Danksagung

Ohne die von Bernhard Echte vorgelegte und ausführlich kommentierte Edition des Gesamtwerks von Friedrich Glauser wäre das Schreiben des Romans nicht möglich gewesen. Ihm vor allem habe ich zu danken. Großen Dank aber auch an Monika Treut für das »Mo«, an Peter Weismann für beratende Begleitung und kritische Lektüre des Manuskripts, an Peter Zeindler, Uta Maria Heim und Günther Butkus, vor allem aber an meine Frau Eva für weitaus mehr als Rat und Tat beim Schreiben dieses Romans.

 

Frank Göhre

Zürich 1916/17

Er ist jung, noch nicht volljährig. Er hat ein schmales Gesicht, dunkles, glattes Haar und unter den dichten Augenbrauen blicken die großen Augen ein wenig melancholisch. Bekleidet ist er mit einem schwarzen Dreiteiler und darauf abgestimmter Krawatte. Seiner ersten Zimmerwirtin in der Bolleystraße 7 stellt er sich als Frédéric Glauser vor, nach Zürich gekommen, um an der nahe gelegenen Universität Chemie zu studieren.

Es ist der Januar des Jahres 1916 und die neutrale Schweiz beherbergt zu dieser Zeit sowohl Pazifisten, Anarchisten und Revolutionäre (Lenin) wie auch die internationale künstlerische Avantgarde: »Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges 1914, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, lebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte«, schreibt der deutsch-französische Maler, Bildhauer und Lyriker Hans Arp, Mitbegründer der Dada-Bewegung.

Die Erklärung des Wortes Dada ist umstritten. Die einen nennen ein französisches Wörterbuch als Quelle – dada, frz. für »Steckenpferd« –, andere ordnen es der Kleinkindersprache zu, und auch ein in diesen Jahren beliebtes Schweizer Haarwaschmittel namens DADA soll die internationale Künstlergruppe zur Namensgebung angeregt haben.

Der soeben erst in Zürich eingetroffene Frédéric Glauser hört später noch eine andere Version: »... es ist außerdem noch eine doppelte Bejahung, ›ja, ja‹ heißt es, in den slawischen Sprachen wenigstens, und ich glaube, auch in der rumänischen.«

Frédéric Glauser schreibt sich an der Uni ein und belegt die Fächer »Organische Experimentalchemie« und »Chemisch-analytisches Praktikum für Chemiker«. Doch allzu ernst nimmt er es mit dem Studium nicht. Gemeinsam mit einem Freund stellt er die erste Ausgabe einer Literaturzeitschrift – »Le Gong« – zusammen, in der natürlich auch Texte der beiden Herausgeber erscheinen sollen; von den französischen Symbolisten beeinflusste Prosaarbeiten und Nachdichtungen. Das nimmt ihn voll in Anspruch, und er ahnt nicht im Entferntesten, dass man nur wenig später »Erkundigungen« über sein Treiben einholen wird. Da ist dann protokolliert, er mache »auffallend viele ›Freitage‹, während welcher Zeit er sich nachts in leichtsinniger Gesellschaft herumtrieb und tagsüber dann in seinem Zimmer seine müden Glieder ausruhen ließ. Wegen dieser Unregelmäßigkeit seiner Lebensweise, welche oft den Nebenbewohnern ruhestörend war, wurde ihm das Logis gekündigt, und er verzog sich nach der Möhrlistr. 17 zu Hardmeier.«

Diese polizeilich durchgeführten Ermittlungen hat der Vater veranlasst, der als gebürtiger Schweizer im fernen Mannheim an der Handelshochschule unterrichtet. Er misstraut dem Sohn seit jeher, hat ihn schon als Schüler der Lüge und des Diebstahls bezichtigt und glaubt, dass er nun als Student total verlottert. Aktuell kommt hinzu, dass Frédéric ihm per Brief erklärt hat: »Wenn die Gesellschaft, an deren Rand ich wohl leben werde, so ist, wie sie mir bis heute erscheint, und wenn Du wirklich glaubst, eine ihrer Stützen zu sein, dann bedanke ich mich. Ich ziehe es vor, weiterhin in freier Luft zu atmen, wie es mir entspricht, in einer Luft, die nicht vergiftet ist, und wenn Du mich für einen Querulanten, einen Bohemien, einen heruntergekommenen Menschen hältst, so mögen das Bezeichnungen sein, die für Dein Ohr bloß beleidigend klingen; ich dagegen rühme mich ihrer ...«

