Über Agatha Christie

Agatha Christie begründete den modernen britischen Kriminalroman und avancierte im Laufe ihres Lebens zur bekanntesten Krimiautorin aller Zeiten. Ihren ersten Krimi veröffentlichte sie 1920, zweiundsiebzig weitere folgten. Darüber hinaus erschienen zahlreiche Kurzgeschichten, Theaterstücke, ein Gedichtband und – unter ihrem Pseudonym Mary Westmacott – sechs Romanzen. Ihre beliebten Krimihelden Hercule Poirot und Miss Marple sind – auch durch die Romanverfilmungen – einem Millionenpublikum bekannt. Psychologischer Feinsinn, skurriler Humor und Ironie verleihen ihren Krimis die besondere Note. Sie gilt als die meistgelesene Schriftstellerin überhaupt. 1971 wurde sie in den Adelsstand erhoben. Christie starb im Alter von 85 Jahren am 12. Januar 1976.

Vorwort
von Mathew Prichard

Für Agatha Christie sehr ungewöhnlich, wurde Wiedersehen mit Mrs Oliver – das Buch, das sich aus dieser Novelle entwickelte – um einen realen Schauplatz herum geschrieben, in diesem Fall Greenway House am Fluss Dart in South Devon. In Greenway verbrachte Nima (wie ich meine Großmutter nannte) die Sommerferien etwa von 1938 an, als sie es kaufte, bis zu ihrem Tod 1976. Fünfzehn Jahre ist es nun her, seit Greenway vom National Trust erworben und daraufhin auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.

2013 entstand mit dem Film Wiedersehen mit Mrs Oliver, in dem David Suchet die Hauptrolle spielt, der letzte Teil der Serie Agatha Christie’s Poirot des britischen Fernsehsenders ITV, einer Serie, die 1989 mit Köchin gesucht begonnen hatte und nun ihren krönenden Abschluss in Greenway selbst fand. Weder Nima noch meine da schon verstorbene Mutter Rosalind, die an der Planung der Fernsehserie anfangs wesentlichen Anteil hatte, hätten sich etwas Besseres wünschen können. Es schien, als wäre Hercule Poirot heimgekehrt.

Wie der Zufall es wollte, waren wir mit einem wunderbaren Sommer gesegnet, und der letzte Drehtag vor dem Haus – eine Szene, die als solche nur geringe dramatische Bedeutung hatte – war gleichwohl ergreifend, da sie David Suchet zeigte, wie er in vollem Poirot-Ornat auf seine unnachahmliche Weise die Stufen zur Haustür von Greenway hinaufschritt und an die Tür klopfte. Nach drei Wiederholungen desselben Takes hörten wir schließlich die ehrwürdigen Worte »im Kasten«, und dann blieb im ganzen Haus kein Auge trocken, oder vielmehr auf dem Rasen, wo sich eine große Menge versammelt hatte, um das Ende einer der beliebtesten Fernsehserien der Welt und der Darstellung einer unserer beliebtesten literarischen Gestalten zu feiern, Hercule Poirot, verkörpert von einem unserer beliebtesten Charakterdarsteller: David Suchet. Wenn jemand Nima (die David Suchet leider nie kennengelernt hat) erzählt hätte, dass eine Serie dieser Größenordnung und Popularität über 25 Jahre hinweg gedreht würde, sie hätte es bestimmt nicht geglaubt.

Meine besondere Vorliebe für Wiedersehen mit Mrs Oliver reicht jedoch bis weit vor die Entstehung der Fernsehserie zurück. Das Buch erschien 1956, als ich dreizehn war, Nimas Bücher zu lesen begann und als Schuljunge die Sommerferien mit meiner Familie in Greenway verbrachte, natürlich auch mit Nima. Ich erinnere mich nicht an ein Fest auf dem Rasen, aber durchaus an kleinere Feiern, da in Greenway eine immer größer werdende Zahl an Freunden aus der Welt der Literatur und des Theaters zu Besuch war (es war die Blütezeit von Nimas Karriere als West-End-Bühnenautorin), dazu noch jede Menge Freunde meines Stiefgroßvaters Max Mallowan aus der Welt der Archäologie. Nima zeichnete ihre Figuren nie exakt nach realen Personen, aber ich würde lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass sie bei Sir George und Lady Stubbs und insbesondere bei Mrs Folliat kleine Anleihen bei Bekannten gemacht hat. Ebenso wenig überraschte es mich, dass in Wiedersehen mit Mrs Oliver Anhalter vorkamen. Wir begegneten immer wieder Anhaltern von der nahe gelegenen Jugendherberge Maypool.

