das über die flachen Steine des Bachbetts plätscherte, die Weiden, die sich herunterbeugten zu den Wiesenblumen, oder ob der Drache selbst es war, der die Sonne durch die Nasenlöcher sickern ließ, egal, es klang nach Frieden jedenfalls, das Summen, und Milla summte mit.

 

»Na gut, also dann.« Der Rassler zog den Bauch ein, stopfte das Hemd in die Hose. »Und deck dich zu, wie schaut denn das aus.« Er nahm Millas Rock vom Sessel, warf ihn ihr auf den Bauch und verließ das Zimmer, wartete auf keine Antwort, wusste wohl, dass sie fort war. Die Stummen seien ihm lieber als die Dummen, hatte er Milla schon bei seinem ersten Besuch vor zwei Jahren erzählt und gelacht, als sie mit lautem Summen reagierte. Dass ich da war, wusste er jedoch nicht.

Ihre Bauchdecke vibrierte. Eine Bewegung des Brustkorbs war nur zu erahnen. Noch immer atmete Millas verbliebener Rest so flach, dass ein Spiegel kaum beschlagen hätte, und doch atmete er, hielt über diesen Hauch den Kontakt mit ihr dort draußen auf der Wiese und mit mir, während der Puls langsamer geworden und die Temperatur abgesunken war, die Poren sich geschlossen hatten. Und während alles, was nicht mit ihr und dem Drachen davongeflogen war, aus den Gliedmaßen zusammenlief und sich um das Herz scharte: Nach Einbruch der Dunkelheit darf keiner mehr auf die Straße, Ausnahmezustand. Wer die Nase über den Herz-Lungen-Kreislauf hinausstreckt, läuft Gefahr, Teil eines Erlebnisses zu werden, an das er jeden Tag bis hin zum letzten denken wird.

Offensichtlich hatten sich alle daran gehalten. Hände, Füße, Augenlider, alles unbelebt, die Ohren sowieso. Auch ich zog mich aus der Peripherie zurück, tief hinein in Millas Kopf. Selbst für mich waren von hier aus Morsezeichen und Türenschlagen kaum zu hören, und so warteten wir zusammen, dass der Rassler seine Visite beendete und schließlich den Nachtdienst.

 

»Der Schweinsbraten beim Alfred war ganz gut«, erzählte ihm die Hinkende in der Früh. »Nur zu viel Majoran hat er erwischt dieses Mal.« Deswegen habe sie ein drittes Viertel vom Roten trinken müssen, bevor sie bei der Cousine auf der Bettbank eingeschlafen sei. »Und du?«, fragte sie, als sie ihm schon die Tür hinaus aufhielt.

Wie war dein Abend, alles in Ordnung, waren die Fragen, die sie wahrscheinlich hinunterwürgte, vorbei am schalen Nachgeschmack des Zweigelts und an den Stimmbändern, die sich an ihr gestriges Gottesgemurmel sicher noch erinnerten und an das vor einem Monat und das vor zwei Monaten und vor drei, acht, zwölf Monaten, an das der letzten sieben Jahre, Herr, vergib mir oder so ähnlich.

»Mir ist der Majoran so egal wie der Kümmel oder der Petersil.« Er spuckte auf den Boden, stieg in sein Auto und fuhr zwischen den Viehweiden davon. Als er das Ende der Zäune erreichte, schaltete er einen Gang hinunter. Keine Minute später verschluckten die Tannen das Motorengeräusch.

Jetzt verschwamm die Stille auf den Weiden und auf den Äckern mit jener im Haus. Mit geschlossenen Augen machte es nun keinen Unterschied mehr, in welche Richtung die Hinkende sich wandte. Sie öffnete den Mund und lockerte die Kiefergelenke. Mit einem Ruck zog sie die Tür ins Schloss und öffnete langsam auch die Augen. Sie knöpfte den Janker auf, drückte die Schultern zurück, als sie aus den Ärmeln schlüpfte, räusperte sich und schob das Kinn vor. »Aufstehen! Alle aufstehen!«

 

»Los, hoch mit dir.« Die Glatzköpfige half mir, Milla wach zu bekommen, drehte sie an den Knien aus dem Bett und zog sie an den Händen.

