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Nr. 2619

 

Planet der Formatierer

 

Terraner im Weltenkranzsystem – und in den Türmen von Gadomenäa

 

Wim Vandemaan

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Für die Menschen auf der Erde hat sich schlagartig das Leben verändert: Das Solsystem wurde von unbekannten Kräften in ein abgeschottetes Miniaturuniversum verbannt.

Nagelraumschiffe der geheimnisvollen Spenta dringen in das Solsystem ein. Sie selbst bezeichnen sich als »Sonnenhäusler« und betrachten Sol als ungeheuren Frevel. Sie stört der Umstand, dass in die Sonnenmaterie der Leichnam einer Superintelligenz eingebettet liegt. Um diesen Körper von der Sonne zu trennen, löschen sie den Stern.

Seltsame Außerirdische, die sogenannten Auguren, beeinflussen die Kinder und Jugendlichen, um die Menschheit »neu zu formatieren«. Tausende werden unter den Augen von Regierung und Öffentlichkeit von den Sayporanern spurlos entführt. Unter ihnen ist der Reporter Shamsur Routh, der hofft, seine Tochter aus den Händen der Fremden zu befreien. Startpunkt seiner Suche ist der PLANET DER FORMATIERER ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Shamsur Routh – Der terranische Journalist erreicht Gadomenäa.

Anicee – Die junge Terranerin wird neu formatiert.

Dindirri – Eine Zofe führt durch die Stadt der Sayporaner.

Chourtaird – Rouths Ziehvater.

Bry – Ein Swoon aus Rouths Vergangenheit.

1.

Willkommen auf Gadomenäa

 

An die ersten Minuten behielt er kaum eine greifbare Erinnerung. Ein ungewisses Blau, ein weiter, steil gewölbter Raum. Ein feiner Sprühregen. Gelächter. Schierer, leerlaufender Frohsinn.

Das Summen einer behaglichen Melodie.

 

*

 

»Fundamente«, sagte eine Stimme.

Die Worte rollten in seinen Sinn wie eine Handvoll Glasmurmeln, durchsichtig, bunt und völlig zusammenhanglos.

Die Stimme sagte in einem angenehmen Tonfall: »Wir alle leben in den Daakmoy, die gut begründet auf ihren Fundamenten ruhen. Wir wohnen in ihren weiten Stockwerken, versorgt von Spendern. Wir sehen die Onuudoy auf ihren Reisen, wir sehen das Regengewölk tief unter uns vorüberziehen, eine bodenlose Karawane von wechselhaften Gestalten. Wasserdampf, in den wir Kopien unseres Geistesgutes einspiegeln. Wir sehen die Blitze aufsteigen von den Spitzen der Daakmoy. Wir sehen nach dem Gewitter Banteira, die uferlose, pulsierende Quelle unseres Lichtes rot und mild, und wir gehen nicht fehl, wenn wir sie für die schönste aller Sonnen halten.

Wir sehen in an den Rändern der Nacht unsere Begleiter, die Wandelsterne Saypor und Druh, im immergleichen Abstand. Und wir wissen von den unsichtbaren beiden Planeten im Rücken Banteiras.

Wir sehen Gad, den Mond. Die Narben, die Verwerfungen in seinem Steingesicht. Haben wir einen der Myriaden Asteroiden einschlagen sehen? Wir haben nicht einen gesehen. Staub aufgeschüttet, Staub legt sich, niemand hat es bezeugt.

Das alles ist euch neu? Ihr werdet es euch aneignen.

Banteira wird eure Sonne sein; Gad euer Mond. Ihr werdet leben in den Daakmoy, reisen mit den Onuudoy, ihr werdet diese Welt als eure Welt erkennen. Sie ist euer Erbe und Eigentum. Willkommen auf Gadomenäa.«

 

*

 

Die zähen Reste einer violetten Lohe waberten noch. Als hätte jemand einem weltengroßen Strauß aus Veilchen und Flieder, Chrysanthemen, Anemonen und Witwenblumen alle Farbe ausgepresst und in ein leeres Weltall ausgegossen. Farbe, Glitsch und Seim.

Was ist das für ein haltloses Licht?

Er fiel Hals über Kopf. Vater?

Seine Hände hatten zu viel ins Leere getastet. Jetzt war er eine Sache ohne Hand noch Fuß. Vater?