Aber Wiedersehen mit Mrs Oliver weckt auch zwei Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mich besonders berühren: die eine an eine Person, die andere an einen Ort. Die Person ist Ariadne Oliver, die zwar um einiges stürmischer war, als Nima es je gewesen wäre, aber etwas von ihrem Enthusiasmus hatte, ihrer Liebe für Äpfel und die einer Schriftstellerin eigene Neugier, die mich sehr an Nima selbst erinnert. Ariadne Oliver erschien in sieben Romanen, sechs davon mit Poirot, und Zoë Wanamaker spielt sie in dem Film ganz hervorragend. Der Ort ist das Bootshaus von Greenway, wo das arme Opfer ermordet aufgefunden wird. Nima und ich spazierten nachmittags häufig hinunter, sahen den Ausflugsschiffen nach (der Kiloran, der Pride of Paignton, der Brixham Belle und den wunderbaren Raddampfern, wovon einer zu meiner Freude noch immer fahrtüchtig ist). Die Reiseleiter auf diesen Schiffen erwähnten Greenway immer – meist fälschlich als Agatha Christies Wohnsitz (statt streng genommen ihr Ferienhaus) –, und obwohl wir die Stimmen vom Schiff hörten, wenn es vorbeifuhr, kann ich mich nicht daran erinnern, dass man sie von dort jemals erkannte, wenn sie ganz unauffällig mit ihrem Enkel im Bootshaus saß!

Als ich das Buch kürzlich wieder las, meinte ich mich zu erinnern, dass ich es als Teenager gleich bei Erscheinen gelesen und damals vielleicht zum ersten Mal etwas davon mitbekommen habe, in welcher Form reale Personen und Orte in einem Kriminalroman integriert sind, weil ich mit denen in dem mir vorliegenden Buch vertraut war. Diese Authentizität ist natürlich einer der Gründe, warum Nimas Bücher noch heute so realistisch und überzeugend wirken. Früher waren die Bücher, die sich um Archäologie und den Nahen Osten drehten, für mich reine Fiktion, obwohl Nima genau dieselben Techniken wie in Wiedersehen mit Mrs Oliver benutzte, indem sie sich bei den Besonderheiten realer Personen und Orte bediente und eine fiktionale Dimension hinzufügte. Ich hoffe, dass ich eines Tages noch Nimrud, die ägyptischen Pyramiden oder andere Orte besuchen kann, die meine Großmutter inspirierten, damit ich sie so sehen kann wie sie damals. Unlängst war ich an einem besonderen Ort der Inspiration auf Teneriffa, dem Schauplatz einer Harley-Quin-Erzählung namens »Der Mann im Meer« aus der Sammlung Der seltsame Mister Quin – es ist eine brillante Kurzgeschichte, die für mich noch besser wurde, nachdem ich dort gewesen war.

Wie Sie vermutlich wissen, übergab meine Familie Greenway 1999 dem National Trust, sodass es nun fast das ganze Jahr über der Öffentlichkeit zugänglich ist. Jetzt kann jeder das Bootshaus besuchen, wo der Mord geschah, oder sich dort, wo Hattie Stubbs saß, in einem Sessel ausruhen und die Anhalter höflich grüßen, die jetzt das Grundstück betreten dürfen. Vielleicht sehen Sie dann auch, dass der dortige Laden des National Trust über die beste Sammlung von Agatha Christies Büchern in ganz Westengland verfügt. Auch wenn Wiedersehen mit Mrs Oliver insofern ungewöhnlich ist, als es so eng mit einem realen Ort verbunden ist, gibt es auch in anderen Büchern von Agatha Christie Anklänge an Greenway. Wenn Sie mögen, sollten Sie in jedem Fall auch Das unvollendete Bildnis lesen, wo im Wallgarten von Greenway ein Mord geschieht!

Ein Wort, das ich zur Beschreibung von Agatha Christies Büchern und Filmen häufig gebraucht habe, ist »einladend«, und ich finde wirklich, dass Robyn Brown und Gary Calland, die beiden Geschäftsführer des Trusts seit 1999, und alle Angestellten sich selbst darin übertroffen haben, Greenway so einladend zu gestalten, wie Nima es tat, als ich noch klein war. Ich hoffe, dass Sie, wenn Sie das Buch gelesen und vielleicht auch den Film mit David Suchet gesehen haben, den Originalschauplatz besuchen können. Dort erwartet Sie ein besonderes Erlebnis!

