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Über die Autorin
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Lena Hach, geboren 1982, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie besuchte eine Schule für Clowns, studierte Literatur und Kreatives Schreiben und arbeitete als Journalistin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr ebenfalls der Roman Wanted – Ja. Nein. Vielleicht. und das Kinderbuch Kawasaki hält alle in Atem.
www.lenahach.de
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74737-2)
www.beltz.de
© 2015, 2016 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz·Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christian Walther
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Cornelia Niere, München
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74513-2
Für Jacob
Danke an Liesel Decker, die nicht nur in Trier eine wunderbare Gastgeberin und Freundin war und ist.
Sowie an all jene, die dafür gesorgt haben, dass ich auf Klassenfahrten Spaß hatte – trotz Anflügen von Heimweh und den unvermeidlichen Tageswanderungen.
Das alles hier habe ich recherchiert. Und zwar gründlich. Aber weil es ziemlich privates Zeug ist, werde ich es nicht veröffentlichen. Das heißt, zumindest nicht in der WMNW, unserer Schülerzeitung. Die vier Buchstaben stehen für Was Marie Nicht Wusste, denn unsere Schule ist nach Marie Curie benannt, die dafür bewundert wird, dass sie sich nicht mit einem Nobelpreis zufriedengegeben hat. Nein, die Gute hat sich gleich zwei geschnappt!
In unserer neuen Ausgabe wird es also nur um das Übliche gehen: die unterirdische Qualität des Cafeteriafutters, den überfälligen Anbau für den Physikunterricht und die Tatsache, dass Toilettenrollen im ganzen Gebäude Mangelware sind. Wobei, auf den Lehrertoiletten gibt es bestimmt dreilagiges, parfümiertes Blümchenpapier, das beim Abreißen leise klingelt.
Aber ich schweife ab.
Was ich eigentlich sagen will: Angehende Journalisten wie ich haben eine Verantwortung, und in diesem Fall heißt das, schweren Herzens auf eine gute Story verzichten. Aber weil es schade wäre um all die Arbeit, die ich mir gemacht habe, und weil ich das, was in diesem Jahr passiert ist, irgendwie loswerden muss, halte ich es hier fest. Ihr werdet euch vielleicht fragen, woher ich die ganzen Details über Till und Paula habe, warum ich auch von Begegnungen berichte, bei denen ich nicht einmal anwesend war. Die Antwort ist einfach: Weil ich es kann! Außerdem habe ich jede Menge verlässliche Informanten. Und wenn ich doch einmal etwas nicht wusste, habe ich die Lücken, sagen wir mal, fantasievoll gefüllt …
Teil I
Zu Hause
  
  

01

Der Klein griff nach dem Beethoven-Kopf und stützte sich auf der Lockenmähne aus Gips ab. Wie ein Friseur, der gleich ein besonders ergiebiges Shampoo einmassieren wird. Und die Pflegespülung direkt hinterher. Nur dass sich die Knöchel seiner Finger langsam weiß färbten und seine Lippen zitterten. Und dann begann der Klein, uns mit bebender Stimme von den Lernfenstern zu erzählen. Genauer: »Von der Bedeutung der Lernfenster für die individuelle Entwicklung«. Klingt kompliziert, ist aber ziemlich simpel: Angeblich sind bestimmte Zeitpunkte im Leben eines jeden Menschen besonders dafür geeignet, um gewisse Sachen zu lernen. Und angeblich hatte die gesamte 10a, also wir, ihr Musikalitäts-Lernfenster verpasst.
»Das Fenster ist verriegelt und verrammelt«, rief der Klein schwer seufzend. »Und das wird auch so bleiben!«
Die meisten Lehrer kapieren einfach nicht, dass manche Wörter dafür sorgen, dass der Grad der Aufmerksamkeit gegen null sinkt. Beziehungsweise komplett im Minusbereich verschwindet! Außerdem breitet sich ein Lachen aus, das sich je nach Klassenstufe in schüchternem Kichern oder haltlosem Wiehern äußert. Verrammeln ist so ein Wort. Auch Kartenständer kann Probleme mit sich bringen. Oder Ausschnitt. Gummi. Gleichschenkliges Dreieck.
Es gibt tausend Beispiele. Allesamt Wörter, die wir begeistert missverstehen. Es ist unsere ganz eigene Variante von Teekesselchen. Deshalb habe ich auch ganz bewusst Beethoven-Kopf und nicht Beethoven-Büste geschrieben. Eigentlich sollten Lehrer vor ihrem ersten Einsatz eine Art Vokabelliste der dringend zu vermeidenden Wörter bekommen. Sicher wären sie dafür ganz dankbar. Andererseits hätten wir Schüler dann deutlich weniger Spaß.