Als hätte er sich in einem inneren Irrgarten verlaufen. War er nicht eben noch in der Spielzeugabteilung gewesen? Oder im Zoo? War er nicht eben an dem Regenbogenmann vorbeigegangen, dessen Haut zugleich weiß war und in allerlei Farben schimmerte?

Aber die schönen, behutsamen Farben waren fort; alles leuchtete in diesem außerirdischen Violett.

Licht am kurzwelligen Ende des sichtbaren Spektrums, dachte er. Entspricht einer Wellenlänge von 390 bis 460 Nanometern.

Er ärgerte sich über diese nutzlose Genauigkeit seines Wissens. Woher wusste er diese Daten überhaupt? Genauer betrachtet wusste er sie gar nicht. Wer flüsterte ihm also, maskiert unter seinen eigenen Gedanken, diese Angaben zu?

Verquere Überlegungen irrlichterten ihm durch den Kopf. Er glaubte, seinen Vater etwas sagen zu hören; ein Kranich stürzte aus einem grün schimmernden Himmel; er war fünf oder sechs Jahre alt und wollte – verrückte Idee – Schneider werden. Seine Gedanken verloren sich.

Strangeness, hörte er sich denken.

Allmählich begriff er, dass auch dies nicht sein eigener Gedanke war, sondern eine Einflüsterung. Das sind die Nachwirkungen unseres Ganges über das Transit-Parkett.

Strangeness ... Ich habe davon gehört. Ein Technomärchen! Diesmal war wirklich er es, der dachte.

Aber keine Rede davon, dass diese eigenen Gedanken den Einflüsterer vertrieben hätten. Im Gegenteil, der mischte sich weiter ein: Ein Märchen? Leider nein. Strangeness ist ein wirklicher Wert, mit dem sich der Unterschied zwischen zwei Universen darstellen lässt. Eine Abweichung vom eigenen Universum kann Desorientierung hervorrufen. Im Falle größerer Differenz sogar Bewusstlosigkeit. Tod.

Ich werde sterben, erkannte er. Sonderbarerweise hatte dieser Gedanke jeden Schrecken eingebüßt. Er fühlte sich wohl bei diesem Gedanken; er hätte sich bei jedem Gedanken wohl gefühlt.

Sterben? Wohl kaum. Du bist nicht in Gefahr. Wenn uns jemand verletzen oder töten wollte – er hätte es längst getan. Also beruhige dich.

Wie soll ich mich beruhigen? Ich bin gar nicht unruhig. Ich bin eher langmütig. Was soll ich tun?

Nichts.

Wer bist du überhaupt?

Du hast mich immer Puc genannt, sagte die Stimme.

Seltsamer Name.

Ich würde sagen, es ist zugleich ein Name und ein Begriff. Die Abkürzung eines Begriffes. Du musst mir vertrauen. Ich habe dich durch das Gnauplon geführt. Ich musste dazu einen großen Teil deines Gedächtnisses neutralisieren. Aber ich werde dich erinnern.

Ihm war, als läge er auf dem Boden eines Wasserbeckens. Violettes Wasser. Zäher als Wasser. Eine violette Infusion. Dennoch konnte er atmen.

Langsam, ganz langsam trieb er nach oben.

Das violette Wogen und Leuchten wurde allmählich fahler und erlosch schließlich. Er bemerkte, dass er auf dem Rücken lag. Er wälzte sich auf den Bauch, um sich hochzustemmen. Zunächst stützte er sich auf die Unterarme und Knie, dann auf die Hände und Füße. Er richtete sich auf und sah sich um. Neben ihm standen Dutzende, vielleicht Hunderte junger Terranerinnen und Terraner.

Sie befanden sich in einem hochgewölbten, blauen Raum. In unregelmäßigen Abständen sprühten Fontänen aus dem Boden, die rasch zu feuchten Nebelschleiern verwehten. Routh spürte, wie die feinen Tröpfchen ihm die Haut benetzten und wie er sie durch die Nase einatmete.

Die Stimme wiederholte: »Willkommen auf Gadomenäa. Willkommen in Whya und in der Halle Sternenfall.«

 

*

 

Nur Geduld. Ich erinnere dich, wiederholte die Stimme, die sich Puc nannte.