Millas Blick glitt durch das Zimmer, erkannte den Kleiderschrank, ihr Tisch stand vor dem Fenster, darauf das Glas mit dem grauschwarzen Farbwasser neben dem Zeichenblock und dem Malkasten. Als sie den Schuh neben der Heizung liegen sah, schaute sie die Glatzköpfige an, begann zu summen und tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Kratzspuren quer über den Kopf.

»Davon wird es nicht besser.« Die Glatzköpfige wischte Millas Hand weg, hakte sich bei ihr unter und zog sie mit sich ins Bad.

Zwei Schatten huschten vor ihnen hinein.

Den einen kannten sie schon, und ich kannte vor allem ihre Sorte: Junge oder Mädchen, egal, minderjährig, Durchlaufposten, so die Hinkende. Schatten, die durch das Haus huschten, so ich, schon wieder fort, wer weiß wohin, bevor sie richtig angekommen waren.

»Kommt dich jemand besuchen?«, fragte die Glatzköpfige den neuen Schatten, während der andere ihm einen der Plastikbecher zum Zähneputzen hinhielt. Der Neue rührte sich nicht, die milchigen Pupillen an die Decke gerichtet. Der Schatten nahm die Hand des Neuen, »da«, bog die verkrampften Finger auf und klemmte den Becher dazwischen.

Die Glatzköpfige legte dem Neuen die Hand auf die Schulter. »Hast du jemanden, der dich besuchen kommt?«

Er wurde blass. »Nein.«

»Na, dann alles Gute.«

»Du denn?«, fragte der Schatten die Glatzköpfige.

Sie nickte. »Die Frau Müllner, ja, vom Jugendamt, doch, die kommt an jedem Dritten.« Die Glatzköpfige reichte Milla das Seifenstück. »Außer, wenn der Dritte ein Samstag ist oder ein Sonntag, dann kommt sie erst am Montag. Therese heißt sie.«

»Und du?« Der Schatten blickte zu Milla, die bis zu den Oberarmen bereits unter dem Wasserhahn lehnte und die Seife aufschäumte. Sie summte und setzte an, sich komplett einzuseifen.

»Was ist mit der, ist die taub?«

»Besonders dann, wenn jemand blöd fragt.« Die Glatzköpfige konnte Millas BH noch davor retten, gleich mitgewaschen zu werden.

»Wieso singt die dann so?«

»Putz dir endlich die Zähne oder geh.«

Der Neue tastete nach dem Ärmel des Schattens und zog daran. »Ich bin fertig.«

»Geh«, die Glatzköpfige hielt die Badezimmertür auf, ihr linkes Augenlid zuckte. »Ich verrate dich auch nicht.« Sie schloss die Tür hinter den beiden.

Milla summte immer lauter, während sie jetzt mit dem Seifenschaum links und rechts über die Wangen hinauf und über die Augen und die Stirn und seitlich die Ohren hinab und über den Hals seifte und wieder zurück zum Kinn und hinauf über die Wangen und so weiter, lauter und lauter.

»Hör doch mal auf damit«, die Glatzköpfige bückte sich nach der Seife, die Milla aus der Hand geglitten war, »das Gesinge macht mich ganz verrückt.« Sie griff sich an die linke Schläfe, begegnete Millas Blick im Spiegel und legte ihr die Seife auf den Rand des Waschbeckens. »Ist es in deinem Kopf nicht auch so laut?«, fragte sie leise und versuchte, Millas Blick festzuhalten.

Doch der rutschte aus dem Gesicht der Glatzköpfigen und aus dem Badezimmerfenster hinaus.

»Ist es denn …«, schrie die Glatzköpfige, krümmte sich nach hinten, »… in deinem verdammten Kopf …«, nahm Anlauf und rammte die Stirn in den Spiegel, »… auch so laut? So verdammt laut?« Rammte ihn noch einmal. »Hörst du mich? Laut!« Und wieder und wieder.

Milla hob den Zeigefinger und drohte dem Himmel und deutete auf die Glatzköpfige, aber keiner ließ sich herab, sie zu erlösen.