Wie auch immer: In dem Moment dachte der Klein, wir würden über seinen psychologischen Vortrag lachen. Wie er auch davon überzeugt war, wir hätten sein geliebtes Oh, Happy Day absichtlich sabotiert, indem wir schiefe Töne aus unseren Kehlen pressten. Aber da tat er uns unrecht. Wir waren in den – hoffentlich – letzten Zügen unserer Pubertät, wir konnten nicht anders. Zumindest der männliche Teil der Klasse. Auf jeden Fall schlug der Klein den Klavierdeckel zu und rauschte aus dem Saal. Ein Abgang wie ein Opernsänger. Oder wie sein großes Vorbild, Beethoven. Der ist ja angeblich ein ziemlicher Choleriker gewesen. Und gehörlos! Der geniale Komponist hätte sich im Gegensatz zum nicht ganz so genialen Musiklehrer bestimmt nicht weiter daran gestört, dass unser Gesang am anderen Ende der Talentskala lag. Kaum war der Klein verschwunden, brauste Beifall auf. Und wir hatten plötzlich frei. Es war also in der Tat ein happy day.
Den Rest der Stunde hingen wir in der Cafeteria ab. Mia fiel über Henning her, das heißt, sie begann, ihm einen Zopf zu flechten, den sie wie eine Girlande um seinen Schädel wickelte. Es gibt immer noch einige Idioten, die sich über Hennings Mähne genauso lustig machen wie über sein ausgeprägtes Interesse für UFOs. Aber die haben einfach nicht kapiert, dass eine ausgefeilte Strategie dahintersteckt. Nicht hinter Hennings Vorliebe für Fliegende Untertassen, versteht sich, das ist einfach nur verrückt! Sondern hinter seiner Frisur. Denn dank seiner schulterlangen Haare kommt Henning ständig in den Genuss, von weiblichen Wesen befingert zu werden. Das sollen andere ihm erst einmal nachmachen.
Till, zum Beispiel. Der musste aufpassen, dass sich nicht sein Lernfenster für den ersten Kuss schloss. Soweit ich wusste, wurde der noch nie von irgendjemandem befingert. Der befingerte nur seine Leica. Klingt wie ein Hund, ist aber eine alte Kamera. Analog, verchromt und mit knallrotem Trageband. Auch jetzt lag das Ding keine zwei Lineallängen von ihm entfernt auf dem Tisch. Gleich daneben saß Daniel, der sein Miniaturschachbrett ausgepackt hatte und über komplizierten Situationen brütete. Die Zwillinge Ja und Jo – mit vollen Namen Jan und Jonas Juskowiak – hingen Käsebrötchen kauend über Daniels Schulter, um ihm ungefragt Tipps zu geben. Daniel ist ein wahnsinniger Nerd, aber eines muss man ihm lassen: Er hat für uns Normalsterbliche ein unglaubliches Maß an Geduld. Völlig gelassen pickte er die Brötchenkrümel vom Brett und erklärte Ja und Jo, warum ihre Vorschläge durchaus interessant, aber in diesem konkreten Fall leider nicht zielführend seien. Bald wurden die beiden sowieso abgelenkt, weil Johanna aus der Zwölf einlief. Die grauen Cafeteriafliesen verwandelten sich in einen glitzernden Catwalk. Johanna hatte ihre blonden Haare hochgesteckt, eine luftige Riesenzwiebel, die beim Gehen im Takt mit ihren Brüsten wippte.
Den meisten von uns, Jungs wie Mädchen, blieb der Mund offen stehen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Jo fiel ein fein säuberlich mit Spucke verzierter Brötchenbrocken aus dem Mund, mitten auf das Schachbrett. Ich glaube, es war Feld c4. Genau in dem Moment drückte Till auf den Auslöser seiner Kamera. Klick. Aber niemand interessierte sich dafür. Obwohl klar war, dass das ein absolut geniales Foto abgeben musste. Ein Bild, das auf jeden Fall in die Abizeitung gehört! Ein Bild, das selbst beim goldenen Klassentreffen in fünfzig Jahren noch mal ausgepackt wird. Jonas Juskowiak spuckt auf Daniels Schachbrett und trifft dabei den weißen Turm! Das halb durchgekaute Brötchen bleibt oben auf der Spielfigur liegen, zwischen den winzigen Plastikzinnen! Man sieht sogar seinen Zahnabdruck im feuchten Weizenklumpen. Ich meine, wie schräg ist das denn? Aber kein Schwein sagte was und das lag ausnahmsweise nicht an der heiligen Johanna, die war mit ihren Jüngern im Schlepptau längst abgerauscht. Es lag einzig und allein an Till. Der hatte nämlich noch nie ein – nicht ein einziges – Foto mitgebracht.