Und das tat sie. Allmählich kam ihm zum Bewusstsein, dass er kein fünf- oder sechsjähriges Kind mehr war. Dass er stattdessen erwachsen war und längst selbst ein Kind hatte und dass dieses Kind – seine Tochter und die Henrike Ybarris – Anicee hieß.

Ich treffe, wenn du nichts dagegen hast, zunächst eine gewisse Auswahl an Gedächtnisinhalten, die ich dir wieder zugänglich mache, informierte ihn Puc.

Kurz darauf erinnerte Routh sich an seine Suche nach Anicee in Terrania City, in Hamburg, schließlich im Zoo der Hauptstadt; an seine Entdeckung der Auguren und seine Verzweiflung, als er geglaubt hatte, Anicee für immer verloren zu haben, nachdem sie über das Transitparkett gegangen war; an seinen Befehl, Puc solle ihn aller erwachsenen Erinnerungen berauben und so ein junges, erinnerungsleeres Bewusstsein vortäuschen.

Nur so hatte er eine Chance gesehen, nicht erneut – und im Namen seines Heils und Vorteils – von den Auguren abgewiesen, sondern als junger Geist für den Schritt über das Transitparkett zugelassen zu werden.

Das Implantmemo hatte zunächst protestiert, sich dann gefügt. Puc hatte die entsprechenden Gedächtnisinhalte in seiner biopositronischen Datenbank gespeichert und anschließend aus Rouths Erinnerung gelöscht.

Nun hatte er begonnen, sie aus dem mnemotischen Zwischenlager wieder in sein Gedächtnis zu überführen. »Es bleibt ein schwieriger Prozess«, sagte Puc. Wie aus einem Vorhang von Schwaden und Dunst trat allmählich die gewohnte Figur hervor, mit der das Implantmemo für Routh Gestalt annahm: ein Mann, halb so groß wie Rouths Daumen, in einen Smoking gekleidet und auf einem Barhocker sitzend.

Puc stützte den Ellenbogen eines Armes auf einen unsichtbaren Tresen und nippte gelegentlich an einem Glas. Für Routh klang Pucs Stimme tief und sonor. Routh konnte sich nicht erinnern, ob ihr immer schon dieses leichte Schwanken wie nach Alkoholgenuss eigen gewesen war.

Immerhin fühlte sich Routh nun standfester. Die Reste der violetten Aureole waren vollständig verblasst. Routh bemerkte, dass der Boden der Halle aus einem gediegenen, uralten Parkett bestand. Oben im Gewölbe der Halle kreiste eine Galaxis aus ultramarinblau leuchtenden Sternen. Zwischen den terranischen Neuankömmlingen bewegten sich humanoide Gestalten, die ihm erst beim zweiten Hinsehen auffielen.

Einige dieser Gestalten waren bemerkenswert klein. Routh hatte sie zunächst für Kinder gehalten oder für Puppen. Sie erreichten höchstens eineinhalb Meter, meist weniger, und wirkten auf unbestimmbare Art mädchenhaft. Ihre mal fleischigen, fast pummeligen, mal schmächtigen Leiber waren in mattschwarze, metallische Hosenanzüge gekleidet; graue Stulpenstiefel ragten hoch bis über die Knie. Ihre weißen Gesichter wirkten wie aufgesetzt und muteten starr an, vielleicht war es aber nur die Konzentration, mit der sie ihren Tätigkeiten nachgingen.

Dabei waren diese Beschäftigungen nicht besonders komplex: Sie verteilten dampfende Tücher und Gläser, in die sie Wasser aus Krügen schenkten. An den Händen, die in ledrig-schwarzen Handschuhen steckten, sah Routh nur zwei Finger und einen Daumen – Krallen, dachte er unwillkürlich.

Auch Routh erhielt von einem dieser Mädchen ein Tuch. Es war fast zu heiß, es anzufassen, und glatt wie Glas. Er legte es sich auf das Gesicht. Das Tuch duftete schwach nach Vanille, aber mit einem abwegigen Unterton. Routh überlegte. Urin, erkannte er und ließ das Tuch zu Boden fallen.

Eines der mädchenhaften Wesen trippelte heran und hob das Tuch auf.

