Umschlag

Andreas Wagner ist Winzer, Historiker und Autor. Nach dem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Bohemistik in Leipzig und an der Karlsuniversität in Prag hat er 2003 zusammen mit seinen beiden Brüdern das Familienweingut in der Nähe von Mainz übernommen. Von Andreas Wagner sind bislang sieben Kriminalromane, ein Roman und eine Kurzgeschichtensammlung erschienen. Andreas Wagner ist verheiratet und hat vier Kinder.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Christian Wagner
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-828-1
Ein Wein Krimi
Originalausgabe

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Für Nina, Phillip, Hanna, Fabian und Justus

Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei,
auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai.
Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei,
doch zwei, die sich lieben, die bleiben sich treu.

Lale Andersen

1

Das monotone Rattern des Traktors lullte ihn langsam ein. Der dichte Schleier, der sich wohltuend in seinem Kopf ausbreitete, begann, die quälenden Gedanken des Morgens zu betäuben. Noch ein paar Runden, und die weiche Taubheit würde alle Winkel seines Schädels erreicht haben. Dann brachen die guten, gedankenlosen Stunden an, in völliger Stumpfheit auf dem Fahrersitz. Heute sehnte er sie sich herbei. Runde um Runde, ohne die ergrauten Bilder, die sein Schädel beisteuerte. Von den meisten konnte er ohnehin nicht mehr sagen, ob sie der Vergangenheit entlehnt oder ein Produkt seiner irren Phantasie waren. Hinkende Kreuzungen aus beidem wahrscheinlich, die in seinem Kopf hässliche Scharmützel um die Hoheit ausfochten. Das Lärmen des Motors würde sie niederdrücken und in Schach halten.

Sie hatten ihn hier rausgeschickt, weil sie nicht wussten, was das für ihn bedeutete. Seit er ihnen vor ein paar Jahren, als es an der Zeit gewesen war aufzuhören, den Weinberg gegeben hatte, mussten sie seine Anwesenheit und Mithilfe schweigend hinnehmen. Sie versuchten, sich ihr Missfallen darüber nicht anmerken zu lassen. An ihren Blicken war es dennoch abzulesen. Kaum feststellbare Muskelbewegungen in ihren Gesichtern, die er deutlich erkannte, mochten sie sich noch so viel Mühe geben. Er war alt, aber nicht blind. Sie ertrugen ihn, weil es sich so gehörte, wenn man die Weinberge bekommen hatte.

Es war sein Weinberg, der seiner Eltern und Großeltern, und der einzige, der nach der großen Umlegung in den Sechzigern noch unverändert an der Stelle lag, wo er schon Jahrhunderte zuvor gewesen war. Sein ganzes Leben hatte er hier verbracht, am und im Weinberg, Jahr für Jahr, Monat für Monat durch die Jahreszeiten hindurch.

Jetzt war sein letzter Herbst vorbei. Die Stöcke hatten sie schon vor ein paar Tagen knapp über dem Boden abgeschnitten, den alten rostigen Draht aufgerollt und die morschen Holzpfähle gezogen. Die Wurzeln waren herausgerissen und eingesammelt worden, bevor er heute Morgen angefangen hatte, mit dem Pflug seine Runden über die leer geräumte Fläche zu drehen. Die letzte Handlung, bevor sie den toten Weinberg dem Winter überließen. Aufgebrochener Boden, in den die Kälte fuhr, um die mächtigen Schollen, die er hinter sich zurückließ, zu sprengen. Erst das Frühjahr würde dem Stück Land wieder neues Leben einhauchen.

Der alte Kerner war getilgt, um den kalkigen Boden dem Riesling zurückzugeben, der selbst auch schon einmal auf dem gesamten Südhang hatte weichen müsse. Alle hatten sie in jenem Herbst gerodet und im Frühjahr darauf ihre neu zugeteilten größeren Parzellen mit dem bepflanzt, was gefragt war und reichlich Ernteertrag versprochen hatte. Die Morio, Bacchus, Müller-Thurgau und Faber der vergangenen Jahre waren jedoch alle längst schon wieder heraus. Sein Kerner war das letzte knorrige Relikt dieser Zeit, auf die sie heute alle voller Verachtung herabblickten.

Sein Weinberg war der letzte der alten Art. Zu schmale Gassen, Holz- statt Stahlpfähle und die falsche Rebsorte, die heute kaum noch einer wollte. Die anderen hatten schneller reagiert, vor zehn, fünfzehn Jahren schon. Er hatte sich nie trennen können von diesen Stöcken, die in jenem Frühjahr gepflanzt worden waren, dem Frühjahr, das sein Leben auf die Spur gelenkt hatte, auf der er seither stetig Kreise fuhr. Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Immer die gleiche, von der Natur vorgegebene Abfolge, die ihm das Leiden erleichterte. Er rieb sich die Augen. Die Erinnerung war in sein Gedächtnis eingebrannt, und sie hing an diesem Stück Land, weil er in jenem Frühjahr fast ständig hier gewesen war.

Herabschießende Krähen rissen ihn aus seinen Gedanken. Gegen sie hatte der lärmende Motor keine Chance. Sie waren zu Dutzenden zur Stelle, wenn es im Herbst noch etwas zu holen gab. Aus den Augenwinkeln konnte er die Fetzen erkennen, auf die sie es abgesehen hatten. Die Reste einer Plane, die er bei einer seiner ersten Runden aus der Tiefe gerissen haben musste.

Ein ächzendes Stöhnen entfuhr seiner Brust, das auf halber Strecke vom Krach des Traktors zermalmt wurde. Noch bevor ein klarer Gedanke in seinem Schädel entstehen konnte, rannen ihm bereits die ersten Tränen über die rauen Wangen.