Er geht nun gar nicht mehr zur Uni: »Ganze Tage blieb er im Bett, ohne krankheitshalber daran gebunden gewesen zu sein«, ist in dem Polizeiprotokoll zu lesen, »nachts ging er dann wieder seiner Gesellschaft nach, hielt sich nach seinen daselbst selber gemachten Angaben in den hiesigen Caféhäusern auf, machte Kleintheaterbesuche und Autofahrten, durch welche Veranstaltungen er nach gemachten Wahrnehmungen sehr viel Geld durchtat.«

Das »Café Odeon« (Limmatquai 2), das (nicht mehr existierende) »Café des Banques« (am Beginn des Rennweges) und das Café und heutige Restaurant »Terrasse« (Limmatquai 3) sind die Lokalitäten, in denen Glauser jetzt Abend für Abend anzutreffen ist. Er liest und schreibt ein wenig, trinkt »große Quantitäten« Alkohol, raucht Kette und macht Bekanntschaften – »Damenbekanntschaften«. Noch erhält er vom Vater monatlich 170 Franken, doch damit kommt er bei dieser Lebensführung schon lange nicht mehr hin. Er macht Schulden, schnorrt und lebt weitgehend auf Pump.

Es wird Herbst und er fasst den Plan, alles hinter sich zu lassen und nach Amerika auszuwandern. Doch just in diesen Tagen lernt er den österreichischen Maler »Mopp«, Max Oppenheimer, kennen und sitzt dann als literarisch ambitionierter und wissbegieriger »Fred« oder »Clauser« mit am Tisch der in Zürich aktiven Dadaisten Tristan Tzara und Hugo Ball, der Maler Marcel Janco und Hans Richter. Das ist ungemein anregend, und er saugt begierig auf, was bei ihnen Thema ist: »Ich muss in einer halben Stunde die Namen von etwa einem Dutzend mir vollkommen unbekannten Berühmtheiten kennen lernen und meine Unwissenheit bedrückt mich tief. Wer kannte damals Blaise Cendrars, Jakob, den Dounier, Rousseau, Picasso, Derain, Franz Marc und Kandinsky?«

Die Runde lobt und kritisiert, debattiert bis tief in die Nacht über Individualismus und die Zerstörung bürgerlicher Ideale und Normen. Gefühle und Psychologie sind aus der Kunst auszumerzen. Propagiert wird die willkürliche und zufallsgesteuerte Aktion in Bild und Wort – »Dada« eben, Spontaneität, Anti-Routine, Anarchismus. Alles muss in Bewegung sein, springen und hüpfen wie die Silben in dem Lautgedicht »Karawane« von Hugo Ball.

Die Autoren Hugo Ball und Tristan Tzara sind die Wortführer der durchzechten Nächte, in denen auch das gerade erst in Mode gekommene Kokain geschnupft wird: »Was kümmert uns der Sonnenschein? Hochaufgetürmte Tage stürzen ein ...« (Emmy Hennings).

Von Hugo Ball ist der nicht mehr Student Glauser am meisten beeindruckt: »Während die anderen mir sehr fremd bleiben (ich habe immer den unangenehmen Eindruck, dass ich es nicht wagen darf, künstlerische und literarische Urteile zu fällen, denn alles, was mir gefallen hat, wird als sentimentaler Kitsch abgetan, mit Achselzucken und verächtlichem Schnaufen durch die Nase), ist Ball der einzige, der wie ein ruhiger, älterer Bruder wirkt.« Die Sympathie ist gegenseitig.

»Glauser«, schreibt Ball an seine Lebensgefährtin Emmy Hennings, »Glauser ist ein sehr lieber Junge und ein wenig in mich verliebt. Er begleitet mich zu Fuß von Richters Wohnung bis in die Hornbachstraße (Nr. 68, Hugo Balls vorletzte Adresse in Zürich).«

An einem der nächsten Abende kommt dann auch Emmy Hennings ins »Café Odeon«: »Ein kleines, blondes Geschöpf, dem auch der grünspanige Sweater nichts von seiner Zierlichkeit rauben kann, schleppt viel kalte Nebelluft von draußen in den Rauch des Lokals ... Sie blickt mich zuerst misstrauisch an. Ihre kleine Hand mit den abgebissenen Nägeln ist fieberheiß, und diese Hitze will gar nicht zu dem weißen Gesicht passen. Sehr erregt ist diese kleine Frau, sie zittert immer ein wenig, wie eine bunte Papierschlange vor einem Ventilator.«

So notiert es Glauser, und keine Frage: Der noch Zwanzigjährige ist von der elf Jahre älteren, in Flensburg geborenen Kabarettistin nicht nur stark beeindruckt, er muss sich auch eingestehen, sich auf Anhieb in sie verliebt zu haben.