 

Mathew Prichard
Monmouth
Januar 2014

Das Geheimnis von Greenshore Garden

1

Es war Miss Lemon, Poirots tüchtige Sekretärin, die das Gespräch annahm. Sie legte ihren Stenoblock beiseite, nahm den Hörer ab und sagte tonlos: »Trafalgar 8137

Hercule Poirot lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Seine Finger trommelten auf der Tischkante einen meditativen, sanften Rhythmus. Im Kopf fuhr er mit der Formulierung des geschliffenen Satzgefüges in dem Brief fort, den er gerade diktiert hatte.

Miss Lemon legte die Hand über die Sprechmuschel und fragte mit leiser Stimme: »Wollen Sie einen privaten Anruf aus Lapton in Devon annehmen?«

Poirot runzelte die Stirn. Der Ort sagte ihm nichts.

»Der Name des Anrufers?«, fragte er vorsichtig.

Miss Lemon sprach in die Muschel.

»Arie …?«, fragte sie zweifelnd. »Oh, ja – wie war noch der Nachname?«

Erneut wandte sie sich Hercule Poirot zu.

»Mrs Ariadne Oliver.«

Hercule Poirots Brauen schossen nach oben. Eine Erinnerung erwachte in seinem Kopf: windgezauste graue Haare … ein Adlerprofil …

Er erhob sich und nahm Miss Lemon den Hörer ab.

»Hier spricht Hercule Poirot«, verkündete er hochtrabend.

»Spreche ich mit Mr Hercules Porrot persönlich?«, fragte die misstrauische Stimme des Fräuleins vom Amt.

Poirot versicherte ihr, dass dem so sei.

»Ich verbinde mit Mr Porrot«, sagte die Stimme.

An die Stelle ihrer dünnen, näselnden Intonation trat ein prunkvoller, dröhnender Alt, der Poirot veranlasste, den Hörer flugs einige Zentimeter weit vom Ohr wegzuhalten.

»Mr Poirot, sind das wirklich Sie?«, begehrte Mrs Oliver zu wissen.

»Höchstpersönlich, Madame.«

»Hier spricht Mrs Oliver. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern …«

»Aber natürlich erinnere ich mich an Sie, Madame. Wer könnte Sie je vergessen?«

»Nun, zuweilen geschieht es«, sagte Mrs Oliver. »Sogar recht häufig. Ich glaube nicht, dass ich eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit besitze. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich immer irgendetwas mit meinen Haaren anstelle. Aber das ist jetzt ohne Belang. Ich hoffe doch, ich unterbreche Sie nicht bei etwas furchtbar Wichtigem?«

»Nein, nein, Sie derangieren mich nicht im Geringsten.«

»Meine Güte – ich will Ihnen auf gar keinen Fall den Verstand rauben. Es ist nämlich so, ich brauche Sie.«

»Sie brauchen mich?«

»Ja, sofort. Können Sie ein Flugzeug nehmen?«

»Ich nehme nie ein Flugzeug. Davon wird mir schlecht.«

»Mir auch. Ach, es wäre wohl auch nicht schneller als mit dem Zug, denn der einzige Flugplatz hier in der Nähe ist Exeter, und der ist meilenweit entfernt. Also nehmen Sie den Zug. Zwölf Uhr ab Paddington. Sie steigen in Lapton aus und fahren weiter nach Nassecombe. Das schaffen Sie gut. Sie haben noch eine Dreiviertelstunde, wenn meine Uhr richtig geht – was allerdings nicht oft der Fall ist.«

»Aber wo sind Sie denn, Madame? Worum handelt es sich überhaupt?«

»Greenshore House, Lapton. Am Bahnhof Lapton wird ein Wagen oder ein Taxi für Sie bereitstehen.«

»Aber warum brauchen Sie mich denn? Worum handelt es sich?«, wiederholte Poirot verzweifelt.

»Telefone stehen immer an so misslichen Orten«, sagte Mrs Oliver. »Das hier steht im Flur – Leute kommen vorbei und reden … Ich kann Sie gar nicht richtig hören. Aber ich erwarte Sie. Alle werden schlichtweg begeistert sein. Auf Wiederhören.«

Es klickte scharf, als aufgelegt wurde. Die Verbindung summte leise.