2

»Was macht denn der Ecke-Kurt im Wingert? Ich dachte, der wäre schon fertig mit der Weinlese.«

Günther Schlamp streckte sich in die Höhe und versuchte, dem Blick seiner Frau zu folgen, die in der Rebzeile neben ihm stand. Entdecken konnte er Kurt-Otto nicht. Das Laub war trotz der beginnenden Verfärbung der Blätter noch zu dicht, aber es war klar, wo er sich in etwa befinden musste. Wie er aussah, wusste er auch, also brauchte er ihn nicht noch zu mustern. Desinteressiert beugte er sich daher wieder nach vorne, um die nächste dunkle Traube in den Blick zu bekommen. »Keine Ahnung, was der macht. Scheint Langeweile zu haben«, sagte er. »Wahrscheinlich scheucht sie ihn daheim herum. Da flüchtet er eben lieber zwischen seine Rebstöcke. So hat er seine Ruhe.«

Insgeheim hoffte er, dass seine Frau den deutlichen Wink verstehen und ihn in Frieden lassen würde. Die Arbeit hier war schon schlimm genug. Da brauchte er nicht auch noch eine Unterhaltung darüber, was Kurt-Otto im Weinberg direkt neben ihnen gerade tat oder nicht tat. Schnell schnitt er die nächste Traube vom Stock. Er kratzte die eingetrockneten Beerchen vorsichtig mit der Spitze der Schere heraus und drehte dann die Traube, um auch die Rückseite zu begutachten. Sie war fast vollständig von einer pelzig weißen Schicht überzogen, von der ein dünner Sporenschleier aufstieg.

Mit einem Seufzen ließ er die verfaulte Traube neben den Eimer fallen. Mindestens ein Drittel Ausschuss. So teuer konnten sie den Spätburgunder aus diesem Weinberg gar nicht verkaufen, dass sich das wieder ausgleichen ließ. Sie waren einfach zu spät dran in diesem Jahr. Der Spätburgunder hätte schon letzte Woche weggemusst. Aber da waren die Bütten und Maischebehälter noch durch die früheren Sorten, den Portugieser und den Dornfelder, blockiert gewesen. Unter normalen Umständen wäre das kein Problem gewesen, weil der Spätburgunder immer ein bis zwei Wochen länger hängen blieb. Die Zeit benötigte er für eine brauchbare Reife. In guten Jahren konnte man bei mäßigem Behang und einer sauber entblätterten Traubenzone, die für ausreichende Belüftung und widerstandsfähige Schalen sorgte, sogar drei Wochen herauskitzeln. In diesem Jahr hatte nichts davon wirklich geholfen. Es war zu warm und zu feucht, schon seit Wochen. Die Trauben faulten schneller, als sie in der Lage waren, sie zu ernten. Und sie konnten ja nicht aus allem Rosé machen, auch wenn es bei der Fäulnis wahrscheinlich besser wäre.

Das waren die Kehrseiten des Wachstums der letzten Jahre. Seit sein Sohn in den Betrieb eingestiegen war, hatten sie jeden Weinberg dazugenommen, der zu kriegen gewesen war. Zu jedem Preis. Hauptsache, Wachstum. Der Betrieb musste schließlich zwei Familien ernähren und noch Geld für den Ausbau abwerfen. Reichlich Geld. »Dein Investitionsstau der letzten zwanzig Jahre bringt uns noch um«, hatte Markus ihm vorgeworfen. »Hättest du früher schon mal was in den Keller gesteckt, müssten wir jetzt nicht alles auf einmal machen.«

Was konnte er denn dafür, dass sich der Junge nie klar geäußert hatte? »Ich übernehme den Betrieb«, das war erst mit fünfunddreißig gekommen. Davor hatte er nie Interesse gezeigt. Studium, Staatsexamen und Schuldienst, bloß kein Winzer. Erst als es Krach in der Schule gegeben hatte, weil nicht mehr zu verheimlichen gewesen war, dass er eine seiner minderjährigen Schülerinnen geschwängert hatte – worauf sich noch ein paar mehr meldeten, die er angeblich begrapscht hatte –, schien er sich an den Weinbaubetrieb zu Hause erinnert zu haben. Ein Winzer aus Not, der sich erstaunlich schnell in die neue Materie eingearbeitet hatte. Wahrscheinlich lag es an Marta, seiner ehemaligen Schülerin, die jetzt seine Frau war und zusammen mit ihm bei ihnen auf dem Hof wohnte.

Er schnaufte und griff nach der nächsten Traube, die ihn Sporen staubend willkommen hieß.

»Die Renate ist heute Morgen mal wieder in einem Affenzahn hier vorbeigerannt, wie auf der Flucht. Wenn die so weitermacht, ist irgendwann mal gar nichts mehr an ihr dran. Abgerannt das letzte bisschen Fett.«

Er ließ auch die nächste Traube auf den Boden fallen und durchsuchte den Rest des Stocks nach einer weitgehend gesunden. Da er wusste, was jetzt für ein Thema anstand, hatte er dieses kleine Erfolgserlebnis dringend nötig. Die rennende Renate, die als Lehrerin am Nieder-Olmer Gymnasium arbeitete und durch das ständige Laufen in ihrer Freizeit stetig drahtiger und weniger wurde, und ihr aus dem Leim gehender Kurt-Otto, der das zunahm, was sie ablief. Seine Frau schien die Aufregung darüber dringend zu brauchen, weil sie sich seit ihrer Hochzeit selbst langsam, aber stetig in Richtung Kurt-Otto entwickelt hatte.