Da fiel mir diese Fenstertheorie vom Klein wieder ein: Ich war mir jetzt vollends sicher, dass man sie auch auf andere Zusammenhänge übertragen konnte. Zum Beispiel auf Till und seine Leica.
Mal angenommen, Paula würde mir den Auftrag geben, für die WMNW ein Porträt über Till zu schreiben, dann käme ein Wort besonders oft darin vor: nett. Till ist wirklich nett. Zu Lehrern. Zu Mitschülern. Zu Tieren. (Ich habe einmal beobachtet, wie er eine Schnecke auf die andere Straßenseite getragen hat.) Wahrscheinlich ist Till sogar zu seiner Familie nett. Und ja, ganz besonders nett ist Till zu seiner Kamera … Ein Wort käme in dem Porträt aber ganz bestimmt nicht vor: cool. Es ist weder cool, mit Nacktschnecken zu kuscheln, noch, im Sportunterricht mit schöner Regelmäßigkeit Nasenbluten zu bekommen. (Wenigstens steckt er sich keine zu Tampons gedrehten Taschentücher in die Nasenlöcher.) Es gab aber mal eine Zeit – und hier kommt die Klein’sche Theorie ins Spiel –, da hatte Till die Chance gehabt, cool zu werden. Und zwar richtig cool, eiswürfelinbacardicool. Trotz Schnecken. Trotz Nasenbluten. Das war nach den Osterferien, als Till zum ersten Mal mit dieser alten Leica aufgetaucht ist. Daraufhin passierten zwei Dinge: erstens, die Mädchen nahmen ihn wahr. Und damit bemerkten ihn, zweitens, auch die Jungs. Alle waren sich einig, dass die Kamera »echt retro« war, und hielten ihre Visagen vor das Objektiv. Sogar David war schwer beeindruckt. David, der seine ersten zehn Lebensjahre in den USA verbringen durfte, bevor es ihn nach Hessen verschlagen hat – das will was heißen! Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Wenn einer von uns hilflosen Zehnern auch nur die geringste Chance hätte, bei Johanna zu landen, dann war es David Baker. Gerüchten zufolge hat er auf einem Flug von Frankfurt nach Los Angeles, wo sein grandpa lebt, schon mal mit einer Flugbegleiterin geknutscht. Anderen Gerüchten nach wurde er mit zwölf Zehen geboren. Aber vermutlich wäre jeder Typ aus unserem Jahrgang bereit, sich den ein oder anderen Extrazeh wachsen zu lassen, und zwar mitten im Gesicht, wenn er dafür mit David tauschen könnte. Ich meine, wer verbringt seine Ferien schon jedes Jahr am Venice Beach?! Mit Venice-Beachballerinnen, eimerweise Sonnencreme und Getränken, die Soda heißen?
Auf jeden Fall hob California-David beide Daumen, als er die Kamera zum ersten Mal sah. Ein doppeltes Thumbs up, das kam nicht oft vor. Gleichzeitig tat David mit dieser Bewegung noch etwas: Er öffnete für Till das Fenster zur Coolheit. Aber er öffnete es nur einen Spalt. Den Rest würde Till schon allein machen müssen: hin und wieder Fotos mitbringen, am besten schwarz-weiß, für den absoluten Retroeffekt. Die Bilder vielleicht sogar selbst entwickeln. Um noch ein bisschen schneller durch das Fenster in die Welt von David und Co zu klettern, hätte Till sich außerdem dringend neue Sneakers kaufen müssen oder mal was zum Rauchen mitbringen. Aber stattdessen brachte Till immer nur die Kamera mit. Immer. Und immer baumelte sie um seinen Hals. Bald fiel irgendjemandem auf, dass die Kleinen genau so ihre Brustbeutel trugen. Und ihre Zahnspangendosen. Es sah wirklich nicht gerade cool aus. Mindestens so seltsam war, dass Till es nicht mochte, wenn jemand anders das Ding anfasste. Nicht mal die schöne Eleni durfte ran. Es dauerte nicht lange und die ersten Witze machten ihre Runde.