Mit erheblicher Verblüffung legte Poirot, etwas vor sich hin murmelnd, den Hörer zurück auf die Gabel. Miss Lemon saß, wenig neugierig, mit erhobenem Stift da. Sie wiederholte gedämpft den letzten Satz des Diktats vor der Unterbrechung.

»… gestatten Sie mir die Versicherung, Verehrtester, dass die Hypothese, die Sie vorgebracht haben …«

Poirot wedelte die Vorbringung der Hypothese beiseite.

»Das war Mrs Oliver«, sagte er. »Ariadne Oliver, die Kriminalschriftstellerin. Vielleicht haben Sie ja schon …« Doch er brach ab, da er sich erinnerte, dass Miss Lemon lediglich nützliche Bücher las und Frivoles wie Kriminalliteratur äußerst geringschätzte. »Sie möchte, dass ich noch heute nach Devonshire fahre, sofort, in« – er schaute auf die Uhr – »fünfunddreißig Minuten.«

Miss Lemon hob missbilligend die Brauen.

»Das wird aber knapp«, sagte sie. »Aus welchem Grund?«

»Das ist eine gute Frage! Sie hat es mir nicht gesagt.«

»Wie eigenartig. Warum nicht?«

»Weil«, sagte Hercule Poirot nachdenklich, »sie fürchtete, belauscht zu werden. Doch, das hat sie deutlich klargemacht.«

»Also wirklich«, sagte Miss Lemon und warf sich für ihren Dienstherrn in die Bresche. »Was für Erwartungen die Leute haben! Als würden Sie einfach so für nichts und wieder nichts losrennen! Ein bedeutender Mann wie Sie! Mir ist schon immer aufgefallen, dass diese Künstler und Schriftsteller vollkommen aus dem Lot sind – absolut maßlos. Soll ich ein Telegramm durchtelefonieren: Bedaure in London unabkömmlich?«

Ihre Hand griff nach dem Telefon. Poirots Stimme ließ sie in der Bewegung erstarren.

»Du tout!«, sagte er. »Im Gegenteil. Seien Sie doch so gut und rufen Sie sofort ein Taxi.« Er hob die Stimme. »Georges! Packen Sie einige notwendige Toilettenartikel in meinen kleinen Handkoffer. Und rasch, sehr rasch, ich muss einen Zug erreichen.«

2

Der Zug schnaufte, nachdem er von seiner zweihundertzwölf Meilen langen Reise rund einhundertachtzig in Höchstgeschwindigkeit hinter sich gebracht hatte, sachte und fast schon entschuldigend die letzten dreißig dahin und fuhr schließlich in den Bahnhof von Lapton ein. Nur ein Fahrgast stieg aus, Hercule Poirot. Achtsam überwand er einen klaffenden Spalt zwischen Waggonstufe und Bahnsteig und blickte sich um. Am hinteren Ende des Zuges machte sich ein Träger in einem Gepäckabteil zu schaffen. Poirot nahm seinen Handkoffer und ging den Bahnsteig entlang zum Ausgang. Er gab seine Fahrkarte ab und schritt durch das Schalterbüro hinaus.

Draußen war eine große Humber-Limousine vorgefahren, und ein livrierter Chauffeur trat zu ihm.

»Mr Hercule Poirot?«, erkundigte er sich respektvoll.

Er nahm Poirot den Koffer ab und öffnete ihm die Wagentür. Sie fuhren vom Bahnhof ab, über die Eisenbahnbrücke und eine Landstraße entlang, die schon bald einen sehr schönen Blick auf einen Fluss freigab.

»Der Dart, Sir«, sagte der Chauffeur.

»Magnifique!«, sagte Poirot verbindlich.

Sie fuhren auf einer gewundenen Landstraße, die zwischen grünen Hecken ab- und aufwärts verlief. An einer Steigung mühten sich zwei Mädchen in Shorts mit hellen Tüchern um den Kopf und schweren Rucksäcken auf dem Rücken langsam bergauf.

»Unmittelbar oberhalb von hier ist eine Jugendherberge, Sir«, erklärte der Chauffeur, der sich offenkundig zu Poirots Devon-Führer berufen fühlte … »Man nennt sie ›Upper Greenshore‹. Die kommen für zwei, drei Nächte, ja, und zurzeit ist doch viel Betrieb. Vierzig oder fünfzig pro Nacht.«