»Wenn die in dem Tempo zwischen den Rebstöcken herumrennen würde, wären die schon im Juli mit der Weinlese fertig. Kurt-Otto hätte sicher nichts dagegen, der fängt ja wahrscheinlich jetzt schon an, den ersten Weinberg zu schneiden und zu biegen. Januar- und Februararbeiten im Oktober, damit alle, die den großen Feldweg entlangkommen, sehen, wie fleißig er ist. Kein Wunder bei den paar Weinbergen.«

»Aber schöne Parzellen hat er, viel Riesling und Grauen Burgunder im besten Alter und oben im Kalkstein den Spätburgunder. Und ganz so wenig, wie du jetzt wieder tust, ist das auch nicht. Immerhin ist der Ecke-Kurt schon zweiundsechzig. Nicht mehr sehr weit bis zur Rente.« Er sah sich prüfend um. Die anderen aus der Lesetruppe waren weit genug weg. Sie mussten ihn nicht unbedingt hören, das ging sie nichts an. »Und er hat keine Kinder, du wirst dich also schön zurückhalten.« Er flüsterte jetzt. »Die Weinberge können wir in zwei, drei Jahren noch gut gebrauchen.«

Erneut warf er einen verstohlenen Blick hinter sich in die Gasse. Niemand zu sehen, nur das Klappern der Scheren war entfernt zu erahnen, was in diesem Moment gut war. Gleichzeitig nervte es ihn aber auch, dass die beiden Frauen aus dem Dorf schon wieder so weit zurücklagen. Wahrscheinlich quatschten sie die ganze Zeit miteinander. Wenn sie dabei bloß ordentlich hinschauten. Der Spätburgunder in der Mistkaut musste heute fertig werden, damit sie morgen mit dem auf dem Hiberg anfangen konnten. Der sah nämlich genauso mies aus.

»Er hört uns schon nicht. Kannst ja morgens mit der Renate mitrennen, vielleicht sind dann die Chancen besser«, zischte sie ihm durch das bunte Reblaub entgegen.

Er reckte sich wieder in die Höhe und versuchte nun doch, den Ecke-Kurt in den Blick zu bekommen. Vielleicht war er näher an ihnen dran, als Hilde dachte. Dann könnte er ein paar Worte über die Reben hinweg mit ihm wechseln. Kritischer Jahrgang, viel zu tun, knapper Ertrag, schön steht dein Weinberg da. Ein wenig Lob erhielt die gute Nachbarschaft, zumal absehbar war, dass der Ecke-Kurt seinen Betrieb in naher Zukunft aufgeben und die Weinberge verpachten würde. Die Konkurrenz schlief nicht. Er selbst war ganz sicher nicht der Einzige, der zweiundsechzig plus drei rechnen konnte.

Dahinten, ganz auf der anderen Seite war er. Von unten quälte er sich die Zeile hinauf, blieb immer wieder kurz stehen. Er entfernte die kleinen Klammern, die die Drähte zusammen und die grünen Triebe dadurch aufrecht hielten. Eine der Vorarbeiten, die für den Rebschnitt im Frühjahr notwendig waren. Nichts, was eilte. Für das Einsammeln der Klammern hatte man den halben Winter mehr als genug Zeit. Wahrscheinlich war er wirklich vor Renate geflüchtet und schob sich lieber den Hang hinauf, als zu Hause gescheucht zu werden. Auch wenn das bei seinen Ausmaßen keine Freude war.

Am Ecke-Kurt war von allem reichlich, bloß keine Ecke. Rund war er, war sein Gesicht und war die Kugel, die er unter seiner ausgewaschenen blauen Latzhose vor sich herschob. Den Spitznamen Ecke-Kurt, den jeder im Dorf benutzte, wenn er selbst nicht dabeistand, hatte er nicht, weil er in seiner Jugend einmal eckig gewesen war oder an einer Ecke wohnte. Sein Fachwerkhof stand eingereiht an der Hauptstraße. Nein, der Ecke-Kurt hatte seinen Spitznamen seinem Ruf, um Ecken schauen und durch geschlossene Fenster hindurch hören zu können, zu verdanken. Was so natürlich nicht stimmte, ihn und seine Neugier aber treffend beschrieb.

Der Ecke-Kurt wusste alles, verbreitete auch das, was er nicht wusste, und war zufälligerweise immer dann zur Stelle, wenn es Neuigkeiten zu erfahren gab. Darauf schien er geradezu sehnsüchtig zu warten. Anders war es kaum zu erklären, dass er selbst in der Weinlesezeit schon am späteren Nachmittag auf dem Bürgersteig vor seinem Hof stand und jeden, der vorbeikam, in einen kaum enden wollenden Plausch verwickelte. Wer es allzu eilig hatte, den begleitete er ein Stück weit im Gespräch, um dann dort stehen zu bleiben, wo sich die Wege trennten. Dieses Verhalten führte dazu, dass man nie genau absehen konnte, wo man ihm begegnete. Der Gesprächsfluss trieb ihn bis zum Nachtessen quer durchs Dorf, und vom Zufall hing es ab, wo der runde Ecke-Kurt als Nächstes ans Ufer gespült wurde. Wer wichtige Dinge entlang der Hauptstraße zu besprechen hatte, schloss daher in weiser Voraussicht die Fenster, bevor er damit anfing.

Den Weinbaubetrieb machte Kurt-Otto weitgehend allein. Im Vergleich zu dem, was sie selbst mittlerweile bewirtschafteten, hatte Kurts Weingut fast Hobbygröße. Nett und überschaubar. Alte Schule und gerade so viel, dass es für ihn und seine laufende Renate reichte. Einen kleinen Teil der Ernte füllte er für seine wenigen Kunden auf Flaschen, einen Teil trank er selbst, und das, was übrig blieb, verkaufte er als Fassware an die Großkellerei. Da Kurt-Otto in ein paar Jahren aufhören würde, fanden sich am Nachmittag in letzter Zeit immer häufiger ansonsten stark beschäftigte Kollegen an seiner Seite ein. Die, die im Normalfall einen weiten Bogen um ihn machten, liefen ihm jetzt bereitwillig in die Arme, im festen Glauben, dass die zwanzig Minuten gut angelegt wären, wenn es erst einmal um die Verteilung seiner fünf Hektar Weinberge ging.

»Vielleicht rennst ja stattdessen du mal mit der Renate und machst die Weinberge klar. Ich kaufe dir auch eine passende Hose dazu.«

Noch während er das sagte, dachte er, dass es unter Umständen gut wäre, sich bereits vor Beendigung des Satzes wegzuducken. Doch schon im nächsten Moment war es zu spät dafür. Klatschend traf eine faulige Spätburgundertraube seine kahle Stirn und hüllte ihn in eine zarte Wolke weißen Sporenstaubs.