»Der nimmt seine Kamera doch bestimmt mit ins Bett.«
»Ich will nicht wissen, was er damit treibt.«
»Und ich will nicht die Fotos sehen, die er damit macht.«
»Selfies der besonderen Art.«
»Die er im Netz verkauft.«
»Wohl eher verschenkt.«
»Spam-Alarm!«
Man muss es nicht weiter erklären. Das Fenster zur Coolheit hatte sich geschlossen. Es war, wie der Klein sagen würde, verriegelt und verrammelt. Doch wenigstens war Till nicht durch das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite gestürzt – nämlich durch das, auf dem dick und fett Freak steht. Nicht dass ihr denkt, er wäre gemobbt worden. Denn bald wurden die Sprüche langweilig, und spätestens, als Nele auf die glorreiche Idee kam, sich eine Dauerwelle machen zu lassen, war sie an der Reihe. Irgendwie musste an ihr vorübergegangen sein, dass es einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen retro und absolut unmöglich gab.
Die Kamera schleppte Till jedenfalls weiter mit sich herum. In jede Schulstunde, auf jede Party. Ab und zu nahm er den Verschluss vom Objektiv, hielt sich die Leica vor das Gesicht und drückte auf den Auslöser.
Ich habe mich oft gefragt, wie es wäre, die Welt mit Tills Augen zu sehen. Wer ständig durch den Sucher einer Kamera guckt, muss alles anders wahrnehmen: distanziert, ausschnitthaft.
Klar ist: Niemand fühlte sich von Till und seiner Kamera gestört. Niemand richtete seine Frisur oder setzte einen Modelblick auf, nur weil er in der Nähe war. Wir schenkten ihm einfach keine große Beachtung, denn wie gesagt bekamen wir seine Bilder eh nie zu Gesicht. Das war auch nicht weiter schlimm. Denn wenn wir Fotos von uns wollen, machen wir sie selbst, mit der Kamerafunktion unserer Handys. Und die hat bekanntermaßen einen großen Vorteil: Wenn ein Bild nichts geworden ist, wird es sofort gelöscht.

02

»Lass das! Ich muss mich konzentrieren!«
Ich hing vor dem Redaktionscomputer und versuchte, mir den Wikipedia-Artikel zu »Entwicklungspsychologie« reinzuziehen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das geschah nicht aus reinem Interesse. Ich heiße nicht Daniel. Aber vor einer Weile hatten wir unserem Rektor, Dr. Schmal, versprochen, in der WMNW eine Wissenschaftsspalte einzurichten. Damit wir dem Namen unserer Schule auch gerecht würden. Marie Curie, Physik, Chemie, Wissenschaft – ihr kapiert, was ich meine. (Wir wundern uns heute noch, warum er sich keine Modespalte gewünscht hat. Dr. Schmal trägt immer die schicksten Anzüge, extra slim, und dazu ausschließlich Fliege.)
Bisher hatten wir das mit der Wissenschaftsspalte erfolgreich vor uns hergeschoben. Aber möglicherweise konnte ich dieses donnerstägliche Redaktionstreffen endlich dazu nutzen, um den guten Mann zufriedenzustellen, indem ich etwas über diese Lernfenster schrieb. Das hatte zwar nicht gerade etwas mit Radioaktivität zu tun, war aber auf jeden Fall besser als nichts.
Nur lenkte mich etwas – jemand – davon ab. Ausgerechnet Paula. Immer wieder hielt sie mir einen Papierfetzen vor das Gesicht und blockierte meine Sicht auf den Bildschirm.
»Mann, Paula, was soll das?«
»Lies doch endlich!«, rief sie und fuchtelte mit dem Papier direkt vor meiner Nase herum, als wollte sie, dass ich einmal kräftig reinschnäuze.
Paulas Stimme war anzuhören, dass sie nicht so schnell aufgeben würde. Wobei, eigentlich hat ihre Stimme immer diesen ganz besonderen Klang. Also schnappte ich mir das Blatt. Genau genommen waren es mehrere Blätter. Beziehungsweise eine komplette Schülerzeitung. Aber was für eine! Ihr wisst schon, so ein richtiges Ding zum Aufschlagen, mit einem Farbfoto auf dem Cover. Und noch mehr Fotos, noch viel mehr Fotos, drinnen.
»Wow«, machte ich. Es gab keinen Zweifel: Das war definitiv eine Schülerzeitung der Extraklasse.
Paula verzog das Gesicht. Sie nahm mir die Zeitung aus der Hand und hielt sie in die Luft, wie Frau Rosenthal es mit korrigierten Klassenarbeiten tut. Drohend. Unheil verkündend.