Die Badezimmertür wurde aufgestoßen und die Hinkende kam herein. Mit der einen Hand schob sie Milla beiseite. »Du wasch dich ab und zieh dich an.« Mit der anderen brachte sie die Injektionsnadel in Anschlag, ein geübter Ruck im Ellbogen, um die Nadel senkrecht zu richten, ihr Daumen kannte den Druck, den es brauchte, um die Flüssigkeit bis in die Spitze zu treiben, gut geschult von der Krankenschwester-Cousine, so die Hinkende, und oft genug getan, immer wieder und immer dann, so ich, wenn der Rassler sie abends vertreten hatte.

Der Einäugige mag zwar der König unter den Blinden sein, habe ich gelernt, zur Einsicht braucht es aber mehr als ein gesundes Auge, mehr als nur durch einen Hüftfehler und durch schmerzende Knochen eingeschränkt zu sein, dazu braucht es Sonnenherzen, Drachenblut, Weltenweite oder einfach die Grundrechnungsarten: Hinkende ging plus der Rassler kommt ist gleich Milla verwäscht tags darauf ein ganzes Stück Seife an ihrem Körper; oder ist gleich der Kichernde zerschneidet alle Windeln, die ihm unterkommen, und ist gleich die Glatzköpfige zerschlägt ihr Spiegelbild, wo immer sie ihm begegnet.

Bis die Hinkende ihr die Spritze gibt ist gleich die Glatzköpfige sinkt dort zu Boden, wo sie gerade steht, so wie jetzt im Bad, ist gleich dann wird sie auf ihre Decke gerollt, die rotgrau karierte, und dort liegt sie mit halb geschlossenen Augen und die Pupillen irgendwo im Kopf unterwegs, an einem Ort der Stille, zu dem anscheinend nur der Inhalt dieser Spritze führt, ist gleich und die Hinkende kehrt zurück zu den Dingen, die sie tut den ganzen Tag, das Mittagessen kochen, die Windeln wegkehren, die Summende in ihr Zimmer schieben und ihr frische Wäsche hinlegen, die alte, geschundene in die Waschküche tragen, in die Waschmaschine stopfen, zusammen mit den Unterhosen des Kichernden und dem blutigen Laken der Glatzköpfigen, ist gleich weil sie sich doch immer den Kopf kaputt schlägt, denkt die Hinkende, und wenn alles gewaschen ist, wird sie aufgehängt, die Wäsche, für eine neue Runde, ist gleich wie immer.

Alles gut, so die Hinkende.

Gar nichts gut, so ich, solange ich nur wusste, dass ich Milla da rausholen würde, aber noch keine Ahnung hatte, wie, es von allem Anfang an zwar wusste, seit ihrer Geburt schon, aber das Wissen allein nährt auf Dauer nur die Ungeduld, nicht jedoch müde Augen.

Von der Badezimmerschwelle aus blickten sie und wachten über den Schlaf der Glatzköpfigen. Wenn die schon keinen Drachen hatte, der sie holte, dann doch wenigstens eine Flüssigkeit, die ihr die unliebsamen Bilder aus dem Kopf schwemmte, und so lange wenigstens sollte sie Ruhe haben. Milla richtete sich gerade, drückte die Schultern zurück. Ihr hellbrauner Haarschopf stand wie aufgeladen vom Hinterkopf ab. Als helfe er mit, Milla größer erscheinen zu lassen, und doch war sie hier nur vom Wind, der im Frühjahr den Samen über die Äcker weht, fallen gelassen worden. Trieb zwischen Pilzen, Grünspan und Gesocks, vergessen, ein knochiger Stängel mit feinen Wurzeln, der trotz kargem Boden immer wieder eine Blüte schob und mit schlammfarbenen Pupillen das Sonnenlicht fand, egal, durch welches Fenster, Türspalt, Jalousienritze es hereinschien, und die über alles hinwegschauten und nichts übersahen zugleich, diese Pupillen, immer in die Ferne schauten und dosierten. Was der Winkel erfasste, hätte die Augen bei vollem Anblick zerstört und alles, was hinter ihnen wohnte.

»Windel finden«, der Kichernde stieß Milla in den Rücken, presste sich an ihr vorbei, kicherte, kuderte, geiferte. »Finden, finden.«

Milla griff nach seiner Weste und zerrte.