3

Der Regen hatte die Luft von allen anderen Gerüchen gereinigt. Er atmete tief ein, während er ging, und sog die Frische gierig auf.

Nirgendwo sonst roch es im Herbst so wie hier in den Dörfern des Selztales. Der Geruch der Gärung lag über Essenheim und den anderen Ortschaften um Mainz. Aus den Kellern heraus zog er durch die Straßen und war selbst nach einem kräftigen Regen wie diesem schneller wieder da als all die anderen Gerüche. So hatte schon der Herbst seiner Kindheit gerochen und jeder weitere danach auch.

Eine Zeit lang hatte er befürchtet, dass es das bald nicht mehr geben würde, weil so viele Alte aufhörten. Immer weniger Höfe im Dorf, in denen noch Trauben gekeltert und Weine vergoren wurden. Die Jungen zog es mit ihren schicken Neubauten hinaus auf die grüne Wiese, wo reichlich Platz war und keine Nachbarn in Sichtweite. Die wenigen, die noch im alten Dorfkern ausharrten, wuchsen aber auch. Es gab mehr Weinberge und damit mehr Saft, der jetzt vor sich hin gor und diesen Herbstgeruch schuf, der dem neuen Jahrgang als Bote vorauseilte.

Er hielt kurz inne, um die Augen zu schließen und noch einmal tief durchzuatmen. Danach mussten sich seine Augen erst wieder an das Licht der Straßenlaternen gewöhnen, die helle Kreise auf das Pflaster warfen.

Den Weinberg hatte er gestern noch fertig aufgerissen, auch wenn es ihm schwergefallen war. Seine Hände hatten gezittert und sein Herz gehämmert, als ob es den lärmenden Traktormotor zu übertrumpfen suchte. Erst zu Hause hatte er wieder zu sich gefunden. Die wirren Gedanken langsam ausgebremst, betrachtet und geordnet. Es gab keine andere Möglichkeit, keine zweite Sicht der Dinge mehr. Alles lag seit gestern klar vor ihm.

Jetzt war es an ihm. An ihm allein, weil doch sonst keiner mehr da war.

Schnell schaute er sich nach allen Seiten um. Ganz bewusst und mit einem fragenden Gesichtsausdruck, den er vorhin noch vor dem Spiegel kontrolliert hatte. Wer ihn in diesem Moment beobachtete, durch eine der vorgezogenen Gardinen in den angrenzenden Häusern oder aus dem Schatten einer Hausecke heraus, der musste glauben, er würde sich umsehen, weil er ein Geräusch gehört hatte. Schritte auf dem Pflaster, deren Hall die Stille im ausgestorbenen Dorf durchbrach. Aber es war niemand zu sehen.

Hinter den Fenstern der beiden Häuser, die er noch zu passieren hatte, brannte kein Licht. Alte Leute, deren Wohnzimmer zum Hinterhof und nicht nach vorne zur Straße hin lag. Konzentriert ging er weiter und zwang sich, nicht noch ein weiteres Mal den Kopf zu drehen. Sein Blick blieb nach unten gerichtet, den verspringenden Linien des gehauenen Pflasters folgend, bis er in die tiefe Dunkelheit abbog.

Das Hoftor stand immer offen. Jedes Mal, wenn er hier mit dem Traktor vorbeifuhr, egal zu welcher Tageszeit. Während der Weinlese auch nachts. Er verlangsamte seinen Schritt, doch die leicht gebeugte Körperhaltung behielt er bei, auch wenn sein Blick jetzt nicht mehr das Pflaster vermaß. Stattdessen suchten seine Augen den großen Innenhof ab. Die Seitengebäude, in denen sie ihre kleineren Maschinen unterstellten. Für den Rest hatten sie draußen eine Lagerhalle.

Ganz hinten in der Scheune brannte Licht. Dort stand die Kelter, zwei Gewölbekeller lagen unter der Erde. Als Kind war er öfter hier gewesen, mit seinem Vater beim Alten, hinten in der Scheune und auch im Haus, wenn sie die jährliche Pacht für ihre zwei kleinen Obstfelder zu zahlen hatten. Durch das Küchenfenster drang der schwache bläuliche Lichtschimmer einer Fliegenlampe.

Vorsichtig drückte er die Haustür auf. Der kalte Geruch von Gebratenem schlug ihm entgegen. Das Abendessen mit der Lesetruppe, bevor es im Kelterhaus weiterging bis tief in die Nacht. Seine Schritte auf dem verzierten Terrazzoboden waren nicht zu hören, er schlich lautlos an der breiten Eichentreppe mit den geschnitzten Weinblättern und Trauben vorbei und hielt kurz inne, um zu lauschen. Der Kühlschrank summte. Rechts ging es zur Küche. Der Türrahmen war eingefasst in dunkles Holz. Die gleichen Schnitzereien wie an der Treppe. Das wusste er, auch wenn er sie in diesem Licht nicht erkennen konnte. Als Kind hatte er die weichen Rundungen im harten Holz vorsichtig abgetastet. Trauben, Blätter, Ranken.

Er wandte sich nach links. Langsam schob er die Tür zum Wohnzimmer auf. Das Flackern des Fernsehers tauchte den dunklen Raum in wechselndes, kaltes Licht. Kein Ton. Der Alte saß mit geschlossenen Augen in seinem Sessel. Seit seinem Schlaganfall vor fünf oder sechs Jahren hatte er ihn nicht mehr gesehen. Es hieß, dass er sich gut erholt habe, sich aber kaum noch bewegen könne. Dafür sei er im Kopf wieder ganz klar.