Es sind die Wintermonate 1916/17. Ende Juli ist das erst im Februar 1916 eröffnete »Cabaret Voltaire« in der Spiegelgasse 1 geschlossen worden, der »Geburtsort des Dada«. Nur ein paar Häuser weiter, in der Nummer 14, grübelte da noch der Exilant Lenin über seine Strategie für einen bewaffneten Aufstand. In dem engen Zürcher Altstadtgässchen befanden sich damit zeitgleich zwei revolutionäre Keimzellen dicht beieinander: eine politische und eine künstlerische. Jetzt suchen Ball und Tzara neue Räume für ihre avantgardistischen Ausstellungen und spektakulären Veranstaltungen. Der befreundete und sie fördernde Buchhändler und Antiquar Han Corray stellt ihnen seine Galerie in der Bahnhofstraße 19, Eingang Tiefenhöfe 12, zur Verfügung, während Glauser, der sich inzwischen den Dadaisten zugehörig fühlt, »aus gleichen Gründen, wie bezüglich seinem ersten Logis« auch eine neue Unterkunft benötigt: »Er kam dann zu Arx in die Leonhardstraße 6. Hier war er nicht mehr imstande, sich Geld zu beschaffen, trotzdem er sich (nach seinen Äußerungen) dafür bemühte. Aus diesem Grunde (er sollte das Zimmer im voraus bezahlen) schickte ihn Frau von Arx wieder fort, nachdem sie hatte konstatieren müssen, dass er zu jeder Stunde, bei Tag und bei Nacht, Damenbesuche in sein Zimmer hatte kommen lassen.« – Damenbesuche!

Die Emmy, die Hennings, die eigentlich mit Hugo Ball Liierte, munkelt man in den Künstlerkreisen, und obwohl nicht zu belegen, gänzlich von der Hand zu weisen ist es nicht. Als einen sehr hübschen und offenherzigen Jungen hält Emmy Hennings den aufgrund seiner Lebensführung gern als »praktischer Dadaist« titulierten Glauser in Erinnerung, zu dem nach und nach ein tieferes und stärkeres Interesse entstanden sei: »Er schien mir jedoch nicht das mindeste Geltungsbedürfnis zu haben. Ich glaube sogar, es fehlte ihm etwas an natürlichem Selbstbewusstsein. Er wußte oder dachte nicht daran, dass er etwas konnte ... aber was mir so gefiel an Clauser: es lag ihm mehr daran zu leben als zu schreiben. Er nahm in Unbefangenheit und gierig das Leben auf ohne an die literarische Verwertung zu denken. Er schrieb wie zum Spiel, zum Zeitvertreib, so nebenbei.«

Doch der Winter ist hart und Glausers vermeintliche Lebens- und Liebeslust wird arg gedämpft. Er hat keine warme Kleidung, streift nach wie vor in seinen dünnen Regenmantel gehüllt durch die zugigen Gassen. Weder Mütze, noch Schal und Löcher in den Sohlen – rasch fängt er sich eine üble Erkältung ein und bekommt »mitten in der Nacht eine starke Lungenblutung, musste um Mitternacht einen Arzt aufsuchen; dieser machte mir eine Morphiumeinspritzung und ließ mich konzentriertes Salzwasser trinken.«

Suchtgefährdet ist Frédéric Glauser seit früher Jugend – Sucht verstanden als Suche nach Geborgenheit, nach Zuneigung und Verständnis, nach all dem, was ihm der herrische und ihn ständig zur Rechenschaft ziehende Vater verweigert. Er hat Äther geschnüffelt, konsumiert Wein und Absinth in rauhen Mengen, raucht eine Zigarette nach der anderen und nimmt auch Kokain. Nichts aber ist vergleichbar mit dem, was jetzt das Morphium bei ihm auslöst: »Plötzlich wurde ich ganz wach. Ein sonderbares, schwer zu beschreibenden Glücksgefühl ›nahm von mir Besitz‹ (man kann es kaum anders ausdrücken). Trotzdem es mir damals materiell sehr schlecht ging, war alles plötzlich verändert, die Not hatte ihre Wichtigkeit verloren, sie war nicht mehr vorhanden, ich hielt das Glück in den Händen; es war, um einen schlechten Vergleich zu gebrauchen, als ob mein Körper ein einziges Lächeln wäre.«