Der Kichernde drehte sich zu ihr, dirigierte mit den Armen in alle Richtungen, sein Blick glitt über Millas Gesicht, links vorbei, dann rechts, er schlug nach ihrer Hand und lächelte, atmete schwer und sah immer wieder zu den Toiletten hinüber, kurz nur, schweifte ab mit den Augen, flog über die Decke, an Milla hinunter, hinüber zum Fenster und wieder kurz zur Toilette und in Millas Gesicht, wollte wohl wissen, ob sie ahnte, dass die Windel ist gleich und so weiter und so fort.

Milla schaute ihn an und strich ihm mit den Fingerknöcheln über die Wange, summte und streichelte.

Endlich hielt er inne. Sein Gesicht verlor jeden Ausdruck, so als wäre er selbst auf einen Mohnstrudel gegangen oder auf ein Eis ins Dorf hinter den Tannen, einen süßen Moment lang nur fort, und dann ruckte es durch seinen Körper, der Kichernde senkte den Kopf und drängte an Milla vorbei, aus dem Bad hinaus.

Vom Gang herein roch es nach Grießbrei und Hagebuttentee, das Licht war bereits aufgedreht. Milla zwinkerte und stellte sich in den Lichtschein, der durch die Tür fiel. Zu spät schirmte ihr Schatten die Glatzköpfige ab. Sie schlug die Augen auf. Vorsichtig griff sie sich an den Kopf und betastete die Stirn. Milla summte lauter.

»Schön machst du das«, sagte die Glatzköpfige, blickte sich kurz um und nickte. Sie zeigte auf den Zahnputzbecher mit den grünen Streifen. Milla füllte ihn mit Wasser und reichte ihn ihr. »Jetzt mach das Licht an.« Die Glatzköpfige schaute zur Deckenlampe, mit dem Daumen deutete sie eine Kippbewegung an.

Milla ging zum Lichtschalter.

Draußen drehte die Hinkende den Schlüssel im Eingangsschloss um, sperrte aus, was nachts so durchs Gelände schlich. In einer halben Stunde würde es Abendessen geben.

Mit der Hand auf dem Lichtschalter blickte Milla zum Fenster, wollte sich wohl beim Dämmerlicht entschuldigen, bevor sie es aus dem Badezimmer schickte.

»Mach schon.« Die Glatzköpfige stützte sich auf, und so wie Milla schloss sie die Augen, als das Licht anging, öffnete sie wieder. »Vorbei der Spuk.« Sie stand auf, schüttelte die rotgrau karierte Decke aus, legte sie zusammen und strich Milla im Vorbeigehen aus dem Bad hinaus über den Oberarm.

Milla verharrte mit geschlossenen Lidern und lächelte. Wenn sie die Augen aufschlüge, stünde sie in dem Badezimmer mit den zwei Duschköpfen an der einen Längswand und mit der Badewanne neben den zwei Toilettenkabinen an der anderen. Gegenüber hinge der Spiegel über zwei Waschbecken, und die Wände wären beige ausgefliest. Außer dort, wo die Badewanne angeschlossen war, dort wären die Fliesen gelb, ja, all das kannte sie. Und wenn sie die Augen nicht öffnete? Musste erst der Rassler oder ein anderer im Haus sein, damit der Drache sie abholte? Oft schon hatte sie über die Wipfel geblickt, wenn sie glaubte, ihn kommen zu hören, aber der Himmel schickte ein Flugzeug nur, das vorüberflog, oder einen Blitz, wenn es hoch herging. Aber jetzt, hörte sie nicht sein Kichern?

Wir beide hörten es. Das Rascheln der obersten Zweige, er musste es sein, aus der hiesigen Welt hörte Milla doch nichts. Sie hob den Zeigefinger gegen die Badezimmertür. Warm fühlte er sich an, auch die Zehen, kein bleicher Mund, nur einer, der lächelte, lachte sogar. Sie zögerte. Der Lichtschein der Deckenlampe mühte sich, ihre Augenlider durchzubrennen, sie zu zwingen, sich zu öffnen. Jeden Moment würde die Hinkende zum Abendessen rufen und jemanden losschicken, Milla zu holen, sie hier im Bad zu finden, bevor sie sich entschließen konnte, jetzt sofort und womöglich für immer zu den Schmetterlingen zu fliegen, an den Bach, unter die Weiden, einfach so. Sollte sie diesen Körper hier im Badezimmer überhaupt stehen lassen, nicht nur schnell für einen Mohnstrudel fort oder für ein Eis, nein, so richtig?