Er hatte sich kaum verändert seither. Alles an dem Mann im Sessel entsprach dem Bild, das in seiner Erinnerung gespeichert war. Der gleiche stolze Gesichtsausdruck, selbst im Schlaf. Sein Vater hatte immer mit gesenktem Kopf vor ihm gestanden. Nicht hier in der guten Stube, hierherein waren sie nie gebeten worden. Drüben in der Küche. Die Augen auf den Boden gerichtet, die Kappe in den Händen, mit matter Stimme, so war er dem Alten begegnet. Bitte schön, die Pacht für das abgelaufene Jahr. An jedem ersten November gegen Abend, nach getaner Arbeit. Danach einen selbst gebrannten Trester. Im Stehen. Dank und aufs nächste Jahr.

Das schwere Holz der Wohnzimmertür knarrte dumpf und kaum hörbar. Der Alte schlug die Augen auf und schmatzte.

»Du warst lange nicht hier.«

Er wartete darauf, dass sein Herz zu hämmern begann, die Hitze in ihm aufstieg und seine Hände zitterten. Doch nichts davon passierte. Einzig ein leiser Hauch kam aus seinem Mund und fand in der Stille den Weg bis in seine Ohren. Ganz ruhig blieb er. Ein einziger Tropfen rann eisig seinen Rücken hinab.

»Dein Vater war oft hier. Er ist ein und aus gegangen in diesem Haus. Als kleiner Junge kamst du noch mit. Dann nicht mehr. Ich habe geglaubt, du gehst mir aus dem Weg.« Der Alte sah ihn herausfordernd an.

»Was ist damals passiert?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Im Frühjahr nach der Flurbereinigung, als wir alle neu gepflanzt haben im Teufelspfad.«

Der Gesichtsausdruck des Alten veränderte sich nicht. Seine fleckigen, knochigen Hände lagen reglos auf den Lehnen des Sessels. »Was willst du mit den alten Geschichten? Das ist alles lange vorbei.«

Er hatte nur die Lippen bewegt, den Kopf vielleicht ein wenig. Eine sprechende, faltige Puppe, drapiert auf einem abgewetzten Sessel, im flackernden Licht des schweigenden Fernsehers. Das Zimmer roch nach Alter und Urin.

»Was hast du überhaupt damit zu tun? Das geht dich alles gar nichts an. Lass mich in Ruhe mit dem Kram.«

Er sah zwar, dass sich die Lippen des Alten weiter bewegten, der Mund auf- und zuging, hörte, dass Laute und Worte aus ihm kamen, aber er registrierte das alles nicht mehr. Langsam ging er ein paar Schritte auf ihn zu. Dann blieb er stehen, um das schwere bestickte Kissen zu greifen, das auf dem Sofa lag.

Es war jetzt still im Raum. Nur das Kissen knisterte kaum hörbar, als er es dem Alten aufs Gesicht drückte. Seine Augen suchten die fleckigen Hände. Dünne Pergamenthaut. Knochige Finger, die ruhig liegen blieben. Unter seinen eigenen Händen spürte er eine sachte Regung, gedämpft durch die dichte Schicht Federn. Ein leises Schnaufen.

Er wartete noch einen Moment, zählte stumm von zehn rückwärts. Dann nahm er den Druck von den aufgestickten Feldblumen. Klatschmohn und Kornblume. Das Kissen legte er behutsam zurück. Er hatte die Position ganz unbewusst gespeichert.

Das Gesicht des Alten zeigte keine Veränderung. Vielleicht waren die Augen ein klein wenig weiter offen, sein Mund auch. Ruhig wirkte er dennoch. Nicht panisch und krampfhaft verzerrt, erstaunt eher, mit geöffnetem Mund. Aber doch ganz entspannt und selig. Heimgeholt dorthin, von wo er einst gekommen war. Er bekreuzigte sich, weil ihn das Gefühl überkam, irgendetwas tun zu müssen. Dazu hauchte er ein kaum hörbares: »Ruhe in Frieden.«

Warum bloß hatte er davor solche Angst gehabt? Es war doch so einfach gewesen. Ein alter, hilfloser Mann, dem er das Sterben erleichtert hatte.

4

Er drehte das Rädchen in gleichmäßigem Tempo weiter. Ein feines Geräusch erklang, das seinen Ohren schmeichelte und seiner Stimmung an diesem Morgen den Weg in Richtung Zufriedenheit wies. Mit der letzten beherzten Drehung hob sich der Deckel der Dose wie von Geisterhand in die Höhe und gab den Geruch frei, der seiner Renate stets eine gezischte Unmutsbekundung entlockte: »Schappi für meine Reblaus«, begleitet von einem reichlich angewiderten Gesichtsausdruck.

Kurt-Otto Hattemer konnte es überhaupt nicht ausstehen, wenn seine Frau so über sein Frühstück sprach. Dosenbratwurst war seit seiner Kindheit seine erklärte Leibspeise zum Frühstück. Frisches Brot, Butter und darauf zwei kreisrunde dicke Scheiben mit etwas Gallert und weißem Fett, es gab nichts Besseres für einen guten Start in den Tag. Er atmete tief durch die Nase ein, um noch einmal den fleischig würzigen Geruch zu genießen, bevor sie zurückkam und ihm mit einer Mischung aus strafend und mitleidig im Blick einen Teil seiner Freude verdarb.

Einen Hund hatten sie nicht. Aber irgendwann hatte er doch mal den Geruch einer gerade geöffneten Futterdose in die Nase bekommen. Zu seinem Leidwesen hatte er sich – insgeheim natürlich – eingestehen müssen, dass eine gewisse geruchliche Übereinstimmung nicht von der Hand zu weisen war. Das musste aber an der Beschaffenheit des gleich gearteten Verpackungsmaterials liegen. An der Dose also, nicht am Inhalt.