»Das«, sagte Paula mit Totengräberstimme, »ist die Schülerzeitung der Kästnerschule.«
Damit hatte sie nicht nur meine volle Aufmerksamkeit, auch der Rest der Redaktion starrte sie fassungslos an.
»Was?!«
»Im Ernst?«
»Das soll eine verdammte Grundschul-Schülerzeitung sein?!«
»Es reicht aus, Grundschülerzeitung zu sagen«, warf Chris ein. »Damit vermeidest du die unschöne Dopplung des Wortstamms.«
Chris kann mit Formulierungen genauso kreativ wie kleinlich sein. Letzteres gilt übrigens auch für die richtige Zubereitung von Kaffee. Ungelogen, Chris schleppt zu jedem unserer Redaktionstreffen seine eigene Kaffeemaschine an, so ein großes, lautes Ungetüm, das noch richtige Filter braucht. Weil es in der Cafeteria angeblich nur Plörre gibt. Weshalb Chris sie Plörreria nennt.
Paula holte tief Luft, und dann legte sie los: »Wir müssen uns enorm anstrengen, wenn wir bei der Goldenen Ente auch nur den Hauch einer Chance haben wollen.«
Ich unterdrückte ein Stöhnen. Die Goldene Ente! Seit Wochen faselte Paula von nichts anderem. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, den nationalen Schülerzeitungswettbewerb zu gewinnen. Der erste Preis war eine komplette Ausrüstung für den Redaktionsraum. Den wir genau genommen zu diesem Zeitpunkt gar nicht hatten: denn die kreativen Köpfe hinter der WMNW arbeiteten im gleichen Raum, in dem die Leute vom Putzblitz ihre Arbeitsmaterialien lagern. Und Arbeitsmaterialien heißt in diesem Fall: triefende Putzlappen, Plastikeimer mit Trauerrand und hochgiftige Chemikalien zur Beseitigung von hartnäckigem Schülerschmutz. Aber musste Dr. Schmal nicht, wenn wir erst einmal die Ausrüstung gewonnen hätten, uns auch den passenden Raum dafür geben?! Doch mein Drang, eine Entenjagd zu meinem einzigen Lebensinhalt zu machen, hielt sich ziemlich in Grenzen. Vielleicht, weil ich Vegetarier bin.
Andererseits war Paulas Plan nicht so schlecht. Immerhin hat sie unsere Zeitung vor dem sicheren Tod gerettet, die hinter vorgehaltener Hand schon WNWW genannt wurde: Was Niemand Wissen Will.
Am Tiefpunkt verkauften wir Redaktionsmitglieder jeder genau ein Exemplar: an unsere mitleidsvollen Eltern. Mit Ausnahme von Chris, denn seine Erziehungsberechtigten nahmen nicht einmal das. Als ehemalige Hochleistungssportler verstanden sie einfach nicht, dass ihr Sohn lieber über Sport schrieb, statt selbst welchen zu machen. (Ich schreibe extra nicht treiben.) »Wenn du unbedingt was mit deinen Fingern machen musst, dann versuch es doch mal mit Hakeln«, hatte seine Mutter ihm allen Ernstes geraten, als sie ihn mal wieder beim Tippen überraschte. »Das ist in Bayern ein beliebter Kraftsport!« Ich meine, hätte sie Chris bei etwas anderem erwischt – bei etwas, für das man seine Finger genauso braucht, zumindest die einer Hand –, hätte man ihre Reaktion vielleicht noch verstehen können.
Es war also nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Dr. Schmal von unseren sinkenden Absatzzahlen Wind bekommen und den Druckkostenzuschuss einstellen würde. Aber Paula krempelte den Laden in allerletzter Sekunde um. Und zwar so richtig. Zuerst ernannte sie sich selbst zur Chefredakteurin. Fairerweise muss man sagen, dass wir anderen auf den Posten genauso scharf waren wie auf einen unangekündigten Vokabeltest.
Evi, unser Redaktionsurgestein, blätterte die Grundschülerzeitung durch, schien davon als Einzige aber nicht sonderlich beeindruckt.
»Leute, vergesst nicht die Kraft des positiven Denkens«, sagte sie und richtete ihr türkisfarbenes Batiktuch, das sie wie ein Stirnband trug. Sie sah damit aus wie eine Schamanin. »Unsere Chancen stehen gar nicht so schlecht. Wir sind auch ziemlich professionell.«
»Professionell?!«, rief Chris und tat, als würde er seine gegelten Haare raufen. »Weißt du, was das Wort bedeutet? Dein Optimismus in Ehren, aber professionell ist ein Synonym für fachmännisch. Ist das etwa fachmännisch?«
Er deutete nach links und rechts, keine Ahnung, auf was. Wahrscheinlich auf die Utensilien des Putzblitz’.