Der Wunsch, dass dieser Zustand dauerhaft sei, ist eine Illusion. Dennoch aber Antrieb, sich die Droge immer wieder neu zu beschaffen, zwangsläufig auch illegal. Frédéric Glauser ist in diesen ersten Monaten des Jahres 1917 vom Morphium, dem »Mo«, angefixt. Er wird zum Junkie. Und so steht er dann am 29. März bei der Eröffnung der neuen »Galerie Dada« in der Bahnhofstraße mit Arbeiten von Kandinsky und Paul Klee neben Emmy Hennings, Hugo Ball und Tristan Tzara auf dem Podium und trägt eigene Verse vor: »Farbige Gifte sind trostreich, wenn Augen sich schielend verdrehn, und auf leuchtender Straße die Puppen springen. Weit ist leerer Schlaf. Tod winkt ... als Traum.«

Auch an den nächsten Dada-Soireen ist Glauser aktiv beteiligt. Als »Tod in blaubläulicher Maske, mit einem fahlen leuchtenden Auge« (Emmy Hennings) tritt er in der Premiere-Aufführung von Oskar Kokoschkas Stück »Sphinx und Strohmann« auf. Ein andermal »bearbeitet« er neben Hugo Ball am Klavier ein Tamburin. Die beiden intonieren einen »Negertanz« und singen ein altes arabisches Lied: »Tra patschiamo guera, tra patschiamo gonooooi ...«

Emmy Hennings, Tzara und weitere Dadaisten »in schwarzen Trikots, mit hohen, ausdruckslosen Masken bekränzt, hopsen und heben die Beine im Takt, grunzen wohl auch die Worte mit. Die Wirkung ist erschütternd. Das Publikum klatscht und lässt sich die belegten Brote schmecken, die in den Pausen verkauft werden ...« – von Glauser, der auch oft an der Kasse sitzt.

Die Zeit rast dahin – wie im Rausch, im wahrsten Sinne des Wortes. In den Augen der Künstlerfreunde scheinen Emmy Hennings, Hugo Ball und Glauser eine Ménage-à-trois zu praktizieren. Ihre Auftritte in der »Galerie Dada« sind jedenfalls sehr harmonisch. Sie sind aufeinander eingespielt, ergänzen sich und inspirieren sich auch gegenseitig. So ist es Hugo Ball, der den über »viel Sinn für dichterische Schwingungen« verfügenden Glauser anregt, sich ebenfalls an Lautgedichten zu versuchen.

»Es ist wirklich möglich«, schreibt Glauser auf diese bewegte Zeit zurückblickend, »Vokale und Konsonanten so aneinanderzureihen, dass Wohllaut und Rhythmus entstehen ... meine Spezialität war, Sprachensalat zuzubereiten. Meine Gedichte waren deutsch und französisch. Ich erinnere mich nur an einen Vers: Verzahnt und verheert sont tous les bouquins.« ... verheert sind alle alten Böcke, sind die Kriegstreiber, die Täter, die drohenden und strafenden Väter.

»F. Glauser: ›Vater‹, ›Dinge‹ (eigene Verse)«, ist auf dem Handzettel der 3. Dada-Soiree am 28. April 1917 zu lesen. »Das Lächeln grinst so grell und flüstert von roten Blättern, die der Nebel streichelt«, trägt Glauser vor und, Emmy Hennings Blick suchend: »Das Paradies ist seidenschwarze Nacht und stumme Stille ohne Stern ... doch stets noch wehen die Fetzen meines Himmels durch farbige Einsamkeiten, aus sanften Giften will ich bauen meinen Traum ...«

Ende Mai schließt die »Galerie Dada«. Hugo Ball und Tristan Tzara gehen im Streit auseinander. Emmy Hennings übernimmt die Auflösung. Die Galerieabrechnung weist ein Defizit auf.

Der Dada-Mitbegründer Hans Arp kann da nur die Schultern zucken und spricht erst viele Jahre später von »unserem Dadakassierer, dem lieben Glauser, dem Wachtmeister Studer, der ein begabterer praktischer Dadaist war als die meisten unter uns und dies auch einwandfrei unter Beweis stellte, indem er uns zu Schuldnern und Leidtragenden machte.«

Dennoch verlassen Emmy Hennings und Hugo Ball gemeinsam mit Glauser die Stadt an der Limmat – Ball, des Dadaismus überdrüssig und sich nach ländlicher Ruhe sehnend, Emmy Hennings in Vorfreude auf ein Zusammentreffen mit ihrer Tochter aus erster Ehe und Glauser aus berechtigter Furcht vor dem über sein »Schmarotzer- und Müßiggängerleben« informierten und empörten Vater. Der lässt ihn dann auch vom Waisenamt der Stadt Zürich »in Abwesenheit« rechtskräftig entmündigen.