Ich spürte, wie sie ausprobierte, sich langsam aus allem herauszuschälen. Aus der Mutter, die sie nächsten Sonntag besuchen käme, hatte Milla doch Geburtstag. Schon wollte sie dem Marienkäfer ihren Punkt auf der Stirn vermachen und das Beige der Badezimmerfliesen vergessen, und das in einer Geschwindigkeit, die mir Angst bereitete, zumindest raste irgendwo ein Herz. Mochte es Symptomrasen sein oder Millas Rasen vor Freude, immer lauter summte sie dabei, weil die Sehnsucht nach der Wiese, endlich … wie groß das Sehnen war, fiel mir jetzt erst auf, dass es immer schon da gewesen war, immer, immer, und mir wurde heiß, oder war es Milla, deren Blutdruck stieg, die alles mobilisierte, um sich endlich aus diesem Körper zu katapultieren. So geht das nicht, schrie ich ihr in den Kopf, Milla, du darfst deinen Körper nicht aufgeben, schrie ich, während sie summte und summte, Milla, nein!

»Du bist tatsächlich taub, oder?« Der Schatten klopfte ihr auf die Schulter.

Milla zuckte zusammen, riss die Augen auf.

»Komm Abendessen.« Er deutete mit der Hand zum Mund.

Ihr Blick eilte durch das Bad, da waren sie wieder, die beigen Fliesen, eilte zum Spiegel und dem Punkt auf ihrer Stirn und blieb schließlich auf den schlammfarbenen Pupillen hängen, den eigenen, die jene der Mutter spiegelten, die jene deren Mutter spiegelten, deren Mutter spiegelten, spiegelten, und eine oder alle kämen wohl am Sonntag, wer weiß das schon. Sie krampfte die Hände in den Rock, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Beklommen geleitete ich sie in die Küche.

»Da.« Die Hinkende drückte ihr einen Suppenteller mit Brei und einen Löffel in die Hand und schöpfte aus dem großen Topf eine Tasse Tee. »Du bist dran.« Sie deutete zum entgegengesetzten Ende des Ganges, zu der Tür mit der Lokomotive.

Milla blickte einen Moment lang in den Hagebuttentee. Der Dampf wärmte ihr das Gesicht. Sie schluckte. Bestimmt war es der Drache gewesen, den sie gehört hatte, sie stampfte auf.

»Mach endlich!«

Langsam wandte sie sich ab, schlenderte drei Schritte und lugte über die Schulter zurück. Die Hinkende ging nicht zur Garderobe, der grüne Janker hing auf dem Haken, nichts deutete darauf hin, dass der Rassler käme oder der Bürgermeister oder Ähnliches, ganz bestimmt war es der Drache gewesen. Summend näherte sie sich der Tür mit der Lokomotive, sah kurz hinauf zum Sichelmond und drückte die Türklinke mit dem Arm hinunter.

Die Silhouette des Denkers hob sich dunkel gegen das Grau des Abends ab. Der rechte Ellbogen aufgestützt auf die Lehne seines Rollstuhls, das Kinn ruhte in der Handfläche, das Gesicht war zum Fenster gerichtet. Über den Schultern hing sein blau geblümter Kissenbezug, die hellen Haare zeigten hinaus aufs Feld und auf den Hochstand am Waldrand.

Milla drückte hinter sich die Tür zu.

»Das solltest du nicht tun, wenn du zu ihm gehst, lass sie offen«, hatte die Glatzköpfige ihr beim ersten Mal erklärt, als sie Milla einschulte.

Milla aber wusste, dass privater Raum heilig war.