»Missbehagt es dir?«, fragte die Gestalt in makellosem Interkosmo. Sie legte den Kopf schräg und blickte zu ihm auf. Ihr Mund hatte sich nicht geregt, während sie gesprochen hatte. Ihr Gesicht hielt auch jetzt noch still, weiß wie Porzellan. In der Mitte ihrer Stirn nahm Routh ein kleines, nicht mehr als einen oder zwei Zentimeter durchmessendes Loch mit gezackten Rändern wahr, das von einer Art hellgrün schimmerndem Spinnennetz aus hauchdünnen Fäden überspannt war. Das Netz hatte vibriert, als sie sprach. Unzählige winzige Tautropfen glitzerten auf den hauchdünnen Fäden, verloren aber trotz der schnellen Vibration ihren Halt nicht.

»Ich habe Durst«, wich Routh aus.

Sie steckte das Tuch in ihren Handschuh und ging fort. Wenige Augenblicke später kam sie zurück, reichte ihm ein Glas und goss ihm Wasser ein. Er trank. Das Wasser war kalt, aber nicht unangenehm. Es schmeckte ein wenig salzig.

Eine Stimme, die alles übertönte, ohne eigentlich laut zu sein, erklang: »Ihr seid von eurem Schritt über das Transitparkett erschöpft. Das ist nur zu verständlich. Erfrischt euch, lasst euch von den Zofen und Junkern helfen.«

Wenn die mädchenhaften Kreaturen die Zofen waren, schloss Routh, musste es sich bei den anderen um die Junker handeln. Routh sah deutlich weniger Junker als Zofen. Mehr noch als die Zofen schienen die Junker mechanische Kreaturen zu sein: Die wuchtigen, grob humanoid aussehenden Roboter aus dunkelgrünem Metall überragten mit ihren deutlich über zwei Metern Körpergröße die Zofen wie die Terraner bei Weitem. Ein Gesicht zeigten sie nicht: Ihr Kopf war ein sich nach unten vergrößernder Zylinder, der nahtlos auf dem Hals aufsaß. Der Zylinder war transparent, aber Routh sah dahinter nichts als ein langsam wallendes, grünes Wogen, als würden sich in diesem gläsernen Schädel Gewitterwolken ballen, und tatsächlich blitzte es in diesem Grün mitunter auf. Routh hätte nicht zu sagen gewusst, ob dieses grüne Gewölk substanziell war oder nur eine holografische Darstellung wovon auch immer.

Die Arme der Junker lagen ihnen wie angeschmiedet am Leib. Wie bei den Zofen waren auch bei ihnen nur zwei Finger und der Daumen sichtbar.

Trotz ihrer hünenhaften Grobschlächtigkeit bewegten sich die Junker leichtfüßig durch die Halle. Wahrscheinlich glitten sie auf Prallfeldern. Ihre Beine jedenfalls bewegten sich nicht.

Immer wieder sprühte eine der Fontänen hoch. Routh hielt den Atem an.

Die Stimme hatte eine lange Pause gemacht. Dann sprach sie wieder, und nun konnte Routh auch sehen, wer sich an ihn und die anderen Terraner wandte.

Es war einer der Auguren, ein durchaus menschenähnliches Geschöpf, ein wenig gedrungen vielleicht, die Arme weitgehend nackt, sodass man seine sehr weiße Haut sehen konnte, die allerdings prismatisch wie Perlmutt schillerte.

Er lächelte dieses Lächeln, das für die Sayporaner so typisch war: alles wissend, vorausschauend.

Der Sayporaner stand auf einer Säule, die sich langsam drehte und sich dabei allmählich nach oben schraubte. Wie die Auguren von Terra erschien Routh auch dieser Sayporaner eigenschaftslos: weder schön noch hässlich, weder männlich noch weiblich. Jedes Mal, wenn der Sayporaner ihm den Rücken zuwandte, hatte Routh sein Gesicht wieder vergessen.

Das Gesicht, nicht aber sein Lächeln. Sein Augurenlächeln.

Ganz anders als dieses eigenschaftslose Gesicht wirkte die Stimme: Es war, als ob nur die Stimme dieses Wesen beseelte. Dabei sprach der Sayporaner nicht viel.

Eben sagte er: »Die Blausterne oben sind euch lange schon zugedacht. Sie sind unser Geschenk an euch, sie sind eure Willkommenssterne. Sie warten auf euch, wie ihr auf sie gewartet habt.«

Das ist mir neu, formulierte Routh, ohne die Lippen zu bewegen. Er wusste nicht, ob er beobachtet und ob die Beobachtungen ausgewertet wurden. Puc verstand ihn, auch wenn er die Lippen nicht bewegte, sondern die Sätze nur präzise dachte und andeutungsweise und mit geschlossenen Lippen formulierte.