Schnell schüttete er noch einen ordentlichen Schwung Kondensmilch in seine leere Kaffeetasse. Das Töpfchen stellte er zurück in den Kühlschrank und nahm stattdessen die 1,5er-H-Milch mit an den Frühstückstisch. Den Karton mit den aufgedruckten glücklich dreinschauenden gefleckten Kühen vor idyllischem Alpenpanorama postierte er so nahe an seiner Tasse, dass die Verbindung zwischen beiden selbst dem Blindesten auffallen musste. Dann goss er sich Kaffee ein und langte nach der ersten der drei frisch aufgeschnittenen Scheiben Brot.

Das Geräusch an der Haustür unterbrach ihn nicht in seinem konzentrierten Tun. Ohne Hast schnitt er sich noch ein zusätzliches Stück Butter ab. Die Zeit reichte aus, um sie unter der Bratwurst verschwinden zu lassen. Bei den weiteren Brotscheiben würde er sich unter ihrem mahnenden Blick eherne Zurückhaltung auferlegen müssen.

Mit erhitzten roten Backen kam Renate in die Küche. Eine Strähne ihrer dünnen Locken klebte quer über der Stirn. Der Rest stand wild in alle Richtungen. Das taten ihre Haare aber oft, auch wenn sie gerade nicht gelaufen war.

Zurzeit trug sie schön gedrehte Korkenzieher, doch nur so lange, bis sie wieder einmal der Meinung war, dass eine tief greifende Veränderung nottat, die sich in einer radikalen Kürzung der Haare und einem neuen Farbton niederschlug. Er blieb sich treu. Ein buschiger Schnurrbart auf der Oberlippe, der, ebenso wie sein Haupthaar, das er mutig quer legte, um die sich vergrößernde Lücke auf seinem Schädel zu schließen, in den letzten Jahren fast vollständig ergraut war.

Renate war einen guten Kopf kleiner als er und – optisch zumindest – nicht einmal eine halbe Portion von ihm. An dem Tag, an dem sich herausgestellt hatte, dass sie keine Kinder bekommen konnte, hatte sie mit dem Laufen angefangen. Jeden Tag vor dem Frühstück, im Sommer wie im Winter. Sie brauchte ihre zehn Kilometer durch die Weinberge und scherte sich nicht um die dummen Kommentare, die er über Umwege zu hören bekam: »Die Renn-ate macht ihrem Namen wieder alle Ehre.« – »Die ist so schnell, weil sie immer vor der Arbeit daheim wegläuft.«

Nach einem kurzen Blick auf sein Gedeck machte sie sich an ihrem Schüsselchen zu schaffen. Ihr Frühstückstisch war seit Jahrzehnten zweigeteilt. »Das, was du da isst, ist Gift. Das werde ich dir doch nicht schon morgens zum Frühstück vor die Nase stellen.« Mit diesen Worten hatte sie damals das für ihn gekaufte Müslischüsselchen neben seiner Kaffeetasse begründet. Es hatte seinen Namen getragen, Kurt-Otto, und war bereits fertig befüllt gewesen mit dem, was sie zu dieser Tageszeit für angebracht hielt. Da Renate ihr Müsli abends mit lauwarmem Wasser einweichte und es über Nacht quellen ließ, hatte dieser Anblick – wie auch der Gedanke an die zu erwartende Konsistenz – einen zarten, aber entschiedenen Brechreiz in ihm ausgelöst. Der zweigeteilte Frühstückstisch hatte sich als einzig gangbarer Kompromiss daher geradezu aufgedrängt.

»Willst du heute keine Kondensmilch in deinen Kaffee? Oder ist die schon wieder alle?« Sie sah ihn schmunzelnd an.

»Geht auch so.« Er hielt seinen Blick starr auf das Dosenbratwurstbrot gerichtet. Renate besaß die Fähigkeit, selbst kleinste Lügen an seinen Augen ablesen zu können.

»Nicht dass du mir die ganze dünne Milch wegtrinkst und ich mir mein Müsli nachher mit Dosenmilch anmachen muss.«

Er brummelte sich etwas in seinen Bart, was entfernt an ein »Noch genug drin« erinnerte.

»Soll ich dir gleich noch beim Keltern der Roten helfen? Ich habe erst zur dritten Stunde heute. Mein Geschichts-Leistungskurs ist auf Studienfahrt in Prag.« Sie hatte sich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt und den ersten Löffel im Mund.

»Wäre super. Die beiden Wannen Spätburgunder sind durchgegoren. Sie werden zu hart und kantig, wenn sie noch länger auf der Maische liegen.«

Das Läuten der Kirchturmglocken ließ ihn verstummen. Kurt-Otto warf einen schnellen Blick auf seine Uhr und sah Renate fragend an.

»Wer ist gestorben?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn du das nicht weißt, weiß es wahrscheinlich noch nicht einmal der, für den die Glocken gerade geläutet werden.«

»Aber so früh morgens.«

»Kann sich doch jeder selbst wünschen, wann für ihn geläutet wird. Wird ein Winzer gewesen sein, der immer zeitig draußen war.« Sie bewegte langsam den Kopf hin und her und behielt ihn dabei amüsiert im Blick.

Die Quizshow zum Frühstück, mit seiner Renate als geschrumpfter Günther Jauch. Quellmüsli kauend. »Drei Joker haben Sie noch. Vielleicht wollen Sie jemanden anrufen: den Pfarrer, den Bestatter oder den Kirchendiener, der gerade läutet?« Die Freude an diesem Spielchen sprach aus ihren Augen.

»Wer?« Er starrte sie fragend an.

Sie erwiderte seinen Blick kauend. Genüsslich schob sie sich einen weiteren gehäuften Löffel Quellmüsli in den Mund. Sie sprach niemals mit vollem Mund und liebte es, ihn so auf die Folter zu spannen.

»Renate, wer?«

»Ich hab vorhin das Auto vom Schreiner beim August Schlamp vor der Tür stehen gesehen.«

Er sah sie mit deutlicher Missbilligung an. »Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«

»Er hätte doch sonst was bei den Schlamps zu tun haben können. Muss ja nicht immer gleich ein Todesfall sein.«

»Der August.« Kurt-Otto hielt schnaufend inne. »Endlich ist er erlöst. War doch kein Leben mehr. Ein wacher Kopf in einem fast toten Körper.« Er biss ein großes Stück aus seinem Dosenbratwurstbrot und kaute nachdenklich vor sich hin.