Evi lächelte bloß.
»Wir haben Ressorts«, sagte sie. »Wie eine richtige Zeitung. Welche Schülerzeitung hat das schon?!«
Wir anderen sahen uns an. Paula konnte ein kleines Grinsen nicht unterdrücken, denn Evi hatte recht. Wir hatten Ressorts. Paula hatte jedem von uns eines zugeordnet, es war ihre erste Amtshandlung als Chefredakteurin gewesen. Und das war mehr als überfällig, denn früher war es vorgekommen, dass in einer Ausgabe fünf unterschiedliche Artikel über ein und dasselbe Schulbandkonzert standen – und sonst nichts. Vom Impressum einmal abgesehen. Und sogar das hatten wir eine Zeit lang doppelt drin: einmal vorne, einmal hinten. Passiert. Aber jetzt nicht mehr.
Seitdem ist die esoterische Evi für das Horoskop zuständig, das meist zu einem wahren Horrorskop wird, da Evi trotz – oder wegen – ihrer Sanftmütigkeit eine ausgeprägte Vorliebe für besonders blutige Metzelfilme hat. Genauso seltsam ist übrigens Evis felsenfeste Behauptung, dass ihre Landschildkröte Betty ihr das Horoskop jeden Monat einflüstert. Vielleicht hat sie zu viel Michael Ende gelesen. Daniel ist nicht nur für die Technik und das Layout zuständig, sondern denkt sich auch die Sudokus aus. In drei Schwierigkeitsgraden.
Der koffeinabhängige und – da ihm seine Eltern nichts anderes kaufen – ausschließlich Trainingsanzug tragende Chris schreibt wie gesagt vor allem über Sport, und Mai-Lin, die gefeierte Saxofonistin der Schulband, ist für Interviews aller Art zuständig. Ob es um den Hausmeister geht, Dr. Schmal höchstpersönlich oder das gegenwärtige Frischfleisch – alias die neuen Referendare. Apropos: Ist euch eigentlich schon mal aufgefallen, wie dankbar Referendare sind, wenn man sie in irgendetwas einbezieht? Das ist fast schon rührend. Mai-Lin meint, das hat damit zu tun, dass die ausgewachsenen Lehrer nicht besonders nett zu ihnen sind: Im Lehrerzimmer der Marie Curie muss das Frischfleisch zum Beispiel an einem wackeligen Tisch sitzen, ganz in der Ecke. Und wehe, einer von ihnen wagt es, eine fremde Kaffeetasse zu benutzen! Oder auch nur ein Stück Karton unter das zu kurze Tischbein zu schieben!
Mai-Lin war zwar erst seit Kurzem bei der WMNW, aber schon ein echter Vollprofi im Stellen nur scheinbar belangloser Fragen (»Was essen Sie am liebsten zum Frühstück?«). Dank ihr wissen wir zum Beispiel, dass die schwarzen Punkte auf Dr. Schmals Zahnfleisch von seiner Liebe zu Mohnbrötchen kommen – und kein Anzeichen für eine seltene Form von Skorbut sind.
Paula schreibt als Chefredakteurin natürlich das Vorwort, das sie aber Editorial nennt. Außerdem zeichnet sie wirklich großartige Cartoons – ihr Arien schmetternder Herr Klein ist zum Brüllen! Außerdem behält sie den Überblick. Das heißt, sie sorgt dafür, dass alle Artikel rechtzeitig bei Daniel landen, der zum Trüffelschwein wird, wenn es um das Aufspüren von Kommafehlern geht. Dafür braucht er nur seine randlose Brille aufzusetzen und schon geht es los.
Ich selbst bin für Reportagen zuständig und beschäftige mich mit allem, was so ansteht: zum Beispiel mit der Projektwoche, dem Vorlesewettbewerb und dem hundertjährigen Jubiläum unserer Schule, das bald mit großem Tamtam gefeiert werden sollte. Und großes Tamtam bedeutete in dem Fall: Zuerst würde es eine mit Zitaten garnierte Rede vom Rektor geben, gefolgt von ein paar wenigen Worten eines Schülervertreters, gefolgt von ein paar vielen Worten des Elternbeirats, bis als Höhepunkt literweise Kindersekt floss. Paulas Mutter, die an unserer Schule Kunstlehrerin ist, plante extra für diesen Anlass eine Ausstellung. Eine Woche später sollte es zudem einen richtigen Ball geben – wenn man eine Feierlichkeit, die zwischen Turnmatten und Bockspringböcken stattfindet, überhaupt Ball nennen kann. Chris sähe das mit Sicherheit anders.