Mir auch neu, meldete Puc. Ich habe keinerlei diesbezügliche Erinnerungen gelöscht.

Tatsächlich lösten sich zunächst einzelne, dann immer mehr dieser blauen Sterne aus der Galaxis am Firmament der Halle und regneten auf die Neuankömmlinge herab.

Auch Routh wurde ein Willkommensstern zugeteilt: Das Gebilde hing ihm für einen Moment auf Armlänge vor den Augen, gerade lang genug, um es genau betrachten zu können. Der Stern hatte keine feste Kontur, schon gar keine Zacken wie die Sterne, die Kinder zeichneten. Eher wirkte er amorph. Er war kaum größer als ein Fingernagel und so hauchdünn, dass er wie ein zweidimensionales Objekt wirkte.

Dann glitt der Stern auf Rouths Stirn zu und haftete dort an. Nur ganz flüchtig spürte Routh große Kälte. Er wollte nach dem Stern greifen, aber da hatte sich das Temperaturgefälle schon erledigt. Der Stern war so warm wie seine Haut und pochte langsam und kaum merklich.

Routh erwartete, dass diese Präsenz ihn stören würde, doch das tat sie nicht. Im Gegenteil: Er fühlte sich mit dem Stern zufrieden.

Dieses Objekt nimmt Einfluss auf dich, sagte Puc. Es emittiert speziell modulierte Infraschallwellen sehr tiefer Frequenz. Für Menschen unhörbar.

Einfluss welcher Art?, fragte Routh.

Der Stern regt damit einige Sektoren in deinem Zwischenhirn an. Das Steuerzentrum deines vegetativen Nervensystems. Warte – er zielt auf das Kerngebiet deines Hypothalamus, sagte Puc.

Besteht Gefahr?, fragte Routh.

Soweit ich sehe: nein. Ich schätze, die Einflussnahme zielt nicht darauf ab, deinen Blutdruck zu senken oder zu erhöhen, dein Schlafbedürfnis zu manipulieren oder dich über deinen Wasserbedarf irrezuführen.

Sondern?

Der Blaustern regt die Produktion und die Ausschüttung eines Proteohormons an: Oxytocin.

Übrigens ist deine gesamte Nasenscheidewand förmlich getränkt mit Oxytocin, als hättest du oxytocinhaltige Flüssigkeiten durch die Nase inhaliert – was dazu führte, dass die Wirkstoffe unmittelbar ins Gehirn gelangten.

Die Fontänen!, erkannte Routh.

Oder die Erfrischungstücher. Wahrscheinlich beides.

Wozu?

Puc erinnerte ihn kurzerhand an den Wirkstoff, das hieß: Er speiste einige Informationen direkt in Rouths Gedächtnis ein. Demnach wirkte Oxytocin beruhigend; es verringerte Stress und beschleunigte Wundheilungsprozesse.

Wir können diese Substanz als eine der biochemischen Grundlagen für Liebe und Vertrauen ansehen. Ferner regt es die Neubildung von Gewebe an. Oxytocin wird in den Hirnbereichen ausgeschüttet, die unsere Gefühle und das menschliche Verhalten steuern. Es bindet Menschen aneinander: das Kind an die Mutter, den Vater, die Familie; es gibt unseren Freundschaften, unseren Liebesverhältnissen ein Fundament; es konsolidiert Nachbarschaften; es macht, dass wir unser Herz sogar an Dinge hängen können: an Gemälde, Gleiter, Raumschiffe. Dank Oxytocin fühlen wir uns geborgen sogar in Kugeln aus Stahlplastik und Terkonit, die tausend Meter und mehr durchmessen.

Die Phenuben, dachte er. Haben die Phenuben vielleicht auf ähnliche Weise gewirkt? Haben sie die Ausschüttung dieses Stoffes bewirkt oder mindestens angeregt?

Möglich, sagte Puc.

Wir haben es überhört, dachte Routh. Hat Anicee nicht behauptet, wir wären taub für die wahre Botschaft der Phenuben? Sie hatte recht. Aber warum haben sich diese Instrumente nur auf Jugendliche ausgewirkt?

Ich weiß es nicht, bekannte Puc.