»Und niemals greifst du ihm auf die Schulter, hörst du?« Die Glatzköpfige hatte Milla die Hand auf die Schulter gelegt und Zeigefinger und Kopf geschüttelt. »Niemals.«

Milla blieb mitten im Zimmer stehen, beobachtete den Dampf des Tees gegen das Dämmerlicht und blies ihn behutsam zum Denker hinüber, fantasierte, wie sich Hagebuttenduft über den Geruch von Hautschuppen und Urin legte. Das Bett war unberührt, die Decke aufgeschlagen, als sei es sein erster Abend in diesem Haus. Auf dem Sessel daneben lag bäuchlings der Teddy, eine leere Tablettenschachtel lehnte an einem Glas Wasser auf dem Tisch. Milla trat neben den Rollstuhl.

Die Knie des Denkers drückten gegen den Heizkörper. Dort mussten sie auch sein, ahnte Milla. Nicht die Hand auf der Schulter war es, die ihn schreien ließ und zittern und schäumen, die Knie waren es, sobald sie den Kontakt verloren. Sie waren seine Stecker zwischen den Welten, wussten, ob Sommer war oder Winter, ob der Kessel im Keller aufgeheizt war oder kalt. Ob es frühmorgens war im Winter und der Heizkörper lau, ob am Aufwärmen für den Tag oder am Abkühlen für die Nacht, zeitgleich mit dem Abendessen, so stellte Milla es sich vor.

Sie musterte sein Gesicht. Gerade Nase, weicher Mund, so jung und alt, so unbewegt, wie eingefangen und aufgemalt auf einem winterweißen Seidentuch, die Rückseite nach außen gedreht. Die Textur über den braunen Pupillen hatte sich wieder verdichtet.

Milla wartete, ob sich die Lider senkten, wartete, bis die eigenen Augen brannten, doch sie hielt sie offen, hörte zu summen auf, offen … da. Der Augenaufschlag. Der Denker war noch da. Sie blinzelte und lächelte, atmete tief durch und stellte Teller und Tasse vor ihn auf das Fensterbrett. Der Wind zog durch eine Ritze herein und zerstob den Dampf.

Summend nahm Milla eine Löffelspitze voll Brei und hielt sie dem Denker zwischen Fenster und Gesicht.

Sosehr seine Augen, Nase, Mund, Schultern, Knie hinausgewandt waren, so wenig schien seine Aufmerksamkeit dort zu sein. Er mumifiziere bei lebendigem Leib, so die Hinkende, allem voran sein Gehirn und zuletzt wohl das Herz, befürchtete sie, umgekehrt wäre es ihr lieber. Dann gebiete ihr kein Anstand mehr, täglich einmal die Schüssel unter seinem Rollstuhlsitz hervorzuziehen und zu leeren und einmal täglich dort unten mit dem Waschlappen hinzuwischen und ihn wenigstens einmal die Woche mit zwei der Bäuerinnen zu waschen, ohne ihn zu viel zu bewegen natürlich, ein wenig die Arme heben, die Achseln ausseifen, alles, ohne seine Schultern zu berühren, und solange sie ihn dort sitzen ließen, so die Hinkende, gäbe es kein Krampfen. Dieses Zucken und Schäumen reiche ihr, wenn er dann doch zu oft den Tee aus dem Mund laufen ließe oder wenn es sonst daneben gegangen sei und sie ihn aus dem Rollstuhl holen müsse. Kein Halten sei dann mehr möglich, so die Hinkende, dann zucke er schon, bevor er den Fußboden berühre, und so stark träte er, dass es zwei brauche, um die Enden der Hosenbeine zu fangen und ihn herauszuziehen, so wild gebärde er sich, als bekäme er Strom, so die Hinkende, aber so weit wolle sie bei jedem Mal Waschen nicht gehen, alles habe seine Grenzen, und wenn es schon nicht reiche, das Barbiturat zu verdoppeln, damit sie ihn umziehen könne, dann wisse sie auch nicht. Umbringen wolle sie ihn ja nicht, so die Hinkende. Wozu schaue sie darauf, dass er regelmäßig äße und trinke, das gebiete einem ja der Anstand, aber sie hoffe, das Herz wäre nicht stärker als die Wirbelsäule, weit her könne es mit der schließlich nicht mehr sein, wenn er da saß den ganzen Tag und die Nacht über, aber wenn einer selbst auf den Kübel kalten Wassers nicht reagiere und endlich ins Bett ginge, dann mumifiziere er eben, so die Hinkende, und dafür fühle sie sich nicht mehr verantwortlich. Sterben lassen wolle sie keinen. Hindern würde sie ihn daran aber auch nicht.