»Ja, wir haben Ressorts«, nickte Paula, »aber was uns von der Konkurrenz wirklich abheben würde«, sie machte eine kleine Kunstpause, »wäre ein richtiger Fotograf.«
»Ein Fotograf?!«, fragten Chris und Daniel gleichzeitig. Ehrlich gesagt, ich war genauso skeptisch. Wir sechs waren ein Dream-Team, wozu brauchten wir noch einen Fotografen? Der schien überflüssig wie der mittlere Schulabschluss.
»Wir haben doch deine Cartoons«, erinnerte Chris unsere Chefredakteurin.
»Die sind nicht seriös genug«, erwiderte sie nur. Das war typisch Paula: immer kritisch, auch wenn es um sie selbst ging.
»Okay, aber warum dann gleich ein Fotograf? Wir haben unsere Handys, da hat jeder doch bestimmt tausend Fotos drauf.«
»Wovon 999 Selfies sind«, sagte Paula. Womit sie verdammt recht hatte.
»Denkt doch mal nach! Alle Schülerzeitungen arbeiten mit Handyfotos.«
Sie fuchtelte mit dem Exemplar der Kästnerschule in der Luft herum. »Selbst die Kleinen hier! Guckt euch das doch mal an. Ein richtiger Fotograf liefert andere Bilder! Eine neue Sicht auf die Dinge!«
Paula holte Luft. »Fest steht: Wir brauchen jemanden, der wirklich was draufhat. Gibt es nicht jemanden in der Foto-AG, den wir fragen könnten?«
»Die AG existiert seit drei Jahren nicht mehr«, murmelte ich, ein wenig beleidigt. Dass sie das nicht wusste! Immerhin hatte ich erst kürzlich über das große Arbeitsgemeinschaftssterben eine zu Tränen rührende Reportage geschrieben.
»Egal«, sagte Paula. »Wir werden schon jemanden finden!«
»Positives Denken, das gefällt mir!«, rief Evi.
Und plötzlich hatte ich tatsächlich eine Idee.
»Till.«
Dass ich nicht vorher auf ihn gekommen war! Andererseits war er eben verdammt zurückhaltend und unscheinbar. Wahrscheinlich war er mir auch jetzt nur eingefallen, weil er wegen der Lernfensterstory noch in den vordersten Windungen meines Hirns hing.
»Till könnte unser Fotograf sein!«
Evi klatschte begeistert in die Hände. »Seht ihr: Positive Thinking. Es funktioniert!«
Paula ging nicht darauf ein, sondern hob fragend die Augenbrauen.
»Till?«
Es war offensichtlich, dass sie keine Ahnung hatte, von wem ich sprach. Dabei ging Till – wie ich im Übrigen auch – in ihre Parallelklasse. Doch die Sache ist die: Jeder kennt Paula. Sie ist die Chefredakteurin der WMNW. Sie ist die Tochter der Kunst-Kiesel und des stadtbekannten Staranwalts. Sie hat diese beste Freundin, die auf fünf furchterregenden Sprachen gleichzeitig fluchen kann. Sie war die Einzige, die die Zehnte wiederholte. Sie war mit dem Typen der Painted Walls zusammen. Sie hatte sich vorletzten Sommer ihre Haare kurz geschnitten und rot gefärbt – mittlerweile waren ihre Haare aber wieder blond und ließen sich zu einem kleinen Zopf binden. Es gibt tausend Gründe, Paula zu kennen. Aber Paula interessierte sich eben nur für Leute, die mindestens so alt waren wie sie – von uns Schreiberlingen einmal abgesehen. Alles andere hatte sie auch gar nicht nötig.
»Welcher Till?«, fragte sie noch einmal.
»Der geht in unsere Klasse«, mischte Daniel sich ein, ohne von dem Blatt aufzusehen, auf das er hoch konzentriert Zahlen für ein Sudoku kritzelte. Paula wusste immer noch nicht, wen wir meinten; ihre Augenbrauen waren noch nicht an ihren üblichen Platz gesunken.
»Braune Haare. Eher dünn. Grüner Rucksack«, half ich nach.
»Der mit der Kamera?«, fragte Mai-Lin.