Wenn er die Hühner und Hasen gefüttert hatte, würde er zum Günther gehen und kondolieren. Der Spätburgunder konnte auch bis heute Nachmittag oder morgen warten, sie hatten schließlich so viele Jahre nebeneinander in den Weinbergen gearbeitet.

5

Der letzte Schlag der Kirchturmglocken war verklungen. Jetzt traute er sich wieder, richtig durchzuatmen. Beim ersten Ton war er zusammengezuckt und hatte versucht, die Luft anzuhalten. Natürlich wusste er, dass das keinen Sinn machte. Es war eine spontane Reaktion seines Körpers gewesen. Vielleicht war auch sein Schädel irgendwie daran beteiligt, aber es lief dennoch ganz selbstständig ab. Mehr als eine halbe Minute lang hatte er starr, wie angewurzelt, in seinem Hof gestanden. Still lauschend, mit hämmerndem Herzen, unfähig, sich zu bewegen. Als ob ihm sein Körper demonstrieren wollte, dass die Erinnerung an den gestrigen Abend nicht in der guten Stube vom August zurückgeblieben war. Aber damit hatte er auch nicht wirklich gerechnet. Er wollte die Bilder in seinem Kopf behalten, den erstaunten Gesichtsausdruck über den letzten Hauch Leben hinaus, seine reglosen, knochigen Finger auf dem abgewetzten hellbraunen Cord der Armlehnen. Nicht die kleinste Bewegung hatten sie gezeigt. Selbst der Geruch, der im Raum gehangen hatte, war noch abrufbar. Auch jetzt hier draußen.

Die ganze Nacht hatte er in seinem dunklen Wohnzimmer gesessen, dessen Fenster zur Straße hinausgingen. Halb dämmernd, aber doch so wach, dass er einen Krankenwagen oder die Polizei gehört hätte. Es war aber alles still geblieben. Ein paar lärmende Jugendliche, die besoffen grölend vor seinem Haus stehen blieben, weil einer von ihnen an seine Wand pissen musste. Dabei hatte er blöde gegen die schwarze Fensterscheibe gestarrt, ohne erkennen zu können, dass er aus dem Sessel beobachtet wurde. Der Jüngste vom Chaussee-Heinrich, der mit den vielen Pickeln. Sein Alter würde ihn böse verdreschen, wenn er das mitbekam. Die lockere Hand lag in der Familie. Der Heinrich hatte sie früher auch oft zu spüren bekommen.

Kein Krankenwagen, keine Polizei, stattdessen das Totengeläut so früh am Morgen. Damit war klar, dass keiner etwas bemerkt hatte. Der Greis erlöst, friedlich eingeschlafen, und all diejenigen froh, die ihn hatten füttern und trockenlegen müssen. Wie lange konnte er so weitertöten, ohne dass es einer bemerkte? Gestern war es einfach gewesen, unentdeckt zu bleiben. Doch das ließ sich nicht unendlich oft wiederholen.

Er schüttelte den Kopf und setzte sich langsam wieder in Bewegung. Über ihm wehrte ein Bussard lautstark ein paar Krähen ab, die ihm wendig und aus unterschiedlichen Richtungen hinzustoßend die Lufthoheit streitig machten.

Beim Nächsten schon würden sie im Dorf den Zusammenhang herstellen können. Die Verbindung zwischen allen, die noch folgen würden. Doch sie vergaßen schnell. Und er hatte Zeit, mehr als genug sogar.

Langsam zog er das kleine Türchen im großen Scheunentor auf. Der letzte Anstrich war sein Geld nicht wert gewesen. Das hatte er schon gemerkt, als er den Farbeimer aufhebelte. Eine dünne Brühe, der man ansah, dass sie nicht lange halten würde. Billiger Schrott, den sie ihm für viel Geld aufgeschwatzt hatten. Wetterschutz, Grundierung, Farbe – alles in einem. Doch nach billigem Schrott sah es nach einem guten Jahr auch schon wieder aus. An etlichen Stellen löste sich der Anstrich blasig vom Holz.

Und wenn er von hinten anfing? Ihm war in diesem Moment schon klar, dass er nicht würde warten können, bis ausreichend Zeit verstrichen war.

6

»Es kam für uns alle überraschend.« Günther Schlamps Stimme drang nur dumpf an Kurt-Ottos Ohren. »Gestern Abend hat er noch mit uns gegessen und wollte ganz genau wissen, wie weit wir mit der Weinlese sind, welche Weinberge wir noch zu machen haben und wie die Trauben mit dem miesen Wetter zurechtkommen.«

Während er sprach, waren von Günther nur die Beine zu sehen. Mit seinem Oberkörper stand er in der geöffneten Kelter. Kurt-Otto nickte, obwohl er wusste, dass Günther es nicht sehen konnte.

Er war dann doch sofort nach dem Frühstück zu ihm aufgebrochen und hatte das Füttern der zehn Stallhasen und zwei Dutzend Hühner seiner Renate übertragen. Die fühlte sich dem Viehzeug aufgrund ihrer körnerreichen Ernährung sowieso viel verbundener als er selbst. Und gelaufen war sie ja heute schon. Es stand ihm einfach nicht gut zu Gesicht, wenn er nicht unter den Ersten war, die Augusts Sohn ihr Beileid aussprachen. Am Ende glaubten sie im Dorf noch, dass er dem Alten irgendetwas nachtrug. Doch da gab es ganz andere. Sie waren nur mal vor mehr als dreißig Jahren aneinandergeraten, weil sie beide am selben Weinberg interessiert gewesen waren, drüben in Ober-Olm. Damals hatte er kein gutes Haar am August gelassen, der ihn überbot, obwohl er und der Weinbergsbesitzer sich schon per Handschlag einig gewesen waren. Keine ganz saubere Aktion unter Kollegen. Aber so war er gewesen, der August, ohne Rücksicht auf Verluste, ganz dem eigenen Vorteil verpflichtet. Wenn es sich in dem Fall auch nicht ausgezahlt hatte.