Milla legte dem Denker die andere Hand auf die Schulter und betrachtete seinen Kopf, die dichten weißen Haare, die fingerlang aus dem Fenster auf den Hochsitz zeigten.

In seinen Haaren steckte wohl alles, was ihn am Leben erhielt. Trotz, Wut oder Widerstand oder nichts davon, und einfach ein Wissen um etwas, eine Gewissheit, die ihn stoisch sitzen ließ und aushalten, mit der er die Hinkende zur Weißglut trieb, beabsichtigt oder nicht, die ihn bei allem Gefüttert- und Gewaschenwerden unantastbar bleiben ließ, für die Hinkende, den Rassler und alle, wie sie da kamen.

Der Denker öffnete den Mund.

Milla schob den Löffel auf die Zungenspitze und legte den Brei mit einem kurzen Drehen und Ziehen des Löffels ab, wartete, bis Zunge und Brei verschwanden.

Der Denker öffnete den Mund.

Milla füllte nach, dreimal, viermal, dann stand sie eine Weile und wartete. Aß schließlich selbst die Portion und legte den Löffel weg. Kurz blickte sie aus dem Fenster, versicherte sich, dass draußen nicht doch gerade ein Reh vorbeiging oder ein Geysir durch die Erdschollen brach und des Denkers Aufmerksamkeit bündelte. Ohne die Hand von seiner Schulter zu nehmen, trat sie einen kleinen Schritt zurück, legte den Kopf schief und tastete sich mit der freien Hand vorsichtig durch die Luftschichten, die um seinen Körper lagen, streichelte, so sah es aus, vor seiner Brust hinauf, den Hals entlang, und über die Stirn malte sie einen sanften Bogen zum Scheitel, drückte die Handfläche nach außen, ihre Fingerkuppen prüften, bevor die Hand folgte, und schließlich legte Milla die Hand wie von einer Welle getragen über den weißen Haaren ins Nichts, dasselbe Nichts wohl, in dem des Denkers Aufmerksamkeit ruhte, denn dort trafen sie sich.

Heute mehr denn je hätte auch ich mich gerne getroffen. Ich war überzeugt, dass im Denker jemand wie ich wohnte, und dem anderen war vielleicht gelungen, wozu ich zwar den Willen hatte, aber keine Idee.

Milla hörte auf zu summen.

Regungslos stand sie und stumm. Bei längerer Betrachtung hätte ich vermutet, Millas Hand schmelze in die Schulter des Denkers und seine Haarspitzen wüchsen in Millas andere Handfläche und weit, weit zurück, lange sogar, bevor ich Magda kennenlernte und Mathilda, Marlies, Milla, waren der Denker und sie ein Standbild gewesen, hätte ich vermutet, von einem der alten Meister in hellen Marmor gehauen und nur durch ein wildes Schicksal getrennt, fügten sie sich wieder in ihren Ursprung, sobald sie einander begegneten.

Meine Geschichte mit Milla betraf das nicht. Dennoch bewirkte es etwas, immer öfter, so auch heute. Egal, wie tief ich mich in Milla zurückzog, ich hörte keinen Herzschlag, kein Rauschen, kein Knistern und Grummeln. Still war es.

Aber nicht nur Millas Körper war stumm. Der Heizkörper des Denkers knackste nicht. Unverändert zog der Wind durch die Ritze im Fensterrahmen herein, ohne Pfeifton oder Säuseln. Kein Tellerscheppern war aus der Küche zu hören, keine Rügen der Hinkenden oder erste Schritte über den Gang ins Bad, um rechtzeitig bettfertig zu werden, und dieselbe Stille herrschte draußen auf dem Feld.

Dabei klingt Ruhe je nach Raum doch anders, stumme Wände klingen anders als stumme Bäume als stummer Himmel als stumme Menschen. Kannte jener, der im Denker wohnte, dieses Phänomen?

Ich schrak zusammen, als die Glatzköpfige Milla vom Denker wegzerrte.