Nur auf Jugendliche? Hatte nicht auch Routh selbst zunächst durchaus zustimmend auf die Phenuben-Musik reagiert? Hatte sie ihm nicht wie ein Weckruf zu einem neuen Morgen geklungen?

Es fiel Routh nicht leicht, aber er befahl Puc: Neutralisiere diese Wirkung des Blausterns, wenn du kannst. Verhindere, dass in meinem Gehirn noch mehr Oxytocin ausgeschüttet wird.

Möglich, dass der Blaustern erkennt, wenn wir uns wehren.

Möglich, gab Routh zu. Versuch es trotzdem.

Ich versuche, aus einem Teil deiner Erinnerung ein Pseudobewusstsein herzustellen, das mit sich und der Welt zutiefst zufrieden ist. Nennen wir es eine etwas kleingeistige Demo-Version deines Selbst. Zugleich sende ich in Richtung Hypothalamus niederfrequente akustische Wellen, die die Signale des Blausterns neutralisieren sollten.

Wenige Minuten später fühlte Routh, dass alle Ruhe von ihm wich. Er ärgerte sich – und triumphierte. Das machst du gut, lobte er Puc.

Danke.

Meldet der Blaustern irgendwem irgendein Problem?

Ich bemerke keine Kommunikation zwischen dem Blaustern und einem übergeordnetem Objekt. Die Sayporaner scheinen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein.

Routh sah sich um. Die Terraner rekelten sich wohlig; manche hatten einander den Kopf auf die Schulter gelegt; viele gähnten lustvoll.

Wie es aussieht, können sie sich auch sicher sein, dachte er. Er hob – um sich zu tarnen – selbst die Arme, reckte sich und gähnte.

»Geht nun schlafen«, hörte er den Sayporaner sagen.

Einer der kleinen, pummeligen Roboter mit dem weißen Puppengesicht und eines der wuchtigen Maschinenwesen kamen auf ihn zu.

»Ich bin Dindirri«, sagte die knapp 1,40 Meter große Gestalt auf Interkosmo.

»Dindirri«, wiederholte Routh und grinste breit und hoffentlich glückselig genug.

»Ich bringe dich zu Chourtaird. Junker Ojin wird uns begleiten.« Sie schritt in einem merkwürdig schaukelnden, zugleich zeremoniell und lächerlich anmutenden Gang voran

»Wer ist dieser Chourtaird?«, fragte Routh.

»Er wohnt hier in Whya, im Haus Nhymoth«, sagte die Zofe. »Er ist dein Ziehvater.«

 

*

 

Große, pilzförmige Gebilde hatten sich zwei bis drei Meter hoch aus dem Boden geschoben; die Elemente des Parketts hatten sich dazu umgruppiert. Die Pilzhüte entpuppten sich als Abdeckungen von Schächten.

Die Schächte öffneten sich. Routh erkannte, dass es sich um Aufzugkonstruktionen handelte.

Dindirri betrat die Kabine zuerst. Routh folgte. Ojin schloss die Tür hinter sich. Und so verließen sie die Halle Sternenfall.

Die Kabine sackte mit spürbarer Beschleunigung in die Tiefe. Routh überlegte, ob er nach Anicee fragen sollte, unterließ es aber.

Seine Lage hatte sich, wie er mit einem Anflug von Sarkasmus dachte, nicht wesentlich verändert: Noch immer suchte er seine Tochter, noch immer stand ihr ein ganzer Planet zur Verfügung, um sich vor ihm zu verbergen. Er hatte nur die Planeten gewechselt. Und er hatte keine Ahnung von dieser Welt und kannte keine der hiesigen Spielregeln.

Die Kabine hielt. Sie verließen den Lift, passierten eine weite Halle und traten ins Freie. Routh holte tief Luft.

Der Himmel über ihm war wie von einem immerwährenden Abendrot gefärbt. Hohe Wolken mit kupferfarbenen Rändern türmten sich zu einer Gewitterfront. Die Sonne stand im Zenit. Sie war leuchtend rot und hatte – anders als Sol – keine klare Kontur. Der Stern über Gadomenäa war ein wabernder Fleck, scheinbar von der doppelten Größe der Sonne, die über Terra schien. Obwohl sie so groß war, konnte Routh sie ohne Schmerzen und ohne Blendung betrachten.

»Banteira«, erklärte Dindirri.

Routh nickte.