»Genau der.«
»Der ist total nett«, sagte Mai-Lin. »Er hat mir mal die Bustür aufgehalten, als ich draußen meine Tasche vergessen habe.« Sie machte eine kleine Pause. »Da fällt mir ein, hat jemand meinen Kuli gesehen? Eben hatte ich ihn noch.«
»Vergesslich und chaotisch«, fasste Evi zusammen und ließ ihre fünfundfünfzig Armreifen klappern. »Mai-Lin, ist dein Sternzeichen zufälligerweise Fische?«
»Ähm, ja. Warum?«
Statt eine Antwort zu geben, setzte Evi ihr unheimliches Nicht-von-dieser-Welt-Lächeln auf. Ihre hellblauen Augen wurden noch ein bisschen hellblauer, und ihr Blick verschwamm, als sei er in die Vergangenheit gerichtet, oder in die Zukunft, oder beides zusammen. Im Ernst, man kann Gänsehaut davon bekommen.
»Du meinst, dass dieser Till was vom Fotografieren versteht?«, nahm Paula den Faden wieder auf. Sie war die Einzige, die sich von Evis Gruselnummer nicht so schnell beeindrucken ließ.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Fotos habe ich eigentlich noch keine gesehen. Aber zumindest schleppt er immer diese Uraltkamera mit sich rum.«
»Wie, uralt?«, fragte Paula.
»Na, die Kamera ist analog«, erklärte ich.
»Angeblich nimmt er das Ding sogar mit aufs Klo.«
»Und mit ins Bett.«
Daniel begann zu kichern, aber Paula ließ sich nicht ablenken. Ich kann mir genau vorstellen, was in ihr vorging: Eine analoge Kamera, das war ganz nach ihrem Geschmack! Die Fotos, die man damit schoss, waren definitiv etwas Besonderes. Nicht geschönt, nicht mit einem Retrofilter à la Instagram versehen. Wer analog fotografierte, musste sich auskennen. Paula hatte Till engagiert, ohne dass er etwas davon wusste.
»Wo ist er jetzt?«, fragte sie.
»Du meinst: In diesem Moment?«
Daniel und ich blickten uns ratlos an.
»Geht er in eure Klasse oder nicht?«
Klar tat er das! Aber wir konnten doch nicht von jedem wissen, wie sein persönliches Donnerstagnachmittagsprogramm aussah. Keine Ahnung, ob Till überhaupt eine unserer wenigen AGs gewählt hatte. Gut möglich, dass er schon zu Hause war. Es sich mit seiner Kamera im Bett gemütlich gemacht hatte.
Paula seufzte, schnappte sich ihr Handy und tippte eine einzige Taste. Ob ihr es glaubt oder nicht, sie hat die Nummer des Schulsekretariats im Kurzwahlprogramm eingespeichert. Wahrscheinlich gleich nach der Privatnummer von Dr. Schmal. Und der Durchwahl ins Weiße Haus.
»Wie heißt er mit Nachnamen?«, flüsterte sie.
»Sperling?«, überlegte ich, »Spatz?«
»Fink«, fiel Daniel ein.
Paula nickte und biss sich auf die Lippen. Das tut sie immer, wenn sie sich anstrengt. Im Redaktions-Schrägstrich-Putzraum war es mit einem Mal mucksmäuschenstill.
Ein paar Sekunden verstrichen. Dann legte Paula los.
»Guten Tag, hier ist Fink. Tut mir leid, dass ich störe, Sie sind sicher schwer beschäftigt mit den Vorbereitungen für das Jubiläum … Ja, das kann ich mir vorstellen … Die Sache ist die, mein Sohn Till … Tillmann, ja, genau, in die Zehnte. Also, er hat seinen Schlüssel vergessen … wem sagen Sie das? Na, auf jeden Fall müsste ich ihm den Schlüssel jetzt gleich bringen, weil später niemand mehr … Italienisch-AG? … Raum 503? … Alles klar, vielen Dank … wünsche ich Ihnen auch, auf Wiederhören.«
Paula schob das Handy in die Tasche und griff nach ihrem Mantel, ein grasgrünes Ding, das sich in die Netzhaut einbrennt. »Bin gleich wieder da«, sagte sie und war auch schon verschwunden. Mai-Lin, die unsere Paula noch nicht oft in Aktion erlebt hatte, sah ihr verdutzt hinterher.
»Wow. Geduld ist wohl nicht gerade ihre Stärke.«
»Nee«, sagte Chris und schüttelte den Kopf. »Ungeduld ist es.«
Evi nickte. »Typisch Zwilling.«

03

»Avanti, avanti!«
Goldenen Ente