»Du hast Nerven.«

Und mit der Trennung waren auch die Stimmen im Haus wieder zu hören, jemand klopfte gegen einen Topf, irgendwo rauschte Wasser, und der Plastikeimer, der für alles diente, knarzte über den Boden, als die Glatzköpfige ihn unter dem Tisch hervorzog.

Schnell schabte sie die Reste aus dem Teller hinein. Mit einem Blick auf den Denker vergewisserte sie sich, dass er ruhig blieb, und hielt ihm die Teetasse an die Lippen.

Milla begann zu summen.

»Nein?« Die Glatzköpfige kippte auch den Tee in den Eimer. »Du glaubst wohl, er lebt nur von diesem Ausblick hier und von deinen Besuchen.« Sie stellte die Tasse in den Teller und deutete Milla damit zur Tür. »Schau, dass du das in die Küche bringst, bevor der Alten einfällt, selbst zu kommen.«

Milla ließ sich von ihr aus dem Zimmer schieben und über den Gang in die Küche und ins Bad. Sie waren die Letzten heute, keiner unterwegs, für den die Hinkende den Kübel Wasser holen musste oder gar den Schlauch.

Milla legte sich ins Bett, atmete tief ein und aus, als sie die Augen schloss, und wartete auf den Schlaf.

Ich aber war hellwach. Vielleicht wartete Milla ja auf den Drachen. Wehe mir, wenn der sie holte, einfach so, und sie sich still und heimlich doch herausschälte aus allem und mich zurückließ in diesem Körper, wehe mir. Vielleicht hatte der Denker ihr heute etwas geflüstert, während mich die Stille versucht hatte einzulullen oder während ich nachdachte über jenen, der im Denker wohnte, den es nicht zu kümmern schien, ob ich hier verrottete oder nicht.

Milla atmete tief und entspannt.

Die ganze Nacht schlief sie, schlurfte mit der Glatzköpfigen am Morgen ins Bad, frühstückte, ja, dabei sah sie das eine oder andere Mal aus dem Fenster, aber eher zufällig als sehnsüchtig, wenn ein Vogel vorüberflog oder eine Wolke die Sonne verdunkelte, und als die Bäuerinnen für den Freitagsputz eintrafen, trollte Milla sich in ihr Zimmer und trennte das zuletzt bemalte Blatt von ihrem Zeichenblock ab. Sie riss es in kleine Stücke und warf sie zu den anderen in den Schuhkarton, den sie unter dem Kleiderkasten hervorzog, schüttelte sie durch und stellte den Karton summend zurück.

Sie setzte sich an den Tisch, schob das Kissen im Rücken zurecht und griff nach dem Pinsel. Behutsam tupfte sie das grauschwarze Farbwasser am Glasrand ab und setzte zum ersten Strich an.

Mitten auf dem Blatt zog sie einen blassgrauen Wasserkreis, hängte zügig einen Strichhals an und ein Dreieckkleid und daran zwei dünne Beine und zwei Arme. Sie lehnte sich zurück und summte lauter, deutete mit der Pinselspitze auf die Figur, schien mir.

Ich versuchte etwas zu erkennen, was ich nicht sah.

Sie tippte den Pinsel in das Schwarz ihres Malkastens, dann einmal in das Wasserglas und legte mit durchgängiger Linie von links nach rechts lange Haare über die Frau.

Milla schüttelte den Kopf, klopfte mit dem Zeigefinger auf die Frau, schüttelte wieder den Kopf, nein, keine Frau.

In gleicher Reihenfolge malte sie neben die erste Figur eine zweite, die genauso aussah, nur ohne Haare und größer, lehnte sich wieder zurück.

Große Frau, kleine Frau.

Millas Summen klang ungeduldig.

Frau und Mädchen, Mutter und Tochter, beeilte ich mich zu verstehen und fragte mich, ob es tatsächlich sein konnte, dass Milla für mich malte?

Wir verharrten beide.

Eine Fliege landete auf dem Zeichenblatt, betastete die feuchten Konturen. Sie flog auf, als die Tür geöffnet wurde.

»Heute gar keine Farben?«, fragte die Bäuerin im Vorbeigehen zu Millas Bett, um die Wäsche abzuziehen.