Dass er die Fläche damals nicht bekommen hatte, empfand Kurt-Otto noch heute als Segen. Der Weinberg lag seit den frühen Achtzigern brach, weil ein Teil des Hangs abgerutscht und die Bearbeitung seither unmöglich war. Im Rückblick musste er dem August also sogar dankbar sein, dass der ihn damals nicht zum Zuge hatte kommen lassen.

»Eine Erlösung war es trotzdem für ihn.« Günther war aus der Kelter heraus. Sein Gesicht leuchtete rot verschmiert, Tresterreste hingen großflächig verteilt an seinem ausgewaschenen Küferkittel. Er trug sie fast ausschließlich, diese dunkelblauen groben Jacken mit den dünnen weißen Nadelstreifen, die man vorne zuknöpfte. Saubere neue, wenn er Kunden bediente, die alten während der Weinlese und im Keller. »Als Hilde ihn ins Bett schaffen wollte, war er tot. Einfach eingeschlafen. Und sie hat eine Last weniger. Die ganze Pflege seit dem Schlaganfall lag ja bei ihr.«

Günther suchte seinen Blick, und Kurt-Otto nickte mitfühlend. »Der Letzte der ganz Alten ist gegangen.« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

»Da hast du recht. Was die alles erlebt haben. Alle Höhen und Tiefen des Weinbaus. Die Katastrophe mit der Reblaus, Jahrzehnte, in denen nicht sicher war, ob man die Plage überhaupt in den Griff bekommt. Vor allem, als im Zweiten Weltkrieg die Hilfskräfte und das Material zur Bekämpfung fehlten. Die Männer in Russland, und daheim ging der Rebbestand zugrunde. Nicht wenige haben um ihre Existenz gefürchtet. Die hatten die späten zwanziger Jahre noch in Erinnerung.«

»Hör mir auf. Wenn die Sprache darauf kam, hat mein Vater sofort mit dem Jammern angefangen. Mit der Niederlage von 1918 sind anscheinend viele miese Jahrgänge gekommen. Sauer und verfault, keine gute Kombination. Hat etlichen großen Betrieben, die davor reichlich verdient haben, das Genick gebrochen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts waren die Rheinweine ja teurer gehandelt worden als die aus dem Bordeaux. Damit war es dann aber erst mal vorbei.«

Günther stimmte dem nachdenklich nickend zu. »Hier bei uns im Selztal ging es ja noch, weil die Betriebe nicht allein auf den Weinbau setzten, sondern immer noch reichlich Ackerbau und Viehzucht als zweites Standbein betrieben. Wenn es mit dem Wein mal nicht so lief, reichte der Rest zum Überleben. Heute dagegen geben wir alle unsere Äcker auf, verpachten sie an die wenigen noch aktiven Ackerbauern und wollen die Spezialisierung. Dabei müssten wir aus der Vergangenheit eigentlich gelernt haben, welche Gefahren das birgt. Letztlich hängt aller Erfolg von den Launen der Natur ab. Der gute Jahrgang kommt nicht dann, wenn du das Geld brauchst.«

»Deswegen soll doch jeder gute Winzer über drei Jahrgänge verfügen: einen am Stock, einen im Keller und den dritten auf der Bank.«

»Das hat mein Vater auch immer gesagt.« Günther lächelte. »In den guten Jahren darf man die schlechten nicht vergessen, bei aller Euphorie, die dann herrscht, so wie jetzt auch wieder. Ich werde mir mit dem Pfarrer für die Beerdigung die alten Fotoalben durchsehen. Da kannst du die vielen Höhen und Tiefen noch einmal miterleben. Wir haben 1935 ein halbes Dutzend neuer Holzfässer bekommen.« Er trat etwas näher an Kurt-Otto heran und sprach gedämpft weiter. »Weil mit Hitler die Sonne kam und der Keller nicht mehr ausreichte. Das darfst du so nie sagen, aber es war die Realität. Mit den Nazis kamen die guten Jahrgänge.«

»Nicht für alle. Der jüdische Weinhändler Levi aus dem Nachbarhaus ist gerade noch rechtzeitig nach Argentinien. Ohne den soll früher kein Fass unser Dorf verlassen haben. Der hatte die besten Kontakte nach Mainz und Bingen, wo der große Handel mit den Weinen aus Rheinhessen abgewickelt wurde. Da haben die arischen Nachfolger von den guten Jahrgängen profitiert, bis im Krieg alles zusammengebrochen ist. Keine Arbeiter mehr, der Export am Boden und die Ungewissheit, wie das alles weitergehen soll.«

»Gut lief es erst danach wieder.« Günther fuhr sich mit seiner dunkelrot eingefärbten Rechten durch die wirr abstehenden Haare. »Die Jahre unmittelbar nach dem Krieg. Als für die Schnellen und Findigen alles möglich war.«

»Und dein Vater war ein ziemlich Schneller.« Kurt-Otto nickte anerkennend.

»Oh ja, wenn er davon erzählte, hatte er stets leuchtende Augen. ›Seine goldenen Jahre‹ hat er die Zeit immer genannt. Als der Wein teuer war und die Mainzer aus der Stadt zu uns aufs Land kamen. Im letzten Kriegswinter und in den beiden danach. Alles haben sie angeboten im Tausch gegen ein paar Kartoffeln oder einen Schinken. Die drei großen Ölbilder im Wohnzimmer stammen aus dieser Zeit und ein paar schwere Teppiche, die wir mittlerweile bei Frost zum Abdichten der Scheune nehmen. Das Katz-und-Maus-Spiel mit den Besatzungstruppen um jedes Stück Wein hat er besonders geliebt.«